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Archiv 2018

inhaltsverzeichnis

Themen des Jahres 2018

Die Gründung der KPD vor 100 JahrenDr. Pätzold2018/12/25
Weiße FleckenDr. Pätzold2018/12/22
»Herbst des Mittelalters« von Johan HuizingaDr. Krautschick2018/12/18
Der Spindelstrauch alias PfaffenhütchenElla Gondek2018/12/14
Der Berliner KulturhaushaltDr. Pätzold2018/12/11
Die Ballade von Faulheit und MüßiggangDr. Wulf2018/12/08
redutsierte stilleart kicksuch2018/12/05
Die Zeit der MistelnDr. Pätzold2018/12/02
Karl Liebknecht ruft die Sozialistische Republik ausGerhard Rommel2018/11/27
Die RevolutionDr. Stumberger2018/11/24
Der morbide Charme alter BücherDr. Wulf2018/11/21
Grünlilien mit HallimaschElla Gondek2018/11/18
angstlandDr. Pätzold2018/11/15
Was ist ein Blog?Dr. Pätzold2018/11/12
Die ReichskristallnachtDr. Pätzold2018/11/09
liebeart kicksuch2018/11/05
Der November 1918Dr. Pätzold2018/11/02
»nachschrift« von heimrad bäckerDr. Krautschick2018/10/28
Hausbesitzer KoschorkeDr. Pätzold2018/10/26
Die Situationistische Internationale im HKWDr. Pätzold2018/10/23
Workaholics gestern und heuteDr. Wulf2018/10/20
Sozialistischer Realismus Teil 4Dr. Pätzold2018/10/17
Herbst im Botanischen GartenDr. Pätzold2018/10/14
tod - meister aus deutschlandart kicksuch2018/10/11
DahlienblütenElla Gondek2018/10/10
Rettet den Hambacher Wald2018/10/09
Tagebuch Teil 28: Teheran - MashadDr. Pätzold2018/10/08
Tagebuch Teil 27: TeheranDr. Pätzold2018/10/05
50. Todestag von Marcel DuchampDr. Pätzold2018/10/02
Wilhelm und Alexander von HumboldtDr. Krautschick2018/09/27
Der neue KünstlerTristan Tzara2018/09/26
Ca'canny - immer schön langsamDr. Wulf2018/09/23
Positions Berlin Art Fair2018/09/20
Das Recht auf Arbeit2018/09/17
Die Lotusblüte2018/09/14
»Ungehorsam als Tugend« von Peter BrücknerDr. Pätzold2018/09/11
BelagerungCornelia Becker2018/09/08
hinter dem sonnenmeerart kicksuch2018/09/05
Foto von der Kuhle-Wampe-Sommerparty2018/09/02
Wilhelm von Humboldt, zur SpracheDr. Krautschick2018/08/28
Friedenauer FriedhofsmäuseDr. Pätzold2018/08/25
Das Ende des Prager FrühlingsDr. Pätzold2018/08/21
Die Villa LibrisDr. Pätzold2018/08/17
Max Lingner: Aufbau der RepublikDr. Pätzold2018/08/14
»Der raue Gesang« von Cornelia BeckerDr. Pätzold2018/08/11
Die EsskastanieDr. Pätzold2018/08/08
gedanken otsean flugart kicksuch2018/08/05
Wie wir alle Optimisten werden2018/08/02
Wilhelm von Humboldt, Teil 1Dr. Krautschick2018/07/28
Verjüngung in der KoWaKarl-Martin Hölzer/
Carlos
2018/07/26
Gedanken zu Prof. Dr. Elmar AltvaterDr. Pätzold2018/07/24
Die Stiefelputzmaschine im KlassenkampfDr. Wulf2018/07/21
Zum 100. Geburtstag von Nelson MandelaDr. Pätzold2018/07/18
Charles Rennie Mackintosh in GlasgowFerry van Dongen2018/07/15
Ellas Garten blühtElla Gondek2018/07/14
Die Faszination der SeerosenblüteDr. Pätzold2018/07/13
Der Sommer-EismannDr. Pätzold2018/07/10
aufloesenart kicksuch2018/07/07
Tagebuch Teil 26: ShirazDr. Pätzold2018/07/04
Tagebuch Teil 25: ShirazDr. Pätzold2018/07/02
Victor Klemperer: »LTI«, Teil 3Dr. Krautschick2018/06/27
Das Archiv Schreibende ArbeiterInnenDr. Pätzold2018/06/25
Für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE)2018/06/23
Impression aus Hamburg: Der HafenDr. Pätzold2018/06/21
Impression aus Hamburg: Die ElbphilharmonieDr. Pätzold2018/06/20
50 Jahre Aktion Dritte Welt (ADW)Dr. Später2018/06/17
Über Powernapping und TurboschlafDr. Wulf2018/06/14
Walter Womacka: Aus der Geschichte der deutschen ArbeiterbewegungDr. Pätzold2018/06/12
Erinnerungen an Dieter KunzelmannDr. Wulf2018/06/10
Bücher von und über 1968Dr. Pätzold2018/06/08
was optimiere ichart kicksuch2018/06/06
ObstSalatJenny Schon2018/06/04
Zum Tode von Elmar AltvaterGeorg Lutz2018/06/02
Victor Klemperer: »LTI«, Teil 2Dr. Krautschick2018/05/28
Der Mai 68 in ParisDr. Pätzold2018/05/26
16. Linke Buchtage Berlin2018/05/23
Abendrot an der HavelManfred Gill2018/05/20
Das Shudao Studio in DresdenKathrin von Loh2018/05/17
Berliner Realismus im Bröhan-MuseumDr. Pätzold2018/05/14
Ausstellung von Achim Mogge: OxidationDr. Pätzold2018/05/12
Die technische Reproduzierbarkeit des KunstwerksWalter Benjamin2018/05/10
sich selbst nicht so wichtig nehmenart kicksuch2018/05/08
Zum 200. Geburtstag von Karl MarxDr. Pätzold2018/05/05
Internationaler Tag der PressefreiheitDr. Pätzold2018/05/03
Grüße zum 1. MaiJakov Guminer2018/05/01
Victor Klemperer: »LTI«, Teil 1Dr. Krautschick2018/04/27
32. Jahrestag von TschernobylDr. Pätzold2018/04/26
50. Todestag von John HeartfieldDr. Pätzold2018/04/23
nicht kommuniziertesart kicksuch2018/04/20
TulpengrüßeElla Gondek2018/04/18
Reisende soll man nicht aufhalten2018/04/17
Mehr AphorismenDr. Endler2018/04/14
Das Attentat auf Rudi DutschkeDr. Pätzold2018/04/11
Das Luise & Karl Kautsky-HausPeter Hahn &
Jürgen Stich
2018/04/08
Die Ermordung von Martin Luther King jr.Dr. Pätzold2018/04/06
Tagebuch 24: IsfahanDr. Pätzold2018/04/04
Tagebuch 23: TeheranDr. Pätzold2018/04/02
»Eichmann in Jerusalem« von Hannah ArendtDr. Krautschick2018/03/28
Gerhard Thieme: BauarbeiterDr. Pätzold2018/03/25
vordenken ist besser als nachdenken2018/03/22
FrühlingsanfangDr. Pätzold2018/03/20
Chelifer cancroidesDr. Pätzold2018/03/18
50. Jahrestag des My Lai MassakerDr. Pätzold2018/03/16
Was ist los in China? InterviewAnna Gerstlacher2018/03/14
»Das Schlaraffenland«, 1530Hans Sachs2018/03/12
Winter am ElbuferManfred Gill2018/03/11
Winter am Plauer SeeManfred Gill2018/03/10
Internationaler Frauentag2018/03/08
blinder staubart kicksuch2018/03/06
Das Spiel mit der Evolution - CRISPRGeorg Lutz2018/03/04
Den falschen Weg der Gentechnik stoppenGeorg Lutz2018/03/02
»Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« von Hannah ArendtDr. Krautschick2018/02/26
berlin berlinDr. Pätzold2018/02/24
Festival Musik & Politik2018/02/22
Fauler Zauber, Teil 2Dr. Wulf2018/02/20
Fauler Zauber, Teil 1Dr. Wulf2018/02/18
Berichte zur Schräg_Lage der Nazi_onDr. Endler2018/02/15
Die Brecht-Weigel-Gedenkstätte in BerlinDr. Pätzold2018/02/13
120. Geburtstag von Bertolt BrechtFerry van Dongen2018/02/10
Das neue Kommentarfeld auf kuhlewampe.net2018/02/08
kommunikationart kicksuch2018/02/05
»Die Berliner Bettwurst« von Rosa von PraunheimDr. Pätzold2018/02/02
»Ein Deutscher auf Widerruf« von Hans MayerDr. Krautschick2018/01/28
HolocaustgedenktagDr. Pätzold2018/01/26
Kataloniens UnabhängigkeitDr. Pätzold2018/01/24
1968, Teil 2Dr. Pätzold2018/01/21
1968, Teil 1Dr. Pätzold2018/01/18
Bezweifelbare Zitate2018/01/15
irrigart kicksuch2018/01/13
Das Personenregister für die Jahre 2015 bis 20172018/01/11
Das Rathaus von BernauDr. Pätzold2018/01/09
Tagebuch 22: TeheranDr. Pätzold2018/01/07
Tagebuch 21: TeheranDr. Pätzold2018/01/05
Kuhle Wampe2018/01/03
Heute beginnt der 4. JahrgangDr. Pätzold2018/01/01

