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Archiv 2015

dr. christian g. paetzold

28/12/2015

Themen des Jahres 2015

GuantanameraJosé Martí28/12/2015
Havanna BluesFerry van Dongen22/12/2015
Zweite Reise nach PragFrank Wismar17/12/2015
Die Musik von Hanns Eisler im Film Kuhle WampeDr. Pätzold15/12/2015
Der FederkielanspitzerGerrit Dou09/12/2015
SerendipitätDr. Pätzold07/12/2015
A Visit to Babyn YarJudith Kiers02/12/2015
Ein Besuch von Babyn JarJudith Kiers
Lesung25/11/2015
Was 2015 zu kurz kamDr. Pätzold23/11/2015
100. Todestag von Joe HillDr. Pätzold19/11/2015
100. Todestag von Booker T. WashingtonDr. Pätzold14/11/2015
Grünzüge statt NachverdichtungDr. Pätzold07/11/2015
Sag mir wo die Blumen sindPete Seeger/Hannes Wader04/11/2015
Buchtipp: Friedenau von Peter Hahn & Jürgen StichDr. Pätzold28/10/2015
I Can’t Get No Satisfaction in West-BerlinDr. Pätzold23/10/2015
Die Buchmesse in FrankfurtFerry van Dongen19/10/2015
Die große Anti-TTIP-DemoDr. Pätzold18/10/2015
Das alte Rathaus der Hansestadt RostockDr. Pätzold12/10/2015
Relaunch www.dr-paetzold.info08/10/2015
Tagebuch 1973, Teil 6: TiflisDr. Pätzold06/10/2015
Tagebuch 1973, Teil 5: SochumiDr. Pätzold30/09/2015
Die syrischen Menschen im Rathaus WilmersdorfDr. Pätzold23/09/2015
Als Lenins Kopf wieder ausgegraben wurdeDr. Pätzold17/09/2015
Boko HaramJenny Schon12/09/2015
Das Haymarket-Ereignis von Chicago 1886Dr. Pätzold10/09/2015
Beim Sommerfest im LCBDr. Pätzold05/09/2015
Landesverrat gegen Pressefreiheit (cc)MiMaiMix30/08/2015
In einem unbekannten LandFrank Wismar26/08/2015
Eine indonesische Reistafel in AmsterdamFerry van Dongen22/08/2015
Laue Sommernacht (August 2015) Dr. Pätzold18/08/2015
Das Rätsel der LeuchtstäbchenDr. Pätzold14/08/2015
Die Berlinische Galerie ist neu eröffnetDr. Pätzold09/08/2015
Neulich bei einem Poetry SlamDr. Pätzold04/08/2015
SiebenschläferFrank Wismar/Lena Müller/Henner Reitmeier30/07/2015
The Poplar-Field, 1784William Cowper29/07/2015
Ebenezer Howard und seine Garden CityDr. Pätzold23/07/2015
Über den Schriftsteller Gerhard ZwerenzDr. Pätzold19/07/2015
Tagebuch 1973, Teil 4: Am Schwarzen MeerDr. Pätzold16/07/2015
Tagebuch 1973, Teil 3: CharkiwDr. Pätzold10/07/2015
Die Philosophen haben die WeltKarl Marx05/07/2015
Der Kuss der MuseDr. Pätzold03/07/2015
VietnamJenny Schon28/06/2015
Das Netzwerk für eine soziale StadtentwicklungDr. Pätzold25/06/2015
Ein schönes Fleckchen ErdeFerry van Dongen20/06/2015
Ökowinzer in DeutschlandDr. Pätzold
Berlins letzte Geheimnisse von Diane ArapovicDr. Pätzold17/06/2015
Dr. Jane Goodall und die SchimpansenDr. Pätzold14/06/2015
Eine kleine Bucht am NorduferAchim Rosenhahn09/06/2015
Warum nachts? Dr. Pätzold06/06/2015
Tagebuch 1973, Teil 2: KIewDr. Pätzold28/05/2015
Tagebuch 1973, Teil 1: PolenDr. Pätzold20/05/2015
Lesung am 2. Juni 201512/05/2015
Besuch in Kuhle WampeDr. Pätzold06/05/2015
Warum ich den Zeitzeugen nicht getroffen habeDr. Pätzold30/04/2015
Graf Rumford: "I know everything"Ferry van Dongen24/04/2015
Ergänzung zur RumfordsuppeDr. Pätzold
WeltbuchtagDr. Pätzold23/04/2015
Amnesty InternationalDr. Pätzold20/04/2015
Arten der BösartigkeitDr. Pätzold15/04/2015
Ostermarsch Berlin 2015Dr. Pätzold07/04/2015
Impressionen aus den EmiratenFerry van Dongen31/03/2015
Buchneuerscheinung: TigergeschichtenDr. Pätzold27/03/2015
Eine Reise nach Leipzig zu Herta MüllerDr. Pätzold16/03/2015
In Berlin fehlen 10.000 GärtenDr. Pätzold02/03/2015
Was halte ich eigentlich von "campact"? Dr. Pätzold16/02/2015
HelikoptergeldDr. Pätzold19/01/2015
Braunkohleverstromung in der LausitzDr. Pätzold01/01/2015
Schwimmen in der SpreeDr. Pätzold01/01/2015

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28/12/2015

Guantanamera, Guajira Guantanamera

José Martí (1853-1895)

Yo soy un hombre sincero,
De donde crece la palma,
Y antes de morirme quiero
Echar mis versos del alma.

Mi verso es de un verde claro
Y de un carmín encendido.
Mi verso es un ciervo herido
Que busca en el monte amparo.

Cultivo una rosa blanca,
En julio como en enero,
Para el amigo sincero
Que me da su mano franca.

Con los pobres de la tierra
Quiero yo mi suerte echar.
El arroyo de la sierra
Me complace más que el mar.


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22/12/2015

Havanna Blues

Ferry van Dongen

Die Taxifahrt ging durch Miramar, entlang eines unglaublich großen Friedhofs (Cementerio Colón) und kurz darauf fuhren wir durch einen wunderschönen subtropischen Wald (Parque Almendares). Wir sind in Havanna, und die Stadt zeigt sich von ihren schönen Seiten. Über die Quinta Avenida, an der es viele diplomatische Vertretungen gibt, geht es zurück auf den Malecón, die berühmte Straße entlang des Atlantiks.
Vor 5 Monaten eröffnete die US-amerikanische Botschaft in Havanna. Sie befindet sich am Malecón, direkt am Platz der Antiimperialisten (Plaza de los Antiimperialistas), nur getrennt durch den "Berg der Fahnen" (El Monte de las Banderas). Die USA haben die Insel nie wirklich verlassen. Guantanamo ist nicht nur eine mittelgroße Provinzhauptstadt ganz im Osten der Insel, sondern auch ein kleiner Landstreifen, der dem US-Militär als Stützpunkt dient. Über den im Jahre 1903 geschlossenen Pachtvertrag gibt es zu Recht Kritik von Seiten Kubas. Nicht nur, dass ein Pachtvertrag normalerweise nach 100 Jahren ausläuft, auch die Nichtanerkennung Kubas und die Tatsache, dass sich auf dem Marinestützpunkt ein illegales Gefangenenlager befindet, sind Fakten, die den Abzug des US-Militärs längst überfällig machen. Nun haben die USA also auch wieder eine Botschaft in Havanna. Vor ein paar Tagen ließ Obama verlauten, dass er sich dieses Thema aus seinem Wahlprogramm für seine Restlaufzeit wieder auf die Agenda gesetzt hat.
Folgt man dem Malecón weiter, kommt man in die Altstadt (Habana Vieja). Viele Gebäude und Straßen sind schön restauriert. Die Kubaner erwarten die touristische Hochsaison. Die Zahl der Touristen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. In diesem Jahr wird es wohl ein neuer Rekord werden. Stadtführungen, Musikgruppen, Straßenmärkte, jeder, der die Gelegenheit hat, versucht, an "harte Währung" zu kommen. Seit der Einführung des CUC (Peso Cubano Convertible) in 2004 gibt es in Kuba zwei Währungen. Löhne und Gehälter werden aber in kubanischen Pesos (Peso Cubano) gezahlt. Der Durchschnittslohn liegt bei etwa 250 Pesos im Monat. Zum Vergleich: Etwa 24 Pesos entsprechen 1 CUC, und 1 CUC entspricht etwa 1 Euro. Die Gesellschaft teilt sich in zwei Klassen, diejenigen, die CUC haben und diejenigen, die eben keine CUC haben.
Es gibt jede Menge Live-Musik von zum Teil sehr guten Musikern. Guantanamera, wohl das bekannteste Lied aus Kuba, steht überall auf dem Programm. Ich mag es, aber irgendwann mag man es einfach nicht mehr hören. Auf den Märkten verkaufen Menschen, die eigentlich als Lehrer, Ärzte, Architekten usw. arbeiten (sollten), Bücher, CDs, touristische Andenken. Ein Taxifahrer erzählt uns, dass er eigentlich als Kinderarzt arbeitet, aber die Zwischenzeiten zum Zuverdienst nutzt. Andere betreiben ein privates Restaurant (Paladar). Diese Familienrestaurants waren noch bis 2010 auf 12 Sitzplätze beschränkt. Gekocht wird in der Regel kubanische Hausmannskost. Wir haben gegen Abend eines in der Altstadt (Las Estaciones, Amargura 254-a) besucht. Die Gerichte sind einfach, aber schmackhaft (Hühnersuppe, Reis mit schwarzen Bohnen, Broccoli, Schweinebraten, karamellisierter Pudding).
Den Musikern gibt man gerne 1 oder 2 CUC für ihre Auftritte. Ein Essen kostet zwischen 8 und 15 CUC, eine Taxifahrt durch Havanna um die 10 CUC, in die Außenbezirke oder als Stadtrundfahrt natürlich mehr. Jeder versucht irgendwie, die "harte Währung" zu verdienen (Cuentapropistas). Die kubanische Politik scheint sich der Problematik mit den zwei Währungen im Land bewusst zu sein. Vielleicht kommt es ja doch noch zu einer einheitlichen Währung. Man wartet gespannt auf den nächsten Parteitag im Frühjahr 2016. Vor kurzem hat sich die kubanische Regierung auf einen Schuldenschnitt mit den Gläubigern in Paris geeinigt. Fidel Castro hatte den Schuldendienst 1986 auf einem Höhenpunkt der lateinamerikanischen Schuldenkrise eingestellt. Jetzt einigte man sich, dass von den 8,6 Milliarden US-Dollar Altschulden noch 2,6 Milliarden US-Dollar in den nächsten 18 Jahren zurückgezahlt werden. Dadurch erhält Kuba wieder den Zugang zu den Finanzmärkten. Und die Regierung hat auch einiges vor: ein neues Hafenprojekt in Havanna, eine Sonderwirtschaftszone nebenan, Investitionen in die touristische Infrastruktur. Dies alles gibt aber nur wenigen die Möglichkeit, ein paar CUCs zu verdienen.
Zurück über den Malecón zum Hotel, das nur wenige Schritte vom Meer entfernt liegt. Am Abend ist die Uferstraße eine einzige lange Bank, voll mit Menschen jeden Alters. Auffallend viele junge Menschen tummeln sich rund um unser Hotel auf der Straße. Nahezu alle haben ein Smartphone oder Tablet in der Hand. Viele sind damit am Telefonieren. Das Hotel hat einen der wenigen WLAN Hotspots und ist damit in der Stadt ein wichtiger Treffpunkt. Kommunikation ist ein großes Bedürfnis. Man sieht auch ältere Menschen, zusammen mit ihren Kindern, Nichten oder Neffen, wie sie aufgeregt telefonieren. Vermutlich mit anderen Teilen der Familie oder Freunden, die sich im Ausland aufhalten. Alle sind beschäftigt und guter Stimmung. Sei es, dass sie endlich mal wieder mit ihren Liebsten gesprochen haben, oder interessante Neuigkeiten erfahren, oder einfach nur ein Spiel spielen oder ein Video schauen. Es scheinen glückliche Menschen zu sein. In diesem Moment.

Medientipps:
Michael Zeuske: Kuba im 21. Jahrhundert. Rotbuch Verlag, Berlin 2012.
ila - Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika, Schwerpunkt: Cuba - Actualizar el modelo, Nr. 384, April 2015, Bonn.
Havanna Blues. Film von Benito Zambrano, 2005. https://www.youtube.com/watch?v=mWzAM-Jd_A0
Immer noch hörens- und sehenswert ist der Buena Vista Social Club. Die Musik wurde mit Ry Cooder eingespielt. World Circuit 1997. Sehenswert ist auch der Film dazu, gedreht von Wim Wenders.
Eine schöne Interpretation von "Guantanamera" hat der britische Sänger und Musiker Robert Wyatt unter dem Titel "Caimanera" eingespielt. Das Lied ist auf dem Album „Nothing can stop us“, Rough Trade Records, 1982, zu finden.

© Ferry van Dongen, Dezember 2015.

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17/12/2015

PRAG1
PRAG2
Prag3

© Frank Wismar, Dezember 2015.

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15/12/2015

Die Musik von Hanns Eisler im Film Kuhle Wampe (1932)

Dr. Christian G. Pätzold

kuhlemusik
Hanns Eisler, Bertolt Brecht und Slatan Dudow bei der Arbeit an Kuhle Wampe.


Der Film »Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?« von 1932 ist nicht nur ein Spielfilm, sondern gleichzeitig ein Dokumentarfilm und ein Musikfilm. Durch das Drehbuch von Bert Brecht, die Musik von Hanns Eisler und die Mitarbeit von Helene Weigel und Ernst Busch ist der Film ein besonders avantgardistisches deutsches Gesamtkunstwerk des 20. Jahrhunderts.
Hanns Eisler (1898-1962) stammte aus einer bürgerlichen jüdischen Familie. Er wuchs in Wien auf und betrachtete sich sein ganzes Leben lang als Österreicher. Im Ersten Weltkrieg musste er zwei Jahre lang als Soldat zubringen. Von 1919 bis 1924 war Eisler Schüler von Arnold Schönberg. Daher fiel es ihm natürlich später nicht schwer, avantgardistische Klänge zu komponieren. Außerdem leitete Eisler in Wien Arbeiterchöre. Daher sind noch heute Chöre nach ihm benannt. Mit Schönberg kam es zum Konflikt, da Eisler in der kommunistischen Bewegung wirken wollte, Schönberg aber auf der Position des L’art pour l’art bestand.
Ab 1925 lebte Eisler in Berlin. Ab etwa 1929 arbeitete er mit Bert Brecht und Ernst Busch zusammen. So kam es zur gemeinsamen Produktion von »Kuhle Wampe«, der Film war einer der ersten, zu dem Eisler die Musik komponierte. Hanns Eisler hat zu insgesamt 45 Filmen die Musik geschrieben, darunter so bekannte wie »Hangmen Also Die« von Fritz Lang oder »Nuit et brouillard« von Alain Resnais.
Zur Zeit des Nationalsozialismus war Eislers Musik natürlich entartete Kunst eines Musikbolschewiken. Er musste im Exil in den USA leben, wo er in Hollywood erfolgreich Filmmusiken schrieb. 1947 wurde er vor das House on Un-American Activities Committee gezerrt, 1948 musste er die USA verlassen. Danach lebte er in Ost-Berlin, Hauptstadt der DDR, bis zu seinem Tod und war sehr angesehen.
Die Musik des Films »Kuhle Wampe« lässt sich in 4 Gruppen einteilen. Erstens trifft man auf Instrumentalmusik von Eisler, mit der Filmbilder von Berliner Wohnhäusern, Fabriken und Landschaft unterlegt sind. Zweitens gibt es Balladen von Eisler, die von Helene Weigel (Das Frühjahr) und Ernst Busch (Das Sportlied) gesungen werden. Drittens taucht Populärmusik der Zeit auf, wie Marschmusik oder »Armer Gigolo«. Viertens gibt es das berühmte »Solidaritätslied« von Eisler, das von 3.000 Arbeitersportlern gesungen wurde.
Panja Mücke schreibt: "Hanns Eislers Filmmusik zu »Kuhle Wampe« gilt in der Filmmusikgeschichte als singulär. Sie ist wohl die am besten erforschte und in der Wissenschaft am besten bekannte Filmmusik. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass sie als praktische Umsetzung der später in »Composing for the Films« (1947) von Eisler und Adorno dargelegten Prämissen einer adäquaten Filmmusik rezipiert wurde und man ihr daher Modellcharakter zuwies."
Das Besondere an Eislers Filmmusik ist, dass sie nicht nur eine Untermalung der Bilder ist, sondern eigenständig, autonom und auffällig neben den Bildern wahrnehmbar ist. Die Elemente der Bilder und der Musik sind also deutlich voneinander getrennt, wie es nach der Theorie von Brecht auch für sein episches Theater vorgesehen war. Die Eigenständigkeit der Künste Filmbilder und Filmmusik wird gewahrt. Dadurch wurde die filmische Illusion gebrochen. Eislers Absicht war, gegen die Bilder einen musikalischen Kontrast, einen dramaturgischen Kontrapunkt zu setzen und damit "eine Art von Schock" zu bewirken. Gleichzeitig war es Eislers Absicht, die Neue Musik für den großen Kreis der Filmbetrachter zugänglich zu machen und damit seine Kunstmusik zu popularisieren.
Einen besonderen Schwerpunkt der Musik in »Kuhle Wampe« bildet das »Solidaritätslied« im letzten Drittel des Films. Es wird insgesamt viermal vokal vorgetragen: Als A-capella-Gesang von einer Arbeitersportlergruppe der Fichte-Sportler auf dem Weg zum Wettkampf, beim Auftritt der Agitpropgruppe »Das Rote Sprachrohr« auf dem Sportplatz, aus dem Off beim Nachhauseweg der Sportler und schließlich aus dem Off solistisch gesungen von Ernst Busch. Das »Solidaritätslied« wurde zu einem Klassiker der sozialistischen Arbeiterbewegung und von zahllosen Arbeiterchören gesungen.
Die Bedeutung von »Kuhle Wampe« als herausragendes Kunstwerk wurde allerdings von der deutschen Filmzensurbehörde nicht erkannt. Am 31. März 1932 wurde der Film verboten. Der Zensor schrieb: "Ein Film, der in so wirksamer Form in den Beschauern jedes Vertrauen in die Wirksamkeit und in den Hilfswillen des Staates im Kampf gegenüber Not und Elend untergräbt, erschüttert die Grundlagen des Staates, der sich auf einer republikanisch-demokratischen Verfassung aufbaut. ... Dem Bildstreifen wurde deshalb ... die Zulassung versagt."
Am 21. April 1932 wurde der Film dann doch noch von der Filmprüfstelle Berlin freigegeben, mit der Einschränkung, dass der Film nicht vor Jugendlichen vorgeführt werden durfte. Außerdem mussten einige Szenen aus dem Film herausgeschnitten werden.

Literatur:
- Theodor W. Adorno/Hanns Eisler: Komposition für den Film, Frankfurt am Main 2006. Im Auftrag der Internationalen Hanns-Eisler-Gesellschaft hrsg. von Johannes C. Gall.
- Bertolt Brecht: Kuhle Wampe. Protokoll des Films und Materialien. Hrsg. von Wolfgang Gersch und Werner Hecht, Frankfurt am Main 1969 (edition suhrkamp 362).
- Panja Mücke: Trennung der Elemente. Eislers Musik zu Kuhle Wampe (1932) im Umfeld avancierter Kompositionskonzepte. In: Nana Rentsch/Arne Stollberg (Hrsg.): Ton-Spuren aus der Alten Welt. Europäische Filmmusik bis 1945. Edition Text und Kritik. München 2013.

© Dr. Christian G. Pätzold, Dezember 2015.

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09/12/2015

Der Federkielanspitzer

gemalt von Gerrit Dou (Leiden 1613 — Leiden 1675)

Gerrit Dou
Auf das Bild hat Jenny Schon hingewiesen.

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07/12/2015

Du machst etwas und weißt gar nicht, wofür es gut sein soll. Plötzlich kommt dir dabei eine brillante Idee. Das ist Serendipität.

Dr. Christian G. Pätzold

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02/12/2015

A Visit to Babyn Yar (Kyiv, Ukraine)

Judith Kiers

Babyn Jar
Menora of Babyn Yar, Photo © Judith Kiers, November 2015.


Recently I was for work in Kyiv in the Ukraine. After having seen most of the tourist attractions, the really impressive orthodox churches, the Maidan and the Opera, there was still one place I really wanted to visit: Babyn Yar.
Babyn Yar is a ravine in a forested area, originally on the outskirts of town, nowadays surrounded by new high rising housing blocks. It is a site of a series of massacres carried out by German forces and local collaborators during their campaign against the Soviet Union. Over 30,000 Jews were killed here on 29 and 30 September 1941. Victims of other massacres at the site included Soviet prisoners of war, communists and Roma. A concentration camp, called Syrets, was also built in the area. It is estimated that between 100,000 and 150,000 people were killed at Babyn Yar during the German occupation.
Nowadays, the Babyn Yar ravine is a commemorative park with statues, or plaques, crosses, chapels and also tombs belonging to private families scattered around. The area is divided in several parts and is huge. Information boards are in Ukrainian and there are no signs or suggestions for making the visit.
I went there with two friendly colleagues, an Italian lady and a German young man. Even though we liked each other we did not know each other intimately and such a monument stirs up discussion: discussions about World War II, but also the situation in the world today and the recent war in Ukraine. To illustrate our feelings we touched upon the kind of stories we have been raised with, and what is in our collective sense of history and how is this shaped by the countries we grew up in (Italy, Germany and the Netherlands). We talked about heroism of the resistance, and how not to generalize it: not every Dutch person was a member of the resistance during World War II, there were also collaborators with the occupation regime, like Ukrainian collaborators were party in the massacres of Babyn Yar. We agreed that discussion and interpretation of history is needed, while at the same time about certain facts of World War II we can also be very clear: The Holocaust should never have happened.
How can we interpret history and what really happened and to which extend is our own need for heroes and heroism a figment of our imagination, a way to commemorate our victimhood? How ‘guilty’ have we all been to massacres such as Babyn Yar? What can Babyn Yar tell us about what is happening in Ukraine today? A war is going on in Eastern Ukraine, but how does it reflect the history and reality of what has been going on in Western Ukraine? For instance in the commemoration of the Heavenly Hundred (victims of the Maidan Revolution), but even more in the honouring of the heroes, the fallen soldiers who died in ATO zone. They have nice statues in almost every small town or village, while Babyn Yar is a grossly neglected park.
How and when will Ukraine put its own history in a realistic perspective? Should we level out the atrocities and have more understanding for the perpetrators? Or should we look reality in the eye and say: This is us: we, Ukrainians are nationalists, we wanted to liberate ourselves from Soviet occupation and saw the Nazis as our liberators, we need to cling to this in need for independence, particularly now that our neighbouring nation is threatening to occupy us again, we need some heroes to cling on to, so that we can at least fight for our country’s independence, as we see it. Or is it the neighbouring state that is feeding this piece of Ukrainian history to its own population to entice them and justify the warlike actions taken?
The three of us walked around the first part of the commemorative park. We saw the big statue commemorating all that had happened in Babyn Yar, we saw the small plaque for the Roma people who were killed there, we saw a cross half burned (by whom we wondered?), we saw plaques commemorating so many years of remembrance, but we were also at a loss. Where to go and how to read all these plaques?
We decided to ask our taxi-driver to help us. He told us he would drive us to the other part of the park. And so he did. But he could not find his way and we drove on small paths for pedestrians, along the edge of a forest and ravine and asked some foresters in Germany Army outfit for directions. This added to a feeling of being on a bizarre trip in a place that is uncomfortably unreal.
But then a bit further ahead we came across a statue of a Menora and a chapel for priests and church leaders who had been killed by the Nazis during World War II. The continuation of the Babyn Yar commemorative park. We observed a small part of the old Jewish cemetery, a board with pictures and text describing in Ukrainian and Russian what had happened in 1941. Notably at the end of the text was stated: Communism = Nazism, which had now been changed in Nazism = Ukraine. This ‘graffiti’ was illustrative of how certain people view Ukraine and its role in the war going on in the East.
All the politically loaded texts, our alertness triggered in finding our way around the place, and the discussions amongst ourselves did not make me feel very contemplative so that I could think of what had happened here. Add to this the fact, that we took pictures of all the statues and plaques with our mobile phones, made us focus more on information sharing and alertness than on letting the place enter our heart.
Even though we were looking for the past, we found the present and had to deal with what was there now: the half burned statues and monuments, the political situation in the East of Ukraine that we cannot forget, the forgotten past and no reflection on it. Thus this ‘neglected’ park becomes even more poignant.
We went back into Kyiv town, with many photos on our I-phones, some personal discussions and a strange bond. But no answer to the question: How can we read and understand Babyn Yar’s message to us? How to commemorate all the victims and learn from the past.
© Judith Kiers, December 2015.