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2018/12/25

Die Gründung der KPD vor 100 Jahren
Ein kurzer historischer Überblick

Dr. Christian G. Pätzold

Die Gründung der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) vor genau 100 Jahren im Zuge der Novemberrevolution war ein historisches Ereignis, das von einiger Wichtigkeit war. Die Geschichte der linken Partei in Deutschland reicht aber schon weiter ins 19. Jahrhundert zurück. Bereits im frühen 19. Jahrhundert gab es sozialistische Autoren, die Ideen zu einer sozialistischen Gesellschaft aufschrieben. Die bekanntesten Schriftsteller waren Henri de Saint-Simon, Robert Owen, Charles Fourier, Pierre-Joseph Proudhon und Étienne Cabet. Auch in Deutschland gab es Frühsozialisten. In der Revolution von 1848 in Deutschland bildeten Arbeiter teilweise schon politische Gruppen mit entsprechenden Forderungen. Karl Marx und Friedrich Engels veröffentlichten 1848 das »Manifest der Kommunistischen Partei«, in dem zur Bildung einer politischen Partei der Arbeiter aufgerufen wurde. Das war die eigentliche Geburtsstunde der Kommunistischen Partei. Marx und Engels schrieben des »Kommunistische Manifest« 1848 für den Bund der Kommunisten in London. Das war aber noch keine große Partei, sondern ein kleiner Geheimbund, der nur bis 1852 bestand.
Danach entwickelte sich die linke Partei in mehreren Etappen. 1863 wurde der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) unter Führung von Ferdinand Lassalle gegründet. 1869 folgte die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) durch August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Diese beiden Organisationen schlossen sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) zusammen. Und nach Auslaufen des Sozialistengesetzes 1890 wurde der Name der Partei in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) geändert.
Nach dem Tod von Marx und Engels entwickelte sich die SPD zunehmend nach rechts. Um 1900 begründete Eduard Bernstein den Revisionismus, der eine bürgerliche kapitalistische Gesellschaft befürwortete. Weite Teile der SPD schlossen sich dem Revisionismus an. 1914 war die SPD überwiegend nationalistisch, kriegshetzerisch und kaisertreu eingestellt. Die Abgeordneten der SPD im Reichstag bewilligten die Kredite für den 1. Weltkrieg. Hatte es bei Marx und Engels noch geheißen: "Proletarier alle Länder, vereinigt euch!", war jetzt die Parole: "Proletarier aller Länder, schießt euch gegenseitig tot!"
Es gab nur noch wenige Genossen, die etwas gegen Nationalismus und Militarismus unternahmen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gehörten zu den wenigen und gründeten während des Krieges den Spartakusbund. Für ihren Einsatz gegen den Krieg wanderten sie ins Gefängnis. Im November 1918 spitzte sich die Situation in der Novemberrevolution zu. Die Monarchie war zusammengebrochen und es stellte sich die Frage, wie der neue Staat aussehen sollte. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem rechten und dem linken Flügel in der SPD waren unüberbrückbar.
So kam es zur Gründung der KPD auf einer dreitägigen Konferenz vom 30. Dezember 1918 bis zum 1. Januar 1919, die im Preußischen Landtag in Berlin stattfand. Die größte beteiligte Gruppe war der Spartakusbund, der sich mit kleineren linken Gruppen zusammenschloss. Zum dort gewählten Parteivorstand gehörten auch Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, die wenige Wochen später in Berlin ermordet wurden.
In den Jahren der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 hatte die KPD einen schweren Stand. Sie musste sich einerseits der SPD erwehren, die einen morbiden kapitalistischen Staat aufrechterhalten wollte, der dann in der Weltwirtschaftskrise zusammenbrach. Andererseits musste sie die Nazis bekämpfen, die eine kapitalistische Diktatur errichten wollten und dann 1933 in die Macht gewählt wurden. Zur Zeit der Naziherrschaft von 1933 bis 1945 war die KPD verboten und konnte nur im Untergrund arbeiten. Einige Funktionäre der Partei überlebten diese Zeit im Exil in Moskau.
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs 1945 verlief die Entwicklung der KPD in den beiden Teilen Deutschlands unterschiedlich. In Westdeutschland wurde die KPD 1956 verboten und 1968 als DKP (Deutsche Kommunistische Partei) wieder gegründet. In den 1970er und 1980er Jahren hatten ihre Mitglieder unter dem Radikalenerlass und unter Berufsverboten zu leiden. Die DKP besteht als kleinere Gruppe noch heute.
In Ostdeutschland (ab 1949 DDR) wurde die KPD 1946 als SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) neu gegründet. Die SED war die Staatspartei in der DDR bis zum Fall der Mauer 1989. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und in der DDR 1990 wurde die SED in PDS (Partei des demokratischen Sozialismus) umbenannt. Im Zuge der Umbrüche hatte die SED hunderttausende Mitglieder verloren. In Westdeutschland gründete sich in den 2000er Jahren die WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit). PDS und WASG vereinigten sich 2007 zur neuen Partei »Die Linke«, die bis heute besteht. Damit gab es wieder eine große gesamtdeutsche linke Partei. Der Vollständigkeit halber muss ergänzt werden, dass es heute in Deutschland eine Reihe weiterer linker und kommunistischer Parteien gibt, etwa ein Dutzend, die aber nur den Charakter von Splittergruppen haben.
Im Moment ist Die Linke in der Frage der Europäischen Union tief gespalten. Die Mehrheit sieht in der EU ein positives Projekt, das nur in Richtung einer sozialeren Union verändert werden muss. Die Minderheit dagegen sieht in der EU ein kapitalistisches neoliberales Projekt, das man verlassen muss. Aus diesem Widerspruch innerhalb der Linken ergeben sich sehr unterschiedliche Zukunftsvorstellungen. Das macht es für die Partei auch schwierig, WählerInnen zu gewinnen. Und im Europaparlament sind die verschiedenen linken Parteien der europäischen Länder sowieso heillos zerstritten.
Am 7. Januar 2019 findet eine öffentliche Gedenkveranstaltung der Linken am originalen Schauplatz der KPD-Gründung im heutigen Berliner Abgeordnetenhaus statt.

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2018/12/22

Weiße Flecken

Dr. Christian G. Pätzold

Im Jahr 2018 gab es einige Themen, die einen Artikel bei kuhlewampe.net wert gewesen wären, die aber aus Gründen der begrenzten Zeitkapazität nicht zustande kamen. Daher soll hier wenigstens kurz auf diese Themen hingewiesen werden. Es handelt sich hauptsächlich um Gedenktage der verschiedensten Art.
Da wäre zunächst an 3 Amerikaner zu erinnern gewesen: An den 150. Geburtstag von W.E.B. Du Bois. Der bedeutende Bürgerrechtler wurde am 23. Februar 1868 in Great Barrington, Massachusetts, USA geboren. Sein Hauptwerk ist »The Souls of Black Folk« aus dem Jahr 1903. Zweitens wäre der 50. Todestag des Autors John Steinbeck zu erinnern gewesen. Er starb am 20. Dezember 1968. Er ist besonders bekannt durch seinen sozialkritischen Roman »Früchte des Zorns« von 1939. Darin schilderte er das Leben der Wanderarbeiter, die aus dem ausgetrockneten Oklahoma nach Kalifornien zogen. 1962 erhielt er den Literaturnobelpreis. Last but not least ist an den 90. Geburtstag von Noam Chomsky zu erinnern, der am 7. Dezember 1928 in Philadelphia geboren wurde. Über den bekannten Sprachwissenschaftler, Anarchisten und Kapitalismuskritiker erschien bereits ein Artikel auf kuhlewampe.net.
Vor 100 Jahren erschien das Buch »Geist der Utopie« von Ernst Bloch, das besonders durch die positive Interpretation des Utopiebegriffs bekannt wurde, nachdem der Marxismus den Begriff der Utopie weitgehend negativ gesehen hatte. Eine Buchbesprechung wäre interessant gewesen. Ebenfalls vor 100 Jahren gründete Dr. Magnus Hirschfeld das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin. Von dort nahm die Sexologie als Wissenschaft ihren Ausgang. Eine Geschichte des Instituts, das von den Nazis zerstört wurde, wäre auch interessant gewesen.
Vor 50 Jahren, im unvergleichlichen Jahr 1968, ist so viel passiert, dass schon einiges auf kuhlewampe.net beschrieben wurde. Aber zwei Ereignisse sollten noch erwähnt werden: Damals wurde auch der Club of Rome gegründet, dessen Veröffentlichungen für die Ökologiebewegung der 1970er und 1980er Jahre sehr wichtig waren. Wenn man heute über den Klimawandel redet oder im Bio-Supermarkt einkauft, dann hat es damals angefangen.
Am 28. Februar 1968 wurde auch Auroville gegründet, ein kleiner Ort in Süd-Indien an der Koromandelküste, in dem heute 2.500 Menschen aus 50 Nationen leben. Dort soll ein besseres menschliches Leben verwirklicht werden, eine Gesellschaft ohne Geld, Parteien, Polizei und Religionen.
Vor 40 Jahren ereignete sich das denkwürdige Treffen in Tunix vom 27 bis 29. Januar 1978 in der Technischen Universität in West-Berlin. Das war ein Versuch, sich dem kapitalistischen Arbeits-Hamsterrad zu verweigern, und ein Anstoß für die grüne Alternativbewegung der 1980er Jahre.
Auch an Erich Fried wäre zu erinnern gewesen, der vor 30 Jahren, am 22. November 1988 starb. Erich Fried soll jeden Tag ein Gedicht geschrieben haben und so ist es nicht verwunderlich, dass in 60er und 70er Jahren zahlreiche Bände seiner Gedichte im Berliner Verlag Klaus Wagenbach erschienen, die hohe Auflagen erreichten. Er war der politischste Dichter seiner Zeit. Er wurde 1921 in Wien geboren, musste aber als Jude 1938 vor den Nazis nach London flüchten, wo er bis zum Ende lebte. Er war ein großer Unterstützer der westdeutschen Studentenbewegung von 1968, nahm an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg teil und protestierte gegen den Polizeistaat.
Und in diesem Jahr hat Joan Baez, die Ikone der Protestbewegung der 1960er Jahre, ihre Abschieds-Welt-Tournee veranstaltet. Sie hat ihre Lieder im Juli auch in Berlin gesungen, begleitet von ihrer Gitarre. Schade, auch dieses Ereignis ist viel zu schnell vorbei gerauscht. Aber Joan Baez bleibt sicher in den Herzen vieler, auch wenn sie nicht mehr auf die Bühne kommt.

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2018/12/18

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
JOHAN HUIZINGA: TEIL 1
HERBST DES MITTELALTERS: STUDIEN ÜBER LEBENS- UND GEISTESFORMEN
DES 14. UND 15. JAHRHUNDERTS IN FRANKREICH UND IN DEN NIEDERLANDEN

huizinga
Jan van Eyck, Mann mit rotem Turban (1433), wahrscheinlich Selbstporträt.
Quelle: Wikimedia Commons.

Den Ausgangspunkt dieses 639-seitigen Werkes bildete das Bedürfnis Johan Huizingas (geb.1872 in Groningen; gest.1945 in der Nähe von Arnhem), die Kunst der Brüder van Eyck und derer, die ihnen gefolgt waren, besser zu verstehen und im Zusammenhang mit dem Leben ihrer Zeit zu erfassen. Dieses Ziel erinnert an das Postulat Wilhelm von Humboldts, sprachliche Entwicklungen vorrangig im Kontext der aufscheinenden kulturellen Manifestationen der jeweiligen Zeit zu betrachten und einzuordnen.
Ein Geschichtswerk, bestehend aus kultur- und geistesgeschichtlichen Essays, das primär die Werke der Kunst der jeweiligen Epoche zugrunde legt, um dadurch zu Schlussfolgerungen zu kommen, die mit Weitblick auf die "geschichtlichen Interieurs" und das große Gesamtbild nordischer Spätgotik verweisen und dadurch ein viel weiter greifendes Verständnis ermöglichen. Die kritische Trennung von Geschichtswissenschaft und Kunst wird bei Huizinga aufgehoben zugunsten einer Orientierung an der Kunst und den geistigen Dimensionen der Kultur, die, so Huizingas Überzeugung, trotz des technischen und sozialen Fortschritts, das eigentliche Wesen der Kultur ausmachen.
Das 15. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Hexenverfolgungen, das Ende des Mittelalters und die Ankündigung des Humanismus und der Reformation - doch "kein Humanismus, keine Reformation widerstehen diesem Wahn". (1) In dieser Schrift, die den Übergang von der spätmittelalterlichen Kunst hin zur Renaissance detailliert beschreibt, zeigt sich eine für die 30er/40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts typische Suchbewegung, die auf einen Wiederaufstieg der Kultur zielt. Der Schwerpunkt verlagert sich während dieser Zeit von der wissenschaftlichen auf die kulturpolitische Ebene. Der Ruf nach grundlegenden ästhetischen, intellektuellen und moralischen Reformen wird laut und die Wahrheitsforderung, die Huizingas Forschung begleitet, ist weit davon entfernt, in einen postmodernen Relativismus des Denkens zu verfallen, wie er sich dann später ankündigt. Im Gegenteil, sie zeigt deutlich, dass sich die grundsätzlichen Fragen in der Beschäftigung mit Geschichte immer wieder neu stellen.
Wo die wesentlichen Verschiebungen liegen - und auf diesem Gebiet ist Huizinga ein Meister der Beobachtung, denn er ist selber ein Geschichtskünstler und Geschichte/n-Erzähler - wird in immer wieder neuen Variationen gezeigt und belegt, meist anhand von Bildern oder Texten, die zeitlich und inhaltlich genau eingeordnet werden. Der Text, in ständiger Verbindung mit den betrachteten Kunstwerken, ist selbst gewirkt wie ein Ornament oder Teppich, der Alles ins Bild bringt. Das Buch ist gespickt mit Fotos von wichtigen Gemälden und künstlerischen Zeugnissen der spätmittelalterlichen Zeit, wie z.B. Tafelbildern, Stundenbüchern, Holzschnitten, Miniaturen, Andachtsbüchern, Wandteppichen, kolorierten Zeichnungen, Illustrationen, Fresken, Skulpturen, Handschriften, Schreinen. Diese dienen Huizinga als Quellenmaterial, um seine Thesen zu bebildern. Zum Beispiel die These, dass der Unterschied zwischen Spiel und Ernst nicht immer klar ist, eine "Mischung von Ernst und Spiel kennzeichnet die Sitten auf den verschiedensten Gebieten." (2)
Ebenso die Leichtgläubigkeit, mit der Dinge hingenommen werden und der Mangel an kritischem Unterscheidungsvermögen, auch wenn man die Unterschiedlichkeit der Bildungsstufen berücksichtigt. "Unter der Bevölkerung der burgundischen Lande war noch jene Form der barbarischen Leichtgläubigkeit lebendig, die an den Tod einer imposanten Herrschergestalt, wie es Karl der Kühne für sie gewesen, nie recht glaubte; noch zehn Jahre nach der Schlacht bei Nancy lieh man einander Geld unter der Bedingung, es bei der Rückkehr des Herzogs zurückzuzahlen." Der "Glaube an die Realität des Eingebildeten" fasste unter dem "Einfluß der starken Leidenschaftlichkeit und der allzu willigen Einbildungskraft" sehr leicht Fuß. Für eine "Geisteshaltung, die so stark in isolierten Vorstellungen denkt, begründet die bloße Anwesenheit einer Vorstellung im Geiste bereits die Vermutung ihrer Glaubwürdigkeit." (3)
Der Unterschied zwischen Literatur und der Bildenden Kunst wird besonders gut herausgearbeitet in den beiden Kapiteln "Wort und Bild" bzw. "Bild und Wort", einander spiegelbildlich ergänzend und dadurch sehr anschaulich in der Beschreibung - fast eine Art Beschwörung und Verlebendigung des damaligen Zeitgeistes darstellend, was quasi eine Partizipation daran möglich macht, ein Meisterstück der Beschreibung. Es ist überhaupt interessant, wie zielsicher Huizinga seine Argumentationslinien herbeiführt, die er als Ergebnis ausladender Beschreibungen (manchmal etwas Zuviel des Guten) der Kunstwerke selbst findet, so dass auch der Leser sich auf eine Reise begeben und sich ein Bild machen kann, was ja gewünscht ist, da nichts für immer und ewig in Stein gemeißelt ist.
Dass Huizinga kein Fundamentalist seines Gebietes ist und immer wieder seinen Diskurs öffnet und Dinge zur Diskussion stellt, macht seine Größe und Großartigkeit aus. Als profunder Kenner der Materie gibt es kaum jemanden, der so tief in sein Gebiet eingedrungen ist und so erfahren auf diesem Ozean navigiert. Seine antirassistische Grundhaltung brachte ihm Ärger ein und er wurde infolgedessen geächtet und der Universität verwiesen. Dennoch vertrat er eine eher konservativ-liberale Position. Beginnend mit der Liebe zur Sprache führt ihn sein Weg vom Sprachwissenschaftler zum Philologen hin zum Historiker - ein vorgezeichneter fast zwingender Weg, wenn man die Liste seiner Publikationen verfolgt, die Verlagerung seiner Interessen hin zur Zeitgeschichte.