Ein Besuch von Babyn Jar (Kiew, Ukraine)

Judith Kiers

Kürzlich war ich beruflich in Kiew in der Ukraine. Nachdem ich die meisten Touristenattraktionen gesehen hatte, die wirklich beeindruckenden orthodoxen Kirchen, den Maidan und die Oper, blieb noch ein Ort, den ich wirklich sehen wollte: Babyn Jar.
Babyn Jar ist eine Schlucht in einem Wald, ursprünglich in den Vororten der Stadt, aber jetzt umringt von hohen Wohnblocks. Es ist der Ort einer Reihe von Massakern, die von der deutschen Wehrmacht und von lokalen Kollaborateuren während des Krieges gegen die Sowjetunion verübt wurden. Über 30.000 Juden wurden hier am 29. und 30. September 1941 umgebracht. Unter den Opfern anderer Massaker an diesem Ort waren sowjetische Kriegsgefangene, Kommunisten und Roma. Ein Konzentrationslager, Syrets, wurde auch in der Gegend gebaut. Es wird geschätzt, dass zwischen 100.000 und 150.000 Menschen in Babyn Jar während der deutschen Besetzung getötet wurden.
Heutzutage ist Babyn Jar ein Erinnerungs-Park mit Statuen, Gedenktafeln, Kreuzen, Kapellen und auch verstreuten Gräbern, die einzelnen Familien gehören. Das Gelände besteht aus mehreren Teilen und ist sehr groß. Hinweistafeln gibt es nur in Ukrainisch und es gibt keine Hinweise, wie man den Ort besuchen sollte.
Ich war mit zwei freundlichen Kollegen dort, einer Italienerin und einem jungen Deutschen. Obwohl wir einander mochten, kannten wir uns noch nicht, und so ein Denkmal entfacht Diskussionen: Diskussionen über den Zweiten Weltkrieg, aber auch über die Weltlage heute und den gerade beendeten Krieg in der Ukraine. Um unsere Gefühle zu verdeutlichen, sprachen wir über die Erzählungen unserer Jugend, über unser gemeinsames Verständnis der Geschichte und wie dies von unseren Heimatländern beeinflusst wurde (Italien, Deutschland, Niederlande). Wir sprachen über das Heldentum des Widerstands, und darüber, es nicht zu verallgemeinern. Nicht jeder Niederländer war während des Zweiten Weltkriegs ein Mitglied des Widerstands, es gab auch Kollaborateure mit den Besetzern, wie auch die ukrainischen Kollaborateure an den Massakern von Babyn Jar beteiligt waren. Wir waren uns einig, dass über die Geschichte diskutiert werden muss. Andererseits waren wir uns über die Fakten des Zweiten Weltkriegs einig. Der Holocaust hätte nie geschehen dürfen.
Wie können wir die Geschichte deuten und wie weit ist unser Bedürfnis nach Helden und Heldentum eine Einbildung, um unserer Lage als Opfer zu gedenken? Wie "schuldig" waren wir alle an Massakern wie in Babyn Jar? Was sagt uns Babyn Jar über die gegenwärtige Situation in der Ukraine? In der Ost-Ukraine ist Krieg, aber was hat das mit der Geschichte und der Realität der West-Ukraine zu tun? Was bedeutet es für das Gedenken an die "Himmlischen Hundert" (Opfer der Maidan Revolution), aber noch mehr für die Ehrung der Helden, die als Soldaten in der ATO Zone (Anti-Terrorist Operation Zone, Ost-Ukraine) gestorben sind. Sie haben schöne Statuen in fast jeder kleinen Stadt oder Dorf, während Babyn Jar ein stark vernachlässigter Park ist.
Wie und wann wird die Ukraine ihre eigene Geschichte realistisch betrachten? Sollten wir die Verbrechen gegeneinander abwägen und Verständnis für die Täter haben? Oder sollten wir der Wirklichkeit ins Auge sehen und sagen: So sind wir: Wir, die Ukrainer, sind Nationalisten, wir wollten uns von der sowjetischen Besetzung befreien und betrachteten die Nazis als unsere Befreier. Wir müssen daran festhalten für unsere Unabhängigkeit, besonders jetzt, wo unsere Nachbarnation uns wieder zu besetzen droht. Wir brauchen Helden, um wenigstens für die Unabhängigkeit unseres Landes zu kämpfen, wie wir es sehen. Oder ist es der Nachbarstaat, der diesen Teil der ukrainischen Geschichte seiner Bevölkerung erzählt, um die Kriegshandlungen zu rechtfertigen?
Wir drei liefen durch den ersten Teil des Erinnerungs-Parks. Wir sahen die große Statue, die an alle Ereignisse in Babyn Jar erinnert, wir sahen die kleine Gedenktafel, die an die ermordeten Roma erinnert, wir sahen ein halb verbranntes Kreuz (von wem verbrannt?), wir sahen Gedenktafeln für so viele Jahre der Erinnerung, aber wir waren verwirrt. Wohin sollten wir gehen und wie sollten wir all diese Gedenktafeln lesen?
Wir entschlossen uns, unseren Taxifahrer um Hilfe zu fragen. Er sagte uns, er würde uns zum anderen Teil des Parks fahren. Er fuhr los. Aber er fand den Weg nicht und so fuhren wir auf kleinen Pfaden für Fußgänger, am Rand eines Waldes und einer Schlucht, und fragten einige Förster in deutscher Bundeswehr-Kleidung nach dem Weg. Das verstärkte das Gefühl, auf einem bizarren Ausflug zu einem beunruhigend irrealen Ort zu sein.
Aber etwas weiter kamen wir zu einer Statue einer Menora und zu einer Kapelle, die für Priester und Kirchenführer errichtet wurde, die von den Nazis während des Zweiten Weltkriegs getötet wurden. Das war die Fortsetzung des Babyn Jar Erinnerungs-Parks. Wir sahen einen kleinen Teil des alten jüdischen Friedhofs und eine Tafel mit Bildern und Text in Ukrainisch und Russisch, die die Ereignisse von 1941 beschrieb. Am Ende des Textes befand sich die Inschrift Kommunismus = Nazismus, die verändert war in Nazismus = Ukraine. Dieses "Graffiti" war bezeichnend dafür, wie manche Leute die Ukraine und ihre Rolle im Krieg in der Ost-Ukraine sehen.
Die ganzen politisch aufgeladenen Texte, unsere Aufmerksamkeit auf den richtigen Weg dort, und unsere Diskussionen ließen mir nicht die Muße, darüber nachzudenken, was hier passierte. Dazu kam, dass wir alle Statuen und Gedenktafeln mit unseren Handys fotografierten. Dadurch waren wir mehr auf Informationsaustausch und Aufmerksamkeit fokussiert als darauf, den Ort in unser Herz zu lassen.
Obwohl wir nach der Vergangenheit suchten, fanden wir die Gegenwart und hatten mit dem zu tun, was jetzt dort war: halb verbrannte Statuen und Monumente, die politische Situation in der Ost-Ukraine, die wir nicht vergessen können, die vergessene Vergangenheit, und die fehlende Reflexion darüber. Dadurch wird dieser "vernachlässigte" Park noch eindringlicher.
Wir fuhren zurück in die Kiewer Innenstadt mit vielen Fotos auf unseren iPhones, einigen persönlichen Diskussionen und einer seltsamen Bürgschaft. Aber ohne Antwort auf die Frage: Wie können wir die Botschaft von Babyn Jar an uns verstehen? Wie können wir an all die Opfer denken und von der Vergangenheit lernen.
(Deutsche Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Christian G. Pätzold)
© Judith Kiers, Dezember 2015.

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25/11/2015

Lesung am 1. Dezember 2015 in Berlin

Es gibt eine Lesung in der TEIA Verlagsbuchhandlung:
Es lesen Achim Rosenhahn, Bernhard Gänger, Christian G. Pätzold und Ferdi Vogel aus veröffentlichten und geplanten Büchern.
Am Dienstag, 1. Dezember 2015, 18 Uhr.
In der Hedwigstraße 10, 12159 Berlin, am S-Bahnhof Friedenau.
Es gibt Wein und Wasser zur Auswahl.
Der Eintritt ist frei.

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23/11/2015

Was 2015 zu kurz kam

Dr. Christian G. Pätzold

Es gab in diesem Jahr noch mehrere Themen, die es verdient hätten, daran zu erinnern, was vor 100 Jahren, im Jahr 1915 geschah. Das war die Zeit des Ersten Weltkriegs. Aber wie so oft sind diese Themen auch auf kuhlewampe.net aus Gründen der Arbeitskapazität zu kurz gekommen. Ich möchte wenigstens drei Ereignisse erwähnen.

1915 erschien der Film »The Tramp« von Charlie Chaplin. Diese Figur des Vagabunden machte ihn berühmt, weil ihre Psychologie zu ihm passte. Vagabunden waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA häufig anzutreffen, denn es gab viel Arbeitslosigkeit und kaum Sozialunterstützung. Also zogen die Arbeiter über die Landstraßen von Ort zu Ort, um nach Arbeit zu suchen. Und Charlie Chaplin hat damals in Hollywood für die Vagabunden Partei ergriffen, was man ihm hoch anrechnen muss. Über die Geschichte der Vagabunden und der Fahrenden Leute hätte Kuhle Wampe dieses Jahr ausführlicher berichten sollen.

Das traurige Kapitel des Völkermords an den Armeniern in der Türkei ereignete sich auch im Jahr 1915. Die Angaben über die Zahl der Opfer unter den Armeniern variieren stark. Es wird von 300.000 bis 1,5 Millionen Toten gesprochen. Der 24. April 1915, als armenische Intellektuelle in Konstantinopel verhaftet wurden, ist heute der Genozid-Gedenktag. Aber nicht nur die Armenier wurden in der Türkei verfolgt, auch die Griechen haben sehr gelitten. Zum Glück haben die Armenier heute ihren eigenen Staat im Kaukasus, der allerdings von Russland bedrängt wird. Bleibt noch das Schicksal der armen Kurden in der Türkei, die bis heute keinen eigenen Staat haben.

Schließlich endete auch die deutsche Kolonialherrschaft in Süd-West-Afrika, heute Namibia, im Jahr 1915. Bereits in den Jahren 1904 bis 1908 ereignete sich der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika. Führend war Generalleutnant Lothar von Trotha, der den so genannten "Vernichtungsbefehl" erließ. Bei der Vernichtung der Herero wurde er von Kaiser Wilhelm II. und Generalstabschef Alfred Graf von Schlieffen unterstützt. Viele Herero starben in deutschen Konzentrationslagern. Von 100.000 Herero im Jahr 1904 waren im Jahr 1911 noch 15.000 Personen übrig geblieben, von den Nama starben 10.000 Menschen. Die deutsche Bundesregierung hat erst im Juli 2015 den Völkermord anerkannt. Truppen der Südafrikanischen Union machten dem deutschen Albtraum in Südwestafrika im Juli 1915 ein Ende.

© Dr. Christian G. Pätzold, November 2015.

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19/11/2015

Der Mann, der nicht sterben konnte
100. Todestag von Joe Hill am 19. November 2015

Dr. Christian G. Pätzold

Joe Hill


Joe Hill (1879-1915) war ein US-amerikanischer Wanderarbeiter (Hobo), Arbeiterführer, Gewerkschaftsaktivist, Dichter, Sänger und Liedermacher. Er wurde in Schweden geboren, sein eigentlicher Name war Joel Emmanuel Hägglund. Er schrieb zahlreiche populäre Folksongs, die im »Little Red Songbook« der IWW (Industrial Workers of the World) veröffentlicht wurden. Am 19. November 1915 wurde er in Salt Lake City/Utah von einem Erschießungskommando erschossen. Über Joe Hill gibt es die bekannte Ballade von Alfred Hayes. Sie wurde von Paul Robeson und Pete Seeger gesungen, auch von Joan Baez beim Woodstock Music Festival im August 1969:

"I dreamed I saw Joe Hill last night,
alive as you and me.
Says I "But Joe, you're ten years dead"
"I never died" said he,
"I never died" said he.

"The Copper Bosses killed you Joe,
they shot you Joe" says I.
"Takes more than guns to kill a man"
Says Joe "I didn't die"
Says Joe "I didn't die"

And standing there as big as life
and smiling with his eyes.
Says Joe "What they can never kill
went on to organize,
went on to organize"

From San Diego up to Maine,
in every mine and mill,
where working-men defend their rights,
it's there you find Joe Hill,
it's there you find Joe Hill!

I dreamed I saw Joe Hill last night,
alive as you and me.
Says I "But Joe, you're ten years dead"
"I never died" said he,
"I never died" said he."

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14/11/2015

100. Todestag von Booker T. Washington am 14. November 2015

Dr. Christian G. Pätzold

Washington


Booker Taliaferro Washington (1856-1915) war ein afro-amerikanischer Pädagoge, Sozialreformer und Kämpfer für die Rechte der Schwarzen in den USA. Er wurde als Sklave auf einer Plantage in Virginia geboren. Ab 1881 leitete er ein Schule in Tuskegee/Alabama, auf der Schwarze handwerkliche und landwirtschaftliche Kenntnisse erhielten, das Tuskegee Institute. Es gab eine Ausbildung in Berufen wie Elektriker, Maler, Klempner, Tischler, Schmied und Maurer. Mit seiner Arbeit gilt er als ein Pionier der Berufspädagogik in den USA. Vor allem mit Bildung und Ausbildung sollte die Lage der Afro-Amerikaner verbessert werden.
Er wurde mit der Zeit zu einem einflussreichen Sprecher der Afro-Amerikaner in den USA. In der Frage der Rechte für die Schwarzen geriet er in Konflikt mit W.E.B. Du Bois, der eine radikalere Position vertrat. Während Booker T. Washington bereit war, die rassische Diskriminierung der Schwarzen in den Südstaaten vorläufig zu akzeptieren und einen Ansatz des "go slow" verfolgte, setzte sich W.E.B. Du Bois für vollständige gleiche Rechte für die Schwarzen ein. Damals gab es im Süden eine Entrechtung der Schwarzen und die Gesetze der Rassentrennung, die als Jim Crow bekannt waren. Im Süden hatten die Schwarzen praktisch kein Wahlrecht.
Die Arbeit von W.E.B. Du Bois führte zur Gründung der einflussreichen National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). Wie die Bürgerrechtsbewegung im 20. Jahrhundert gezeigt hat, war Du Bois auf dem richtigen Weg und Washington auf dem Holzweg. Booker T. Washington soll an Bluthochdruck gestorben sein. Im Jahr 1901 erschien seine Autobiographie »Up From Slavery«.

© Dr. Christian G. Pätzold, November 2015.

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07/11/2015

Grünzüge statt Nachverdichtung

Dr. Christian G. Pätzold

Der Berliner Senat befindet sich im Bauboomrausch. Ein Gespenst geht um im Senat, die Zahl 400.000, um die angeblich die Einwohner Berlins zunehmen werden. Sein neuestes Mantra ist: "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität". Ach du meine Güte! Wachstum und Wohlstand, das waren Parolen von Ludwig Erhard in den 1950er Jahren. Ich glaube, von einer Post-Wachstums-Gesellschaft hat der Senat noch nie etwas mitbekommen. Notwendig wären ein Zurückschrauben, eine Bescheidenheit und eine ökologische Wirtschaft. Notwendig wäre bspw. ein Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas, um das Klima zu retten und den Temperaturanstieg zu begrenzen. Mit einer verstaubten Wachstumsideologie kommt man da nicht weiter.
Durch fehlende Freiflächen in den Innenstädten kommt es in den Sommermonaten und während Hitzeperioden zu einer mangelnden Nachtabkühlung. Die Klimatologen sprechen von Tropennächten, wenn die Nachttemperatur nicht unter 20 Grad Celsius sinkt. Tropennächte treten vermehrt auf, zum einen durch zusätzliche aufgeheizte Gebäude, zum anderen durch den Klimawandel. Das hat gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Bewohner. Vor allem alte Menschen sind durch Hitzewellen enorm gefährdet, einige sind sogar schon gestorben, bspw. in Frankreich.
Daher ist die aktuelle Senatspolitik der Nachverdichtung in der Innenstadt eine große Gefahr für die Bevölkerung. Um das Stadtklima zu verbessern werden gerade Freiflächen als Kaltluftleitbahnen für die Luftströme in Bodennähe zwischen den Straßen benötigt. Grünzüge, die die Innenstadt mit dem Umland verbinden, können eine Aufheizung der Innenstadt verhindern.

© Dr. Christian G. Pätzold, November 2015.

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04/11/2015

Sag mir wo die Blumen sind
(Where Have All the Flowers Gone)

Gesungen von Pete Seeger und Hannes Wader

Sag mir wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Blumen sind,
was ist geschehn?
Sag mir wo die Blumen sind,
Mädchen pflückten sie geschwind.
Wann wird man je verstehn?
Wann wird man je verstehn?

Sag mir wo die Mädchen sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Mädchen sind,
was ist geschehn?
Sag mir wo die Mädchen sind,
Männer nahmen sie geschwind.
Wann wird man je verstehn?
Wann wird man je verstehn?

Sag mir wo die Männer sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Männer sind,
was ist geschehn?
Sag mir wo die Männer sind,
zogen fort der Krieg beginnt.
Wann wird man je verstehn?
Wann wird man je verstehn?

Sag wo die Soldaten sind,
wo sind sie geblieben?
Sag wo die Soldaten sind,
was ist geschehn?
Sag wo die Soldaten sind,
Über Gräber weht der Wind.
Wann wird man je verstehn?
Wann wird man je verstehn?

Sag mir wo die Gräber sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Gräber sind,
was ist geschehn?
Sag mir wo die Gräber sind,
Blumen blühn im Sommerwind.
Wann wird man je verstehn?
Wann wird man je verstehn?

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28/10/2015

Buchtipp: Friedenau von Peter Hahn & Jürgen Stich

Dr. Christian G. Pätzold

Ein Heimatkundebuch? Ja aber. Friedenau ist ein relativ kleiner Stadtteil von Berlin, der bekannt dafür ist, dass dort Maler, Schriftsteller und Intellektuelle wohnen, ergänzt durch einige Heilpraktiker und Psychotherapeutinnen. Schon zur Zeit der Gründung von Friedenau wurde bestimmt, dass keine Fabriken und Proletarierwohnungen gebaut werden dürfen. Das hatte natürlich Auswirkungen auf die soziale Struktur des Stadtteils. Friedenau im Südwesten war eine Antithese zum proletarischen Berlin des Ostens und des Nordens, trotzdem nicht so fein wie Zehlendorf oder Wannsee. Heute würde man sagen, Friedenau war ein Projekt der Gentryfizierung. Innerhalb von Tempelhof-Schöneberg wird Friedenau als Wohnort der Reichen und Schönen verspottet, was wahrscheinlich stimmt, wenn man weiß, wie schlimm es in Tempelhof und Schöneberg aussieht.
Ursprünglich war Friedenau als Landhauskolonie mit selbständigen Familienhäusern und kleinen Gärten vorgesehen. Aber es setzte sich immer mehr der 4-geschossige Mietshausbau durch, denn mehr Fläche bringt mehr Einnahmen. Allerdings gibt es nur wenige Seitenflügel und keine Hinterhäuser mit Proletarierhöfen. Die Mieten waren trotzdem relativ hoch, denn die Ausstattung war hochwertig. Wenn nur Landhäuser gebaut worden wären, dann wäre Friedenau vielleicht so langweilig geblieben wie Lichterfelde. Die Geldgier war so groß, dass man auf einen Stadtpark ganz verzichtet hat. Sogar einen Friedhof hatte man ursprünglich bei der Planung vergessen. Das Leben war ja auch zu schön zu Kaisers Zeiten. Tschingderassabumm!
Das wäre an sich noch nicht so besonders. Aber aufgrund seiner geografischen Lage spiegelt sich in Friedenau eine Menge Berliner und deutscher Geschichte und Kunstgeschichte der letzten 140 Jahre. Friedenau, an der Reichsstraße Nr. 1 zwischen Schöneberg und Steglitz gelegen, war nicht Hinterposemuckel. Das Gründungsdatum von Friedenau war 1874, vorher gab es nur Felder und Wälder. Folglich hat man es mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, der Nazi-Zeit und dem Mauer-West-Berlin zu tun. Dabei gehen die Friedenauer Autoren Peter Hahn und Jürgen Stich systematisch vor. Straße für Straße wird abgehandelt, in alphabetischer Reihenfolge. Die Artikel selbst sind dann feuilletonistisch abgefasst über berühmte Persönlichkeiten, die in der Straße lebten. Friedenau war ein kreativer Hotspot, der viele Talente hervorbrachte. Marlene Dietrich und Helmut Newton fanden Friedenau so schön, dass sie hier begraben sein wollten.
In einige Kapitel haben die Autoren erhebliche Forschungsarbeit investiert, bspw. über den italienischen Bildhauer Valentino Casal, über den Friedenau-Architekten Hans Altmann oder über den Nosferatu-Schauspieler Max Schreck. Es gibt auch etwas Firmengeschichte und viele Familiengeschichten. Besonders gefreut hat mich, dass sich die Autoren für den Schutz des Bahngeländes Friedenau als grünes Biotop einsetzen. Dafür kämpft auch die Bürgerinitiative. Die Sprache des Buches gefällt mir, das ganze liest sich leicht, locker und beschwingt. Die Ausstattung des Buches mit Bildern, auch mit historischen Ansichtskarten, und mit Dokumenten ist sehr gut. Das Layout ist liebevoll gestaltet. Dazu zählen auch die Straßenschilder, die als Kapitelüberschriften dienen. Sie sind in einer originalen Berliner Straßenschilderschrift mit Ligaturen gehalten. Auch buchbinderisch ist das Buch gut gearbeitet.
Man wird zum Nachdenken über Friedenau angeregt, über Menschen, die zufällig hier gestrandet sind oder die mit Absicht hier wohnten. Friedenau hat immerhin zwei Literaturnobelpreisträger hervorgebracht, Günter Grass und Herta Müller. Das ist schon ein Ausrufezeichen für einen kleinen Ort. Ich glaube, der Genius von Friedenau liebt die SchriftstellerInnen. Mit etwas anderem sollte man in Friedenau erst gar nicht anfangen. Nur bei Hannah Höch würde ich eine Ausnahme machen. Friedenau war auch gut für DADA.
Schreiben über die Vergangenheit bedeutet immer zu entscheiden, was man erwähnt und was man weglässt. Mir ist beim Lesen von »Friedenau« klar geworden, dass das Buch leicht doppelt so dick hätte werden können.
Trotz allen Lobes möchte ich noch kleine kritische Anmerkungen machen, was mich etwas gestört hat. Ich finde es klarer, wenn Zitate durch Anführungszeichen gekennzeichnet sind. Und ich fände es besser, wenn die Quellen von Zitaten angegeben würden. Denn oft möchte man noch mal etwas im Originalzusammenhang nachlesen. Es werden so viele interessante Bücher zitiert, da sollte man doch wenigstens Autor, Titel, Erscheinungsort und Erscheinungsjahr nennen. Das Personen- und Sachregister ist leider unvollständig und zu knapp geraten. Sehr schade. Die schönen Vorgärten und einzelne Bäume in Friedenau, die ich schon seit Jahrzehnten kenne, hätte ich vertieft. Gunter Demnig, den Erfinder der Stolpersteine, hätte ich erwähnt.
Summa summarum: Das Lesen des Buches lohnt sich sehr. Alle Oberschüler in Friedenau sollten das Buch vom Bezirksamt geschenkt bekommen. Ich wünsche mir, dass die Autoren ein weiteres Buch über das "gefühlte Friedenau" schreiben. Denn rund um das amtliche Friedenau gibt es einige Straßen und Plätze, deren Bewohner sich auch als Friedenauer verstehen.

Peter Hahn & Jürgen Stich: Friedenau - Geschichte & Geschichten, Badenweiler 2015, Oase Verlag, 22 Euro, ISBN 978-3-88922-107-0.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2015.

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23/10/2015

Vor 50 Jahren: I Can't Get No Satisfaction in West-Berlin

Dr. Christian G. Pätzold

Wir haben jetzt den Oktober 2015 und ich habe den Eindruck, dass so allmählich die große Erinnerung "Vor 50 Jahren" einsetzt. Das wird uns die nächsten 4 Jahre noch beschäftigen. Denn die Zeit von 1965 bis 1969 war eine Folge von außergewöhnlichen Jahren. Das waren nicht einfach bloß Jahre, die man abhakt und in die Rumpelkammer des Bewusstseins abschiebt. Damals entstand mit der anglo-amerikanischen Pop Art und mit dem Rock n Roll unsere moderne Welt im Westen. Der verkalkte Ostblock erhielt so starke Risse im Gebälk, dass er 20 Jahre später implodierte.
Der Hit »Satisfaction« der Rolling Stones vom Oktober 1965 ist kein schlechter Ausgangspunkt, um zu fragen, was damals passierte. Die Jugend bekam keine Satisfaction (Befriedigung) und begann zu revoltieren. Erst ganz zaghaft und dann immer entschiedener. Das war ein Angriff der Teenager auf die Gesellschaft der alten Bürokraten, der Konservativen und der Unterdrücker. Die Babyboomer der Nachkriegszeit betrachteten sich als eine neue Generation. Die Stones um Mick Jagger und Keith Richards haben dem Gefühl der Jugend Ausdruck verliehen.
Es war nicht nur ein Ruf nach sexueller Befreiung, sondern nach Befreiung im Allgemeinen, nach Befreiung von den Eltern oder von den Lehrern in der Schule. Erst allmählich haben wir 1968 begriffen, dass die ideologischen Staatsapparate versucht haben, unser Über-Ich zu infiltrieren und zu manipulieren, wie es damals hieß. Es ist wohl kein Zufall, dass es die Rolling Stones nach 50 Jahren immer noch gibt. Und die Beatles nicht mehr, denn die waren doch nur Schlagersänger. Die Stones haben eine Bewegung und ein Lebensgefühl losgetreten. Die Wellen spürt man heute noch.
Der Song »Satisfaction« war ein Ereignis, das die Welt zum Wackeln brachte. Es folgten viele andere Songs der Stones, die in die Musikgeschichte des Rock n Roll eingegangen sind: Paint It Black, Brown Sugar, Honky Tonk Woman, Jumpin’ Jack Flash, Sympathy for the Devil, You Can’t Always Get What You Want, Start Me Up, Let’s Spend the Night Together, Play With Fire. Man könnte noch so viele nennen.
»Satisfaction« wurde von Keith Richards komponiert und von Mick Jagger getextet. Die Idee zu dem Song kam Keith Richards auf der USA-Tournee der Stones in der Nacht zum 7. Mai 1965. Er konnte in dem Hotel in Clearwater/Florida nachts nicht schlafen. Da kam ihm die Anfangssequenz von »Satisfaction« in den Sinn. Am Morgen spielte er Mick Jagger die Melodie vor und schlug ihm die Zeile "I can’t get no satisfaction" vor, woraufhin Mick den gesamten Text schrieb. »Satisfaction« war dann auch der erste Song, den die Rolling Stones in den USA produzierten.
Hier sind einige Zeilen aus »Satisfaction«:

"I can’t get no satisfaction
I can’t get no satisfaction
‘Cause I try and I try and I try and I try
I can’t get no, I can’t get no
...
When I’m ridin’ round the world
And I’m doin’ this and I’m signing that
And I’m tryin’ to make some girl
Who tells me baby better come back maybe next week
‘Cause you see I’m on losing streak.
...
I can’t get no, oh no, no, no
A hey, hey, hey, that’s what I say
...
I can’t get no satisfaction
I can’t get no girl reaction
‘Cause I try and I try and I try and I try
I can’t get no, I can’t get no."