In Teil 2 werde ich mich mit dem bekannten Werk »Homo Ludens« beschäftigen und wie das "Spiel", für Huizinga eine wichtige Konstante bei der Entstehung von Kultur/en überhaupt, historisch dimensioniert wird.

Fußnoten:
(1) Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 2015, S.385ff.
"...bietet nicht der Humanist Jean Bodin noch in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in seiner Démonomanie dem Verfolgungswahn die reichlichste und gelehrteste Nahrung? Die neue Zeit und das neue Wissen haben die Greuel der Hexenverfolgung nicht sofort von sich gewiesen."; "Die gleiche Zeit (...) Ausblick auf die Blüte des Humanismus bedeutet, besiegelt durch den Malleus maleficarum und die Bulle Summis desiderantes (1487 und 1484) die systematische Ausgestaltung des Hexenwahns, dieses fürchterlichen Auswuchses mittelalterlichen Denkens."; "Gleichwohl ist die Haltung des spätmittelalterlichen Geistes gegenüber dem Aberglauben, namentlich gegenüber Hexen und Zauberei sehr schwankend und wenig fest. Aber so hilflos allem Spuk und Wahn ausgeliefert, wie man auf Grund der allgemeinen Leichtgläubigkeit und des Mangels an Kritik erwarten könnte, ist die Zeit nicht. Es gibt viele Äußerungen des Zweifels oder vernunftgemäßer Auffassung."
(2) Ebenda S.384.
(3) Ebenda S.382/383.

© Dr. Karin Krautschick, Dezember 2018.

Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters: Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden.
Stuttgart 2015, Reclam Taschenbuch.
639 Seiten, 64 Abbildungen.
ISBN 978-3-15-020366-8.

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2018/12/14

Der Spindelstrauch alias Pfaffenhütchen

ellaspindelstrauch
Der Spindelstrauch (Euonymus), auch Pfaffenhütchen genannt, hat tolle Früchte.
Fotografiert von © Ella Gondek, November 2018.

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2018/12/11

Absurde Oper - Der Berliner Kulturhaushalt

Dr. Christian G. Pätzold

Auch KünstlerInnen müssen von irgendetwas leben. Je mehr Geld in die Kultur investiert wird, desto mehr KünstlerInnen gibt es an einem Ort. Das ist eigentlich eine gute Sache, denn Kunst und Kultur machen das Leben so viel interessanter, zumindest für den Teil der Bevölkerung, der einen Sinn dafür hat. Ohne staatliche Kulturförderung geht es gar nicht. Fragt sich nur, welche Kultur gefördert wird.
Nach 2 Jahren linker Kulturpolitik in Berlin kann man ja mal zurückblicken: Was hat es gebracht? Ist ein sozialistischer Ruck durch die Berliner Kultur gegangen? Über manches hat man sich gefreut, so wurde etwa der »Karneval der Kulturen« in Kreuzberg im Jahr 2018 gefördert (830.000 Euro). Aber wie viel Geld gibt der Senat von Berlin eigentlich insgesamt für die Kultur aus? Das ist eine Frage, die ich mir gestellt habe. Jeder Berliner Steuerzahler zahlt ja schließlich mit dem Kauf jedes Brötchens etwas für die Kultur.
Um das Funktionieren der Berliner Kulturlandschaft besser zu verstehen, ist es unerlässlich, in den Kulturhaushalt des Kultursenators zu schauen. Denn viele größere, kleinere und kleinste Kulturinstitutionen der Stadt hängen am Finanztropf des Kultursenators. Man kommt also nicht daran vorbei, sich mal die staatlichen Zuschüsse der einzelnen Institutionen anzuschauen.
Nach einigen Problemen ist es mir gelungen, im Internet das Zauberwort "Doppelhaushalt Berlin 2018/2019" einzugeben. Und mein Computer konnte auch die .pdf des Berliner Kulturhaushalts downloaden. Man wird sich vielleicht fragen, wo man in der .pdf erfährt, wie viele Euro der Kultursenator für die Kultur ausgibt. Auf Seite 94! Das nenne ich gut versteckt von den Schreibtischherrschern im Kultursenat. Ich habe mich nicht abschrecken lassen und habe mich bis zur Seite 94 durchgearbeitet. Aber man hat schon den Eindruck, dass der Haushaltsplan etwas wirr gestaltet ist. Da entsteht dann leicht der Eindruck, dass etwas vor den Leuten verschleiert werden soll. Ein normaler Mensch, der nicht Kameralistik studiert hat, dürfte den Haushaltsplan kaum verstehen.
Auf Seite 94 erfährt man dann die interessante Zahl: Es sind insgesamt 605 Millionen Euro, die für Kultur vom Berliner Senat im Jahr 2018 ausgegeben werden. 605 Millionen sind schon eine erhebliche Summe. Von diesem Geld wandern 522 Millionen Euro direkt als Zuschüsse an Institutionen des Kulturbereichs (Museen, Theater etc.).
Dann habe ich mich noch weiter vorgearbeitet und bin zu der Frage gekommen, wie viele Euro eigentlich die 3 großen Berliner Opern (Staatsoper Unter den Linden, Deutsche Oper Berlin, Komische Oper Berlin, Staatsballett) im Jahr 2018 bekommen? Von den 522 Millionen Zuschüssen insgesamt bekommen die Opern 151 Millionen Euro (Seite 30). Das ist der größte Posten im Kulturhaushalt.
Aus diesen Zahlen kann man ersehen, dass ein großer Teil des Kulturhaushalts für die Opern ausgegeben wird. Jede Eintrittskarte für die Opern oder das Ballett wird mit vielen Euro subventioniert. Wenn man die 151 Millionen Euro durch die jährlichen Opernbesuche von 700.000 (Seite 31) teilt, erhält man den Betrag von 215 Euro je Eintrittskarte. Die Opern werden überwiegend von den reichen Einwohnern besucht und die bekommen auch noch eine Subvention von 215 Euro je Opernbesuch?
Das erscheint mir doch schon etwas obszön für einen linken Kulturhaushalt. Die Oper ist eine feudalistische und ziemlich verstaubte Kunstform, für die die linke Kulturpolitik in Berlin das meiste Geld ausgibt. Während die anderen KünstlerInnnen darben müssen. Die meisten KünstlerInnen in Berlin müssen von Hartz 4 leben. Würde nicht auch 1 Oper in Berlin ausreichen?
Wenn man sich weiter im Kulturhaushalt durcharbeitet, kommt es noch schlimmer. Der Friedrichstadtpalast, der bestimmt nichts mit Kultur zu tun hat, Stichwort Girlsreihe, bekommt 2018 11 Millionen Euro Zuschüsse (Seite 101). Die Kirchen bekommen 2018 84 Millionen Euro an Zuweisungen und Zuschüssen (Seite 255). Dafür werden dann die Schulkinder von Religionslehrerinnen indoktriniert. Erdogans Religionsbehörde lässt grüßen.
Ich habe alle 330 Seiten des Kulturhaushalts angeschaut. Er liest sich über weite Strecken wie ein Gruselkabinett. Sehr peinlich für eine angeblich "linke" Kulturpolitik. Fragt sich nur, ob die linken WählerInnen mitbekommen, wie viel Geld fehlgeleitet wird. Der Kulturhaushalt liest sich wie ein verzweifelter Versuch, allen sozialen Gruppen in der Stadt etwas entgegen zu kommen. Aber die Proportionen sind doch grotesk verschoben.
So viel zur Landesebene der Kulturfinanzierung in Berlin. Und zu der Frage, mit welchen finanziellen Mitteln welche Ideologien verbreitet werden. Denn es geht den Politikern natürlich darum, ihre Weltanschauung bei den Einwohnern unterzubringen. Neben dem Senat gibt es aber noch zahlreiche andere Player, die ebenfalls finanziell stark in der Berliner Kultur engagiert sind. Diese Geldgeber kann ich hier nur summarisch aufführen:

(2) Die 12 Berliner Bezirke, die auf lokaler Ebene ein Basis-Kultur-Angebot finanzieren, wie Stadtbüchereien, Heimatmuseen, Kommunale Galerien, Musikschulen etc.
(3) Der Bund ist ebenfalls stark finanziell engagiert, besonders über die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (CDU) und über den Hauptstadtkulturfonds. Die Kulturstaatsministerin hat im Jahr 2018 etwa 1,7 Milliarden Euro zur Verfügung, wovon einiges nach Berlin fließt.
(4) Auch die Europäische Union finanziert zahlreiche Projekte über ihre Programme.
(5) Ausländische Staaten geben bspw. Zuschüsse durch die Kulturattachés ihrer Botschaften.
(6) Privatunternehmen finanzieren teilweise Kultureinrichtungen.
(7) Zahlreiche Privatpersonen tragen zum Kulturangebot bei.

Durch diese 7 Geldgebergruppen, die in der Berliner Kultur unterwegs sind, entsteht ein sehr vielfältiges Finanzierungsmuster der verschiedenen kulturellen Initiativen. Oft weiß man gar nicht, welche Geldgeber mit welchen Ideologien hinter einer Kultureinrichtung stecken. Gleichzeitig erklärt sich daraus der große Umfang des Kulturbereichs in Berlin mit hunderten von Kulturveranstaltungen am Tag. Wahrscheinlich wird über 1 Milliarde Euro jährlich in das Berliner Kulturleben gepumpt.

© Dr. Christian G. Pätzold, Dezember 2018.

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2018/12/08

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© Dr. Hans-Albert Wulf, Dezember 2018.

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2018/12/05

art kicksuch

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stille2

© art kicksuch, dezember 2018.

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2018/12/02

Die Zeit der Misteln

Dr. Christian G. Pätzold

misteln
Misteln auf Birken, auf dem Perelsplatz in Berlin Friedenau.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2018.