Dabei habe ich einige konsumkritische Zeilen weggelassen, um nicht zu viel zu zitieren.
Mick Jagger singt den Song schlampig, aber das macht nichts. Der Text ist schlampiges Englisch, aber das macht auch nichts. Keith Richards glänzt mit seinem berühmten Eingangsriff, den er angeblich von dem Hit »Dancing in the Street« von Martha & the Vandellas entlehnt hat. Alles klingt so authentisch nach 1965. So war es. Für mich kommen die Rolling Stones gleich nach Mozart.
Auch ich saß damals im Oktober 1965 mit meinem Ohr an den Lautsprecher unseres alten Dampfradios geklebt und hörte "Schlager der Woche". Die Sendung war das einzige Highlight meines ansonsten tristen Lebens. Aus irgendwelchen Gründen gab es damals in dem westberliner Sender Leute, die meinten, die deutsche Hitparade wäre identisch mit der englischen Hitparade. Entsprechend wurde auch »Satisfaction« wochenlang gespielt. Meine Eltern verstanden kein Englisch und ich verstand auch nur die Hälfte. Deutsche Schlager gab es damals kaum noch zu hören. Ich wurde dann Sänger in unserer Schulband und habe »Satisfaction« selbst gesungen.
Am 23. Oktober 1965 war »Satisfaction« auf Platz 1 der deutschen Charts und blieb dort für 6 Wochen. 6 Wochen Protest über die sexuelle Frustration! Schon am Mittwoch, dem 15. September 1965, waren die Stones in der westberliner Waldbühne zu einem legendären Konzert, bei dem das Mobiliar komplett zu Bruch ging. So begeistert war die Jugend damals. Und sauer. Denn die Stones hatten nur eine halbe Stunde gespielt. Unter anderem auch »Satisfaction«. Die westberliner Jugend jedenfalls war nicht befriedigt.
Das Establishment im Westen und im Osten war sich damals einig, dass die Stones lang behaarte Affen seien, die die Jugend mit primitiver Musik verdarben. Von Ost-Berlin wurden sie als die "fünf geistesschwachen rollenden Steine" bezeichnet.

Tipp: Wenn man mehr über die Stones lesen möchte, dann gibt es natürlich einiges kostenlos bei Wikipedia, außerdem zahlreiche preiswerte antiquarische Bücher von den Stones und über die Stones im Internet, auch Fotobände, auch Songbücher. Auch die Stadtbibliotheken haben meist etwas Stones-Literatur.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2015.

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19/10/2015

Die Buchmesse in Frankfurt

Ferry van Dongen

Am Sonntag endete die diesjährige Buchmesse in Frankfurt am Main. Vermutlich werden die Besucher und die vorgestellten Bücher wieder Rekorde aufstellen. Oder auch nicht. Ich besuchte die Messe erstmalig 1986. Seitdem regelmäßig, d.h. das eine oder andere Jahr habe ich auch ausgelassen. Mal als Aussteller, meist als Besucher. Über die Jahre hat sich so einiges geändert. Die linken Verlage waren in den achtziger und neunziger Jahren zahlreicher. Im neuen Jahrhundert hatten sie sich in ein, zwei Reihen in der Halle 3 angesiedelt, dort wo auch die großen deutschsprachigen Literaturverlage und Zeitungen sind. Dieses Mal waren an der gleichen Stelle weitgehend Verlage mit religiösen Programmen präsent. Die Wochenzeitung "Die Zeit" hatte aber immer noch ihren gewohnten Eckstand, an dem im Stundentakt Interviews mit Schriftstellern, Journalisten und anderen Menschen, die was zu erzählen haben, stattfinden. Mal interessant, mal weniger. Einige Verlage haben auch in diesem Jahr der Buchmesse den Rücken gekehrt. Eine Tendenz, die schon seit Jahren anhält. Die Standpreise und zusätzlichen Aufwendungen lohnen sich immer weniger für Verlage, die ein eigenständiges Programm ohne finanzkräftige Konzernbeteiligung haben.
Den Göttinger Steidl-Verlag, insbesondere wegen seiner hochwertig ausgestatteten und von namhaften Künstlern publizierten Fotobücher bekannt, konnte ich in diesem Jahr zum ersten Mal nicht finden. Auf der Webseite meldet der Verlag, dass er in diesem Jahr seine Buchvorstellungen auf internationale Ausstellungen und Veranstaltungen konzentriert, und sich eine Auszeit von der Buchmesse nimmt. Es scheint, dass im Vergleich zu früheren Jahren immer weniger unabhängige Verlage auf der Buchmesse vertreten sind. Zudem hat die Zahl an Ausstellern mit buchfernen Produkten nach meinem Eindruck zugenommen. Man findet Anbieter, die für Online-Bezahlmodelle werben, Figuren, Objekte und ähnliches vertreiben, oder auch einen Fotografen, der nur ein Buch im Angebot hat, und mit live inszenierten, erotischen Fotoshootings die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Ehrengast war in diesem Jahr Indonesien. Es ist eine schöne Tradition, für jede Messe einen Länderschwerpunkt zu haben. Und meist steuern die unabhängigen Verlage die interessantesten Bücher über die Länder bei. Indonesische Schriftsteller in deutscher Übersetzung findet man u.a. bei den Verlagen Horlemann und regiospectra, sowie beim Unionsverlag.
In Halle 4.1 findet man dann das so typische Buchmesse-Besucher-Gewusel auf engem Raum. "Die Andere Bibliothek" feiert in diesem Jahr ihr dreißigjähriges Jubiläum. Allerdings finde ich die Titelauswahl bei weitem nicht mehr so interessant wie in den ersten zwanzig Jahren. In eine ähnliche Richtung hat sich das "Kursbuch" entwickelt, das noch immer erscheint, aber im "Weder-rechts-noch-links"-Diskurs eine beliebige Zeitschrift geworden ist. Der Verlag Matthes & Seitz, der u.a. die schöne Buchreihe "Naturkunden" verlegt, hat mit Frank Witzel auch den Träger des Deutschen Buchpreises 2015 im Programm (Titel: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969").
In dieser Halle findet man auch kleinere, deutschsprachige Verlage, die noch übrig geblieben sind, aber auch zahlreiche Neugründungen aus den letzten Jahren. Die assoziation Linker Verlage (aLiVe) teilt sich weitgehend einen Stand. Der Wagenbach-Verlag hat immer noch seinen Jahresalmanach "Die Zwiebel". Früher war dieses Büchlein ein richtiges kleines Lesebuch, in dem klein gedruckt Leseproben aus den Titeln vorgestellt wurden. Heute ist es etwas übersichtlicher, und nicht mehr als einer der üblichen Verlagsprospekte. Unweit davon fällt mir eine gelbe Broschüre in die Hände. "Es geht um das Buch" lautet der Titel, in dem die Kurt Wolff Stiftung nunmehr zum zehnten Mal unabhängige Verlage vorstellt. Die Stiftung wurde im Jahr 2000 gegründet und versteht sich als Interessenvertretung unabhängiger Verlage. Seit 2001 zeichnet die Stiftung jährlich einen Verlag aus und vergibt zudem einen Förderpreis für Verlagsprojekte. In diesem Jahr ging der Kurt Wolff Preis an den Berliner Berenberg Verlag. Den Förderpreis erhielt die Connewitzer Verlagsbuchhandlung in Leipzig. Die Buchhandlung hat in ihrer Edition Wörtersee einen Band über den Kurt Wolff Verlag veröffentlicht und auch in diesem Jahr den Deutschen Buchhandlungspreis erhalten. Kurt Wolff (1887-1963) war ein engagierter Verleger, der sich durch eine handwerklich anspruchsvolle Buchherstellung und ein entsprechendes Literaturprogramm auszeichnete. Und dies hat er auch im Exil gemacht. In diesem Sinne fördert die Stiftung konzernunabhängige Verlage. Und so endet der Rundgang nicht ganz so kulturpessimistisch.

http://www.alive-verlage.de
http://www.kurt-wolff-stiftung.de
http://www.cvb-leipzig.de

© Ferry van Dongen, Oktober 2015.

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18/10/2015

Die große Anti-TTIP-Demo am 10. Oktober 2015 in Berlin

Dr. Christian G. Pätzold

TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) ist ein geplantes transatlantisches Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika. Das entsprechende Abkommen mit Kanada heißt CETA. TTIP war das große politische Thema in Deutschland im Jahr 2015, bevor so viele Flüchtlinge im Sommer ankamen, besonders aus Syrien. Dabei ist TTIP ein schwer zu durchschauender wirtschaftlicher Vertrag, der den gesamten Welthandel verändern würde und der dazu noch in Geheimverhandlungen verabredet wird, von denen man nichts erfährt. Nur die Lobbyisten der Wirtschaft wissen natürlich bescheid. Umso erstaunlicher ist es, dass so viele Menschen in Deutschland mobilisiert werden können. Sie fühlen, dass da eine Gefahr lauert. Das Symbol von TTIP war eigentlich das US-amerikanische "Chlorhühnchen", mit dem die europäischen Verbraucher in Zukunft beglückt werden sollten.
Die Anti-TTIP-Demo am 10. Oktober 2015 bei schönem Wetter vom Berliner Hauptbahnhof zur Siegessäule war wirklich sehr groß. Von "mindestens 150.000 Teilnehmern" sprach die Tagesschau. Die Veranstalter meldeten 250.000 Teilnehmer. Das gab es schon lange nicht mehr. Viele linke Organisationen hatten zur Demo aufgerufen. Es war erstaunlich, dass so viele junge Leute, die bestimmt schon wochenlang den Flüchtlingen geholfen hatten, jetzt auch noch zur Anti-TTIP-Demo kamen.
Wenn TTIP zu Stande kommt, dann hat die kapitalistische Globalisierung einen großen Schritt nach vorn gemacht. Die großen Konzerne aus den USA und der EU können dann noch einfacher arbeiten. Aber wir haben in Europa schlechte Erfahrungen gemacht. Die großen US-amerikanischen Internet-Konzerne haben die Daten der europäischen Bürger und Unternehmen in die USA transferiert, wo sie von den US-Geheimdiensten verarbeitet werden. Wir wissen jetzt, was los ist, Edward Snowden sei Dank. Darum ist das Vertrauen in die US-Konzerne und in die amerikanische Regierung sehr gering. Nur naive Leute wollen eigentlich mit ihnen zusammenarbeiten.
Es gibt weitere schwer wiegende Gründe gegen TTIP. So war von Sonderklagerechten für Konzerne die Rede, mit denen Staaten vor Sondergerichten auf entgangene Gewinne verklagt werden können. Außerdem wird ein großer Angriff auf europäische Umweltstandards, auf Sozialstandards und auf den Verbraucherschutz befürchtet. Erwartet wird eine Angleichung der Standards und Normen auf unterstem amerikanischen Niveau. Das würde in der Landwirtschaft ungekennzeichnete Gentechnik und industrielle Massentierhaltung mit Wachstumshormonen und Antibiotika bedeuten. Solche Nahrungsmittel wollen wir eigentlich nicht. Auch die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen wird befürchtet.
Der angelsächsische Kapitalismus in den USA ist halt verschieden vom CDU/SPD-Kapitalismus in Europa. Daher wird es wohl besser sein, wenn wir unsere Schutzvorschriften behalten, an die sich dann auch die US-Konzerne halten müssten. Denn wenn TTIP gelten sollte, dann wird es wohl noch schwieriger werden, in Europa bessere Umweltschutz- und Verbraucherschutzvorschriften zu beschließen. An Stelle des ganzen Aufwandes für TTIP sollte sich Europa lieber mal um einen fairen Welthandel für die einfachen Menschen in den armen Ländern kümmern. Dann würde die Welt etwas gerechter werden.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2015.

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12/10/2015

Das alte Rathaus der Hansestadt Rostock

Rostock
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2015.


Das alte Rathaus von Rostock wurde im 13. Jahrhundert im Stil der Backsteingotik gebaut.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erhielt das Rathaus einen barocken Vorbau, so dass die Backstein-Prunkwand nicht mehr vollständig zu sehen ist.
Von der mittelalterlichen Backsteingotik ist an der Frontseite heute nur noch die Schmuck-Giebelreihe mit 7 Türmchen ganz oben zu sehen sowie unter dem Arkadengang im Erdgeschoss die originale Eingangsfront.
Es entsteht so ein ganz seltsamer Eindruck der Gleichzeitigkeit von 13. und 18. Jahrhundert.
Interessanterweise steht das Rathaus am Markt, in einiger Entfernung von der Hauptkirche St. Marien.
Das war eine gewisse Distanz zwischen Staat und Kirche, die im Mittelalter sonst noch nicht so üblich war.
Im Zweiten Weltkrieg hat das Rathaus die Bomben durch Zufall überstanden.
Bei Wikipedia im Artikel "Rostocker Rathaus" gibt es weitere Informationen.
© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2015.

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08/10/2015

Relaunch www.dr-paetzold.info

An die LeserInnen von www.kuhlewampe.net!
Meine Homepage ist frisch renoviert.
Besondere Attraktion ist das neue Video "Looping von Ursula Sax".
Neu sind auch die Bilder von meiner Weltreise 1973-1975, von der hier auf kuhlewampe.net schon Tagebuchnotizen erschienen sind.
Die Digitalisierung der alten Diapositive war gar nicht schwierig.
Dr. Christian G. Pätzold.

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06/10/2015

Tagebuch 1973, Teil 6: Tiflis (Georgien)

Dr. Christian G. Pätzold

"Aneignung von Wissen".
Reisegrund im Pariser Reisepass von Alexander von Humboldt für seine Südamerika-Expedition.

25. Juli 1973, Tbilissi (Tiflis), Mittwoch

Das Motelzimmer in Tiflis mit Toilette und warmer Dusche kostet 33 DM, inklusive Frühstück und Ausflug. Einige Preise im Motelrestaurant:
Soljanka 1-40 (1 Rubel 40 Kopeken), Borschtsch 0-53, Lamm-Schaschlik 2-20, Schweinefleisch 1-11, Beefsteak 1-84, Omelette 0-42, Ei 0-17, Tee 0-05, Espresso 0-11, Limonade 0-17, Wein von 0-90 bis 2-70, Champagner 4-24.
Ich bin alleine in die Stadt getrampt. Ein Russe hat mich nach Westsachen angesprochen und mir dann die Stadt gezeigt. Sein Wahlspruch war: "To live is fine, but to live fine is more fine". Manche Leute hier leben vom Handel mit Westsachen und das gut. Im Kino lief der französische Spielfilm "Angelique und der König". Im Restaurant hat die Kapelle "Hava Nagila", das bekannte hebräische Volkslied, gespielt, das übersetzt "Lasst uns glücklich sein" bedeutet. Das Stalindenkmal wurde durch Lenin ersetzt. Mir scheint, die Leute trinken hier sehr viel Alkohol. Wegen der Hitze stinken die Straßen hier ziemlich stark. Ich habe eine bettelnde Zigeunerin gesehen. Meine Mitreisenden waren heute mit der Dolmetscherin in Tiflis unterwegs.
Ich habe einige Straßenszenen in Tiflis fotografiert, im jüdischen Viertel, im aserbaidschanischen Viertel und im armenischen Viertel. Außerdem habe ich das große Standbild der Mutter Georgiens fotografiert. Tiflis hat viel Geschichte, das spürt man, obwohl ich leider keine Zeit habe, mich damit zu befassen.

26. Juli 1973, Tbilissi, Donnerstag

Der Balkon im Motel war recht unordentlich gestrichen. Ich bin immer noch abseits von meinen Mitreisenden. Ich habe im Motel im "Ursprung der Familie" von Friedrich Engels gelesen. Meine Mitreisenden sind in Tiflis herumgelaufen und haben sich die alten Häuser mit den typischen Innenhöfen angesehen, die von Balkonen umrahmt sind. Sie haben auch einen Bäcker gesehen, der georgisches Fladenbrot im traditionellen Ofen gebacken hat.

27. Juli 1973, Tbilissi - Ordschonikidse (seit 1991 Wladikawkas)

Wir fahren mit unserem VW-Bus über den Kaukasus von Tiflis nach Ordschonikidse in Nordossetien, das schon nicht mehr in Georgien liegt. Die Fahrt durch die Berge ist recht abenteuerlich. Die Straße führt ständig am Abgrund vorbei. Manchmal fließt ein Bach quer über die Straße. Als Ausländer unterschätzt man leicht die Entfernungen. Wir konnten nur mit durchschnittlich 50 km/h fahren. Darauf muss man sich bei der Reiseplanung vorbereiten.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2015.

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30/09/2015

Tagebuch 1973, Teil 5: Sochumi (Abchasien)

Dr. Christian G. Pätzold

Lenin


"Ich will eine extreme Position vertreten. Unterwegssein bedeutet, keine eigene Heimstatt zu haben, sondern überall gleichermaßen daheim zu sein."
Henry David Thoreau, Vom Wandern, 1862.

20. Juli 1973, Sotschi - Sochumi, Freitag

Die Straße war auf der ganzen Strecke am Schwarzen Meer gut. In Sotschi wurde uns noch die kaputte Felge kostenlos repariert. In Gagra haben wir gegessen. Der Preis bewegt sich für 4 Personen in der Stolowaja zwischen 3 und 3 ½ Rubel für reichliches Essen. Die DDR-Touristen waren nicht sehr freundlich auf dem Camping-Platz. Ein Sachse wollte nicht mit seinem Auto rücken. Ein sowjetischer Automechaniker hat uns 1 Kilogramm Haselnüsse geschenkt und er bestand darauf, dass wir alle einpacken. Mirabellen und Brombeeren kann man gut an der Straße pflücken. Am Weg gab es Teeplantagen und Tabakplantagen. Wir sind jetzt von der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) in die Grusinische SSR (Sozialistische Sowjetrepublik) gefahren. Grusinien ist ein anderer Name für Georgien. Die Vegetation am Schwarzen Meer ist überall sehr üppig, die Hügel bewaldet. Es ist angenehm, die Küstenstraße entlang zu fahren. Die meisten deutschen Touristen kommen aus der DDR.

Ich habe 3 interessante Fotos gemacht:
1. Autobushaltestelle zwischen Sotschi und Adler.
2. Goldene Leninstatue kurz vor der Grenze zur Grusinischen SSR.
3. Stolowaja in Gagra.

Rückblick: Sochumi am Schwarzen Meer ist heute die Hauptstadt von Abchasien. Damals gehörte die Stadt noch zu Georgien innerhalb der Sowjetunion. Die Abchasen haben 1993 mit Hilfe der Russen ihren eigenen Staat gegründet, der aber international noch nicht sehr anerkannt ist. Das hängt damit zusammen, dass die Abchasen ein eigenes Volk im Kaukasus sind, und dass die russische Regierung Georgien schwächen wollte. Der Konflikt dauert an.

21. Juli 1973, Sochumi, Sonnabend

Ich habe Wäsche gewaschen. Wir sind mit georgischen Arbeitern aus Tiflis zusammengetroffen. Sie haben Schach gespielt. Sie spielen auch eine Art Poker, außerdem Domino. In einem Autobus war ein Stalinbild aufgehängt. Stalin als Georgier ist in Georgien immer noch sehr beliebt, obwohl man Bilder von ihm in Russland nicht mehr sieht. Abends wurden wir zum georgischen Essen eingeladen. Es gab Schaschlik, Tomatensalat, eine Art Griesbrei mit Butter und Käse, außerdem georgischen Wein. Dabei ist es Sitte, Trinksprüche auszubringen, auf die Verwandten, auf Druschba (Freundschaft), oder worüber man gerade spricht. Nach dem Trinkspruch muss man dann das Weinglas mit einem Zug austrinken. Abends haben die Georgier vor dem Frauenschlafsaal rumgelungert, vor dem eine Georgierin Wache hielt. Im Campingkino haben sie einen uralten amerikanischen Spielfilm von einer herumreisenden Ballerina gezeigt.

22. Juli 1973 und 23. Juli 1973, Sochumi, Sonntag und Montag

Zweiter kritischer Moment meiner Weltreise: Ich hatte eine Psychokrise auf dem Zeltplatz in Sochumi. Ich habe mich irgendwie über meine Mitreisenden geärgert. Aber ich weiß überhaupt nicht mehr warum. Nach über 40 Jahren hat das Gedächtnis doch einige Lücken. Das Tagebuch hat jedenfalls zwei Tage lang keinen Eintrag. So eine Psychokrise hatte ich bisher noch nie. Lag es am Essen, am Klima, an den vielen Eindrücken der Reise? Wahrscheinlich am ehesten an dem vielen georgischen Wein von gestern Abend, den ich nicht gewöhnt war. Ich habe nie besonders viel Alkohol getrunken, eher sporadisch nur ein kleines Bier. Je länger ich darüber nachdenke desto sicherer muss dieser grusinische Kaukasus-Wein meine Psyche infiltriert und zersetzt haben. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Jedenfalls habe ich zwei Tage lang nichts auf die Reihe bekommen. Seltsamerweise ging es mir danach wieder normal. Wenn ich es so überlege, dann hatte ich erst wieder im Frühjahr 1975 eine kleine Psychokrise, als ich mit dem Schiff von Brasilien zurück nach Europa fuhr. Das führte ich auf das lange Eingesperrtsein auf dem Schiff zurück.

24. Juli 1973, Sochumi - Tbilissi (Tiflis), Dienstag

Zur Eindämmung der Sümpfe wurden Eukalyptusbäume aus Australien importiert, die viel Wasser brauchen. Außerdem werden Fische gegen Malarialarven eingesetzt. Wir fahren an großen Teeplantagen vorbei. Das Land im Kaukasus sieht sehr steinig und trocken aus. Heute ist eine große Hitze. Kühe und Schweine stehen mitten auf der Straße, ein Schwein war tot gefahren. Anscheinend stehen sie auf der Straße, weil die Fliegen den Asphalt nicht mögen. Die Frauen schützen sich mit Zeitungen und Schirmen gegen die Sonne. Überall ist georgische Schrift zu sehen, die ich leider nicht lesen kann. Auf den Plakaten haben die Männer typische Schnurrbärte. Unterwegs habe ich zwei Stalinölbilder im Schaufenster gesehen. Wir fahren durch Stalins Geburtsstadt Gori.
Die Straße war teils schlecht, teils gut, an manchen Stellen floss wegen der Hitze der Teer weg. An der Straße im Kaukasus wurde einfache Tonware verkauft, ein Weinkrug für 2 Rubel. In Tiflis angekommen waren wir mit Otari Kurtsikidze am Fernsehturm und wir haben gegessen. Die Taxis werden hier ziemlich robust gefahren und sehen auch so aus. Ein Taxi blieb unterwegs stehen. Wir sind mit der Seilbahn gefahren.

© Dr. Christian G. Pätzold, September 2015.