Die Misteln haben ihren großen Auftritt im Dezember, wenn die Blätter der Laubbäume zur Erde gefallen sind. Dann sind die großen Kugeln der Misteln in den Kronen der Bäume zu sehen, denn europäische Misteln sind immergrüne Pflanzen und verlieren ihre Blätter auch im Winter nicht. Das kahle verzweigte Geäst der Bäume mit den darauf wachsenden Mistelkugeln gibt ein pittoreskes Bild, das sich scharf vom Winterhimmel abhebt. Beim Tigern durch die Stadt kann man immer wieder neue Mistelbilder auf Linden, Eschen oder Birken bestaunen. Die Rotbuchen, Eichen und Platanen sind dagegen mistelresistent.
Die ganze Mistelpflanze ist überaus dekorativ, ihre Wuchsform, ihre grünen Blätter und ihre weißen Früchte, weshalb sie gerne in Wohnungen aufgehängt wird, wo sie sich lange hält. Die Blumenhändler lieben die Mistel, denn sie ist ein gutes Zusatzgeschäft. Es ist nur meist schwierig, die Mistel zu ernten, wenn sie hoch oben in den Bäumen wächst.
Die weißbeerige Mistel (Viscum album L.) ist die am häufigsten in Deutschland anzutreffende Mistel. Es gibt über die ganze Welt verteilt etwa 400 Mistelarten, die zur Familie der Sandelholzgewächse (Santalaceae) gerechnet werden. Der Name der Mistel stammt vom Vogelmist, mit dem die klebrigen Beeren auf den Bäumen verteilt werden, wo die parasitische Mistel dann in ihre Wirtspflanze hineinwächst. Der lateinische Name Viscum bedeutet Leim, weil die alten Römer aus den klebrigen Beeren einen Leim zum Vogelfang hergestellt haben.
In der Botanik werden Misteln als halbparasitische, epiphytische Sträucher bezeichnet. Halbschmarotzer bedeutet, dass die Mistel einen Teil ihrer Nährstoffe vom Wirt bezieht, teilweise sind die Blätter aber auch zur Photosynthese fähig. Epiphytisches Wachstum bedeutet, dass sie auf Bäumen und Sträuchern wächst. Als Schmarotzer bringt die Mistel ihren Wirtsbaum leider mit den Jahren ums Leben. Daher ist es angebracht, die Misteln abzuschneiden, wenn man einen Baum erhalten möchte.
Schon tausende von Jahren fasziniert die Mistel die Menschen. Daher spielt sie in der Folklore eine große Rolle. Es ist bekannt, dass die alten keltischen Druiden die Misteln mit einer goldenen Sichel bei Mondschein schnitten und aus ihnen einen Zaubertrank brauten, der große Kräfte verleihen sollte. Leider hat es den Kelten nicht besonders viel geholfen. Daher ist das Trinken von Mistelzaubergetränken auch sehr aus der Mode gekommen. Es ist auch bekannt, dass man sich unter einem Mistelzweig, der in einer Wohnung aufgehängt ist, küssen darf, zumindest in England. Misteln sind auch ein Symbol der Fruchtbarkeit.
Wer Misteln gerne selber anbauen möchte, braucht einen langen Atem. Vom Samen bis zur ersten Ernte vergehen mindestens 10 Jahre.

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2018/11/30

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2018/11/27

Karl Liebknecht ruft die Sozialistische Republik aus

liebknechtrepublik
"Am 9. November 1918 ruft Karl Liebknecht die freie Sozialistische Republik aus."
Bronzerelief von Gerhard Rommel am Neuen Marstall in Berlin Mitte, 1988.
Bundesarchiv Bild 183-1988-1108-043.
Foto: Bernd Settnik, November 1988.
Quelle: Wikimedia Commons.

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2018/11/24

Die Revolution

von Dr. Rudolf Stumberger, München

novemberrevolution
Kundgebung auf der Theresienwiese in München am 7. November 1918.
Quelle: Wikimedia Commons.

Die politische Situation im Oktober unterscheidet sich von der im Januar 1918. In den Monaten, die Eisner im Gefängnis verbrachte, waren Legitimation und Machtbasis von Kaiser und König geschwunden. Die Oberste Heeresleitung hatte die Fortführung des Krieges für aussichtslos erklärt und Deutschland ein Waffenstillstandsangebot an den US-Präsidenten Woodrow Wilson gerichtet. Gleichzeitig entwickelte die militärische Führung das Konzept der "Dolchstoßlegende", um die Verantwortung für die Niederlage der Politik und vor allem der Linken zuzuschieben. (1) Zwei Wochen nach der Freilassung Eisners begann am 29. Oktober mit der Meuterei der Matrosen der Hochseeflotte in Kiel das Ende des Kaiserreiches.
Politische Revolutionen, so Hannah Arendt, entstehen weder spontan durch die Massen noch durch bloßen Aufruhr der Unzufriedenen oder durch ein Komplott von Verschwörern. Vielmehr sei es "ein Zeichen echter Revolutionen, daß sie in ihren Anfangsstadien leicht und verhältnismäßig blutlos verlaufen, daß ihnen die Macht gleichsam in den Schoß fällt, und der Grund hierfür liegt darin, daß sie überhaupt nur möglich sind, wo die Macht auf der Straße liegt und die Autorität des bestehenden Regimes hoffnungslos diskreditiert ist". (2)
Am 7. November 1918 lag in München die Macht auf der Straße und man brauchte sie nur aufzuheben. Aber Revolutionen von unten werden kaum von Großgrundbesitzern, Beamten, Bankdirektoren oder Fabrikanten gemacht. Es braucht vielmehr Personen, deren Bewusstsein "sich mit dem es umgebenden 'Sein' nicht in Deckung befindet", wie der Frankfurter Wissenssoziologe Karl Mannheim das utopische Bewusstsein charakterisierte. (3) Das Bewusstsein des gerade aus der Haft entlassenen Kurt Eisner befand sich in dieser Zeit ganz gewiss nicht in Deckung mit dem umgebenden Sein. Er gehörte vielmehr zu jener "genügenden Anzahl von Menschen, die auf einen Zusammenbruch mehr oder minder vorbereitet und willens sind, die Macht zu ergreifen". (4) Eisner war willens, die Mehrheits-SPD war es nicht.
An diesem 7. November, einem Donnerstag, strömten gegen Mittag die Münchner Arbeiter auf die Theresienhöhe, um 13 Uhr war eine gemeinsame Friedenskundgebung von SPD und USPD angekündigt. Am Tag zuvor hatte der bayerische Innenminister sich mit der Polizeidirektion, dem militärischen Generalkommando und dem Stadtkommandanten besprochen, dabei wurden umfassende Sicherheitsvorkehrungen wie die Bereitstellung von Truppen, Straßensperren und die Abschirmung von Gebäuden getroffen.
Auf der Treppe vor der Bavaria sprach Erhard Auer von der Mehrheits-SPD, weit unten Kurt Eisner. "Es war keine alltägliche Kundgebung. Auf den Gesichtern lag Spannung. Man wusste: heute geschieht entscheidendes", so schildert Fechenbach den Beginn der Revolution. (5) Nach den Reden formierte sich ein Demonstrationszug durch die Münchner Innenstadt. Die Mehrheit folgte der SPD hin zum Friedensengel oberhalb der Isar. An die tausend Demonstranten, darunter viele Soldaten, aber folgten Eisner und der USPD zu den Kasernen und forderten die dort stationierten Soldaten auf, mit ihnen zu kommen. Der Zug ging zunächst zur Guldeinschule in der Guldeinstraße 27 im Westend, dort war im Krieg ein Munitionsdepot untergebracht. Die dort stationierte Landsturm-Einheit schloss sich dem Zug an und weiter ging es zu den Kasernen am Marsfeld (nahe der heutigen Marsstraße), an der Leonrodstraße Ecke Dachauer Straße (Max II-Kaserne) und zur Türkenstraße (Türkenkaserne). Es gab kaum Widerstand, überall liefen die Soldaten zu den Revolutionären über, die Offiziere wurden entwaffnet. Um 21 Uhr verfügte das alte Regime in München über keine Truppen mehr. König Ludwig III. hatte sich bereits um 20 Uhr nach Schloss Wildenwart im Chiemgau aus dem Staub gemacht.
Nächste Station der Revolution war der Bierkeller Mathäserbräu in der Innenstadt zwischen Stachus und Hauptbahnhof. Dort geschah Unerhörtes: Arbeiter und Soldaten, bisher als deklassierte Klasse und Kanonenfutter nur die Opfer der Geschichte, wurden zum Subjekt und damit Gestalter der Geschichte. Die Versammelten wählten aus ihren Reihen Arbeiter- und Soldatenräte, Repräsentanten der neuen Ordnung. Um 22 Uhr waren alle Ministerien, das Generalkommando, der Hauptbahnhof sowie das Telegrafenamt in der Hand der Revolutionäre. Anschließend zogen Eisner und die Räte mit 60 Bewaffneten zum Landtag in die Prannerstraße, dessen Eingänge mit Maschinengewehren gesichert wurden. Um 22.30 Uhr eröffnete Eisner die konstituierende Versammlung der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, er wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt. In dieser Nacht schrieb er jene Proklamation, mit der die Republik ausgerufen wird: "Das furchtbare Schicksal, das über das deutsche Volk hereingebrochen, hat zu einer elementaren Bewegung der Münchner Arbeiter und Soldaten geführt. Ein provisorischer Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat hat sich in der Nacht zum 8. November im Landtag konstituiert. Bayern ist fortan ein Freistaat."
Am Abend der Revolution saß Erhard Auer, der Landeschef der bayerischen Mehrheits-SPD, beim königlichen Innenminister Friedrich von Brettreich und besprach die Lage. Auer gilt als "königstreu", wird später als "königlich bayerischer Sozialdemokrat" verspottet. Er fragte den Innenminister, ob denn nicht einmal 500 Mann unter Waffen zur Verfügung stünden, um die Revolution niederzuschlagen. Aber es war nichts mehr zu machen, Brettreich verfügte über keine Truppen mehr in München.
So erschien am nächsten Tag, Freitag, dem 8. November 1918, in der SPD-Zeitung Münchener Post folgende Meldung: "Unter dem Druck der furchtbaren Drangsale des deutschen Vaterlands hat sich die gestrige Kundgebung ohne unser Zutun zu einem politischen Willensakte gesteigert, mit dem alle Teile der Bevölkerung zu rechnen haben." So bezeichnete die SPD die Abschaffung der Monarchie und die Ausrufung der Republik.
An diesem Freitag trat am Nachmittag im Landtag der Provisorische Nationalrat des Volksstaates Bayern zusammen. Vertreten waren dabei die Räte, die Fraktionen der SPD und des Bauernbundes aus dem alten Landtag sowie einige weitere Abgeordnete. In dieser Sitzung wurde die neue Regierung Bayerns gewählt, mit Kurt Eisner als Ministerpräsidenten. Die SPD stellte Erhard Auer als Innenminister und Johannes Hoffmann als Unterrichtsminister auf und besetzte darüber hinaus weitere Ministerposten. Es war der erste Tag eines neuen, demokratischen Bayerns. 100 Jahre später wird sich die bayerische CSU-Regierung weigern, diesen Tag als Feiertag zu bestimmen. Man habe in Bayern ja schon so viele Feiertage, lautet die Begründung.
Am 9. November übergaben die königlichen Minister ihre Ämter und Amtsräume an die neuen Regierungsmitglieder, alles geschah ohne Gewalt, die Beamtenschaft und die Verwaltung fügten sich den neuen Verhältnissen. Die waren jetzt auch in Berlin ausgebrochen, auch in Preußen wurde die Republik ausgerufen. Kurt Eisner hatte als Ministerpräsident auch das Ministerium des Äußeren inne und bezog die Räume im Außenministerium, dem Montgelas-Palais am Promenadenplatz. Felix Fechenbach wurde sein Sekretär. Dann begannen die 100 Tage der Regierung Eisner.

Fußnoten:
(1) Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen 1973, S. 215.
(2) Arendt, Hannah: Über die Revolution. München 1974, S. 148.
(3) Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. Bonn 1929, S. 169.
(4) Arendt, Hannah: Über die Revolution. München 1974, S. 148.
(5) Fechenbach, Felix: Der Revolutionär Kurt Eisner. Berlin 1929, S. 39.

© Dr. Rudolf Stumberger, November 2018.

Der Artikel ist mit freundlicher Genehmigung von Dr. Stumberger dem Buch entnommen:
Rudolf Stumberger: Das Raubtier und der rote Matrose. Fake-News, Orte und Ideologien der Revolution und Räterepublik in München 1918/19. Aschaffenburg 2018. Alibri Verlag.
ISBN 978-3-86569-289-4.

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2018/11/21

goethe1
goethe2

© Dr. Hans-Albert Wulf, November 2018.

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2018/11/18

Grünlilien mit Hallimasch

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Fotografiert von © Ella Gondek, September 2018.