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23/09/2015

Die syrischen Menschen im Rathaus Wilmersdorf

Dr. Christian G. Pätzold

Refugees


Für das Jahr 2015 wird geschätzt, dass etwa 1 Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen könnten, um hier Asyl zu beantragen. Die Menschen stammen vor allem aus Syrien, wo ein brutaler Bürgerkrieg zwischen Verrückten wütet, und vom westlichen Balkan, wo bittere Armut herrscht. Außerdem aus Afghanistan und aus Afrika. Bei so vielen Flüchtlingen ist es kein Wunder, dass sie jetzt auch in meiner Nachbarschaft wohnen, genauer gesagt sind sie jetzt im Rathaus Wilmersdorf provisorisch in Amtsstuben untergebracht.
Aber wie kam es überhaupt dazu, dass das Rathaus Wilmersdorf leer stand? In den 1990er Jahren hatte sich in Berlin eine gigantische Staatsverschuldung angehäuft, die im Moment für die Stadt 65 Milliarden Euro beträgt. Daraufhin wurden Stadtbezirke zusammengelegt, um Kosten zu sparen, und der Staat zog sich immer weiter zurück. So wurde Wilmersdorf mit Charlottenburg fusioniert. Der neue Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf nutzte nur noch das Rathaus Charlottenburg. Irgendwann stand das Rathaus Wilmersdorf am Fehrbelliner Platz leer.
Ein Treppenwitz der Geschichte ist, dass das Rathaus Wilmersdorf ein riesiger Nazi-Bau aus dem Jahr 1941 ist. Der ganze Bau ist Stein gewordene Ideologie des Faschismus. Man muss auch das aushalten können. Was würde wohl der Führer dazu sagen, dass in sein Rathaus syrische Flüchtlinge eingezogen sind? Unter der Parole "Refugees Welcome!" Die ehrenamtlichen Helfer haben sich im Verein "Wilmersdorf hilft" zusammengeschlossen. Zur Architektur kann ich noch anmerken, dass man in den 1960er Jahren versucht hat, die Situation etwas zu entschärfen, indem man einen Pop-Art-U-Bahnhof auf den Fehrbelliner Platz gesetzt hat.
Im Rundhof des Rathauses befinden sich die Wappen der zahlreichen deutschen Länder, als da wären Grenzmark, Niederschlesien, Oberschlesien, Ostpreußen, Pommern etc. Leider befinden sich diese schönen deutschen Länder momentan "noch unter fremder Verwaltung", wie die Infotafel verrät. Vor dem Rathaus passt deutsche Security auf, dass nur die Richtigen reinkommen. Die Flüchtlinge müssen natürlich sowieso den Nebeneingang benutzen.
Rein rechtlich gesehen haben die syrischen Flüchtlinge keinen Asylanspruch in Deutschland. Denn die europäischen Verträge sehen vor, dass ein Flüchtling dort Asyl beantragen muss, wo er zuerst den Boden der Europäischen Union betritt, also meistens in Italien oder Griechenland. In Italien und besonders in Griechenland werden die Flüchtlinge aber so schlecht behandelt, dass sie schnell nach Deutschland oder Schweden weiterflüchten. Wahrscheinlich sind Griechenland und Italien überfordert oder sie wollen nicht helfen. Die europäischen Verträge sind jedenfalls völlig unrealistisch.
De jure müsste Deutschland jetzt die Flüchtlinge nach Italien und Griechenland zurückschicken. Aber die deutsche Regierung hat entschieden, dass die syrischen Flüchtlinge in Deutschland Asyl bekommen können. Dieses besondere Asylrecht wird meist mit humanitären Argumenten oder mit dem angeblichen Arbeitskräftemangel in Deutschland begründet. Es bleibt auch nichts anderes übrig, denn die Flüchtlinge sind hier, und gegen ihren Willen kann man kaum 300.000 Flüchtlinge oder mehr irgendwohin abschieben. Verhungern lassen kann man die Flüchtlinge in Deutschland auch nicht. Und man will auch keinen Zaun rund um Deutschland bauen.
Insgesamt sind es etwa 18 Millionen Menschen in Syrien, die einen Grund haben zu flüchten. 18 Millionen überfordern jedes einzelne europäische Land. Daher müsste jedes Land in Europa einen Teil der Flüchtlinge nach seinen Möglichkeiten aufnehmen.
Jetzt sind die Syrer jedenfalls in Deutschland und sie werden wahrscheinlich auch lange bleiben. Denn in Syrien gibt es viele Verrückte und Religionsanhänger, die sich noch lange gegenseitig umbringen können. Ausländische Mächte liefern immer mehr Waffen und Munition nach Syrien. Daher sollte man den Syrern hier Deutschkurse bieten, außerdem Ausbildungsplätze und möglichst Arbeitsplätze. Damit sie ein möglichst vernünftiges Leben in Deutschland haben.

© Dr. Christian G. Pätzold, September 2015.

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17/09/2015

Als Lenins Kopf wieder ausgegraben wurde

Dr. Christian G. Pätzold

Anfang der 1970er Jahre war ich mal auf dem Roten Platz in Moskau. Ich hätte den schon lange toten Lenin damals in seinem Mausoleum an der Kreml-Mauer besuchen können. Aber ich habe mir nie etwas aus Mausoleen und Friedhöfen gemacht. Ich erinnere mich, dass es damals in der Sowjetunion sehr viele Leninstatuen gab. Sie standen in allen Städten, gefertigt in allen Materialien, in allen Größen und gestaltet mit allen Gesten. Einige Statuen waren auch schön vergoldet und glänzten in der Sommersonne.
Die sowjetischen Bildhauer waren jedenfalls gut beschäftigt mit der Anfertigung immer neuer Statuen. Obwohl Lenin selbst den Personenkult abgelehnt hatte. Die Statuen waren im Stil des Sozialistischen Realismus gestaltet und in der Regel gar nicht schlecht gemacht. In den Kinderhäusern gab es sogar kleine Statuen von Lenin als Kind. Die frisch verheirateten Ehepaare in der Sowjetunion fuhren als erstes zur lokalen Leninstatue, um ein paar Blumen abzulegen. Das sollte Glück bringen. Auch die Strohhütte, in der Lenin vor dem Beginn der Oktoberrevolution gelebt hatte, war konserviert worden und mit einem großen Glassarkophag überdeckt.
Zum 100. Geburtstag Lenins im Jahr 1970 hatte die Staatsführung der DDR in Ost-Berlin eine 19 Meter hohe Kolossalstatue von Lenin in Friedrichshain aufgestellt, die von dem sowjetischen Bildhauer Nikolai Tomski stammte. 20 Jahre später brachen die Sowjetunion und die DDR zusammen. Die große Stunde der Berliner CDU-Politiker war gekommen. Sie ließen den Riesen-Lenin aus rotem Granit 1991 in über 100 Stücke zersägen und verbuddelten ihn im Sandboden des Köpenicker Waldes. Nach dem Motto: "Aus dem Auge, aus dem Sinn". Auch den Palast der Republik haben sie damals eingerissen, um ihr feudalistisches Schloss wieder errichten zu können. Und die DDR-Unternehmen wurden abgewickelt. Und die Berliner Mauer wurde natürlich auch fast vollständig abgerissen. Alles, was mit der DDR zu tun hatte, musste vernichtet werden.
Im September 2015 wurde der Granitschädel von Lenin dann aber doch wieder ausgebuddelt und in die Spandauer Zitadelle gebracht, wo er in einer Ausstellung gezeigt werden soll. Endlich! Der Rest von Lenin bleibt aber weiterhin im märkischen Sandboden. Das Wiedererscheinen von Lenins Kopf betrachte ich als Hinweis darauf, dass die Zustände im Kapitalismus zunehmend kritisch gesehen werden. Jetzt ist Lenins Kopf allerdings erstmal unzugänglich im Magazin eingelagert. Irgendwann im Frühjahr 2016 soll er dann öffentlich gezeigt werden, angeblich.
Eigentlich müsste jetzt die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg tätig werden und den leninschen Schädel von Spandau zurückfordern. Als einen Fall von Raubkunst. Das wäre die logische Fortsetzung der Geschichte.

© Dr. Christian G. Pätzold, September 2015.

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12/09/2015

Boko Haram

Jenny Schon

schnapp
schnapp schnapp
schnapp schnapp schnapp sch...
anschreien gegen das geschnapptwerden
gegriffenwerden
verschlepptwerden grapschen
griff übergriff
eindringen
viel schlimmer als in die scheide
in den kopf einpfropfen
nichts wert
kopf ab rollt
im sand endlich frei davon sein
zu denken
das machen
die männer die dich gebrauchen
nehmen dein fleisch willenlos
als lebende fackel im straßenlärm
explodiert die bombe
ausgelöst von einem
verschleppten mädchen...

die jungen vom dorf
seine brüder
peitschen straßenaufwärts
die gewehrsalven auf
die flaneure
die märkte
stöhnen unter dem kreischen
der frauen
die früchte rollen
das gemüse flattert um die
lichtmaste
hühner bluttriefend
schleifen sich zum müllhaufen
siegestorkelnd küssen die männer
die kalaschnikow
ihre erste geliebte
als belohnung werden 70 jungfrauen
folgen...

erscheint demnächst in dem Gedichtband: endlich sterblich - de brevitate vitae, Geest Verlag, 2015.

Wieder werden Menschen missbraucht.
Boko Haram ist eine islamistische terroristische Gruppierung im Norden Nigerias. Sie setzt sich für die Einführung der Scharia in ganz Nigeria und das Verbot westlicher Bildung ein; auch die Beteiligung an Wahlen lehnt sie ab.
Boko Haram aus der Sprache Hausa setzt sich aus den Begriffen Boko und Haram zusammen. Es kann übersetzt werden mit "Bücher sind Sünde". Eine andere Übersetzung lautet "Westliche Bildung verboten" oder "Die moderne Erziehung ist eine Sünde".

© Jenny Schon, September 2015.

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10/09/2015

Historische Ecke: Das Haymarket-Ereignis von Chicago 1886

Dr. Christian G. Pätzold

Der Achtstundentag wurde zuerst von dem walisischen Sozialisten Robert Owen um 1830 gefordert. Die Parole war: »8 hours labour, 8 hours recreation, 8 hours rest.« Der Achtstundentag wurde dann zu einer Forderung der Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn damals arbeitete man noch 12 Stunden oder mehr. Ein allgemeiner Arbeiterkongress in Baltimore/USA forderte im August 1866 einen achtstündigen Normalarbeitstag. Die amerikanischen Gewerkschaften hatten für den 1. Mai 1886 zum Generalstreik für den Achtstundentag aufgerufen, woran sich über 300.000 Arbeiter in den industriellen Zentren beteiligten.
Im Anschluss an diese Aktionen kam es am 4. Mai 1886 zum Haymarket Ereignis in Chicago. Auf dem Haymarket Square, dem Heumarkt, explodierte bei einer Arbeiterkundgebung eine Bombe. Ein Polizist wurde getötet, sechs weitere erlagen in der Folgezeit ihren Verletzungen. Die Polizei eröffnete das Feuer auf die Versammelten, so dass zahlreiche Arbeiter erschossen wurden. Wie viele Arbeiter genau getötet wurden und wer die Bombe geworfen hat, ist ungeklärt.
Schon am 3. Mai 1886 kam es bei der Maschinenfabrik von McCormick in Chicago, die seit Februar 1886 bestreikt wurde, zu einem Zwischenfall. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen den Streikbrechern und den streikenden Arbeitern. Schließlich feuerte die Polizei auf die Arbeiter. Mindestens ein Arbeiter wurde getötet. Dies war der Anlass für die Protestversammlung auf dem Haymarket Square am folgenden Tag.
Im Anschluss an das Haymarket-Ereignis wurden acht anarchistische Arbeiterführer, von denen die meisten aus Deutschland eingewandert waren, verhaftet und vor Gericht gestellt: Georg Engel, Samuel Fielden, Adolph Fischer, Louis Lingg, Oskar Neebe, Albert Richard Parsons, Michael Schwab und August Spies. Drei von ihnen, Fielden, Neebe und Schwab, wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt. 1893 wurden sie aus der Haft entlassen. Louis Lingg nahm sich in der Gefängniszelle das Leben. Die vier anderen, Engel, Fischer, Parsons und Spies, wurden zum Tode verurteilt und im November 1887 gehängt.
Zum Gedenken an diese Ereignisse wurde der Maifeiertag von der Sozialistischen Internationale am 20. Juli 1889 als Demonstrationstag der Arbeiter proklamiert. Der Maifeiertag fand als internationale Kundgebung zum ersten Mal am 1. Mai 1890 statt. Und heute gibt es den 1. Mai zum Glück immer noch, bspw. als Revolutionäre Maidemonstration in Berlin-Kreuzberg.
Jetzt wollen die deutschen Unternehmer den 8-Stunden-Tag abschaffen. Begründung: Die Digitale Revolution. Digital sind die Mitarbeiter ja jederzeit per Smartphone erreichbar, da können sie doch auch rund um die Uhr 24/7 arbeiten. Ich kann dazu nur sagen: Sehr originelle Idee!

© Dr. Christian G. Pätzold, September 2015.

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05/09/2015

Beim Sommerfest im LCB

Dr. Christian G. Pätzold

Großbürgerlicher geht’s nicht in Berlin. Das Literarische Colloquium Berlin (LCB) sitzt in einer riesigen Villa aus den Gründerjahren des 19. Jahrhunderts, inmitten eines riesigen Wassergrundstücks mit englischem Garten am Wannsee, unweit des S-Bahnhofs. In der Ferne gleiten Ausflugsdampfer vorbei. Das LCB versteht sich als "Veranstaltungsforum und Gästehaus, Arbeitsstätte und Talentschmiede für Autoren und Übersetzer". Früher dachte ich, das wäre ein abgeschlossener Zirkel. Aber tatsächlich gibt es zahlreiche Veranstaltungen für das allgemeine Publikum.
Das LCB wurde 1963 von dem Schriftsteller Walter Höllerer (1922-2003) gegründet. Es gibt Lesungen, Workshops und Gäste aus aller Welt. Das LCB ist ein eingetragener Verein, der hauptsächlich vom Berliner Senat finanziert wird. Und ein Mosaiksteinchen im Berliner Literaturzirkus.
Am 29. August 2015 fand das Sommerfest im LCB statt, zusammen mit dem Rowohlt Berlin Verlag, der jetzt 25 Jahre existiert. Rowohlt Berlin ist ein Publikumsverlag, der zum Georg von Holtzbrinck Konzern gehört, einem deutschen Medienoktopus in Stuttgart. Es war noch Sommer. Das Sommerfest bezeichnete sich bescheiden als das größte Literaturfest in Berlin. Und tatsächlich haben zahlreiche SchriftstellerInnen auf der Terrasse und in der Rotunde am See vorgelesen und diskutiert. Ich habe dort keine Bekannten getroffen. Die Besucher sahen mir sehr nach älterem Bildungsbürgertum aus. Das anschließende Tanzvergnügen mit DJs habe ich mir gespart.
Das LCB ist besonders für Autoren und Übersetzer interessant, die an einem Werk arbeiten und eine finanzielle Förderung beantragen wollen. Denn es gibt eine Reihe von Stipendien, die von Stiftungen gezahlt werden. Was hat das alles mit mir zu tun? Ich schreibe gerade an einem Buch. Ich könnte mich auch mal um ein Stipendium bewerben. Das erträumte Stipendium würde für ein paar Monate meine Lebenshaltungskosten finanzieren. Keine schlechte Idee. Aber dann habe ich gelesen, dass die Stipendien von 1.100 Euro nur 1 bis 3 Monate gezahlt werden. Und nur an AutorInnen bis 35 Jahre. 35 war ich irgendwann tief im vergangenen Jahrhundert. Pech gehabt.
Beim Sommerfest habe ich mir eine Diskussion mit Herfried Münkler und Jens Bisky über Kriege im 20. und 21. Jahrhundert angehört. Das war sehr interessant. Zum Abschied habe ich von Rowohlt Berlin ein rosafarbenes Buch mit 238 Seiten geschenkt bekommen: »25 Jahre Rowohlt Berlin. Ein Lesebuch«.

Webseiten:
www.lcb.de/
www.literaturport.de

© Dr. Christian G. Pätzold, September 2015.

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30/08/2015

Landesverrat gegen Pressefreiheit

(cc) MiMaiMix

Asyl


Landesverrat gegen Pressefreiheit ist der medial durchaus mal sinnvoll ausgeschlachtete Sommerlochschlager. Denn nach der Versetzung des Generalbundesanwalts Harald Range in den Ruhestand ist doch noch nicht die Ruhe eingekehrt, die sich die Regierung Merkel erhofft hatte.
Im aktuellen Augenmerk steht nun zu Recht der Verfassungsschutz, der Strafanzeige gestellt hatte, weil geheime Pläne zu einem neuen Internet-Überwachungsprogramm an die Öffentlichkeit gelangt waren. Dem Argument, dass der Generalbundesanwalt, als er daraufhin Ermittlungen einleitete, nur seinen Job gemacht hätte, kann man sogar folgen: Die Ermittlungsergebnisse dieser Behörde haben sich schließlich in der NSU-Affäre als institutionell ruhestandswürdig erwiesen.
Nun geht es also an den Verfassungsschutz, der so in seinen veralteten Strukturen und Denkmustern verhaftet ist,
(a) dass er erst noch eine Internetabteilung etablieren muss;
(b) dass er Bloggern das Privileg der Pressefreiheit aberkennt;
(c) dass er denkt, diese Entwicklung vor der Öffentlichkeit geheim halten zu müssen und können;
(d) dass er die Weitergabe von Informationen aus seiner Behörde mit der ganzen Kraft seiner Behörde als "Landesverrat" verfolgt.
Es ist ja leider so, dass die Öffentlichkeit relativ wenig Anstoß nimmt an der neuen Dimension der Überwachung durch das Internet. Schlimmer ist jedoch, dass das einzige Ergebnis aus Snowden und der Kanzlerins Handy-Abhöraffaire die Einsicht zu sein scheint, dass sich die deutschen Behörden unabhängig von den USA machen und eigene Kapazitäten für die Bespitzelung ihrer Bürger schaffen müssen.
Man fühlt sich tatsächlich nach 1962 zurückversetzt, wenn mittel-interessante Veröffentlichungen durch Internet-Portale mit dem Argument unterbunden werden sollen, dass sie ohne journalistische Akkreditierung auch nicht in den Genuss der Pressefreiheit kommen würden. Dieser Streit um die Informationshoheit, die von einer schrumpfenden Menge an Medienanstalten verteidigt wird, gehört zu dem antiquierten Verständnis eines Obrigkeitsstaats.
Denn ein freies Internet wird nicht nur unter dem Vorwand von Terrorabwehr und von kommerziellen Interessen bekämpft, sondern eben vor allem von Meinungsmachern und Spin-Doktoren unter sich. Und doch begehren nach dem Vorbild von Chelsea Manning und Edward Snowden immer mehr Menschen auf und gehen mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit. Inge Hannemann, die für ihre Offenlegung von Praktiken des Hamburger Job-Center als Nestbeschmutzerin verfolgt wird, ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Auseinandersetzung um das "Leaken" von Steuergeheimnissen ein Indiz.
Überraschend aber bedeutsam mag in diesem Zusammenhang sein, dass insbesondere die angelsächsischen Länder das "Leaken" von Informationen sehr viel mehr als willkommenes Korrektiv gegen behördliche Beschränktheit betrachten und mit der entsprechenden Gesetzgebung zum Whistleblower- und Quellenschutz deutlich weiter sind als Deutschland. Das soll hier erst einmal den globalen Trend darstellen, dem Deutschland hinterher hinkt und nicht in Abrede stellen, dass es gleichzeitig natürlich diese Länder sind, die sowohl mit ihren Überwachungsprogrammen als auch mit ihrer Verfolgung der symbolträchtigen Whistleblower den Kreuzzug gegen die Öffentlichkeit anführen.
Wenn also Edward Snowden und seine Veröffentlichungen doch eine Bewegung in Gang gebracht haben, die aus der Randgruppe der Nerds und Häcker heraus, die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen aufweicht und die erstarrten Strukturen der Bürokratie des Sicherheitsapparats, über das nächste Sommerloch hinweg, ins Wanken bringt, dann ist es dafür, dass wir ihn würdigen.
Die Forderung nach Asyl für Snowden in Berlin - oder sogar in Tempelhof-Schöneberg, wie es ein aktueller Einwohnerantrag fordert - illustriert dabei die Reichweite seiner Zivilcourage. Denn so universell das Recht auf Whistleblowing sein sollte, so universell ist das Menschenrecht auf Asyl.
Wenn sich nun aber etabliert, dass Whistleblowing, wie es Markus Beckedahl und Andre Meister auf netzpolitik.org vermeintlich getan hatten, nicht geahndet wird, dann ist der Weg frei, auch für die Strafverfolgungsbehörden einzusehen, dass auch Edward Snowden in Deutschland kein Verbrechen begangen hat, also rein politisch verfolgt wird.
Bürgerinnen und Bürger treiben hier die Politik von unterster Ebene und in Tempelhof-Schöneberg haben wir die Vorreiter, die das Grund- und Menschenrecht auf Asyl einfordern.

© (cc) MiMaiMix, August 2015.

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26/08/2015

In einem unbekannten Land

Frank Wismar

Vor gar nicht all zu langer Zeit reiste ich in eine historische Stadt, aus der ich elektronische Grüße schrieb wie: "gr. aus pr.". Hauptbahnhof wird hier mit "hl. n." abgekürzt. Die U-Bahn ist wirklich sehr tief und die Rolltreppen sehr lang und steil, falls man herunterfährt so scheint es, als ob die hochfahrenden Passanten nach vorne geneigt führen und umgekehrt, ein für mich sehr amüsanter optischer Surrealismus. Die überall dort schräg, passend zur Architektur, aufgehängten Werbeplakate haben mich allerdings verwundert, da diese für hoch sowie auch für herunter Fahrende gar nicht so leicht zu lesen sind, da eine schiefe Kopfhaltung im Allgemeinen nicht so beliebt ist, ich konnte die Sprache eh nicht lesen. Manch U-Bahnrolltreppenschacht erschien mir, also ob ich in einer Pyramide, gleich wie das Licht des Sirius ganz unten, in Bälde, dem Pharao am Barte kitzeln könne, dabei traf ich nicht mal Huss, Rilke oder Wenzel dort.
Mittelalterliche Rundkirchen neben Modernem, Kubistisches neben Barockem, volle Plätze, leere Gassen, versteckte Örtchen neben Wnzlspltz, auf dem Krishnas und Chrishten rufen, singen, tanzen und fast schreien, wahrscheinlich für die Touristen, da die meisten TschechInnen wohl dem Atheismus frönen sollen.
Auf einer schönen Moldauinsel betrachtete ich junge Homosexuelle bei einem Tanzkurs auf dem Sande, für Freiheit, gegen Diskriminierung, für das Leben, trank eine mit Konservierungsmitteln und Sternanis getränkte Kofola, nette Gespräche dort mit Menschen aus Slowenien, Aserbaidschan, und den Niederlanden, letztere erzählten mir wie schrecklich sie das finden würden, dass alle glaubten sie seien deutsch, dann entschuldigten sie sich bei mir, weil sie nicht dachten, dass ich deutsch sei, ich meinte mir wäre das egal.
Ein kleines ruhiges Café wurde gesucht und gefunden, in dem ich mich dann auch die meiste Zeit aufhielt, es war so heiß, dass man Sommerverächter hätte werden können, falls noch nicht so wäre; dann fielen Tage lang viele Hundertwasser vom Himmel, die Highlights schau ich mir während meines zukünftigen Aufenthaltes an, so wie die Ausstellung mit Hundertwasser und die mit den mittelalterlichen Gemälden, wo alle aussehen als ob sie zu viel Stechapfel genascht hätten.

© Frank Wismar, August 2015.

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22/08/2015

Eine indonesische Reistafel in Amsterdam

Ferry van Dongen

Wenn man in Amsterdam ist, bietet sich ein indonesisches Essen an. Die indonesische Reistafel gibt es in vielen Restaurants der Stadt. Sie ist eine muntere Auswahl an indonesischen Gerichten, die in kleinen Portionen gereicht wird. Erdnüsse und Chilis dominieren. Allerdings sind die Rezepte und Zubereitungen dem Geschmack der Europäer angepasst. Neben bekannten Gerichten wie den Sateh (Fleischspieße) mit Erdnusssoße, Kroepoek (Chips mit Krabbengeschmack) und Loempia (Frühlingsrollen) gibt es Currysuppe, würzig gebratene Hühnchen, süss-sauere Gurken, herrlich gekochtes Gemüse, mit Kokos abgeschmeckt, gebackene Krabben, natürlich Reis, und vieles mehr. Nachwürzen kann man mit Sambal Oelek, einer Chilipaste, und Ketjap, der indonesischen Sojasoße. Eine Reistafel ist eine wunderbare Mischung unterschiedlich gewürzter Gerichte, die sich in großer Runde noch besser genießen lassen. Wir haben eine Reistafel im Sama Sebo gegessen, einem indonesischen Restaurant unweit des Rijksmuseums.

Die indonesische Reistafel ist eine Erfindung der niederländischen Kolonialherren. Die Niederlande gehörten zu den Kolonialmächten der ersten Stunde und hatten sich vor allem mit dem indonesischen Inselreich eine Kolonie einverleibt, die eine Vielzahl an Rohstoffen und Waren bietet. Gewürznelken, Pfeffer, Kaffee. Sklaverei und Sklavenhandel waren ebenfalls Teil der kolonialen Ausbeutung. Heinrich Eduard Jacob beschreibt die alte Kolonialmacht wie folgt:
"Die Holländer waren keine Träumer. Das unterschied sie von allen Völkern. Von den Spaniern, Franzosen und Deutschen, besonders von den Portugiesen - die alle, auch wenn sie real handelten, in ihren Unternehmungen die Kraft des Traumes einbauten. Die Holländer träumten weder vom Ruhm noch von der politischen Weltherrschaft; sie träumten auch nicht den mystischen Traum, das Königtum Christi auszubreiten. Sie wollten, ganz ohne Nebensinn, aus ihrem Handel Geld machen."

Der wohl bekannteste zeitgenössische Kritiker des niederländischen Kolonialismus war Eduard Douwes Dekker (1820-1887). Unter dem Pseudonym Multatuli veröffentlichte er 1860 seinen Roman »Max Havelaar oder Die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handelsgesellschaft«. Dekker war als Kolonialbeamter auf Java und prangert in seinem Roman die Sklaverei und Ausbeutung der Kolonialmacht an. In Amsterdam kann man sein Geburtshaus besuchen.

Nach dem Essen trinken wir Kaffee an der Herengracht. Wieder lese ich bei Jacob nach.
"Es war ein rechnerisches Geschäft, das unter dem nassen, schweren Himmel Amsterdams ausgeheckt worden war: von schwarz gekleideten Mynheers, wie Rembrandt sie oft konterfeit hatte. Der Lärm des Hafens drang nicht hinein in ihre Konferenzzimmer, in denen die langen und leeren Tische die Größe der Welt symbolisierten. Immer schien draußen Herbst zu sein und ein unfreundlicher Wind wehte Baumlaub in die Grachten... Hier saßen sie, mit der Tonpfeife Rede und Gesichter wärmend, während ein mächtiger Steinkamin Buchenklotz um Buchenklotz fraß. Hier zeichneten die Kaufleute Kapital für die große Ostindienfahrt, die auf dem von den Portugiesen gebahnten Seeweg vonstatten ging; hier wurden Reedereien gegründet, die für gemeinsame Rechnung fuhren."
Blickt man auf die alten Häuser der Kaufleute, die hier an den Grachten stehen, kann man sich dieses Bild gut vorstellen. Der Kolonialismus ist Geschichte. Heute haben wir die Globalisierung. Und in Amsterdam sitzen die Global Player nicht mehr an den Grachten. Die indonesische Küche ist seit langem fester Bestandteil der niederländischen Fast Food Industrie: Loempia, Erdnusssoße, und Bami-Buletten. Jedenfalls hatten wir Glück. Es war ein sonniger Tag im Juni, wolkenlos.