Die Grünlilie (Chlorophytum comosum) kommt aus Süd-Afrika und gehört zur Familie der Spargelgewächse (Asparagaceae). Sie ist eine beliebte, dekorative und relativ leicht zu pflegende Zimmerpflanze, die sehr genügsam ist. Im Sommer kann sie auch im Freien an einem halbschattigen Ort stehen. An ihren Ausläufern bilden sich hübsche Blüten und Ableger (Kindel). Die kleinen weißen Blüten blühen jeweils einen Tag lang. Die Ableger können in Wasser gestellt werden und bilden dann Wurzeln, so dass die Vermehrung sehr einfach ist. Bei der Grünlilie gibt es 3 Sorten: Mit grünen Blättern, Blätter mit weißen Rändern, Blätter mit weißem Streifen innen. Sehr günstig ist ihre Eigenschaft, die Luft in Innenräumen von Schadstoffen zu reinigen. Insgesamt ist die Grünlilie eine sehr interessante Pflanze.

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2018/11/15

angstland

dr. christian g. pätzold

denken die leute an deutschland in der nacht
dann sind sie um den schlaf gebracht
angst die miete nicht mehr bezahlen zu können
angst vor arbeitsplatzverlust

die phobische gesellschaft
versinkt in sorgen und ängsten
angst vor armut im alter
angst vor den tafeln nach essen anstehen zu müssen

die nachthemden in deutschland sind nass von angstschweiß
german angst
angst vor nazis
angst vorm kz

unsicherheit ängste verzweiflung
eisiges dunkeldeutschland
angst im seniorenheim nicht gepflegt zu werden
angst vor spitzeln

die leute verkriechen sich depressed in angststarre
in ihren wohnungen und haben angst
angst vor obdachlosigkeit
angst vor sozialem abstieg

angststörung angstzustände angstattacke
angst essen seele auf
angst vor staatstrojanern
angst vor fremden

angst im land der richter und henker
in angstland terror
we shall overcome some day
aber wann ist some day ?

© dr. christian g. pätzold, november 2018.

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2018/11/12

Was ist ein Blog?

Dr. Christian G. Pätzold

Blog ist die Abkürzung des englischen Wortes Web-Log, auf Deutsch: Netztagebuch. Web ist ein Spinnennetz, vom Wort weben. Der Blog ist also ein digitales Tagebuch im Internet. Wobei es allerdings die meisten Blogger und Bloggerinnen nicht schaffen, täglich etwas Neues zu bloggen. Meist vergehen ein paar Tage bis zum nächsten Post, das habt ihr sicher auch schon bei kuhlewampe.net bemerkt. Schließlich soll ja nicht nur irgendwas gepostet werden, sondern etwas Substantielles.
Und was steht so alles in einem Blog? Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Blogs. Es gibt Mode-Blogs, Koch-Blogs, Lifestyle-Blogs, Literatur-Blogs, Kunst-Blogs, Kultur-Blogs, Berlin-Blogs, Astronomie-Blogs, Nachbarschafts-Blogs, Nerd-Blogs, Grenzwissenschaft-Blogs, Weltretten-Blogs und noch viele andere Arten. Die Themen der Blogs sind so verschieden wie die Blogger und die Bloggerinnen. Es gibt Tausende Blogs in Deutschland. Meist wird ein Blog von nur einem Menschen geschrieben, es gibt aber auch Kollektiv-Blogs, bei denen mehrere Menschen mitschreiben. kuhlewampe.net ist so ein Kollektiv-Blog mit mehreren AutorInnen. Mir macht es mehr Freude, mit anderen Menschen zusammen zu bloggen, weil man dann mehr inhaltlichen Austausch und Feedback hat.
Viele werden sich vielleicht schon mal gedacht haben, dass sie auch ihre Meinung sagen möchten. Dafür ist ein Blog ein gutes Medium. Ja, man muss sich ein paar Kenntnisse in Informatik und über das Internet antrainieren. Außerdem einen Personal Computer anschaffen und einen Internet-Anschluss. Dann braucht man noch einen Webhost, der den Blog im Internet verschickt. Und dann kann man schon loslegen und kreativ werden. Und das Schöne ist: Die ganze Welt kann es anschauen! Zugegeben, es sind einige Voraussetzungen, die man sich erst mal erarbeiten muss. Aber auch das Lernen kann Spaß machen. Lebenslanges Lernen kann eine Freude sein, wenn man nicht total vernagelt ist.
Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat einmal gesagt, dass er den Zustand der vollständigen Erschöpfung anstrebt, und dass ihn die Arbeit an seinem früheren Blog zur Erschöpfung gebracht habe. So weit braucht man es meiner Meinung nach nicht zu treiben. Ich halte es für sinnvoll, wenn man noch etwas bei Kräften ist, um die Qualität des Blogs auf einer gewissen Höhe zu halten. Weniger ist dann mehr.
Ich möchte noch auf eine wichtige Unterscheidung bei Blogs hinweisen: Es gibt kommerzielle und nicht-kommerzielle Blogs. Einige BloggerInnen wollen mit ihren Blogs Geld verdienen und das funktioniert vor allem mit offener oder versteckter Werbung. Blogs mit Werbung sind kommerzielle Blogs. Die Werbung ist entweder offen als Anzeige gekennzeichnet, oder sie ist versteckt als Schleichwerbung untergebracht, indem in den Beiträgen bestimmte Produkte der Industrie empfohlen werden. Auf jeden Fall sind kommerzielle Blogs mit Vorsicht anzusehen. Kommerzielle BloggerInnen sind Influencer, die die Leute zum Kauf von bestimmten Produkten der Industrie animieren wollen.
Eine weitere Unsitte greift um sich: Einige Blogger wollen mit ihrem Blog Geld verdienen, indem sie in ihren Blog eine Bezahlschranke (Paywall) einbauen. Bestimmte Inhalte sind dann nur noch für AbonnentInnen zugänglich, die einen monatlichen Betrag zahlen. Durch diese Taktik wird der freie Zugang (Open Access) zu Inhalten im Internet versperrt, zumindest für Nutzer, die nicht zahlen wollen oder können. Diese Taktik ist negativ zu bewerten, denn das Internet wurde nicht zur Abschottung und für Kommerz geschaffen, sondern für freien Informationsaustausch. Eigentlich sollte man alle Seiten mit Paywalls für das Internet sperren.
Eine dritte Möglichkeit, mit einem Blog an Geld zu kommen, ist das Einwerben von Spenden, manchmal auch Crowdfunding oder Sponsoring genannt. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, denn so ein Blog kostet zwar nicht viel, aber ein paar laufende Kosten fallen doch an. Allerdings werden einige Blogs von der Europäischen Union, von Regierungen oder von Großunternehmen zum Teil mitfinanziert. Solche Blogs sollte man ignorieren. Die Gefahr von Beeinflussung, Manipulation und Selbstzensur ist zu groß.
Zum Abschluss noch ein ernstes Thema. In vielen Ländern der Erde werden Blogger und Bloggerinnen bedroht und ermordet, weil sie Dinge veröffentlichen, die anderen nicht in den Kram passen. Daher ist es wichtig, immer auf der Meinungsfreiheit und Pressefreiheit zu bestehen, damit die Potentaten dieser Welt nicht alles machen können.

© Dr. Christian G. Pätzold, November 2018.

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2018/11/09

80. Jahrestag der Reichskristallnacht, 9. November 1938

Dr. Christian G. Pätzold

reichskristallnacht
"Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!"
In Berlin, April 1933.
Quelle: Wikimedia Commons. Bundesarchiv, Bild 102-14468/Georg Pahl/CC-BY-SA 3.0.

Schon im April 1933 starteten die Nazis in Deutschland einen großen Aufruf, Geschäfte mit jüdischen Inhabern zu boykottieren. Die Nationalsozialisten drohten Kunden von jüdischen Geschäften damit, dass sie fotografiert würden. In der Nacht des 9. zum 10. November 1938 ereignete sich die Reichskristallnacht, in der Fensterscheiben eingeschlagen und jüdische Läden verwüstet wurden. Der Name "Kristall" bezieht sich auf die zersplitterten Glasscheiben. In dem Novemberpogrom gegen die jüdische Bevölkerung wurden auch Synagogen von Mitgliedern der SA (Sturmabteilung) und der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) angezündet. Insgesamt wurden etwa 7.000 jüdische Geschäfte zerstört und auch jüdische Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden verwüstet. Nach Angaben bei Wikipedia sollen etwa 400 Menschen getötet oder in den Suizid getrieben worden sein.
Von der SS (Schutzstaffel) und der Gestapo (Geheime Staatspolizei) wurden etwa 30.000 jüdische Männer und Jugendliche in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt, die erst nach Auswanderungserklärungen wieder frei kamen. Hunderte wurden auch ermordet oder sind an den Haftfolgen gestorben. Nach der Reichskristallnacht setzte die verstärkte Vertreibung der Juden ins Ausland und die Arisierung jüdischen Eigentums ein. Etwas später begann die gezielte Vernichtung der Juden in den Konzentrationslagern, der Holocaust.
Als Anlass für die Reichskristallnacht diente den Nationalsozialisten die Erschießung des Legationssekretärs Ernst Eduard vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris durch den 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938. Grynszpans Familie war wenige Zeit vorher aus Deutschland nach Polen abgeschoben worden und befand sich in einer verzweifelten Lage. Vom Rath war Mitglied der NSDAP. Grynszpan wurde später von den Nazis aus Frankreich nach Deutschland verschleppt und vermutlich 1942 umgebracht.
Heute gibt es wieder viele Läden mit nicht-deutschen Inhabern. Diese Geschäfte werden heute teilweise schon wieder angegriffen wie in Chemnitz in Sachsen, nachdem dort ein Deutscher von einem Ausländer erstochen wurde. Déjà vu. Wiederholt sich die Geschichte? Können die Schrecken des Kapitalismus durch Faschismus überwunden werden? Ist ein ausländerfreies Deutschland erstrebenswert?

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2018/11/05

art kicksuch

liebe1
liebe2

© art kicksuch, november 2018.

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2018/11/02

Der November 1918

Dr. Christian G. Pätzold

revolution
Das Revolutionsdenkmal von Ludwig Mies van der Rohe
auf dem Friedhof Berlin Friedrichsfelde, 1926.
Bundesarchiv, Bild 183-H29710/CC-BY-SA 3.0.
Quelle: Wikimedia Commons.

Der November vor 100 Jahren war ein sehr ereignisreicher und wichtiger Monat in der deutschen Geschichte, weil er die politischen und sozialen Verhältnisse stark veränderte. Der November 1918 brachte die Revolution, das Ende der Monarchie und das Ende des Ersten Weltkriegs. Der Obrigkeitsstaat brach wie ein Kartenhaus zusammen, weil keiner mehr nach seiner Pfeife tanzte. An vielen Orten wurde die Rote Fahne gehisst.
Am 3. November 1918 ereignete sich der Kieler Matrosenaufstand. Die Matrosen hatten keine Lust mehr auf den Weltkrieg und den "Heldentod", nachdem sie gemerkt hatten, dass die deutschen Schiffe reihenweise im Meer versenkt werden würden. Ein weiterer Seekrieg wäre Selbstmord gewesen. 4 Jahre vorher hatten sich noch viele begeistert freiwillig zum Krieg gemeldet. Aber jetzt war Revolution! Das Deutsche Reich hatte keine Möglichkeit mehr, den Weltkrieg militärisch zu gewinnen. Ende Oktober kam es zu Befehlsverweigerungen der Matrosen vor Wilhelmshaven. Am 4. November wurde der Arbeiter- und Soldatenrat in Kiel gegründet. Die revolutionären Matrosen fuhren dann von der Küste zurück in ihre Heimatorte. Von Kiel breitete sich die Revolution der Arbeiter und Soldaten in ganz Deutschland aus. So waren auch in Berlin innerhalb einer Woche einige Tausend revolutionäre Matrosen angekommen.
Am 7. November 1918 versammelten sich Zehntausende auf der Theresienwiese in München, um gegen den Krieg zu protestieren. In der Nacht zum 8. November wurde die Republik in Bayern von einem Arbeiter- und Soldatenrat ausgerufen. Das bedeutete den Sturz der Dynastie der Wittelsbacher. Kurt Eisner wurde am 8. November erster Ministerpräsident des Freistaates Bayern.
Am 9. November 1918 erreichte die Revolution die Reichshauptstadt Berlin. Reichskanzler Max von Baden verkündete am Morgen die Abdankung des Kaisers Wilhelm II. und den Thronverzicht seines Sohnes Kronprinz Wilhelm von Preußen. Das war das Ende der Monarchie der Hohenzollern, des deutschen Kaiserreiches von 1871. Die Revolution war der »Große Kladderadatsch«, den August Bebel wenige Jahre zuvor vorhergesagt hatte. Schon die Februarrevolution und die Oktoberrevolution 1917 in Russland hatten gezeigt, dass Revolutionen erfolgreich sein und die Monarchie stürzen konnten. Es war erwiesen, dass Revolutionen nicht notwendig scheitern müssen.
Am 9. November 1918 wurde in Berlin die Republik gleich zweimal ausgerufen: Einmal um 14 Uhr von Philipp Scheidemann von der SPD vom Reichstagsgebäude aus. Und ein anderes Mal um 16 Uhr im Lustgarten durch Karl Liebknecht vom Spartakusbund. Das waren allerdings sehr unterschiedliche Republiken. Der erste wollte eine kapitalistisch-bürgerliche Republik, der zweite wollte eine sozialistische Räterepublik. Da war der Konflikt vorprogrammiert.
Die Folgen der Revolution waren weit reichend: Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen, nach dem die Reichen mehr Sitze im Parlament hatten als die Armen. Erstmals gab es das Wahlrecht für Frauen in Deutschland. Und die Gewerkschaften wurden legalisiert. Zunächst jedoch gab es in den folgenden Monaten einen erbitterten Kampf zwischen Sozialdemokraten, die den Parlamentarismus beibehalten wollten, und Kommunisten, die alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten übertragen wollten, nach dem russischen Vorbild der Sowjets. Dieser Kampf forderte viele Tote. Auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Gründer der KPD, fielen ihm zum Opfer.
Bereits seit dem 29. Oktober hielt sich Kaiser Wilhelm II. im deutschen Hauptquartier im belgischen Spa auf, wo er sich einigermaßen sicher fühlte. Er fürchtete den Zorn des deutschen Volkes, das Millionen Tote zu verschmerzen hatte, ohne dass der Krieg gewonnen wurde. Am 10. November flüchtete er von dort per Zug in die Niederlande zu seinen Verwandten, wo er bis zu seinem Tod 1941 lebte. Die deutsche Kaiserin Auguste Viktoria flüchte erst am 27. November von Potsdam aus per Zug in die Niederlande.
In Österreich-Ungarn zerfiel die habsburgische k. und k. Doppel-Monarchie, die im Krieg auf der Seite Deutschlands gestanden hatte. Bereits Ende Oktober 1918 hatten sich die neuen Staaten Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei und Jugoslawien gebildet. Der österreichische Kaiser Karl I. musste in die Schweiz ausreisen.
Am 11. November endete der Erste Weltkrieg mit dem Waffenstillstand von Compiègne. Der Erste Weltkrieg hatte von 1914 bis 1918 17 Millionen Tote gekostet. Und auch danach war das Leben vieler Menschen, wie Krüppel, Witwen und Waisen, zerstört.
Am 30. November trat in Deutschland das Reichswahlgesetz in Kraft, mit dem auch die Frauen das aktive und passive Wahlrecht hatten.

© Dr. Christian G. Pätzold, November 2018.

Neue Bücher zur Novemberrevolution 1918:
(1) Klaus Gietinger: November 1918 - der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts. Hamburg 2018. Edition Nautilus.
(2) Stefan Bollinger: November '18. Als die Revolution nach Deutschland kam. Berlin 2018. edition ost.
(3) Rudolf Stumberger: Das Raubtier und der rote Matrose. Fake-News, Orte und Ideologien der Revolution und Räterepublik in München 1918/19. Aschaffenburg 2018. Alibri Verlag.
(4) Simon Schaupp: Der kurze Frühling der Räterepublik. Ein Tagebuch der bayerischen Revolution. Münster 2017. Unrast Verlag.
(5) Bernd Langer: Die Flamme der Revolution. Deutschland 1918/19. Münster 2018. Unrast Verlag.

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2018/10/31

vorschau11

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2018/10/28

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
DIE SPRACHE SCHLÄFT NIE - HEIMRAD BÄCKERS »NACHSCHRIFT«

Von Heimrad Bäcker hörte ich zum ersten Mal durch meine österreichischen Literaturfreunde, auch Hansjörg Zauner sprach mit Ehrfurcht von ihm. Heimrad Bäcker scheint als eine Art Nestor und graue Eminenz im Hintergrund der Experimentellen-Szene in Österreich zu wirken und beeinflusst diese, sogar noch nach seinem Tod im Jahre 2003. Geboren 1925 in Wien, war er anfangs ein begeisterter Nazi-Junge, doch dann änderte sich seine Haltung radikal, als er nämlich ins KZ Mauthausen kam - für Aufräumungsarbeiten. Wie gründlich er aufräumte, auch mit der Nazi-Ideologie, von der er als Kind infiziert, wenn nicht sogar fanatisiert, war, zeigt seine Abrechnung mit dem Faschismus, die er »nachschrift« nennen wird. Später studierte er noch Philosophie und promovierte über Karl Jaspers.
Diese fundamentale Auseinandersetzung mit dem Faschismus, und das v.a. auf der sprachlichen Ebene, finden wir auch bei Victor Klemperer wieder, über den ich ausführlich in der Reihe LTI (I - III) berichtete. Bisher habe ich kaum andere Autoren gefunden, die sich auf derart hohem sprachlichen Niveau mit diesen Dingen auseinandersetzten, sprachliche Feldforschung betrieben, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Mitteln. Natürlich gehört auch Hannah Arendt in diese Ahnenreihe. Das vorgeschriebene Tragen des Judensterns wird bei Victor Klemperer beispielsweise als Episode beschrieben, aber eben auch, welche Emotionen dadurch ausgelöst wurden und wie sein Umfeld darauf reagierte. Bei Heimrad Bäcker hingegen wird der Sachverhalt zitiert - ohne irgendeinen Kommentar, das ist ja das Markenzeichen seiner Arbeit, so konkret wie möglich, so bezugslos wie möglich, so dass der Text monumental bzw. monolithisch vor einem auftaucht und man als Leser dessen ganze Mächtigkeit und die Gewalt dahinter spüren kann. (1) "Bäckers nachschrift ist keine Beschreibung, kein Bericht. "Es genügt", sagt Heimrad Bäcker, "die Sprache der Täter und der Opfer zu zitieren. Es genügt, bei der Sprache zu bleiben, die in den Dokumenten aufbewahrt ist. Zusammenfall von Dokument und Entsetzen, Statistik und Grauen." (2)
Was wird in der »nachschrift« verhandelt? Zunächst einmal wird alles klein geschrieben, was die Konkreten Poeten damals gerne taten, es war eine Art Markenzeichen. Darüber hinaus täuscht die Kleinschreibung nicht über den sprachlos machenden Inhalt hinweg. Bäcker sammelte, ähnlich wie Klemperer, alles Mögliche: "Listen, Eintragungen, Aufzählungen, Verbote, Verhaftungsgründe, Auflistungen zerstörter Synagogen, verbotener Handlungen, Anweisungen, Definitionen, Wendungen, Sprachfetzen, Daten, Zahlen, Ziffern, Berichte, Kürzeln, Namen, Berufe, Tätigkeiten, Fragen, Befehle, Legenden von Plänen, Numerierungen, Fragmente, Beschreibungen medizinischer Experimente, Zeitangaben, Exekutionslisten, ideologische Phrasen, Bildunterschriften, Zwischenbemerkungen, Randbemerkungen, Verhandlungsprotokolle, letzte Briefe, Verhörmitschriften, Aussagen, Anklageschriften, Kilometerlisten mit Todeszahlen von Tagesmärschen etc." (3)
Diese Zeugnisse aus einer zum Glück vergangenen Zeit zählen literarisch gesehen zur "Konkreten Poesie" (4), da sie ihre Botschaft in verdichteter Form - und die Sprache als Material nutzend - vermitteln. Das Besondere daran ist, dass Heimrad Bäcker auf jeglichen Kommentar zum Gegenstand seiner Betrachtung verzichtet, abgesehen natürlich von der Quellenangabe, die jedes Zitat eindeutig zuordnet. Durch diese Neuordnung des Materials gelingt es ihm, mit subtilsten Mitteln doch seine Subjektivität mit ins Spiel zu bringen - das zeugt, trotz aller Zurückhaltung, von enormer Experimentierfreude, die sich durch die Hintertür wieder hineinschleicht. Ihm gelingt ein besonderer Geniestreich: die Werke der Konkreten Poesie verweisen auf keine Welt außerhalb der des Textes, sondern, hermetisch abgeriegelt von dieser, nur auf sich selbst. In gekonnter Manier nutzt Heimrad Bäcker dieses Verfahren aus und bringt es zusammen mit seinem politisch-ästhetischen Anliegen, das er in seiner Auswahl »nachschrift« vorführt. Auch diese Welt des gelebten Wahnsinns bleibt in sich abgeschlossen, funktioniert nur innerhalb der eigens errichteten Mauern der Ideologie, die ein begrenztes Denken implizieren. Der Wahnsinn hat Methode - und diese führt Heimrad Bäcker vor.
Indem sie die Vorschriften der Nazis selbstredend vor-führt und zeigt, wie diese auch ver-führen, versteht sich die »nachschrift« als dichterisches Protokoll dieser NS-Vorschriften-"Kultur". Ganz im Sinne der Konkreten Poesie bleibt der Textkörper der »nachschrift« am Original-Material haften und ist identisch mit den Teilen daraus, die Heimrad Bäcker gemäß seiner dichterischen Intention entnommen hat. Hier zeigt sich seine Handschrift, die Prägnantes kontrastieren lässt mit Nicht-ganz-so-Prägnantem, Erschütterndes mit Nicht-ganz-so-Erschütterndem; es entsteht ein Auf-und-Ab und Hin-und-Her innerhalb dieses Sprachgefängnisses, aus dem ein Ausbrechen unmöglich scheint, so wohl geordnet, zwingend notwendig und unüberwindbar, wie es daher kommt. Die Schreie und der ganze Rest bleiben ausgespart, können und müssen aber mitgedacht werden, sind der unsagbare Teil des Ganzen, die ganze Wahrheit, die keiner hören will. Doch die Sprache bringt es an den Tag, die Sprache nimmt Alles mit, bezeugt Alles.

Fazit:
Dieser Impuls des "Ich will verstehen" trieb auch Hannah Arendt an und sollte auch für uns Heutige die Zielrichtung sein für diesen mitunter sehr dornigen Weg. Die Widerstände sind sehr groß, da die NS-Ideologie die Notwendigkeit der Leugnung ihrer Irrtümer gleich mit ins System eingebaut hat. Wer diese Verbrechen also leugnet, handelt innerhalb der Logik dieses Systems richtig, ist infolgedessen immer noch ein Teil davon. Erst wenn man heraustritt, ist die Chance gegeben auf eine kritische, auch historisch-kritische Betrachtung, so wie es Heimrad Bäcker, Victor Klemperer und auch Hannah Arendt ganz brillant gelungen ist. Heimrad Bäckers Beitrag reicht besonders in die heutige Zeit hinein, da die Experimentellen-Szene in Österreich sich direkt auf ihn beruft. Alles Andere als ein politischer Asket, auch wenn die Textauswahl »nachschrift« das nahelegt in ihrer Kargheit, kann er als Vorbild gelten für eine Haltung, die sich klar positioniert und keinen Zweifel lässt am Engagement gegen Faschismus und dessen Vernichtungs-Ideologie. (5)

Fußnoten:
1) Stern-Episode - das vorgeschriebene Tragen des Judensterns wird von beiden Autoren beschrieben.
"man sah leute bestürzt auf der straße: "ich habe meinen stern vergessen!" oder sie wurden angehalten: "wo haben sie ihren stern?" dann eilten sie mit schützend vorgehaltener hand in ihr quartier."; zitiert aus »nachschrift«, Droschl-Verlag, Graz-Wien, 3. Auflage 2018.
Hier lässt Heimrad Bäcker ausnahmsweise Emotionen einfließen als Thema und Bezugspunkt, ansonsten lässt er die Textblöcke so stehen, ohne Bewertungen und Kommentare - seine Methode eben. Heimrad Bäcker bezieht sich in den Zitaten seiner "n a c h schrift" meist auf "V o r schriften" - auch dies ein Wortspiel, das ganz bewusst mit Assoziationen arbeitet - denkbar wäre die Wortverbindung von Vorspiel und Nachspiel.
2) Zitiert aus dem Nachwort der »nachschrift« von Friedrich Achleitner, S. 131.
3) Ebenda, S.131.
4) Konkrete Kunst will, und darin setzt sie sich absolut, gar keinen Bezug zur Welt außerhalb der Kunst darstellen, im Unterschied zur Kunst der gegenständlichen Repräsentation. Dieser Fakt macht das Sprachexperiment Heimrad Bäckers in noch gesteigertem Maße speziell bzw. prominent.
5) Heimrad Bäcker förderte die experimentelle Poesie in Österreich sehr, im besonderen durch die Arbeit seines Verlages und der Reihe "edition neue texte", denn in diesen Bemühungen sah er einen lohnenswerten Weg, dieses Sprachgefängnis doch noch zu überwinden.

heimrad bäcker: nachschrift
edition neue texte
Literaturverlag Droschl Graz - Wien
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Friedrich Achleitner
3. Auflage 2018
ISBN 978-3-85420-188-5.