Tipps:
Heinrich Eduard Jacob: Kaffee - Die Biographie eines weltwirtschaftlichen Rohstoffes, oekom Verlag, München 2006, 360 Seiten, ISBN-13: 978-3-86581-023-6.
Multatuli Museum: http://www.multatuli-museum.nl

© Ferry van Dongen, August 2015.

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18/08/2015

Laue Sommernacht (August 2015)

Dr. Christian G. Pätzold

Vor dem Café des Mehringdamms auf dem Bürgersteig habe ich einen Sitzplatz ergattert.
Die Hipster des Bergmannkiezes flanieren vorbei.
Es gibt auch chinesische Gesichter, junge Männer mit Rastalocken.
Einige Passanten im Businessdress wirken wie Außerirdische.
Bermudashorts sind groß in Mode, einige Hot Pants sind zu sehen, Flip-Flops, Inszenierungen.
Die Luft ist so lau, nicht gerade heiß in dieser Nacht, Hochsommerruhe.

Nebenan im Berliner Büchertisch trifft sich Nepomuk Ullmanns Kreuzberger Literaturwerkstatt.
Umgeben von Regalen bis hoch an die Decke mit hunderten von bunten Büchern der Abteilung Belletristik.
Nepomuk lässt seinen Bowlerhut rumgehen, um für sich zu sammeln.
Ja, auch Dichter können nicht nur von Luft und Liebe leben.
Sie brauchen auch Geld für Schreibpapier und Porto.
Ein Flasche Cola muntert mich auf.

Raus aus dem zweiten Hinterhof, aus dem Fabrikgebäude.
Am klaren Nachthimmel sieht man keine Sterne, etwas Kleines glitzert, wahrscheinlich die ISS.
Am U-Bahnhof warten die Jugendlichen eine Stunde auf ein Gemüsekebap.
Eine Riesenschlange, früher in der DDR hieß das Mangelwirtschaft.
Heute ist das Multi-Kulti-Kult.
Berlin ist leerer, denn viele sind weg im Urlaub.

Bald ist es September, der grausame Winter, was bringt das nächste Jahr?
Noch mehr Flüchtlinge? Noch mehr AfD-Wähler?
Grexit? Brexit? Spexit? Portuexit? Italexit? Der Kollaps von Europa?
Die Seligsprechung von Dr. Angela Merkel?
Noch mehr Kriege? Noch mehr Bomben? Noch mehr Selbstmörder?
Noch mehr Überwachung der Bevölkerung? Noch mehr Unterdrückung?

Ach du Schreck, in diesem Gedicht reimt sich ja gar nichts.
Die Kreuzberger Nacht ist noch lang, ein seltsamer Schwebezustand.
Verdacht, dass der Sommer bald vorbei ist.
Die Menschen bleiben wie sie sind, wenn sie keine Einsicht bekommen.
Der U-Bahn-Schacht verschlingt mich.
Die Fahrt nach Hause kostet 2,70.

© Dr. Christian G. Pätzold, August 2015.

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14/08/2015

Das Rätsel der Leuchtstäbchen

Dr. Christian G. Pätzold

Leuchtstäbchen oder Glowsticks sind von Pop-Konzerten bekannt. Sie leuchten auf geheimnisvolle Weise in der Dunkelheit, und wenn man sie hin und her schwenkt, entsteht eine seltsame Stimmung. Auch ich war fasziniert von Leuchtstäben in verschiedenen Farben, die es bei Kik für einige Cent zu kaufen gibt. Ich wusste aber nicht, warum sie leuchten. Ich habe es gegoogelt und herausgefunden, dass das Leuchten auf der Chemolumineszenz beruht. In den Kunststoffröhren sind zwei chemische Flüssigkeiten in getrennten Kammern. Wenn die Stäbe geknickt werden, bricht die Glasbarriere, die Flüssigkeiten vermischen sich und der Stab beginnt zu leuchten. Ich vermute, dass meine Faszination für die Knicklichter oder Leuchtstäbchen aus einer geheimen Sehnsucht nach Erleuchtung entspringt. Hinterhältigerweise werden die Leuchtstäbchen auch in großen Mengen vom Militär benutzt.
Bei Glühwürmchen, die in warmen Sommernächten leuchten, ist es so ähnlich. Denn Glühwürmchen glühen in Wirklichkeit nicht, sie werden nicht so heiß, dass sie vor Hitze leuchten. Bei ihnen findet eine chemische Reaktion statt, so dass kaltes Licht entsteht. Und übrigens sind es auch keine Würmchen, sondern Käfer, die mit ihrem Leuchten Partner anlocken. Glühwürmchen sind daher in Wirklichkeit Leuchtkäfer.
Die chemische Reaktion des Leuchtens entsteht, wenn zwei Substanzen, die komplizierte chemische Namen haben, aufeinander treffen. So ist es auch bei zwei Menschen. Wenn die Chemie stimmt, entsteht ein Leuchten. Wenn die Chemie nicht stimmt, dann beginnen sich die Menschen zu bekriegen.
© Dr. Christian G. Pätzold, August 2015.

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09/08/2015

Die Berlinische Galerie ist neu eröffnet

Dr. Christian G. Pätzold

Berlinische Galerie
Blick in die Ausstellung Björn Dahlem, fotografiert vom Autor.


Berlin hat glücklicherweise viele sehr schöne Museen. Eine dieser Perlen ist die Berlinische Galerie/Museum für Moderne Kunst in der Alten Jakobstraße 124 in Kreuzberg, ein Landesmuseum. Es gehört also den Berlinerinnen und Berlinern. Ich wollte mal wieder nachsehen, was es Neues gibt, zumal die Berlinische Galerie jetzt nach Sanierung neu eröffnet ist. Die Berlinische Galerie zeigt in Berlin seit 1880 produzierte Kunst. Das ist das Kriterium der Sammlung.
Im Moment gibt es 4 Ausstellungen:
- Radikal Modern - Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre
- Bernhard Martin - Fred-Thieler-Preis 2015
- Björn Dahlem - Mare Lunaris
- Sammlungspräsentation: Kunst in Berlin 1880-1980.
Zusätzlich gibt es noch das Museumscafé Dix, eine Bibliothek mit Kunstbüchern und einen Museumsshop. Der Besuch hat sich gelohnt, denn der ganze Inhalt ist inspirierend.
© Dr. Christian G. Pätzold, August 2015.

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04/08/2015

Neulich bei einem Poetry Slam

Dr. Christian G. Pätzold

Allmählich beginne ich zu verstehen, wie der Berliner Literaturbetrieb funktioniert. In letzter Zeit habe ich einige Literaturkreise kennen gelernt, als ich mich umgesehen habe, was die Schriftsteller so machen. Dabei kann es nicht schaden, wenn man soziologische Grundkenntnisse hat. Die Kreise sind relativ abgeschlossene Zirkel, die jeweils um die 50 Personen umfassen. Und sie sind altersmäßig relativ homogen zusammengesetzt.
Nachdem ich die Kreise der Ü40-, Ü60- und Ü80-Literaten kennen gelernt hatte, wollte ich auch mal die ganz jungen Ü20-Schriftsteller sehen. Sie treffen sich bei Poetry Slams, die gerade wie Pilze überall aus dem Boden sprießen. Deswegen bin ich mal zu einem Slam hingegangen. Bei einem Slam treten mehrere Dichter gegeneinander an. Das Publikum entscheidet, wer eine Runde weiter kommt. Der Sieger erhält am Ende einen kleinen Preis. Es gibt sogar einen deutschen Meister im Poetry Slam. Und auch für Poetry Slammer ist es die Krönung, ihre Texte als gedrucktes Buch herauszubringen.
Das englische Wort Slam, gesprochen /sslämm/, ist wahrscheinlich ein lautmalendes Wort mit der Bedeutung Knall. Andere meinen, dass es aus dem Skandinavischen stammt. Es ist nicht zu verwechseln mit Slum (Elendsviertel) oder mit Slim (schlank). Poetry Slam bedeutet also eigentlich Gedichte-Knall, aber das sagt natürlich niemand. Denn unsere Anglizismen sind einfach international verständlicher. Trotzdem muss ich sagen, dass mache Slammer ihre Gedichte ganz schön rausknallen.
Der Berliner Poetry Slam, bei dem ich war, hieß »Saalslam« und fand im Heimathafen Neukölln im Saalbau, Karl-Marx-Straße 141, statt. Am Dienstag, 21. Juli 2015, 20:30, Eintritt 5 Euro. Clevere Kulturveranstalter machen da ganz schön Kasse. Dass es in Neukölln Leute gibt, die für Poetry 5 Euro Eintritt zahlen, wundert mich doch sehr. So etwas gab es in meiner Jugendzeit noch nicht. Damals in den 1970er Jahren sind in der Neuen Welt in der Hasenheide Befreiungskämpfer aus Simbabwe aufgetreten und haben für ihren Kampf Geld gesammelt. Und dass es genug Poeten gibt, die ihre Poetry vortragen wollen, das wundert mich auch. Wieso ist die Gesellschaft in den letzten Jahren so viel poetischer geworden? Weil es alternativlos ist? Ich weiß es nicht. Darüber sollte man sich aber mal mehr Gedanken machen.
Es war schönstes Sommerwetter in Rixdorf, 25 Grad, und trotzdem strömten die Leute wie die Verrückten in den Saalslam. Da kamen riesige Schülergruppen mit ihrem Deutschlehrer, vermutlich aus West-Deutschland auf Klassenfahrt. Im 19. Jahrhundert war hier in Rixdorf reichlich Musike. Heute gibt es Slams. Aber nicht nur hier, sondern inzwischen auch in Prenzlberg, Steglitz etc. Jeder Besucher bekam einen Stempel auf den Handrücken und zwei Poker-Chips zum Abstimmen. Die Poker-Chips glitzerten so schön mit ihren Hologrammen in der Dunkelheit, dass ich nicht abgestimmt und dafür die Poker-Chips behalten habe. Außerdem stand auf einem Chip der Wert von 100 Euro.
Der große Saal ist edel. Die 9 Slammer der ersten Runde waren alle gut, kann man sagen, richtige Entertainer, die schon reichlich Erfahrung von Auftritten haben. Sie durften jeweils maximal 5 Minuten reden. Ihre Slam Poetry ist eine Mischung aus Poesie, Kabarett, Comedy, Clownerie und Rap. Manche tragen frei aus dem Kopf vor, andere lesen vom Papier oder aus ihrem Buch ab. Ihre Poetry handelt vom Zeitalter der Dinosaurier, von einem Besuch in Disneyland in Paris oder von einem Flug nach Boston. Alles sehr nett und humoristisch, allerdings gesellschaftspolitisch gesehen ziemlich irrelevant (daher auch die Deutschlehrer mit ihren Pennälern).
In der Pause wurde abgestimmt. 4 Slammer kamen in die zweite entscheidende Runde. Siegerin war schließlich Lisa Eckhart aus Österreich. Die kleine blonde Österreicherin mit dem gewissen Akzent hat in der Slammer-Szene schon einen Ruf. Sie hat auch Videos auf YouTube. Zu ihrem Sieg hat wohl auch beigetragen, dass sie auf der Bühne verbal masturbiert und onaniert hat. Als 1. Preis bekam sie einen Büchergutschein über 15 Euro vom Buchladen Leseglück in der Ohlauer Straße in Kreuzberg. Der zweite Sieger bekam eine 0,7-Liter-Flasche Mampe-Wodka, der mit dem kleinen weißen Elefanten, dessen kulinarische Qualität ich allerdings für fragwürdig halte.
© Dr. Christian G. Pätzold, August 2015.

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30/07/2015

Siebenschläfer

Gesang: Frank Wismar (Nana), Stutzflügel: Lena Müller (Willi),
Text & Komposition: Henner Reitmeier

Siebenschläfer

Siebenschläfer, scheint mir 'ne Verhöhnung,
toben sie doch gerne Nachts,
grad 'ne Handbreit über meinem Bett,
auf dem Dachboden herum.
Kegeln mit den eignen Ködeln,
dann wird wieder genascht,
fressen meine Ökomattendämmung,
denn die ist gesund.

Aus: Fast keine Lieder!
Ein Zwergliederzyklus von Nana und Willi nach Worten und Weisen von Henner Reitmeier.
© Henner Reitmeier, http://siebenschlaefer.blogger.de/,
Frank Wismar, nanavongestern(at)yahoo.de, 2015.

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29/07/2015

The Poplar-Field, 1784

William Cowper

The poplars are felled, farewell to the shade
And the whispering sound of the cool colonnade:
The winds play no longer and sing in the leaves,
Nor Ouse on his bosom their image receives.

Twelve years have elapsed since I first took a view
Of my favourite field, and the bank where they grew,
And now in the grass behold they are laid,
And the tree is my seat that once lent me a shade.

The blackbird has fled to another retreat
Where the hazels afford him a screen from the heat;
And the scene where his melody charmed me before
Resounds with his sweet-flowing ditty no more.

My fugitive years are all hasting away,
And I must ere long lie as lowly as they,
With a turf on my breast and a stone at my head,
Ere another such grove shall arise in its stead.

'Tis a sight to engage me, if anything can,
To muse on the perishing pleasures of man;
Short-lived as we are, our enjoyments, I see,
Have a still shorter date, and die sooner than we.

William Cowper, 1731-1800.

In Erinnerung an unsere Freunde die Bäume, die in Berlin gefällt werden.
Ouse ist ein Fluss in England.
Auf das Gedicht hat Edelgard Achilles hingewiesen.
© William Cowper, 1784.

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23/07/2015

Ebenezer Howard und seine Garden City

Dr. Christian G. Pätzold

Ebenezer Howard (1850-1928) war ein englischer Städteplaner und der Erfinder der Gartenstadt. Seine Gartenstädte sollten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Lösung für die ungesunde Mietskasernenmisere der Industriearbeiter sein. Sein Hauptwerk ist »Garden Cities of Tomorrow« aus dem Jahr 1902. Das Gartenstadt-Konzept von Howard besteht aus einer Kernstadt, um die in einiger Entfernung sechs Gartenstädte ringförmig angelegt sind. Alle diese Städte liegen mitten in der Landschaft, also im Grünen. Für die Kernstadt sah er 58.000 Einwohner vor, für die Gartenstädte 32.000 Einwohner. Jede Stadt sollte unabhängig sein und sowohl Wohnsiedlungen mit Gärten als auch Arbeitsstellen und kulturelle Einrichtungen haben. Auf die Idee der Gartenstadt kam er durch das Studium des utopischen Romans von Edward Bellamy »Loooking Backward« von 1888.
In England verwirklichte Howard seine Ideen mit der Gartenstadt Welwyn nördlich von London, die in den 1920er Jahren entstand. Er war auch von der deutschen Gartenstadt Hellerau bei Dresden sehr angetan, die er 1912 besuchte. Er lobte besonders die dort gelungene Verbindung der Arbeitsstätten mit den Wohnhäusern in unmittelbarer Nähe, sowie die kulturellen Möglichkeiten. Hellerau entstand in den 1910er Jahren um die »Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst«, die vor allem Möbel herstellten. Die ganze Entwicklung hin zur Gartenstadt in Deutschland ist im Zusammenhang mit der Lebensreformbewegung vor dem Ersten Weltkrieg zu sehen.
Ebenfalls aus der Lebensreform entstand die Obstbaugenossenschaft Eden in Oranienburg bei Berlin, die so etwas wie eine Gartenstadt im Miniaturformat war. Sie wurde um 1900 gegründet, aber von ihren Idealen ist nicht mehr viel übrig geblieben. Der ursprüngliche Vegetarismus hat sich nicht durchgesetzt, die gemeinsame Obstproduktion hat leider auch die Jahrzehnte nicht überlebt. Aber geblieben sind die schönen Gärten und die schönen Häuser, in denen man sicher gerne lebt. Und es gibt noch ein Museum, das an vergangene glorreiche Tage erinnert und einen Besuch lohnt.
Heute steckt Berlin im Bau-Boom-Fieber. Wo es nur geht, wird von den Politikern "nachverdichtet". Verdichtet hört sich vielleicht poetisch an, ist aber mit der Vernichtung von immer mehr Grün verbunden. Beim Verdichten geht es darum, immer mehr Menschen auf engstem Raum zusammenzudrücken. Die grüne Stadt wird immer mehr zur grauen Stadt. Wie viel Lebensqualität könnte man stattdessen erreichen, wenn man sich an dem Konzept der Gartenstadt orientieren würde. Vor allem die Grünzüge in Berlin müssten erweitert bzw. überhaupt erst geschaffen werden. Bäume sind der beste Schallschutz, sie spenden Sauerstoff und filtern Schadstoffe aus der Luft. Außerdem ist das Grün der Bäume gut für die Augen. Aber Grünfläche ist natürlich nicht gleich Grünfläche. Die steril gestalteten Rasenflächen des Senats sind ökologisch gesehen ziemlich wertlos.
Da es um mein eigenes Lebensumfeld geht, engagiere ich mich natürlich. Das ist mein gutes Recht. In Friedenau soll gerade ein einmaliges Biotop zerstört werden, in dem mir Nachtigallen, Eichhörnchen und Füchse begegnet sind. Jeder hat ein Recht, sich dagegen zu wehren, wenn irgendwelche Politiker gegen die Interessen der Menschen vorgehen. Warum machen die Politiker das denn?
Literatur: Das Buch von Ebenezer Howard: Gartenstädte von morgen, ist auf Deutsch im Buchhandel erhältlich.
© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2015.

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19/07/2015

Über den Schriftsteller Gerhard Zwerenz

Dr. Christian G. Pätzold

In der vergangenen Woche ist der deutsche Schriftsteller Gerhard Zwerenz (1925-2015) mit 90 Jahren gestorben. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie aus Crimmitschau in Sachsen. In seiner Jugend war er zwei Jahre Soldat im Zweiten Weltkrieg, bis er 1944 zur Roten Armee überlief, was das einzig Richtige war, was er hätte tun können. Von 1953 bis 1956 studierte er Philosophie bei Ernst Bloch in Leipzig. (Das hätte ich auch gerne getan, denn Ernst Bloch war einer der besten Philosophen des 20. Jahrhunderts, aber damals war ich noch ein Kleinkind.) Von 1949 bis 1957 war Gerhard Zwerenz Mitglied der SED in der DDR, wanderte dann aber nach Westdeutschland aus. Seitdem war er Schriftsteller. Er blieb ein unabhängiger Kopf, der sich weder von der DDR noch von der BRD vereinnahmen ließ. Für die antiautoritäre westdeutsche Linke wurde er zu einem ganz wichtigen Schriftsteller. Er war im Grunde ein 68er, obwohl er zur Vätergeneration der 68er gehörte. Eine ganz seltene Erscheinung.
Der politisch und links denkende Mensch hat viele Bücher veröffentlicht. Sehr bekannt wurde er mit dem Buch »Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond« von 1973 über den Frankfurter Immobilienspekulanten Ignatz Bubis. Dort hat er gleich zwei heilige Kühe geschlachtet, den Kapitalismus und das Judentum. Die waren und sind immer noch in Deutschland Tabus, die Aufruhr verursachen. Insofern war es mit Zwerenz so ähnlich wie mit zahlreichen anderen Schriftstellern, die mit einem Tabubruch berühmt wurden. Neben seinen politischen Romanen hat er auch erotische Texte und Krimis verfasst. Und er war mit Rainer Werner Fassbinder befreundet. Daher trat er auch als Gastdarsteller in Fassbinders Monumentalfilm »Berlin Alexanderplatz« von 1980 auf. Fassbinder hat das Buch von Zwerenz zu dem Theaterstück »Der Müll, die Stadt und der Tod« umgearbeitet, was einen hübschen Theaterskandal verursachte. Auch mit Rudi Dutschke war er befreundet.
Zwerenz schrieb in seinem Buch »Soldaten sind Mörder. Die Deutschen und der Krieg« von 1988:
»Die Desertion ist die wahre Friedenspflicht. Indem ich mich weigere, bin ich. Werde ich bedroht und verfolgt, muss ich mich verteidigen, und die Desertion geht in die Rebellion über. Beides ist gerechtfertigt. Das ändert sich, gründen die Rebellen ihrerseits einen Machtstaat. Psychologisch gesehen, nehmen sie die vordem abgelehnte, bekämpfte Rolle des Vaters an und werden ihm gleich. Es gehört eine ziemliche Kurzsichtigkeit dazu, nicht wahrzunehmen, dass sich in allen siegreichen Revolutionen der Weltgeschichte bisher genau der autoritäre Charakter als Führungsfigur durchsetzte, gegen den die Revolution sich gerichtete hatte. So mündet Geschichte über die Revolution nur in weitere Kreisläufe, statt auszubrechen. Der Ausbruch aber bedarf eben der individuellen Fahnenflucht, der rebellische Akt muss sich massenhaft vollziehen, die Weigerung, der Fahne zu dienen, muss der neuen Fahne gegenüber bestehen bleiben.«
In den 1990er Jahren war Zwerenz für die PDS Mitglied des Deutschen Bundestags, was er in dem Buch »Krieg im Glashaus oder der Bundestag als Windmühle« von 2000 verarbeitete. Später rief er dazu auf, Die Linke zu wählen. Unter www.poetenladen.de hat Zwerenz so etwas wie eine Autobiographie verfasst. Irgendwie scheint er alles richtig gemacht zu haben in seinem Leben.
© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2015.

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16/07/2015

Tagebuch 1973, Teil 4: Am Schwarzen Meer (Russland)

Dr. Christian G. Pätzold

Wenn man seine Weltanschauung entwickeln möchte, sollte man sich die Welt näher anschauen.

15. Juli 1973, Rostow-na-Donu - Gelendschik, Sonntag

Vielleicht ist eine Chemiefabrikbesichtigung in Rostow auf der Rückfahrt möglich, die sonst nur mit Gruppe möglich ist. Wir haben eine Reifenpanne durch Steine auf der Fahrbahn. Bohrtürme stehen in Sonnenblumenfeldern. Viele Frauen sind als Busfahrerinnen in den Städten zu sehen. Die Preise auf unseren Campingplätzen sind bis über doppelt so hoch wie in normalen Geschäften. In der Sowjetunion gibt es Direktstudium, Fernstudium und Abendstudium. Mehr als 3-Zimmer-Wohnungen gibt es fast gar nicht. Über Noworossijsk, die Hafenstadt am Schwarzen Meer, fahren wir zum Badeort Gelendschik. Wir sind jetzt am Fuß des Kaukasus.
Im Kurpark von Gelendschik erleben wir die Kurkapelle, die viele westliche Schlager spielt. Ein Russe wollte von uns Filmschauspielerbilder aus Westdeutschland. Die haben wir natürlich nicht dabei. Da Gelendschik ein Ferienzentrum ist, wird der Zeltplatz auch viel von Russen genutzt. Die Städte sehen hier recht aufgeräumt und freundlich aus. In dieser Gegend am Schwarzen Meer wachsen schon Palmen, so dass ich einen kleinen Vorgeschmack auf die Tropen bekomme. Bäuerinnen verkaufen Obst an den Landstraßen im Privatverkauf. Viele Leute warten auf Busse, auch die Laster sind voll besetzt.

16. Juli 1973, Gelendschik - Sotschi, Montag

In der Schulausbildung in der Sowjetunion gibt es eine sehr frühe Spezialisierung. In einigen Sprachschulen gibt es schon ab der 2. Klasse Sprachunterricht. Ab der 10. Klasse kann man von der Schule abgehen. Auf den Dolmetscherschulen muss man neuerdings 2 Fremdsprachen lernen. Die Bushaltestellen unterwegs sind sehr schön mit Mosaiken dekoriert. Wir fahren teilweise direkt am Schwarzen Meer entlang.
In Tuapse essen wir zu Mittag in einer Stolowaja. Die Stolowajas sind preiswerte Selbstbedienungshallen, in denen man 3 Gänge unter 1 Rubel bekommt. Eine tolle Einrichtung. Ich esse viel Kohl mit Bulette und Fleischpastete. Es gibt auch Milchkaffee, Tee, Tomatensaft, Brot, Ei. Der Tauschkurs für DDR-Bürger ist 1 Rubel zu 3,20 Mark, aber angeblich auf 60 Rubel begrenzt. Der Campingplatz in Sotschi ist sehr voll.

17. Juli 1973, Sotschi, Dienstag

Am Strand von Sotschi. Intourist bietet eine Fahrt zur Teeplantage für 20 DM an, mit Hubschrauber für 44 DM! Darauf verzichten wir und halten unsere Urlaubskasse zusammen. Rubel werden für Ausflüge nicht angenommen. Auf dem Campingplatz bietet jemand orthodox-christliche Ikonen und Marihuana für West-Jeans und West-Hemden an. Auch auf dieses Angebot verzichten wir. Die Bevölkerung macht einen freundlichen und entspannten Eindruck. Beim Baden wurden wir von Kindern sehr herzlich angesprochen. Am Strand gibt es keine überhöhten Preise. Intourist hat einen eigenen abgetrennten Strandabschnitt, der aber auch für Russen zugänglich ist. Allerdings kostet selbst die kalte Dusche am Strand Geld.
Nein, das Schwarze Meer ist nicht schwarz, sondern blau wie das übrige Wasser auch. Zum Ursprung des Namens Schwarzes Meer gibt es nur Vermutungen, aber die alten Griechen haben es schon Pontos Melas (Schwarzes Meer) genannt.
Noch etwas Seltsames: Unser Dolmetscher in Charkiw gab zu, dass russisches Benzin in US-Amerikanischen Flugzeugen im Vietnamkrieg eingesetzt wird, sagte aber, dass die Amerikaner dafür bezahlen. Ich sehe die Notwendigkeit von US-Coca-Cola-Fabriken in der Sowjetunion nicht ganz ein.