© Dr. Karin Krautschick, Oktober 2018.

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2018/10/26

Hausbesitzer Koschorke

Dr. Christian G. Pätzold

Je älter ich werde, desto mehr Jugendgeschichten aus den 1950er Jahren in Friedenau fallen mir ein. Ich bin mal wieder bei dem Haus meiner Kinderzeit vorbeigegangen. Viel hat sich in den letzten 60 Jahren nicht verändert. Die Häuser aus der Kaiserzeit waren solide gebaut worden und können noch weitere 100 Jahre halten. Doch sind jetzt an den meisten Häusern oder auf Standschildern in den Vorgärten die Namen von Psychotherapeuten und Psychoanalytikern angebracht, die in den Häusern praktizieren. Von Psychotherapeuten in Friedenau hatte ich in meiner Kinderzeit nie etwas gehört. Aber anscheinend gibt es heute einen großen Bedarf, Psychotherapeut zu sein. Wer will nicht seine Mitmenschen aus den Tiefen der heutigen Depression retten? Vor dem Haus meiner Kindheit sind jetzt die Namen von gleich vier Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen verewigt. Wobei dieser Beruf sowohl für Männer als auch für Frauen gleich attraktiv zu sein scheint. Auf dem Hof, auf dem ich früher als Kind gespielt habe, stehen jetzt BMWs.
Vor dem Haus gibt es auch immer noch den Haselnussstrauch, den großen Spitzahornbaum und die alte Buche. In meiner Kindheit war ich fasziniert von den Haselnüssen, die in manchen Sommern an dem Strauch wuchsen. Von den Blättern des Spitzahorns habe ich im Herbst Girlanden geflochten. Und die alte Buche war gerade zur Zeit meiner Kindheit gepflanzt worden und ist jetzt also so alt geworden wie ich. Eine Zeitgenossin.
Friedenau war im Zweiten Weltkrieg nicht so stark durch Fliegerbomben getroffen worden, weil es kaum Industrie gab, die sich zu bombardieren lohnte. Daher gab es nach 1945 nur relativ wenige Ruinengrundstücke. Eines dieser Grundstücke lag neben meinem Kindheitshaus. Dieses Grundstück wurde zu Beginn der 1950er Jahre im Rahmen des westberliner Wiederaufbauprogramms mit einem fünfstöckigen Mietshaus bebaut. Es war aber durchaus nicht so, dass alle neuen Mietshäuser der Stadt oder einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft gehörten. Mein Nachbarhaus gehörte angeblich einem Privatmann, dem Hausbesitzer Koschorke. Ich habe keine Ahnung, woher ich als Kind wusste, was ein Hausbesitzer ist, und dass Herr Koschorke der Besitzer eben dieses Hauses sei. Ich hatte auch keine Ahnung, woher jemand das Geld hatte, um Besitzer, oder korrekter Eigentümer, eines Hauses zu sein.
Herr Koschorke wohnte selbst in seinem Mietshaus und war mir bekannt, denn er ging oft mit seinem kleinen braunen Dackel auf der Straße Gassi. Wir Kinder riefen ihm dann nach: "Kuhschurke! Kuhschurke!" Ich weiß nicht, woher ich als Kind ein so kompliziertes Wort wie Kuhschurke aufgeschnappt hatte. Aber der Ruf Kuhschurke war natürlich nicht sehr nett. Kinder können manchmal grausam sein, weil sie sich noch nicht so gut in die Gefühlslage anderer Menschen hineinfühlen können. Es hätte natürlich sein können, dass Herr Koschorke tatsächlich ein Schurke während der Nazizeit gewesen war. In Friedenau lebten viele ehemalige Nazis, denn als kleinbürgerlicher Stadtteil passte Friedenau ideal zur Sozialpsychologie der Nazis. Aber von der Nazizeit hatte ich in meiner Kindheit nie etwas gehört, das wurde verdrängt und tot geschwiegen, und historische Kenntnisse waren auch noch nicht vorhanden. Später habe ich einiges über Friedenau während des Dritten Reiches erfahren, aber das wäre eine andere Geschichte.
Im Nachhinein überrascht mich am meisten, dass mir als Kleinkind das soziale Konzept von Hausbesitzer und Mieter schon vollkommen klar war. Der Hausbesitzer lebte von den Mieteinnahmen der Mieter und galt mir als Kind schon deswegen als suspekt, ganz ohne marxistische Grundkenntnisse. Andererseits hatte mir nie jemand etwas über Hausbesitzer und Mieter erzählt. Hatte ich ein angeborenes soziologisches Wissen? Oder ein angeborenes Gefühl für soziologische Beziehungen zwischen Menschen? Das erscheint mir alles ziemlich ominös. Aber Kinder wissen oder fühlen oft viel mehr, als sich die Erwachsenen vorstellen können. Daher sind die Prägungen aus der Kinderzeit auch so wichtig für die spätere Persönlichkeit.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2018.

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2018/10/23

Revolutionäre Fronten - Die Situationistische Internationale
Ausstellung bis 10. Dezember 2018 im HKW

situationisten
Quelle: Wikimedia Commons.

Die Situationisten haben uns 1968 mit ihren Polit-Happenings viel Spaß gebracht. Die hauptsächlichen und talentiertesten Spaßrevoluzzer in West-Berlin waren Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel und Rainer Langhans von der Kommune I, die schon Anfang 1967 in Berlin Friedenau gegründet worden war. Sie waren ein wichtiges, weil buntes Element der antiautoritären Bewegung, das ständig den Staatsapparat provozierte. Allerdings war es damals auch nicht schwierig, das Establishment zu schockieren und die Spießer zu provozieren, denn es war so gut wie alles verboten, was Spaß machte. Entsprechend oft landeten sie vor Gericht, was für sie ebenfalls ein Happening war.
Die Berliner Kommunarden hatten eine gewissen Nähe zur Studentenbewegung, schon wegen ihres gleichen Alters zwischen 20 und 30. Fritz Teufel tauchte auch manchmal an der Freien Universität auf, um Mao-Bibeln zu verkaufen, die der Bestseller der Zeit waren. Er stand auch vor dem Amerika-Haus, wenn es gegen den Vietnamkrieg ging. Aber die Situationisten waren kein echter Teil der Studentenbewegung. Sie hatten überhaupt kein Interesse am Studieren und Lernen, an wissenschaftlicher Arbeit oder an einer späteren Tätigkeit an der Universität. Ganz im Gegenteil. Die Studenten waren ihnen eher suspekt, denn Akademiker würden ja später die Führungsschicht des kapitalistischen Staates stellen und Unterdrücker werden. Studenten waren so etwas wie der Nachwuchs des Klassenfeindes. Ja, die Situationisten hatten auch eine gewisse Neigung zum Marxismus. Oder doch eher zum Anarchismus? Daher kann man die Situationisten als politische Happening-Künstler bezeichnen, die eine eigene Bewegung neben der Studentenbewegung bildeten. Die Revolte von 1968 bestand eben aus zahlreichen Bewegungen, die sich gegenseitig inspirierten. Die Berliner Situationisten waren echte Aktionskünstler und keine Wissenschaftler.
Überhaupt muss man 1968 als eine Jugendbewegung begreifen. Die Jugend in Deutschland und die Jeunesse in Frankreich waren etwa zwischen 20 und 30 Jahren alt. Sie waren in der erstarrten Nachkriegszeit aufgewachsen. Und die intellektuelle Jugend stand im Widerspruch zum kapitalistischen System, da sie von ihm ökonomisch ausgeschlossen war. Als Marginalisierte waren die Jugendlichen ein Teil des internationalen revolutionären Subjekts, zu dem auch die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und die Bürgerrechtsbewegungen gehörten.
Die Situationistische Internationale war eine linke internationale Gruppe von Künstlern und Intellektuellen, die von 1957 bis 1972 bestand. Bei Wikipedia ist die Absicht der Situationisten ganz gut beschrieben: "Die Situationisten operierten an der Schnittstelle von Kunst und Politik, Architektur und Wirklichkeit und setzten sich für die Realisierung der Versprechungen der Kunst im Alltagsleben ein. Sie forderten unter anderem die Abschaffung der Ware, der Lohnarbeit, der Technokratie und der Hierarchien und entwickelten ein Konzept der 'theoretischen und praktischen Herstellung von Situationen', in denen das Leben selbst zum Kunstwerk werden sollte." Ihre Wurzeln hatten die Situationisten im Dadaismus und Surrealismus, also in Kunst-Bewegungen, die schon 50 Jahre älter waren. Ihr eigentlicher Ursprung war die anarchistische Bohème im Paris der Nachkriegszeit. Die Situationisten wollten Situationen konstruieren, in denen das bürgerliche System spielerisch kritisiert werden konnte, daher kommt der Name Situationisten. Mit Situation war eigentlich der Beginn der revolutionären Aktion gemeint. Ihr Ziel war die klassenlose Gesellschaft.
Ein theoretischer Kopf der Situationisten war der Franzose Guy Debord (1931-1994), der schon etwas älter als die 68er Generation war. Sein Hauptwerk »La Société du Spectacle« (Die Gesellschaft des Spektakels), das 1967 erschien, enthält eine Kritik des Kapitalismus und der realsozialistischen Bürokratie. Die situationistischen Ideen beeinflussten den Pariser Mai 68 und Situationisten waren damals auch an der Besetzung der Sorbonne beteiligt. Noch heute sind einige Slogans der Situationisten bekannt: "Verbieten ist verboten!" (Il est interdit d’interdire), "Unter dem Pflaster liegt der Strand" (Sous les pavés, la plage), "Phantasie an die Macht!". Mit ihren Spektakeln, Happenings und Politaktionen haben die Situationisten die muffige Nachkriegsgesellschaft aufgemischt.
Im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin Tiergarten gibt es jetzt bis 10. Dezember 2018 eine kleinere Ausstellung über die Situationistische Internationale. Bei dieser Gelegenheit kann mal das HKW für seine Denkanstöße gelobt werden, was bisher auf kuhlewampe.net noch nicht geschehen ist. Das HKW befindet sich in der ehemaligen Kongresshalle von 1956, die idyllisch im Tiergarten am Ufer der Spree liegt. Die Ausstellung über die Situationisten im HKW ist ein überraschender und exquisiter Beitrag zu 50 Jahren 68, den man so wohl lange nicht mehr zu sehen bekommt.
In der Ausstellung werden Werke von über 30 situationistischen Künstlern gezeigt, darunter Werke der Maler Constant (1920-2005) und Asger Jorn (1914-1973). Aber auch Kollektivwerke der Situationisten werden ausgestellt, denn die kollektive Aktion (Kollaboration) war eines ihrer Markenzeichen. Das ist eine seltene Chance, die man ergreifen sollte. Daneben werden Filme der 60er Jahre auf Monitoren gezeigt, es gibt eine Galerie mit selten wertvollen Publikationen der Situationisten, Fotos vom Mai 68 in Paris, Titelbilder von Zeitschriften mit der Mode der 60er Jahre sowie erotische und pornografische Schriften der Zeit.
In der Ausstellung im HKW gibt es ein umfangreiches Buch zur Geschichte und Theorie der Situationistischen Internationale für nur 2 Euro (!) Schutzgebühr zu kaufen, das sehr informativ ist:
Wolfgang Scheppe/Roberto Ohrt: The Most Dangerous Game, Leipzig 2018, Merve Verlag, 908 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen.

The Most Dangerous Game - Der Weg der Situationistischen Internationale in den Mai 68
27. September bis 10. Dezember 2018
Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt (HKW)
John-Foster-Dulles-Allee 10, Berlin Tiergarten
Montags Eintritt frei. Täglich außer Dienstag 11-19h.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2018.