18. Juli 1973, Sotschi, Mittwoch

Stadtrundfahrt in Sotschi. Besuch im Beriozka-Laden, wo es nur Touristenkram gibt. (Beriozka hießen die Läden in Russland für Ausländer, in denen es bessere Waren für harte Währung gab). Ein Typ hat eine Marihuanazigarette geraucht und wollte 100 Rubel für eine Jesus-Ikone, oder Westwährung (lieber) oder Westkleidung. Die Ikone hatte er in einem Kinderwagen versteckt, war wahrscheinlich neuester Produktion. Wir wollten natürlich absolut keine Ikone, und hätten sie wahrscheinlich auch gar nicht über die Grenze bekommen. Wasserski ist möglich am Intouriststrand in Sotschi.
Wir besuchen die bekannte Matsesta-Heilquelle in Sotschi, SO2, Sanatorium, 5,7 Millionen Bäder jährlich. Im Kino läuft ein amerikanischer Musikfilm. Unsere Dolmetscherin meint: "Schöne Farben". Die Sanatoriumsgutscheine werden von den Betriebsärzten und der Gewerkschaft verteilt. 30 % müssen vom Arbeiter bezahlt werden, ebenso alle Medikamente. In der Sowjetunion kommen 28 Ärzte auf 10.000 Einwohner. Unsere Dolmetscherin bekam als Prämie im Wettbewerb zwischen Intouristfilialen für den 2. Platz 30 Rubel. Im Kindergarten sind die Preise nach den Einkommen der Eltern gestaffelt. Am Schwarzen Meer gibt es viele Pionierlager. Wir haben ein Gespräch mit einer Deutschlehrerin. Sie sagt, dass Theaterstücke von Dürrenmatt und Frisch gespielt werden. Einige Preise: Kofferradio 40 Rubel, Stehradio 70 Rubel, Tonbandgerät 200 Rubel. Die Lehrerin hatte noch nichts von der antiautoritären Studentenbewegung gehört.

19. Juli 1973, Sotschi, Donnerstag

Reparaturen am Auto: Blinker, Reifen gewechselt, Öl nachgefüllt. Wir haben zum ersten Mal die Roteltourleute getroffen. Es sind hauptsächlich ältere Leute, die mit einem Bus mit sargähnlichen Bienenwaben durch die Welt fahren. In den Bienenwaben schlafen sie. Sie leben von deutschen Konserven, die vom Fahrer, der gleichzeitig der Koch ist, aufgewärmt werden. Eine Mordsarbeit für den Fahrer. Ein DDR-Tourist meinte, die westdeutschen Wirtschaftskrisen kämen vom Streiken der Arbeiter. Er meinte weiter, über hohe Mieten in der BRD diskutiere er nicht, weil die Arbeiter zu faul wären, ein eigenes Haus zu bauen. Er war Handwerker, kein Genosse, und fuhr einen Moskwitsch mit Wohnwagen. Ein Jusotyp aus dem Rotelwagen erzählt, dass er versehentlich eine Brücke mit Bunker fotografiert hat, es sei jemand mit einem Bajonett gekommen etc. In Sotschi gibt es Stolowajas und aufgemotzte Touristenrestaurants, in die man nur mit langen Hosen reinkommt. Ich habe ein Touristenrestaurant mit Zigeunermusik gesehen.
© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2015.

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10/07/2015

Tagebuch 1973, Teil 3: Charkiw (Ukraine)

Dr. Christian G. Pätzold

"Wie Sie wissen, gehört heute das größte geschlossene ukrainische Gebiet zum Verband der Sowjetstaaten. Ihre weitesten nationalen Freiheiten und Rechte haben die Ukrainer in Sowjetrußland, weil dort die nationale Autonomie der Minderheiten ein heiliges Prestige-Gebot ist."
Joseph Roth, Briefe aus Polen, 1928

12. Juli 1973, Kiew - Charkiw, Donnerstag

Frühmorgens sind wir abgefahren. An einer Tankstelle bekommen wir für unsere Gutscheine kein Benzin. Die Straßenverhältnisse sind bedeutend besser als zwischen Lvov und Kiew. Es gibt richtige Schmirgelpapierstraßen. Unterwegs essen wir Brot, Fisch, Buletten und Pasteten und trinken Limonade. An der Landstraße fotografiere ich ein sozialistisch-realistisches Plakat mit ukrainischer Landschaft im Hintergrund. Wir kommen früh in Charkiw an.
Unser Dolmetscher für den morgigen Tag, Igor Jeroschenko, besucht uns schon zum Abendbrot und ist sehr gesprächsbereit. Wir diskutieren über die sowjetische Politik der friedlichen Koexistenz, über Frieden und Sozialismus, über den friedlichen Übergang zum Sozialismus. Seiner Meinung nach hat Chruschtschow zu viel ins Ausland verschenkt, so dass die Arbeiter gestreikt haben. Heute wird nichts mehr verschenkt. Er sagt, Mao und Stalin können nicht gelesen werden, obwohl sie viel zur Philosophie beigetragen haben. Wir diskutieren über die Stalinfrage. Er sagt: "Solschenizyn übertreibt." Wir diskutieren noch über die Beteiligung der Arbeiterklasse im Produktionsprozess. Vielleicht können wir auf unserer Rückfahrt aus dem Kaukasus am 1. August 1973 ein Traktorenwerk in Charkiw besichtigen.
Rückblick: Heute stehen sich amerikanische und russische Atomraketen immer noch gegenüber, nur erneuert und noch effektiver. Die wollte keiner der Beteiligten abschaffen, besonders die Amis nicht, weil sie glauben, dass sie die besten Atombomben haben. Und von Friedlicher Koexistenz redet heute keiner mehr. Heute herrscht nur noch ein Gleichgewicht des Schreckens.

13. Juli 1973, Charkiw, Freitag

Die Stadtrundfahrt von 11:30 bis 18:00 Uhr ist ungewöhnlich lang für eine Intouriststadtrundfahrt. Man hält uns anscheinend für wichtige Gäste. Ein neuer Schlauch für unseren VW-Bus wird uns kostenlos eingesetzt! Petroleum für den Kocher ist nicht zu bekommen. Mittags essen wir echt ukrainisch, Pasteten und Quarkspeisen, was sehr lecker ist. Das bleibt im Gedächtnis, auch Jahrzehnte später. Hochzeitspaare legen Kränze am Lenindenkmal nieder. Von einem Charkiwer Hippie werden wir nach neuesten Platten und Beatlesfilmen angesprochen. Für Platten werden bis zu 50 Rubel gegeben. Wir haben natürlich nichts dabei. Man geht in westliche Filme. Es gibt einen großen Schwarzmarkt. Die Zigeuner, die vom Betteln leben und nicht sehr beliebt sind, fallen mir auf. Für unseren VW-Bus werden 20.000 Rubel geboten. Aber den brauchen wir ja noch für unsere Reise. Ein Privatauto bekommt man nur durch die Lotterie oder durch Privathandel. Charkiw soll eine Untergrund-Bahn bekommen. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Am Abend sprechen wir mit zwei Amerikanerinnen, Barbara Turner und Carol Turner, die auf den Spuren ihrer Vorfahren unterwegs sind. Barbara Turner haben wir dann 1974 in Kalifornien besucht (dazu später einmal).
Ich habe zwei interessante Fotos gemacht. Das eine Foto von der Barockkirche, angeblich das höchste Gebäude in Charkiw, mit 1,5 Kilogramm Gold. Es gibt 11 Kirchen in Charkiw, davon 6 mit Gottesdienst. Der Atheismus scheint sich irgendwie noch nicht durchgesetzt zu haben. Das andere Foto vom angeblich größten Platz in Europa mit Lenindenkmal und Hochzeitspaar. Im Hintergrund sind Verwaltungsgebäude mit einer Fernsehstation zu sehen. Lenin ist der Gründer der Sowjetunion und entsprechend wichtig. Seine Bildnisse sind allgegenwärtig.

14. Juli 1973, Charkiw - Rostow-na-Donu (Russland), Sonnabend

Die sanitären Anlagen waren in Charkiw unter aller Sau. Während der Fahrt sehen wir überall große Leninplakate am Straßenrand. Benzin kommt aus dem Vergaser, weil sich eine Schraube gelockert hat. Eine Information über die staatliche Politik ist überwiegend nur durch Zeitungen möglich. Die Wahlen zum Stadtsowjet finden alle 2 Jahre statt, zum Obersten Sowjet alle 4 Jahre. Eine öffentliche Beteiligung an den seltenen Sitzungen scheint aber nicht der Fall zu sein. Die Luftverschmutzung im Donezk-Becken, durch das wir fahren, ist recht stark. Viele Leute warten auf Busse, werden aber von Lastern mitgenommen. Frauen tragen oft Wassereimer. Petroleum wird viel gekauft. Die Busse und Laster laufen fast alle mit Benzin. Die Tankstellen haben keine Luft zum Reifenaufpumpen. Jeder hat seine eigene Luftpumpe. Ich fotografiere die endlosen Sonnenblumenfelder der Ukraine, die voll in Blüte stehen. Ein toller Anblick. Mais und Sonnenblumen sind hier die Hauptkulturen.
© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2015.

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05/07/2015

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert,
es kömmt darauf an, sie zu verändern

Karl Marx


© Karl Marx, Elfte These über Feuerbach, Frühjahr 1845.

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03/07/2015

Der Kuss der Muse

Dr. Christian G. Pätzold

Man hört immer wieder, dass die Schriftstellerin oder der Schriftsteller von der Muse geküsst worden sei. Aber bei mir ist noch nie eine Muse vorbeigekommen. Geschweige denn geküsst. Dabei sind die Namen der Musen bekannt: Kalliope, Kleio, Melpomene, Euterpe, Erato, Terpsichore, Urania, Thaleia und Polyhymnia. Von den 9 Musen kümmert sich besonders Kalliope um uns Schriftsteller.
Die Musen sind bekanntlich Göttinnen aus Griechenland. Ihr Vater war Zeus, ihre Mutter Mnemosyne. Bei den früheren Festgelagen auf dem Berg Olymp, als die Griechen noch reichlich Euros gedruckt haben, waren sie regelmäßig anwesend. Ursprünglich hatte ja jeder griechische Dichter seine eigene Muse, so dass es sehr viele Musen gab. Aber die Vielzahl der Musen ist wahrscheinlich den Sparauflagen aus Brüssel und dem IWF zum Opfer gefallen.
Also liebe Kalliope. Vielleicht kanntest du ja bisher meine Adresse nicht. Oder du bist umgezogen und wohnst jetzt in einem anderen Stadtteil. Bitte schreibe mir doch wenigstens eine kurze E-Mail als Bestätigung der Dichterweihe. Meine E-Mail-Adresse findest du oben.
Andererseits, wenn ich es recht überlege, ist diese ganze Küsserei vielleicht sexistisch, und ich möchte ja schließlich politisch korrekt bleiben. Und warum gibt es eigentlich nur weibliche Musen? Ist das überhaupt noch zeitgemäß?
© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2015.

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28/06/2015

Vietnam

Jenny Schon

Neulich es stand am 15. Januar 1967
in der "Washington Post"
wurde ein Forscher ausgezeichnet
der eine Pilzsorte entwickelt hat
die Reisernten vernichtet

Schon früher wurde bekannt
daß in Amerika Züchtungen
von Ruhr-, Gelbfieber, Beulenpest
und Rocky-Mountain-Fieber-Bazillen
lagern

Man sagte mir
nach Auschwitz kein Gedicht mehr
Und doch schreiben sie
von Augen und Händen
über Sonne und Nacht

Jetzt
nach Vietnam
nach Pilzen und Krankheitserregern
müßte man verstummen
aus Angst
dies auszusprechen

Aber nach allem
gibt es Worte noch
Gibt es Worte für die Götter
Worte zum Dank
für das Leiden
Worte zum Dank
daß gequält
und gestorben wird

Nach allem können sie lachen
Audienzen und Empfänge geben
und tun
als würde nichts geschehen

Aus: Jenny Schon, fussvolk - Gedichte für Freunde, Geest Verlag, Vechta 2012.

Der neue Roman von Jenny Schon heißt:
1967 - Wespenzeit, Berlin 2015, dahlemer verlagsanstalt, 17,00 Euro, ISBN 978-3-928832-53-3.

Nicht nur die Beatles sangen 1967 "Love, love, love...!" Auch Gunda Lux, die Romanheldin in dem neuen Roman von Jenny Schon hat Liebesprobleme. Ihr Angebeteter Jett Rink ist zwar zunächst nur ein Roman- und Filmheld, aber während des Flugs nach London im Sommer 1967 steigt er von der Leinwand herab und wird lebendig.
Eigentlich wollte sie ja zu Kalle Marx auf den Londoner Friedhof, zu den Roten Garden in der dortigen Chinesischen Botschaft, aber der Kuss in der Landkommune Hexley war ihr doch die liebste Erinnerung.
Der Sommer der Liebe ist vorbei, in Berlin warten Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, Che Guevara wird ermordet, in Griechenland putscht die Junta, ein kleiner Vorgeschmack auf den Deutschen Herbst.
1967 war der eigentliche Anfang der Achtundsechziger; eine Zeit, die ganz schön das Establishment piekste, eben Wespenzeit.
© Jenny Schon, Juni 2015.

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25/06/2015

Das Netzwerk für eine soziale Stadtentwicklung

Dr. Christian G. Pätzold

Am laufenden Band werden in Berlin Grünflächen platt gemacht und zubetoniert. Der Berliner Senat befindet sich in einem Hauptstadt-Bau-Boom-Rausch. Bei jedem Richtfest macht die Presse Fotos von den Politikern, die sich dann in den Zeitungen bewundern können. Und die Spekulanten und Investoren freuen sich. Leider wählt die Mehrheit der wahlberechtigten Bürger, die überhaupt zur Wahl hingehen, die Systemparteien, egal was passiert. Die Wutbürger am rechten Rand sind immer kurz vorm Nazi und würden jedem Führer hinterher laufen. Aber halt! Es gibt auch noch einige unerschrockene Umweltschützer, die sich für eine lebenswerte Stadt einsetzen. Ihre Homepage hat die Adresse:
www.nets-berlin.de
Ihre 4 Forderungen sind:
- Wirksame Bürgerbeteiligung
- Stopp der Privatisierung und Bodenspekulation mit Grünflächen
- Grünflächen und Gärten erhalten
- Langfristig bezahlbaren Wohnraum sichern.
© Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2015.

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20/06/2015

Ein schönes Fleckchen Erde

Ferry van Dongen

Im Süden der Steiermark gibt es den Naturpark Südsteiermark, der vor allem für Wanderungen, wegen des guten Essens und der manchmal noch besseren Weine bekannt ist. Man muss schon bewusst dort hinfahren, da man selten auf Durchreise in diese Landschaft kommt. Liebliche kleine Berge, bewaldet oder bewirtschaftet von Winzern, muten paradiesisch an.
Wir entscheiden uns für eine Weingartenführung mit Hannes Söll. Söll bewirtschaftet 8 Hektar mit etwa 40.000 Rebstöcken. Wir wandern den Sernauberg hoch und wundern uns schon über die mit Gräsern zugewachsenen Weinhänge rund um den Winzerhof. Der Winzer betreibt seit 22 Jahren Weinbau und hat sich dem naturnahen Weinbau verschrieben. Nein, kein Ökowinzer. Er hat mit den Jahren die Weinhänge immer weniger gespritzt und mehr und mehr der Natur freien Lauf gelassen. Gepflegt werden die Rebhänge mit Schere, Spaten und Sense. Es werden auch keine Nutzfahrzeuge eingesetzt. Er zeigt uns die vielen Wildpflanzen, die sich auf dem lockeren Boden gerne ausbreiten. Da braucht es nichts mehr als ein gutes Klima, um einen guten Wein zu produzieren. Sein Gelber Muskateller wurde nicht umsonst ausgezeichnet. Hannes Söll verschweigt nicht, dass es auch immer wieder Rückschläge gibt. Jüngst erst wurde wieder eine Rebsorte von einem Schädling befallen, was zu 80% Ernteausfall führte. Für einen Weinbauern kann so etwas existenzbedrohend sein. Er lässt sich in seinem Vorgehen aber nicht beirren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass künftig auch Bäume in den Hängen wachsen dürfen. Schließlich ist Wein eine Kletterpflanze. In seinem Weinkeller testet er weiter an Verbesserungen. Ich durfte einen Muskateller probieren, der mit 14% reichlich Alkohol hat, aber einen wunderbaren, ja fantastischen Geschmack. Anschließend wandern wir beschwingt zur nächsten Buschenschank, um uns mit einer Brettljause zu stärken.
In diese Gegend kommt man gerne wieder zurück, wenn nicht bei der Landtagswahl Ende Mai die rechte FPÖ solche Stimmenzuwächse bekommen hätte. In Gamlitz erhielten sie 34,15% der Stimmen. Das ist ein Zuwachs von über 27% gegenüber 2010, und weit über dem durchschnittlichen Zuwachs in der Steiermark. Schon feiern sie sich auf Facebook als "die neue soziale Volkspartei". Gruselig, einfach gruselig!
© Ferry van Dongen, Juni 2015.

12/8/2015

Ökowinzer in Deutschland

Dr. Christian G. Pätzold

Laut Wikipedia gehörten dem Verband Ecovin, das ist der Bundesverband ökologisch arbeitender Weingüter in Deutschland, im Jahr 2014 250 Weingüter mit 1.900 Hektar Rebfläche an. Das waren Weingüter in der Pfalz, in Rheinhessen, in Franken, im Rheingau, am Kaiserstuhl, an der Mosel, in Baden, in Württemberg etc. Sie setzen keine Herbizide, keine Insektizide, keine Fungizide und auch keinen synthetischen Stickstoff-Dünger ein. Es gibt sogar 8 Demonstrationsbetriebe, in denen sich Verbraucher über alle Arbeitsabläufe informieren können. Ökoweinbau? Es geht doch!
© Dr. Christian G. Pätzold, August 2015.

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17/06/2015

Buchtipp: Berlins letzte Geheimnisse von Diane Arapovic

Dr. Christian G. Pätzold

Neulich in der Urania wurden wir über Berliner Geheimnisse aufgeklärt. Berliner Geheimnisse? Wer wüsste die nicht gern? Ich jedenfalls schon. Warum fließt die Spree im Sommer rückwärts? Hatte die SED eine geheime Champignonzucht im Waisentunnel? Hatte Erich Honecker am Alexanderplatz ein Guckloch in einem Plattenbau, um sein Volk heimlich zu beobachten? Warum fehlen 10 Hausnummern am Kudamm? Wurde der rote Marmor aus Hitlers Reichskanzlei im U-Bahnhof Mohrenstraße verbaut? Welcher Berliner hat eigentlich in den 1970er Jahren den Döner Kebap erfunden? Ach ja, sogar Geister, die durch Wände des Bethanien gehen, kamen vor. Grusel! Alle diese Fragen und Geheimnisse sind so bedeutend, dass sich der Abend in der Urania gelohnt hat. Ich habe mir das Buch gleich angeschafft und von Diane Arapovic signieren lassen. Die junge Autorin hat viele Experten befragt und alles schön erklärt. Sie erinnert mich positiv an die Berliner Reportagen von Egon Erwin Kisch aus den 1920er Jahren. Aber ich habe das Gefühl, dass es in Berlin noch viel mehr Geheimnisse gibt.
Buchtipp: Diane Arapovic, Honeckers Guckloch und das verschwundene Stück Kudamm, Berlins letzte Geheimnisse, Berlin 2015 (Rowohlt).
© Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2015.

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14/06/2015

Dr. Jane Goodall und die Schimpansen

Dr. Christian G. Pätzold

Mit der Forschung von Dr. Jane Goodall kam ich Anfang der 1980er Jahre in Berührung, als ich an der Freien Universität Berlin an meiner Dissertation über den Arbeitsbegriff schrieb. Ich interessierte mich damals sehr für die Anthropologie, die Wissenschaft vom Menschen. In der Anthropologie war man lange davon ausgegangen, dass die Arbeit der frühen Menschen durch den Gebrauch von Werkzeugen wie Faustkeilen charakterisiert sei und dass dies ein Unterscheidungsmerkmal der Menschen von den Tieren sei. Durch Dr. Goodall hatte man erstmals erfahren, dass auch wilde Schimpansen Werkzeuge benutzen. So verwenden sie Steine als Schlagwerkzeuge und einen Amboss, um Nüsse aufzuknacken. Außerdem verwenden sie Pflanzenstängel, um Ameisen und Termiten aus ihren Bauen zu angeln. Durch diese Erkenntnisse von Dr. Goodall war die These vom ausschließlichen Werkzeuggebrauch des Menschen widerlegt. Die Schimpansen sind wohl doch näher mit den Menschen verwandt, als manche dachten.
Die nächst höhere Stufe über dem Werkzeuggebrauch war die Werkzeugherstellung, das heißt die Umwandlung von in der Natur vorgefundenen Gegenständen. Auch dabei zeigen die Schimpansen Ansätze, wenn sie den Zweig zum Termitenangeln von seinen Blättern befreien, damit er in den Termitenbau passt. Daher kann man weder den Werkzeuggebrauch (tool use) noch die Werkzeugherstellung (tool making) als ausschließliche Merkmale der Menschen bezeichnen. Natürlich haben die Menschen mit der Technik und der Industrie die Werkzeugherstellung perfektioniert. Aber jedenfalls besitzen die Schimpansen so etwas wie technische Intelligenz.
Wer 30 Jahre lang unter wilden Schimpansen in Afrika gelebt und ihr Verhalten studiert hat, genauer gesagt im Gombe-Stream-Nationalpark in Tansania, muss schon eine außergewöhnliche Persönlichkeit sein. Mir wäre es nicht im Traum eingefallen, 30 Jahre in Afrika zu leben, noch weniger im Urwald, und am wenigsten unter wilden Schimpansen. Aber ich gebe zu, dass ihre Arbeit sehr wichtig war, weil man vorher über unsere nächsten Verwandten sehr wenig wusste. Es gab zwar Untersuchungen an Schimpansen von Wolfgang Köhler und Robert Yerkes aus den 1920er Jahren, aber das waren Laborversuche, keine Beobachtungen an wilden Schimpansen. Daher musste ich Dr. Jane Goodall unbedingt sehen, als sie Anfang Juni 2015 in den Botanischen Garten in Berlin-Dahlem kam. Wann kann man schon mal eine der bekanntesten Wissenschaftlerinnen unserer Zeit live erleben?
Die britische Primatenforscherin Dr. Jane Goodall wurde 1934 in London geboren. Die Anregung zu ihrer Forschung erhielt sie von dem Paläoanthropologen Louis Leakey (1903-1972) Anfang der 1960er Jahre in Afrika. Leakey hoffte, durch das Beobachten des Verhaltens von Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans etwas über das mögliche Verhalten der frühen Menschen zu erfahren. Und dieser Gedanke war richtig.
Jane Goodall ist jetzt im hohen Alter von 81 Jahren immer noch sehr mobil. Am Nachmittag hat sie ein Bienenhotel im Botanischen Garten eingeweiht, das im Rahmen ihres Programms Roots & Shoots gebaut worden war. Das Programm richtet sich an junge Menschen, die sich für Menschen, Tiere und die Umwelt einsetzen wollen. Zu Beginn stößt sie immer den Begrüßungsruf der Schimpansen aus, um die Ähnlichkeit zwischen Menschen und Schimpansen zu unterstreichen. In ihren Armen trägt sie immer ihr Maskottchen, einen Stoffschimpansen mit Banane.
Mit ihrem Jane Goodall Institute in 27 Ländern ist sie auch eine internationale Umweltschützerin. Man fragt sich: Die Umweltprobleme sind heute so groß. Wie kann da eine kleine Frau von 81 Jahren dagegen ankämpfen? Aber sie gibt scheinbar nicht auf und schreibt weiter Bücher und hält Vorträge. Ihr Programm am Abend bestand aus Interviews, Filmausschnitten und Musik. Die 400 Plätze waren voll besetzt und die Besucher waren von ihr begeistert. Sie erzählt, dass sie in letzter Zeit immer mehr von der Botanik fasziniert ist.
Von den Schimpansen weiß sie allerdings auch weniger positive Aspekte zu berichten. Schimpansengruppen führen bspw. unter einander Kriege, in denen es auch zu Toten kommt. Insgesamt sind die wilden Schimpansen heute leider in ihrer Existenz bedroht, durch die Abholzung der Wälder und durch den Bevölkerungszuwachs in Afrika. Daher setzt sie sich für Schutzgebiete für die Schimpansen im Kongo ein. Ich finde, dass Dr. Jane Goodall mindestens so heilig ist wie Mutter Teresa.
Kann man mit Schimpansen kommunizieren? Aber ja! Schimpansen können natürlich nicht sprechen. Aber sie können verschiedene Laute produzieren, die eine Bedeutung haben. Aber die menschliche Sprache mit Wörtern ist doch etwas anderes. Jane Goodall schreibt dazu:
"Von all den Merkmalen, die Menschen von ihren nichtmenschlichen Vettern unterscheiden, ist die Fähigkeit, durch eine differenzierte gesprochene Sprache miteinander zu kommunizieren, nach meiner Auffassung die bedeutsamste. Nachdem sich unsere Vorfahren dieses machtvolle Instrument erst einmal angeeignet hatten, konnten sie Begebenheiten besprechen, die in der Vergangenheit geschehen waren, und komplexe Planungen für die nahe und die fernere Zukunft machen. Sie konnten ihre Kinder lehren, indem sie ihnen etwas erklärten, ohne es demonstrieren zu müssen. Wörter gaben Gedanken und Vorstellungen Substanz, die für immer ungenau und ohne praktischen Wert geblieben wären, wenn man sie nicht hätte ausdrücken können."
Literatur: Jane Goodall, Ein Herz für Schimpansen - Meine 30 Jahre am Gombe-Strom, Reinbek bei Hamburg 1991 (Rowohlt).
© Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2015.

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09/06/2015

Eine kleine Bucht am Nordufer westlich der Anlegestelle

Achim Rosenhahn


Achim Rosenhahn


Das Foto ist in dem Buch zu finden:
Achim Rosenhahn, Liepnitzsee, Bilder und Gedanken, Berlin 2014, Edition Pfingstberg - TEIA Verlag, 32,00 Euro, ISBN 978-3-944658-15-5.
© Achim Rosenhahn, Juni 2015.

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06/06/2015

Warum nachts?

Dr. Christian G. Pätzold

Warum findet in Berlin eigentlich so viel nachts statt? Weil es in Berlin keine Sperrstunde gibt. Daher sind die Menschen hier 24/7 auf der Straße. Dass die Friedenauer Lesenacht nachts stattfindet, kann ich ja noch verstehen. Wahrscheinlich sieht man dann die Pickel der vorlesenden Autorinnen und Autoren nicht so gut. Aber warum muss die Lange Nacht der Wissenschaften nachts stattfinden? Handelt es sich dabei um Okkultismus? Oder warum gibt es die Lange Nacht der Museen, in der die Leute von einer Location zur nächsten hecheln? Oder die Botanische Nacht im Botanischen Garten in Dahlem? Wahrscheinlich weil es so richtig romantisch-kitschig ist, mit Lichtinstallationen und Feuerwerk. Denn im Dunkeln ist gut Munkeln. Und man kann den Pflanzen beim Schlafen zusehen. Wenn es so weiter geht, dann wird die Nacht zum Tag und der Tag zur Nacht.
© Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2015.

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28/05/2015

Tagebuch 1973, Teil 2: Kiew (Ukraine)

Dr. Christian G. Pätzold

"Unmöglich ist es, eine einigermaßen entsprechende Idee jener höheren Gefühle der Bewunderung, des Erstaunens und der Erhebung zu geben, welche die Seele des Reisenden erfüllen und empor drängen."
Charles Darwin, Reise eines Naturforschers um die Welt

9. Juli 1973, Lvov - Kiew, Montag
Um 10 Uhr sind wir in der Intouristfiliale Lvov. Unsere Behandlung ist unfreundlich und gehetzt. Wir tauschen Geld um und kaufen Benzingutscheine. Außerdem kaufen wir die Campinggutscheine bis Sochi (Sotschi) und buchen für jede Stadt einen Dolmetscher. Wir essen Mittag im Restaurant. Der offizielle Umtauschkurs von 1 Rubel zu 4 DM ist völlig unrealistisch.
Wir fahren ab nach Kiew. Zuerst fällt der Blinker aus, weil die Sicherung kaputt ist, dann haben wir eine Reifenpanne, weil wir einen Stein eingefahren haben. Die Straßenverhältnisse sind schlecht, so dass wir nur auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 50 Km/h kommen. Daher ist die Strecke Lvov - Kiew fast nicht zu schaffen. Von Zeit zu Zeit wird unsere Durchfahrt an Kontrollpunkten gemeldet. Die Bevölkerung an der Straße macht einen ärmlichen Eindruck, ist aber sehr neugierig an uns interessiert. Es gibt viele Leninbilder an der Straße. Wir werden einmal angehalten.
Um 12 Uhr nachts kommen wir am Zeltplatz in Kiew an. Ein unfreundlicher Mensch weist uns unseren Platz zu. Der Zeltplatz ist sehr groß und schön angelegt mit Cottages und einem Motel. Die sanitären Anlagen sind allerdings nicht so toll (Stehtoilette).
Rückblick: Die Geschichte der Ukraine in den letzten 40 Jahren ist bekannt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion um 1990 wurde die Ukraine ein selbständiger Staat. Dann ist die russische Armee im Osten einmarschiert. Heute ist alles viel schlimmer als damals, heute ist Krieg. Das erinnert mich an die Niederlande im 17. Jahrhundert. Die deutsche Regierung dachte damals, dass die Niederländer Deutsche wären, die Niederländer wollten aber keine Deutschen sein. Erst nach dem 30-jährigen Krieg bekamen die Niederländer ihren eigenen Staat. Heute denkt die russische Regierung, dass die Ukrainer eigentlich Russen sind, die Ukrainer wollen aber keine Russen sein. Die Deutschen und die Niederländer haben es in Jahrhunderten geschafft, sich gegenseitig zu achten. Hoffentlich bekommen es auch die Russen und die Ukrainer bald zustande.

10. Juli 1973, Kiew, Dienstag
Jetzt habe ich endlich die Gelegenheit, die Sowjetunion etwas näher kennen zu lernen. Im Intourist Service Büro haben wir eine Dolmetscherin bekommen, die gerade eine DDR-Gruppe betreut hatte. Sie ist Komsomolmitglied, das ist der sowjetische kommunistische Jugendverband der KPdSU. Zunächst sind wir noch zur Werkstatt auf dem Campingplatz gegangen. Angeblich gibt es in Kiew keine Vulkanisieranstalt für unseren Reifen, obwohl Kiew mit 1,8 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der Sowjetunion ist. Wir können auch keinen neuen Schlauch in den Reifen einbauen.
Dann die Stadtrundfahrt mit der Dolmetscherin, die etwa 4 Stunden dauert. Sie will gleich mit einem stereotypen Vortrag anfangen, ist dann aber langsam aufgetaut. Unterwegs werden wir angesprochen wegen Schwarzumtausch: 100 DM für 50 Rubel. Für meine Jeans werden 30 Rubel geboten. Aber ich kann ja schlecht in Unterhosen in Kiew rumlaufen. Unsere Dolmetscherin vertritt ganz strikt den Standpunkt der KPdSU, ist jedoch zu einer Diskussion über die sowjetische Außenpolitik bereit, bspw. den Breschniew-Besuch bei Nixon. Auf meine Frage, ob die Studenten zufrieden sind, antwortet sie: "Alle zufrieden."
Wir besuchen noch das größte Kiewer Kaufhaus. Die Waren scheinen für die Einkommen recht teuer. Das Monatseinkommen eines Arbeiters beträgt 150 bis 300 Rubel. Die Stipendien für Studenten liegen bei 40 bis 50 Rubel. Ich muss noch anmerken, dass die Ukrainer eine eigene ukrainische Sprache sprechen.

11. Juli 1973, Kiew, Mittwoch
Heute machen wir einen Stadtrundgang, die Häuser sind schlecht verputzt. Wir bekommen keinen Campinggasballon und kaufen stattdessen einen Benzinkocher für 4 Rubel. Wir fahren mit der Kiewer Metro, die aus einer Linie besteht und sehr tief liegt. Wir sind am Dnepr baden gegangen, dort gibt es einen Sandstrand (Steht so im Tagebuch, ich kann mich aber nicht mehr daran erinnern). In der Stadt werden wir ständig nach Westsachen und Geldtausch angesprochen, von Leuten, die selbst Westkleidung tragen. (Ich kenne das schon aus Ost-Berlin, dort wird man auch nach Westklamotten und Westmark angesprochen.) Auf den Straßen stehen Wasserautomaten, an denen man für wenige Kopeken Wasser ziehen kann.
Vor dem Kiewer Markt fotografiere ich einen Betrunkenen, der auf dem Bürgersteig liegt. Das hätte ich nicht tun sollen, denn sofort kommt ein Offizieller und fragt, ob ich den Betrunkenen fotografiert habe. Er ist sich aber zu fein, ihn von der Straße aufzulesen. Für mich hat es zum Glück keine negativen Folgen. Im Markt von Kiew mache ich dann noch weitere Fotos. Die Anbieter sind alle privat und Preise sind nicht angegeben. Alles ist Verhandlungssache.
Von Intourist im Camping bekommen wir Theaterkarten für ein russisches Boulevardstück, billige Plätze für 2 Rubel. Das Theater ist voll. Dann ertönt Musik: "I like to be in America!" Nanu! Das erstaunt mich doch etwas. Sollten sich die Ukrainer etwa danach sehnen, Amerikaner zu sein? Sehr seltsam. Ansonsten geht es um Kleinbürgerprobleme. Wie benimmt man sich, wenn Gäste kommen? Der Sohn braucht eine gute Ausbildung etc. Heute war mal ein Tag ohne Panne.
© Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2015.

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20/05/2015

Tagebuch 1973, Teil 1: Polen

Dr. Christian G. Pätzold

"Selten haben zween Reisende einerley Gegenstand auf gleiche Weise gesehen, sondern jeder gab, nach Maßgabe seiner Empfindung und Denkungsart, eine besondere Nachricht davon."
Georg Forster

7. Juli 1973, Berlin - Warszawa (Warschau), Sonnabend
Heute ist der erste Tag meiner Weltreise. Ich werde West-Berlin erst nach zwei Jahren wieder sehen. Wir machen uns zu zweit auf die Weltreise, wir das sind Ellen und ich. Auf der ersten Etappe unserer Reise in der Sowjetunion werden wir von Detlev und Evi begleitet.
Rückblick: Manche werden sich vielleicht wundern, dass es mitten im Kalten Krieg möglich war, als West-Berliner in der Sowjetunion zu reisen. Der Zweite Weltkrieg war immerhin noch keine 30 Jahre vorbei. Aber das Reisen war möglich. Es war sogar überhaupt kein Problem. In der Wilmersdorfer Uhlandstraße Ecke Güntzelstraße gab es ein Reisebüro, in dem man Reisen in der Sowjetunion einfach buchen konnte. Einzige Bedingung war, dass man die Reiseroute und die Campingplätze vorher festlegte. Es lag nicht an der Sowjetunion, dass so gut wie kein West-Berliner dorthin fuhr. Vielmehr lag es an den West-Berlinern, denen nicht im Traum eingefallen wäre, ausgerechnet in die Sowjetunion zu fahren. Für den Durchschnitts-West-Berliner waren die Amis die Freunde und die Sowjets die Feinde. So kam es, dass wir 1973 scheinbar die einzigen West-Berliner waren, die in der Sowjetunion reisten.
Bei der Abfahrt in West-Berlin steht der Kilometerstand unseres alten VW-Busses bei 45.470. Rückblickend kommen mir 45.000 Kilometer ziemlich viel vor. Aber es war halt ein gebrauchter Bus. Und er hat uns immerhin bis in den Kaukasus und bis nach Leningrad gebracht. Und er hat es zurück nach West-Berlin geschafft.
Die DDR-Grenze passieren wir ohne Schwierigkeiten, aber wir haben Ölverlust. Wir schütten Öl nach. Die Werkstatt in Frankfurt/Oder ist hilfsbereit, hat aber keine Ersatzteile für VW. Wahrscheinlich ist die Dichtung zwischen Motor und Getriebe undicht. In Polen gibt es mehr VW-Ersatzteile, aber nicht am Wochenende. Von Slubice nach Posnan nehmen wir einen polnischen Tramper mit, Ryszard Kaczmarek. Unser Ölverlust wird geringer. Wir nehmen einen zweiten Tramper mit, Yurek Skomorowski. Um 22 Uhr kommen wir in Warszawa an und finden den Zeltplatz leicht. An den Tankstellen werden auch DM angenommen zu einem guten Kurs.

8. Juli 1973, Warszawa - Lvov (Lemberg), Sonntag
Das Camping kostet 180 Sloty, das Frühstück im Hotel auch 180 Sloty. Der Tramper von gestern zeigt uns die neu erbaute Altstadt von Warschau. Die Nazis hatten die Warschauer Altstadt komplett zerstört. Nach dem Krieg haben die Polen die Altstadt in mühsamer Arbeit wieder originalgetreu aufgebaut. Unser Tramper ist Elektronikstudent und spricht englisch. Ich mache ein paar Fotos in der Altstadt und auf dem Alten Markt in Warschau.
Dann ist es an der Zeit, Richtung Ukraine zu fahren. Unterwegs fällt auf, dass der Kirchenbesuch am Sonntag stark ist. An der Straße sehe ich viele Kruzifixe und Madonnen. Ich bin in einer anderen Kultur, einerseits im Sozialismus, aber andererseits auch im Katholizismus. Es gibt viele Kleinfelder. An diesem Sonntag sind viele Leute auf der Landstraße. Die sowjetische Grenze erreichen wir um 2 Uhr nachts und passieren ohne Schwierigkeiten.
Kurz nach der Grenze ereignet sich der erste kritische Moment der Reise. Unser Benzin ist alle, mitten in der ukrainischen Pampa und mitten in der Nacht. Ich stoppe einen Bus, krame meine paar Brocken Russisch zusammen und frage nach Benzin. Der Busfahrer ist sehr hilfsbereit und schenkt uns 10 Liter Benzin, mit dem auch unser Mini-Bus etwas anfangen kann. Ich bin überrascht, dass der sowjetische Bus mit Benzin fährt und nicht mit Diesel. In Lvov schlafen wir 4 Stunden im Auto. Der Intourist Lvov öffnet um 9. Wir haben jetzt Moskauer Zeit, das heißt es ist 2 Stunden später.
© Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2015.

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12/05/2015

Info: Lesung am 2. Juni 2015

Lesung in der TEIA Verlagsbuchhandlung:
Christian G. Pätzold, Tigergeschichten - Essays zwischen Friedenau, Berghain und Tiergarten.
Am Dienstag, 2. Juni 2015, 18 Uhr.
In der Hedwigstraße 10, 12159 Berlin, am S-Bahnhof Friedenau.
Der Eintritt ist frei.

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06/05/2015

Besuch in Kuhle Wampe

Dr. Christian G. Pätzold

Berlin ist eine Stadt mit vier Ecken. In der südwestlichen Ecke befinden sich das Jagdschloss Glienicke und die Glienicker Brücke, über die ich oft gefahren bin, wenn ich nach Potsdam und weiter ins Havelland wollte. Außerdem gibt es dort im wohlhabenden Südwesten das Schloss Glienicke, Moorlake, Nikolskoe und die Pfaueninsel, alles Orte, die mit preußischer Geschichte aufgeladen sind. In der nordwestlichen Ecke Berlins befindet sich Eiskeller, wo man im Sommer durch die Felder spazieren kann. Das ist der ländliche Zipfel Berlins. In der nordöstlichen Ecke befindet sich Berlin-Buch mit einer Reihe von Kliniken und dem Schlosspark mit der Panke. Und in der südöstlichen Ecke befinden sich Schmöckwitz und Kuhle Wampe. In Schmöckwitz sieht es schon sehr brandenburgisch aus, mit Einfamilienhäusern und Gärten rundherum. Es gibt wohl nur wenige Berliner, die alle vier Ecken persönlich gesehen haben.
Es ist der Wonnemonat Mai, wenn der weiße Flieder wieder blüht. Und die Spatzen zschilpen. Überall in den Bäumen macht es Piep, Piep, Piep! und Tralü, Trala! Was gibt es da Schöneres als zum Mythos Kuhle Wampe raus zu fahren? Doch der Weg ist weit von Friedenau bis zum Zeltplatz Kuhle Wampe. Ich fahre mit der S-Bahn, mit der Tram, zum Schluss mit der Fähre. Der Fährmann ist sehr freundlich. Montags fährt die Fähre allerdings nicht. Die Fährenfahrt dauert nur 7 Minuten.
Der Zeltplatz Kuhle Wampe, gegründet 1913, sieht immer noch so aus wie in Brechts Film von 1932. Die Zelte stehen immer noch dicht an dicht, mit Schnüren im Boden verankert. Der ganze Platz liegt direkt am Wasser der Großen Krampe und im Wald. Es gibt eine Badestelle, was natürlich im Sommer sehr schön ist. Enten schnattern. Der Kiefernwald in der Maisonne hat so eine ganz besondere Stimmung. Blauer Himmel, weiße Wölkchen, grüne Kiefernnadeln, rote Baumstämme, gelber Sand. Auf dem märkischen Sand, bedeckt mit Kiefernnadeln, läuft es sich so luftig, ganz anders als am Strand der Nordsee oder Ostsee.
Am Eingang weht eine große Deutschlandfahne. Na toll! Aus Kuhle Wampe ist ein Hort der Deutschtümler geworden. Es ist seltsam, aber die Menschen in Kuhle Wampe sehen auch wie 1932 aus. Vielleicht liegt es am Zelten. In der Gaststätte gibt es an kulinarischen Köstlichkeiten Maibowle und paniertes Schnitzel mit Pommes und Ketchup (Mayo ist auch möglich). Die Maibowle ist grün und schmeckt nach Marzipan. Erst später sehe ich, dass es auch Blutwurst mit Sauerkraut und Salzkartoffeln gibt. Die Kinder veranstalten gerade ein Kostümfest im Freien. Die Mädchen haben Hexenhüte auf. Der beste Hut wird prämiert.
Ein Zeltplatz im Wald ist an sich eine schöne Sache. Es besteht aber die Gefahr, dass mal ein Ast abbricht oder bei Sturm ein Baum auf die Zelte stürzt. Vielleicht sollte ich noch etwas zur Bedeutung des Namens Kuhle Wampe sagen. Kuhle bedeutet einfach kühl. Und Wampe bedeutet im Berlinischen Bauch. Kuhle Wampe bedeutet also eigentlich eine kühle bauchartige Einbuchtung des Gewässers.
© Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2015.

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30/04/2015

Warum ich den Zeitzeugen nicht getroffen habe

Dr. Christian G. Pätzold

Zeitzeugen sind Menschen, die ein besonderes Ereignis in der Geschichte miterlebt haben und darüber berichten. Es kann auch eine besondere Epoche der Geschichte gewesen sein. Dadurch erhält man aus erster Hand einen Bericht über die Vergangenheit. Das ist sehr wichtig und interessant, denn üblicherweise erhält man nur Informationen von Leuten, die nicht dabei gewesen sind, nur second hand. Die Zeitzeugen sind auch eng mit der "Oral History" verbunden, das heißt mit der mündlichen Überlieferung der Geschichte. Denn Zeitzeugen berichten meist mündlich von ihren Erlebnissen.
Jeder Mensch ist im Grunde genommen ein möglicher Zeitzeuge, weil er eine bestimmte Zeit miterlebt hat. Aber die echten Zeitzeugen sind nur die, die über ihre Zeit nachgedacht haben und das Besondere ihrer Zeit verstanden haben. Sie haben ihren Zeitgeist erfasst und können darüber berichten.
Der Zeitgeist einer Epoche ist ein schwer zu fassendes Phänomen. Meist ist mit Zeitgeist der herrschende Zeitgeist gemeint, das heißt die vorherrschende Denkrichtung einer Zeit, die von der Mehrheit der führenden Intellektuellen vertreten wird. Aber daneben gibt es auch immer oppositionelle Denkrichtungen, die vielleicht zum Zeitgeist der Zukunft werden. Daher ist der Geist der Zeit eigentlich kein Singular, sondern immer ein Plural.
Ende April 2015, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dachte ich dann, dass ich einen Zeitzeugen treffen würde. Anlass war die Enthüllung einer Gedenktafel für einen 17-jährigen deutschen Deserteur, der in den letzten Kriegstagen erhängt worden war. Die Gedenktafel steht in Berlin-Wilmersdorf an der Uhlandstraße Ecke Berliner Straße. Zu der Enthüllung war auch ein überlebender deutscher Deserteur geladen.
Der Deserteur, für den die Gedenktafel errichtet wurde, wurde mit einer Wäscheleine an der Laterne vor dem Haus Uhlandstraße 103 erhängt. Er war von den Nazis in einem Keller gefunden worden, in dem er sich versteckt hatte. Um den Hals hatte man ihm ein Schild mit der Aufschrift "Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen" gehängt. Man ließ ihn zur Abschreckung mehrere Tage an der Laterne hängen. Natürlich war der 17-jährige Deserteur kein Verbrecher, sondern in Wirklichkeit eine Art Hero, der sich weigerte, für die verbrecherischen Nazis zu kämpfen.
Damals in der "Schlacht um Berlin", die am 16. April 1945 begann, wurden einige Deserteure auf den Straßen erhängt. Der Krieg war schon längst verloren, aber die Nazis verbreiteten Durchhalteparolen wie: "Die Reichshauptstadt wird bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone verteidigt." Für Deserteure galt der Satz Hitlers: "Der Soldat kann sterben, der Deserteur muß sterben."
Der angekündigte Zeitzeuge konnte dann doch nicht zur Gedenktafelenthüllung kommen, da er schwer erkrankt war. Dafür kam sein jüngster Sohn und hat gesprochen. Das zeigt schon, dass es altersbedingt gar nicht so einfach ist, Zeitzeugen zu treffen. Zeitzeugen sind oft schon sehr alt und schwach. Daher sind Zeitzeugen Raritäten. Man sollte jede Gelegenheit nutzen, sie zu treffen.
© Dr. Christian G. Pätzold, April 2015.

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24/04/2015

Graf Rumford: "I know everything"

Ferry van Dongen

Wer so etwas sagt, muss von sich selbst schwer überzeugt sein. Sein richtiger Name ist Benjamin Thompson (1753-1814), seine Lebensstationen waren Boston, London, München, und Paris. Diesem "baronisierten Yankee" (Karl Marx) war eine Münchner Ausstellung anlässlich des 200. Todestages gewidmet. Und tatsächlich haben die Münchner ihm heute noch vieles zu verdanken. Zuallererst den Englischen Garten. Aber auch die bis heute nachvollziehbare Stadtplanung mit dem Altstadtring um die Innenstadt. Energiesparende Herde, Bildung - unabhängig von der Herkunft, Forschungen zur Vermeidung von Viehseuchen, gesunde Ernährung sind nur einige weitere Themen, mit denen er sich in seiner Münchner Zeit beschäftigte. Dieser Tausendsassa hat sich zu seinen Lebzeiten noch mit viel mehr Themen beschäftigt. Dabei brachte ihn die Beschäftigung mit dem einen (z.B. kostengünstiges und gesundes Essen) fast zwangsläufig zu dem anderen Thema (z.B. energiesparende Herde). Dies ist eine Erkenntnis, die man beim Rundgang durch die Ausstellung gewinnt. Rumford war immer dem Militär und der politischen Klasse treu und loyal unterstellt, suchte aber seine Vorschläge und Erfindungen zum Wohle der Menschen durchzusetzen.
Der Englische Garten diente anfangs auch der Landwirtschaft, zur Beschäftigung und Ernährung der Soldaten (sog. Militärgärten). Das freute auch Karl-Theodor, den Pfälzer Kurfürsten und Förderer von Rumford. "Anstatt dass die Soldaten sonst die faulsten Menschen waren, so sind sie jetzt die fleißigsten und geschicktesten Gärtner geworden" (Zitat Rumford). Gleichzeitig sollte der Park ein Erholungsraum für alle sein. Landschaft hatte in seinen Augen einen Zweck an sich, einfach mit der Schönheit der Natur da zu sein. Bekannt sind Thompsons Rezepte geworden. Die "Rumfordsuppe" hatte nach Ansicht von Karl Marx den Zweck, "Surrogate an die Stelle der teuren Normalspeisen des Arbeiters zu setzen". Es gibt verschiedene Rezepte, aber es läuft immer wieder auf eine Gemüsebrühe mit Graupen, Trockenerbsen, Brotresten, Bieressig, Salz und Pfeffer hinaus. Sonntags konnte man die Suppe im Innenhof des Stadtmuseums probieren. Sie schmeckt etwas wässrig und salzig. Ich glaube, man hat sich sehr bemüht, das Rezept zur Originalzeit umzusetzen. In einer Variante werden auch gestampfte Kartoffeln mitverkocht. So hat er den Bayern die damals ungeliebte Kartoffel untergejubelt.
Die Ausstellung wurde am 19. April 2015 beendet. Im letzten Jahr gab es auch ein Kunstprojekt junger Künstler in der Orangerie im Englischen Garten, das sich mit den Reformideen von Benjamin Thompson beschäftigte: "Heat is a form of motion" - http://www.rumfordlabor.de.
© Ferry van Dongen, April 2015.

06/08/2015

Ergänzung zur Rumfordsuppe

Dr. Christian G. Pätzold

Die Rumfordsuppe ist im Zusammenhang mit den Bemühungen der englischen Unternehmer zu sehen, die Lebenshaltungskosten und damit den Arbeitslohn der Arbeiter so weit wie möglich herunter zu drücken. Karl Marx schreibt dazu im 1. Band des Kapitals, 22. Kapitel:

»Zwei Jahrzehnte später verfolgte ein amerikanischer Humbug, der baronisierte Yankee Benjamin Thompson (alias Graf Rumford), dieselbe Philanthropielinie mit großem Wohlgefallen vor Gott und den Menschen. Seine "Essays" sind ein Kochbuch mit Rezepten aller Art, um Surrogate an die Stelle der teuren Normalspeisen des Arbeiters zu setzen. Ein besonders gelungenes Rezept dieses wunderlichen "Philosophen" ist folgendes:

"Fünf Pfund Gerste, fünf Pfund Mais, für 3 Pence Heringe, 1 Penny Salz, 1 Penny Essig, 2 Pence Pfeffer und Kräuter - Summa von 20 ¾ Pence gibt eine Suppe für 64 Menschen, ja mit den Durchschnittspreisen von Korn kann die Kost auf ¼ Penny per Kopf" (noch nicht 3 Pfennige) "herabgedrückt werden." (Benjamin Thompson, "Essays, political, economical, and philosophical etc.", 3 vol.,London 1796-1802, vol. I, p. 294.)

In seinem "The State of the Poor, or an History of the Labouring Classes in England etc.", empfiehlt Sir F. M. Eden die Rumfordsche Bettelsuppe bestens den Vorstehern von Workouses und mahnt die englischen Arbeiter vorwurfsvoll, daß "es bei den Schotten viele Familien gibt, die statt von Weizen, Roggen und Fleisch, monatelang von Hafergrütze und Gerstenmehl, nur mit Salz und Wasser gemischt, leben und das obendrein noch sehr komfortabel (and that very comfortably too)"«

Soweit ein Teil der Ausführungen von Karl Marx zur Rumfordschen Bettelsuppe. Ich fürchte, dass die armen englischen Arbeiter in den Arbeitshäusern, die eine Art Gefängnis waren, nicht so glücklich über die Suppe waren.
© Dr. Christian G. Pätzold, August 2015.

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23/04/2015

Weltbuchtag

Dr. Christian G. Pätzold

Für alle Bibliophilen: Heute ist der 23. April, das heißt der Weltbuchtag der UNESCO (World Book and Copyright Day). Das ist der Feiertag für Bücher und für die Rechte der Autoren. Also auch für mich. Anlass für den Tag ist der Namenstag des katalanischen Volksheiligen St. Georg (Sant Jordi). An diesem Tag werden in Katalonien Rosen und Bücher verschenkt. Außerdem sind William Shakespeare und Miguel de Cervantes am 23. April 1616 gestorben. Allerdings nicht am selben Tag. Denn in England galt der alte julianische Kalender, in Spanien dagegen der neue gregorianische Kalender. Daher ist Shakespeare in Wirklichkeit 10 Tage später als Cervantes gestorben. Ich werde heute auch zwei Bücher verschenken.
© Dr. Christian G. Pätzold, April 2015.

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20/04/2015

Amnesty International

Dr. Christian G. Pätzold

In der Organisation Amnesty International haben sich einige engagierte Zeitgenossen zusammengeschlossen, um verfolgte Menschen, darunter auch Schriftsteller und Journalisten, zu unterstützen. Es gibt auf der Welt Schriftsteller, die für ihre Bücher ermordet werden und für ihre Ansichten jahrelang im Gefängnis sitzen müssen. Für diese verfolgten Menschen schreiben die Mitglieder von Amnesty International bspw. Briefe an die Regierungen der Länder, in denen sie im Gefängnis sitzen. Vielleicht hilft es ja. Jedenfalls soll das Recht auf Meinungsfreiheit verteidigt werden.
Im Jahr 2014 wurden 66 Journalisten getötet und 119 entführt. Am spektakulärsten waren sicher die Enthauptungen von Journalisten durch den Islamischen Staat in Syrien. Für diese Menschen setzt sich nicht nur Amnesty International ein, sondern auch die Mitglieder von Reporter ohne Grenzen sowie die PEN-Zentren.
Ein Beispiel für einen verfolgten Schriftsteller ist der uigurische Blogger Ilham Tohti, der in Peking lebte und sich für die Rechte des uigurischen Volkes im Westen Chinas aussprach. Dafür wurde er von der Volksrepublik China ins Gefängnis gesteckt, denn die chinesische Regierung unterdrückt nicht nur die Unabhängigkeitsbewegung der Tibeter, sondern auch die der Uiguren. Das ist keine gute Idee. Denn wer fremde Völker unterdrückt, hat ein schlechtes Image. Die chinesische Regierung betreibt leider eine imperialistische Politik und das wird China eines Tages schaden.
© Dr. Christian G. Pätzold, April 2015.

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15/04/2015

Arten der Bösartigkeit

Dr. Christian G. Pätzold

Hinterhältigkeit, Missgunst, Neid, Boshaftigkeit, Altersbösartigkeit, Jugendbösartigkeit, Bosheit, Heimtücke, Hinterlist, Niedertracht, Perfidie (Fremdwort für Akademiker!), Giftigkeit, Gehässigkeit, Falschheit, Böswilligkeit, Übelwollen, Arglist, Tücke, Intriganz, Doppelzüngigkeit, Unaufrichtigkeit, Falschspielerei, Betrug, Lüge, Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Asozialität, Verrat, Täuschung, Schwindel, Gaunerei, Hartz IV, Arbeitslosigkeit, Minijob, Leiharbeit, Werkvertrag, Praktikum, Gentechnik, Atomkraft, TTIP, American Way of Life, Verbraucherschutzministerium, Computerviren, Verwandte, Islamischer Staat, Enthauptung von Journalisten. Es gibt so viele Arten der Bösartigkeit, man kann sie gar nicht alle aufzählen.
© Dr. Christian G. Pätzold, April 2015.

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07/04/2015

Ostermarsch Berlin 2015

Dr. Christian G. Pätzold

Ostermarsch hört sich ja etwas militaristisch an. Marschiert wurde am 4. April aber überhaupt nicht. Es wurde langsam gebummelt bei schönstem Sonnenschein vom Bahnhof Friedrichstraße über Oranienburger Straße, Hackescher Markt zum Lustgarten, wo sich der Rohbau des Stadtschlosses fast fertig erhebt, ein Symbol des preußischen Militarismus. Die Polizei war mit 20 Wagen dabei. Motto der Demo war: "Die Waffen nieder!" Das war der Titel des bekannten Buches von Bertha von Suttner aus dem Jahre 1889. Soweit ich sehen konnte waren nur marxistische Gruppen anwesend. Auf den Transparenten stand: "Schluss mit der Kriegshetze!", "Freiheit für Kurdistan!", "Frieden schaffen ohne Waffen!". Aus dem Lautsprecher ertönte: "We Shall Overcome", "The Times They Are A Changin". Eine ältere Demonstrantin war mit einer russischen Fahne gekommen. Auf ihrem Schild standen 3 Wörter in kyrillischer Schrift: "Russland - Putin - Frieden". Angesichts russischer Truppen in Moldawien, in Georgien und in der Ukraine könnte man dahinter ein Fragezeichen setzen. Zwei Regenbogenfahnen wehten mit der Aufschrift "Pace". Es war nur ein kleines Häufchen, das für den Frieden demonstriert hat. Der Pazifismus scheint kaum mehr Anhänger in Berlin zu haben. Das ist doch eigentlich merkwürdig, da täglich Menschen in Kriegen sterben.
© Dr. Christian G. Pätzold, April 2015.

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31/03/2015

Impressionen aus den Emiraten

Ferry van Dongen

Ganz ehrlich, man muss nicht dort gewesen sein. Dennoch war es ganz interessant, sich einmal diese ölreichen Länder anzuschauen. "Die Araber" sind ja nicht nur reich von dem vielem Erdöl, sondern auch ganz klar in der Minderheit. Der Anteil nicht-arabischer Bevölkerung liegt bei 85%. Ansonsten wird dort gebaut, als gäbe es kein Morgen mehr. Jumeirah Beach in Dubai wirkt wie ein Nachbau von Manhattan. Gebaut innerhalb von 10 Jahren. Sauber, sicher, und langweilig. In Abu Dhabi hatten wir neben dem Hotel eine Baustelle (was ganz normal ist, denn Baustellen gibt es überall), die 24/7 in Betrieb war. Wir mussten morgens gegen 1.30 Uhr das Zimmer wechseln, nachdem gegen 0.30 Uhr ein Schwerlast-Kran kam und gegen 1.20 Uhr ein neuer Betonmischer vorfuhr. Aber der Hammer ist letztlich die moderne Sklaverei. Die Arbeiter ("Labour") kommen aus Pakistan, Indien, Bangladesch, arbeiten für einen Hungerlohn, und stehen dort non-stop auf den Baustellen. Auch nachts unter Flutlicht; im 10. oder 17. Stock müssen sie sich über die Brüstungen knien, und die Betoneisen zurecht hämmern. Einfach unglaublich. Ein paar Stockwerke darunter das Transparent: "Safety First!". Ansonsten ist alles teuer, alles Superlative, und schließlich alles etwas unwirklich. Außer die Falken. In den Emiraten gibt es eine Vorliebe für die Falkenzucht. Und Falken sind wirklich erhabene Tiere. Im Dubai Desert Conservation Reserve haben wir einen sehr schönen, aufgeweckten, indischen Falken gesehen. Später bei Al Khawrah eine größer wachsende Art, eher ruhig und geduldig, aber aufmerksam. Sehr beeindruckend. Neben den Kamelen. Nein, ich habe keines der Tiere geritten. Dafür mag ich sie zu gerne. Kamele kommen in meiner persönlichen Liste der Lieblingstiere gleich nach den Eseln. Wirklich liebenswerte Viecher! Eigensinnig! Widerständig! Irgendwie unbestechlich!
© Ferry van Dongen, März 2015.

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27/03/2015

Info: Buchneuerscheinung

Christian G. Pätzold, Tigergeschichten - Essays zwischen Friedenau, Berghain und Tiergarten, Berlin 2015, TEIA Verlag.

Das Buch ist gerade erschienen.

Im Jahr 2011 hatte ich das 60. Lebensjahr glücklich erreicht. Ein schöner runder Geburtstag, den nicht jeder schafft. Meine Sachbearbeiterin alias Fallmanagerin beim Jobcenter versuchte, den neuen Sachverhalt gleich auszunutzen. Um ihre Statistik zu schönen, wollte sie mich händeringend loswerden und vor die Tür der Deutschen Rentenversicherung kippen. Also informierte sie mich nachdrücklich, dass ich ja jetzt in Rente gehen könne. Nach einigem Überlegen hatte ich nichts dagegen, zumal im Alter die Gesundheit ja auch nicht besser wird. Ich beschloss also, künftig als freies Individuum durch Berlin zu tigern. Daher mein Nickname »Berliner Tiger«.

Man könnte auch sagen: Durch die Stadt laufen, spazieren, flanieren, schlurfen, streifen, bummeln, schlendern. Aber tigern gefällt mir am besten. Lustwandeln und promenieren sind dagegen veraltet. Dem Lustwandeln haben die Autos den Garaus gemacht. Und das Promenieren machte man früher sonntags nach dem Mittagessen, als Sehen und gesehen werden noch in war. So sind die Essays beim Gehen auf der Straße, Kilometer um Kilometer, entstanden. Manchmal bin ich auch mit meinem alten Hollandrad durch Berlin gefahren.
© Dr. Christian G. Pätzold, März 2015.

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16/03/2015

Eine Reise nach Leipzig zu Herta Müller

Dr. Christian G. Pätzold

Da Herta Müller nun mal die einzige Literaturnobelpreisträgerin ist, die Friedenau im Moment hat, wollte ich sie doch mal anhören und mir ein persönliches Bild machen. So kam es, dass ich mich Mitte März 2015 nach Leipzig aufgemacht habe, wo sie vorlesen wollte. Und zwar im Rahmen des Programms "Leipzig liest" während der Leipziger Buchmesse. Titel der Veranstaltung war: "Das Werk von Herta Müller im Querschnitt: Romane, Essays, Collagen. Eine Lebensgeschichte in der Literatur." Veranstalter waren die Stiftung Joseph Breitbach, der Carl Hanser Verlag, die Bibliotheca Albertina und die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.
Mit der Ringbahn kommt man schnell zum Bahnhof ICC, wo sich der Zentrale Omnibusbahnhof (ZOB) befindet. Ich war mal wieder zu früh da. Mein Fernbus hatte die Nummer F89 und fuhr seltsamerweise Richtung Düsseldorf. Ich setzte mich erstmal in den Wartesaal. Ich war schon lange nicht mehr unter Reisenden.
Es war kalt. Endlich saß ich im Bus und war auf der Autobahn. Wir fuhren an endlosen märkischen Kiefernwäldern vorbei, dann kamen auch zahlreiche Windräder. Ich habe eine Stunde geschlafen. Zwischenstopp war in Halle (Saale). Der Stopp hat bestimmt eine Stunde gekostet. Der Bus war nur halb voll. Nieselregen setzte ein. Endlich kamen wir in Leipzig an der Goethestraße an. Es war schön, wieder die sächsische Sprache zu hören. Man hörte aber auch viel Hochdeutsch und andere Sprachen.
Einmal nicht durch Berlin laufen, sondern durch Leipzig! Ich lief am Naschmarkt vorbei, an Auerbachs Keller, am alten Rathaus, an der Petersstraße, an Johann Sebastian Bach in Bronze. Dann hatte ich die Beethovenstraße erreicht.
Die Bibliotheca Albertina, das ist die Leipziger Universitätsbibliothek, ist ein imposanter historischer Bau aus der Kaiserzeit. Ich sollte besser sagen, dass sie vom damaligen sächsischen König in Auftrag gegeben wurde. Die Cafeteria hatte schon zu, obwohl auf den Sonnabend abends noch viele Studenten da waren und die Bibliothek bis Mitternacht geöffnet hatte. So etwas verstehe ich nicht. Warum macht man die Cafeteria zu, wenn Hunderte Besucher kommen?
Vor dem Leesaal West war ein Büchertisch aufgebaut, auf dem die Werke von Herta Müller gestapelt lagen. Der große Lesesaal selbst war brechend voll. Der Eintritt war frei, Reservierungen waren nicht möglich, Die vorderen Reihen waren jedoch für VIPs reserviert.
Das erste Thema von Herta Müller war ihre rumänische Heimat. Sie hat aus ihrem letzten Buch "Mein Vaterland war ein Apfelkern" (2014) vorgelesen. Sie erzählte, wie sie als Kind die Kühe im Tal gehütet hat. Sie sprach über ihr angespanntes Verhältnis zum Staat. Sie schwärmte von der Schönheit der rumänischen Sprache und erwähnte, dass 1968 für sie wichtig war. Es hatte alles Hand und Fuß, was sie sagte. Sie spricht übrigens immer noch mit leichtem Akzent.
Ihr zweites Thema war Oskar Pastior und seine Lagerzeit in der Ukraine (damals Sowjetunion). Dazu hat sie das Kapitel "Vom Hungerengel" aus ihrem Roman "Atemschaukel" vorgelesen.
Ihr drittes Thema waren ihre Collagen aus Wörtern, die wirklich originelle anarcho-dadaistische Kurzgedichte sind. Die Collagen wurden mit einem Beamer auf eine große Leinwand gestrahlt. Herta Müller nimmt die Schere sogar mit ins Bett, um nachts Wörter aus Zeitschriften auszuschneiden. Sie sagte, dass ihre ganze Wohnung mit Wörterschnipseln angefüllt sei.
Was neue Bücher von ihr betrifft, so sagte sie: "Die Welt wartet auf gar nichts." Da fiel mir ein, dass die Welt auf meine Bücher noch viel weniger wartet. Herta Müller hat nur 1 1/2 Stunden gesprochen, aber viel gesagt. Die Schlange der Besucher, die ein Autogramm von ihr wollten, war astronomisch lang.
© Dr. Christian G. Pätzold, März 2015.

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02/03/2015

In Berlin fehlen 10.000 Gärten

Dr. Christian G. Pätzold

10.000 Berliner Familien warten auf einen Kleingarten, sagt der Vorsitzende des Kleingärtnerverbandes. Und ich glaube ihm das auch, denn die Wartelisten sind lang. In einem Garten kann man nicht nur Kräfte tanken und sich vom Stadtstress erholen. Man kann auch gesundes Gemüse und Obst ernten, das garantiert Bio ist. Leider wurde in der Europäischen Union die industrielle Fabriklandwirtschaft aufgepäppelt, so dass viele Lebensmittel in den Läden heute Schadstoffe enthalten, wie Pestizide im Brot. Daher sind die Lebensmittel aus dem eigenen Garten so wertvoll.
Beim Leben in der Natur kann man auch viele Beobachtungen machen, mit brummenden Hummeln, mit Blaumeisen am Brutkasten, mit scheuen Eichelhähern oder mit Eichhörnchen, die Fangen spielen. Gerade für die Kinder ist ein Garten so wichtig, damit sie wissen, dass Kirschen und Aprikosen an Bäumen wachsen. Im Garten können sie auch schon mal lernen, wie man ein Feuer anmacht und Fleisch grillt. Die Gärten tragen aber darüber hinaus auch zu einem besseren Stadtklima bei.
Allerdings habe ich noch nie gehört, dass sich der Senat auch nur für einen einzigen neuen Kleingarten stark gemacht hätte. Im Gegenteil. Ganze Gartenkolonien mit Dutzenden von Gärten sollen abgeholzt werden. An vielen Ecken der Stadt werden gerade grüne Oasen planiert, um zu bauen. Jeder Berliner sieht das täglich mit eigenen Augen. Der Senat redet vom notwendigen Wohnungsbau, spielt aber der Betonlobby in die Hände. Die geplanten Wohnungen nützen den Berlinern auch gar nichts, denn dabei handelt es sich meist um teure Luxuswohnungen. Die können sich nur Reiche leisten, die sich eine Zweitwohnung in Berlin anschaffen. Das ganze verlogene Wohnungsspiel ist ein Desaster für die biologische Vielfalt in der Stadt und für die Gesundheit der Einwohner.
Die Pläne für Olympia in Berlin gehen in dieselbe Richtung. Das wären weitere Milliarden Euro für die Bauwirtschaft, die dann noch mehr Grün zubetonieren würde. Ein nachhaltiges Berlin könnte man so jedenfalls nicht präsentieren.
© Dr. Christian G. Pätzold, März 2015.

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16/02/2015

Was halte ich eigentlich von "campact!"?

Dr. Christian G. Pätzold

"campact!de - Demokratie in Aktion" ist eine Initiative im Internet, die durch massenhafte Unterschriften zu bestimmten Themen die Politiker beeinflussen will. Vor 4 Monaten habe ich mich dort registriert, um die E-Mails zu bekommen und um informiert zu sein. Es scheint so zu sein, dass dort Tausende Menschen unterschreiben. campact! Ist ein zusammengesetztes Wort aus Kampagne und Action. Zu meinem Erstaunen gab es in den letzten 4 Monaten aber nur 4 Themen bei campact!:
1. Gegen Kohlekraftwerke und Wirtschaftsminister Gabriel. Die Kohleverstromung ist bekanntlich sehr umweltschädlich.
2. Gegen Gentechnik in der Landwirtschaft und gegen den Chemiekonzern Monsanto.
3. Gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA mit den USA und Kanada sowie gegen Kanzlerin Merkel.
4. Gegen Tierfabriken in der Landwirtschaft und für die Demo "Wir haben es satt!".
Liebe Mitarbeiter von campact! 4 Themen erscheinen mir etwas wenig für 4 Monate, zumal die 3 letzten Themen zusammengehören. Die vier Unterschriften kann man schnell per Klick erledigen. Im Gegenzug hat campact! aber reichlich für Spenden an sich selbst geworben. Sie haben mir aber nicht mitgeteilt, wie viele Spenden sie bekommen haben und wofür sie das Geld ausgegeben haben. Transparent ist das nicht gerade. Oder ist campact! wieder so eine schlaue Internet-Idee, bei der Leute mit dem Internet Geld machen wollen?
Dann habe ich doch noch den ausführlichen Transparenzbericht 2013 von campact! im Internet gefunden. Das ist der aktuelle Transparenzbericht. Die Monatsgehälter (ohne Kinder) des Vorstands (4.548 Euro) und der Campaigner (3.812 Euro), die dort aufgeführt werden, kommen mir allerdings recht fürstlich vor.
Zum Thema "Demokratie in Aktion" fällt mir auch Dr. Gregor Gysi von der LINKEN ein. Wie laut hat er nach der letzten Bundestagswahl getönt, dass die Linke die unsoziale Politik der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD fortwährend kritisieren werde. Seitdem hörte man von der Linken kaum noch etwas. Liegt es an der Linken oder an der "Lügenpresse"? Neuerdings lobt Dr. Gysi sogar die Bundeskanzlerin als Friedenskanzlerin in der Ukraine. Nanu? Ein Oppositionsführer, der überschwänglich die Regierung lobt? Ich glaube, ich bin hier im falschen Film. Irgendwie scheint keiner mehr die Probleme in der Gesellschaft ansprechen zu wollen. Ganz Deutschland schwimmt in einer großen Harmonie-Soße.
© Dr. Christian G. Pätzold, Februar 2015.


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19/01/2015

Helikoptergeld

Dr. Christian G. Pätzold

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Deflation. In den ökonomischen Lehrbüchern steht, dass ein permanent sinkendes Preisniveau schlecht ist für die Unternehmen, die dann Arbeitskräfte entlassen. Die Arbeitslosigkeit steigt und mit ihr wiederum die Deflation. Es entsteht so eine Abwärtsspirale in der Wirtschaft. Das Horrorszenario der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre ist vielen bewusst. Daher überlegt jetzt die Europäische Zentralbank (EZB), ob sie so genanntes Helikoptergeld an die Bevölkerung verteilen soll. Helikoptergeld ist Geld, das wie aus einem Hubschrauber über der Bevölkerung abgeworfen wird. Als Erfinder des Helikoptergeldes gilt der ehemalige Fed-Chef Ben Bernanke, der in der Finanzkrise 2008 beinahe Dollarnoten über Manhattan abgeworfen hätte. Jedenfalls hat Helikopter-Ben damals die Wall Street mit billigen Dollars geflutet. Um die Deflationsspirale zu durchbrechen, ist es durchaus sinnvoll, in einem ersten Schritt 5.000 Euro an jeden Berliner zu verteilen. Dazu muss die EZB nur die Geldscheine drucken lassen. Die japanische Regierung hat schon lange ein Deflationsproblem und daher Bargeld an die Bevölkerung verteilt. Die Wirkung war in Japan nicht so bedeutend, da die Bevölkerung dort relativ reich ist und sowieso schon alles hat. In Berlin dagegen, wo die Bevölkerung relativ arm ist, würde das Helikoptergeld sofort positiv auf die Realwirtschaft durchschlagen. In einem zweiten Schritt könnten dann noch mal 5.000 Euro verteilt werden.
© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2015.


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01/01/2015

Ich möchte mal etwas für die Umwelt tun -
Braunkohleverstromung in der Lausitz

Dr. Christian G. Pätzold

Brauchen die Berliner und die Brandenburger die Braunkohleverstromung in der Lausitz? Ich weiß es nicht genau, weil ich die Zahlen der Stromerzeugung und des Stromverbrauchs nicht habe. Aber ich denke eher nicht. Denn es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu gewinnen. Ein bekannter Berliner Versorger zum Beispiel verkauft Öko-Strom aus Wasserkraft, der in Schweden gewonnen wurde. Und in der Ostsee und der Nordsee bläst fast immer der Wind. Außerdem ist die Verbrennung von Braunkohle das klimaschädlichste Verfahren, das man machen kann. Es ist auch nicht schön, dass die Menschen in der Lausitz ihre Heimat verlieren, weil ihre Dörfer abgebaggert werden. Die Landschaft wird zu einer Mondlandschaft, die teuer renaturiert werden muss. Sogar der schwedische Stromkonzern Vattenfall, der früher ganz scharf auf Atom und Kohle war, will die Lausitzer Braunkohle inzwischen loswerden. Als Argument bleiben eigentlich nur die Arbeitsplätze in der Braunkohle. Ich habe einen Vorschlag: Berliner und Brandenburger brauchen viele Lebensmittel, die ökologisch und regional erzeugt werden könnten, was die Europäische Union ja fördern will. Dadurch hätten dann alle einen Arbeitsplatz im Öko-Landbau, könnten in ihren Dörfern wohnen bleiben und würden noch dazu gesundes Obst und Gemüse produzieren. In Berlin ist die Nachfrage nach Bio-Lebensmitteln viel größer als das Angebot. Im Netz gibt es die Initiative www.campact.de, die schon viele Unterschriften gegen die Braunkohleverstromung gesammelt hat. Und die deutsche Bundesregierung sollte damit aufhören, den Export deutscher Kohlekraftwerke ins Ausland zu fördern (KfW-Bank, Hermesbürgschaften). Sonst ist der Klimaschutz nämlich unglaubwürdig.
© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2015.


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01/01/2015

Schwimmen in der Spree

Dr. Christian G. Pätzold

Als ich im Info-Radio hörte, dass die Berlinerinnen und Berliner demnächst in der Spree schwimmen dürfen, dachte ich: Oh Schreck, ist heute der 1. April? Ich sah aus dem Fenster und es war trübes Novemberwetter. Der Verein "Flussbad Berlin" will das Schwimmen an der Museumsinsel zwischen Stadtschloss und Bode-Museum ermöglichen. An dieser Stelle schwammen bisher nur kleine Touristenboote, die man auch aus den Grachten von Amsterdam kennt. Das Schwimmen in der Spree wäre wirklich eine schöne Sache für Wasserfans. Warum nicht, man kann ja auch im Wannsee schwimmen. Man müsste am Ufer eine Treppe einbauen. Flussaufwärts plant der Verein noch eine biologische Kläranlage aus Kies, Schilf und Wasserpflanzen, um die Wasserqualität zu verbessern. Im Winter bei Frost könnte man auf dem Spreearm Schlittschuh laufen. Dann habe ich mir den ausführlichen Plan von "Flussbad Berlin" im Internet angesehen. Die Webseite des Vereins ist sehr informativ. Und es ist doch komplizierter als ich dachte. Der Einbau einer Schilfkläranlage ist aufwändig, das heißt teuer. Umkleidekabinen müssten auch gebaut werden. Und dann ist da noch das Problem der Mischwasserkanalisation, bei der an etwa 30 Tagen im Jahr bei Starkregen Abwasser in die Spree überläuft. Das Regenwasser müsste also vorher aufgefangen werden, bspw. auf den Dächern, und dann in Teiche in den Innenhöfen geleitet werden. Das Schwimmen in der Spree wird daher wohl nicht so schnell zu realisieren sein, sehr schade! Außer es findet sich ein reicher Geldgeber.
© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2015.


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