Zu Dieter Kunzelmann seht bitte auch die Erinnerungen von Dr. Hans-Albert Wulf, die am 2018/06/10 auf kuhlewampe.net erschienen sind.

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2018/10/20

Workaholics gestern und heute

von Dr. Hans-Albert Wulf, Berlin

workaholic
Ein geschäftiges Subjekt. Quelle: Archiv des Autors.

"Um Gotteswillen, warum rennen Sie denn so?!" Es ist einer von früh bis spät immer auf Trab. Ist mit Besorgungen beschäftigt, ist in allerhand Ausschüssen von Vereinen und Verbänden tätig, weiß gar nicht mehr, wo ihm der Kopf steht vor lauter Betriebsamkeit. Nimmt sich Arbeit mit nach Hause. Selbstverständlich macht er auch unbezahlte Überstunden. Und wenn er nicht an seinem Schreibtisch sitzt, so ist er doch immerfort und überall erreichbar. Das Smartphone und der Internetanschluss machen es möglich. Multitasking ist das Gebot der Stunde. Bei alldem verzettelt er sich, weil er immer alles zugleich erledigen will und so bringt er letztlich gar nichts zustande. Im Faulheitsdiskurs früherer Zeiten wird eine derartige Umtriebigkeit mit dem Begriff des geschäftigen Müßiggangs oder der Tätelei belegt. Der zeitgemäße Begriff hierfür lautet bekanntlich Workaholic, zu Deutsch schlicht Arbeitssucht.
Einer der ersten, der sich in Deutschland theoretisch und therapeutisch mit diesem Phänomen beschäftigt hat, war der Chefarzt der Hardtwaldklinik Gerhard Mentzel. In einem Artikel aus dem Jahre 1979 vergleicht er die Arbeitssucht unmittelbar und direkt mit der Alkoholsucht. Allerdings genieße die Arbeitssucht im Unterschied zum Trinken einen hohen Grad an gesellschaftlicher Anerkennung. Als Einstieg für die therapeutische Behandlung dieser Sucht hatte Mentzel einen Fragebogen entwickelt, den er seinen Patienten vorlegte. Gleich mit der ersten Frage zielt er ins Zentrum der Sucht: "Arbeiten Sie heimlich (z.B. in der Freizeit, im Urlaub)?" Und: Frage Nr. 7: "Neigen Sie dazu, sich einen Vorrat an Arbeit zu sichern?" (Gerhard Mentzel, Über die Arbeitssucht. In: Zeitschrift für die Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse. 25. Jahrgang 1979. Göttingen und Zürich. S. 116f.)
In Anlehnung an die anonymen Alkoholiker hat sich in Deutschland der Verband der anonymen Workaholics gegründet. Das Ziel besteht darin, Strategien zu entwickeln, um nicht mehr zwanghaft arbeiten zu müssen und diese Fähigkeit an andere Betroffene weiterzugeben. Heutzutage ist der Begriff Workaholic längst in die Alltagssprache eingegangen und hat sich als gesellschaftliches Massenphänomen ausgebreitet.
Einen Vorläufer einer solchen krankhaften Arbeitsauffassung gab es bereits im 18. Jahrhundert. Im Jargon der Predigtliteratur der damaligen Zeit wird er als geschäftiger Müßiggang bezeichnet. Die bürgerliche Gesellschaft, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert etablierte, erforderte neue Verhaltensweisen und Qualifikationen: Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit, planvolles Arbeiten, Zielgerichtetheit, Zuverlässigkeit, Motivation, Einsatzbereitschaft, selbstständiges Arbeiten, Ordnung, systematisches Arbeiten, Beharrlichkeit, Konzentrationsfähigkeit, die Dinge zur rechten Zeit erledigen, nichts verschieben. All diese Arbeitstugenden und noch einige mehr sind in unserem heutigen Arbeitsleben ganz selbstverständlich. Die meisten Menschen in unserer Zeit haben sie bereits als Kinder mit der Muttermilch eingesogen. Sie gehören in unserer heutigen Arbeitsgesellschaft gleichsam zur Infrastruktur des modernen Menschen. Das Problem des geschäftigen Müßiggängers besteht darin, dass er diese neuen Arbeitstugenden noch nicht verinnerlicht hat. Im oberflächlichen Sinne ist er ja nicht faul, sondern im Gegenteil: er ist ständig unter Speed und legt in allen Dingen, die er tut, eine unglaubliche Schnelligkeit an den Tag, die allerdings mit Fleiß nicht viel zu tun hat; denn ein hohes Arbeitstempo ist ja noch kein Garant für Effizienz.
Bei der Diskussion über den "geschäftigen Müßiggang" in der damaligen Zeit werden grob zwei Varianten unterschieden: Der Chaot und der zwanghafte Pedant. Beiden gemeinsam sei es, dass sie nicht imstande seien, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Beide, die Pedanten und die Chaoten, erreichten nicht ihre Ziele. Die einen versinken im Chaos des Alltags, die anderen übertreiben es mit ihren Regeln und Alltagsvorschriften und vertrockneten so in ihrer Pedanterie. Es wird über jemanden berichtet, der ordnungsbeflissen täglich die nachwachsenden Grashalme zwischen den Steinplatten seiner Garageneinfahrt mit einem Küchenmesser entfernte. Ein anderer kam sich dabei wichtig vor, die täglichen Wasserstandsmeldungen des Rundfunks in einem riesigen Schreibbuch gewissenhaft aufzuschreiben. Und ist nicht auch die griechische Sagengestalt Sisyphos ein prominenter Vertreter des geschäftigen Müßiggangs, da er ja bekanntlich unentwegt einen Stein auf einen Berg hinaufrollte, der dann mit schöner Regelmäßigkeit wieder herunterkullerte? Die geschäftigen Müßiggänger der Variante Pedanterie übertreiben es mit ihren Regeln und Alltagsvorschriften. Der evangelische Theologe und Prediger Franz Volkmar Reinhard hat dies damals den "Kleinigkeitsgeist in der Sittenlehre" genannt. "Sich mit einer Menge von kleinen Pflichten und Dienstleistungen zu überladen, die kein Mensch verlangt, und sich denselben mit einer wichtigen Miene und einer ganz eignen Emsigkeit zu widmen: das ist die Sache solcher Menschen; ihr Leben ist das unruhige Nichtstun; die ganze Sittenlehre verwandelt sich unter ihren Händen in ein Gewebe von kleinlichen Regeln, die fast nichts weiter betreffen, als sinnlose Gebräuche und unbedeutende Verrichtungen." (Franz Volkmar Reinhard, System der christlichen Moral. Bd. 1. Wittenberg 1801, S. 17f.)
Ganz anders der Chaot. Der zeichnet sich darin aus, dass er immer etwas zu tun hat und der Zeit hinterher läuft. Allerdings betreibt er alles ohne vernünftigen Plan. Von einer Aufgabe zur anderen springen. Nie bei einer Sache verharren, sich nicht ausdauernd mit einer Sache beschäftigen. Chaotisch und hektisch mit den Dingen und Aufgaben jonglieren und dabei alles fallen lassen. Er gleicht einem, der Wasser mit einem Eimer ohne Boden schöpft.
Die seit der Neuzeit vom Bürgertum propagierten Tugenden der Pflichterfüllung, der Ordnung, der Disziplin, des geregelten Lebens, des planmäßigen Handelns und der Zeitökonomie kommen, so die damalige Kritik, beim geschäftigen Müßiggänger entschieden zu kurz. Der geschäftige Müßiggang gilt als der gefährlichste von allen Varianten, weil er sich als Arbeit tarnt und hierfür oft die höchste gesellschaftliche Anerkennung erhält. Er arbeitet ja oftmals nicht weniger als der Arbeitsame, sondern eher mehr. Eben weil er keine Ordnung und Systematik in seinen Dingen hält. Büros und Verwaltungen sind heutzutage ein sehr beliebtes Revier des geschäftigen Müßiggängers. Werden hier doch mit wichtiger Miene unendlich viele Tassen Kaffee getrunken und wird hier die Hälfte der Arbeitszeit damit zugebracht, irgendwelche Papiere, Skripts, Rechnungen, Protokolle oder Briefe zu suchen und immer wieder neu zu ordnen. Im Zentrum der Symptome des geschäftigen Müßiggängers der Variante Chaot, so heißt es bei den Predigern, steht die Unfähigkeit, im Leben Ordnung zu halten und ihm eine Struktur zu geben. Der Tagesablauf sei oftmals geprägt von Hyperaktivität, Chaos und Durcheinander. Und dies wiegt in der Arbeitssphäre besonders schwer, weil es dort ja meist um die verlässliche und verbindliche Zusammenarbeit mit anderen Menschen geht.
Ausführlich hat sich der evangelische Theologe Karl Christian von Gehren in seinen Predigten "zur Bewahrung des Wahren und Guten" (Kopenhagen und Leipzig 1793) mit dem Phänomen des geschäftigen Müßiggangs beschäftigt. Der Arbeitsame und der geschäftige Müßiggänger unterscheiden sich danach nachhaltig in ihrer Arbeitsauffassung. "Der Arbeitsame unterwirft sein ganzes Tagwerk gewissen selbst entworfenen oder wohl auch vorgeschriebenen Regeln." (Gehren, S. 43) Er führt all seine Geschäfte "zur rechten Zeit am rechten Ort, auf die rechte Art aus, in gehöriger Folge und besonders nach einem zweckmäßigen Plan." (ebd.) Nicht so der geschäftige Müßiggänger: Der verfalle auf dieses und auf jenes; er eile von einer Zerstreuung zur anderen und schwatzt und klatscht sich durch den ganzen Tag. All dies bereite ihm jedoch oftmals nicht einmal Spaß und Vergnügen; denn diese Art ziel- und sinnloser Beschäftigung drücke auf den Gemütszustand. Wenn er einmal aus dem Hamsterrad seiner Vielgeschäftigkeit herausgepurzelt sei, stelle sich ein Gefühl der Leere ein. Wozu das alles? Eine Beschäftigung ist so gut bzw. schlecht wie die andere und so verfällt er in eine depressive Stimmung. (Gehren, S. 48) "All diese umtriebigen geschäftigen Müßiggänger werden, wenn die Abendglocken läuten, von dem vernichtenden Gefühl übermannt, dass all ihr mühevolles Sorgen, ihre gewonnenen Schätze, ihre durchwachten Nächte, all ihr vergossener Schweiß nichts waren als ein vergeudetes, ödes, freudloses Leben." (Karl Schwarz: Predigten aus der Gegenwart. Band 2. Leipzig 1862, S. 326.)

Der Artikel ist dem Buch entnommen:
Hans-Albert Wulf: FAUL! Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft, Norderstedt 2016.
ISBN 978-3-7392-0225-9

© Dr. Hans-Albert Wulf, Oktober 2018.

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2018/10/17

Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin, Teil 4
Lew Kerbel: Das Ernst-Thälmann-Denkmal in Berlin Prenzlauer Berg, 1986

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Das Ernst-Thälmann-Denkmal von Lew Kerbel, Berlin Prenzlauer Berg, 1986.
Bronze, Sockel aus ukrainischem Granit.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, Februar 2018.

Es war eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass die DDR ein großes Denkmal für Ernst Thälmann errichtete, denn er war der Vorsitzende der KPD in den Jahren 1925 bis 1933. 1933 wurde er in Berlin verhaftet und im August 1944 von den Nazis im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar ermordet. Das Ernst-Thälmann-Denkmal aus Bronze wurde 1986 fertig gestellt und befindet sich in Berlin Prenzlauer Berg an der Greifswalder Straße. Es gab in der DDR allerdings schon früher kleinere Thälmann-Denkmäler.
Entworfen wurde das Ernst-Thälmann-Denkmal von dem sowjetischen Bildhauer Lew Jefimowitsch Kerbel (1917-2003). Kerbel war ein sehr bedeutender Bildhauer der Sowjetunion, der zahlreiche Lenin-Statuen geschaffen hat. Außerdem schuf er Kriegerstatuen für die Rote Armee (Kriegerdenkmal auf den Seelower Höhen, Sowjetisches Ehrenmal in Berlin Tiergarten). Am bekanntesten ist wohl sein monumentaler Kopf von Karl Marx in Chemnitz, dem ehemaligen Karl-Marx-Stadt.
Auf der Vorderseite des Thälmann-Denkmals befindet sich die Aufschrift "Ernst Thälmann", die heute kaum noch zu erkennen ist, da sie regelmäßig übersprüht wird. An der Seite befindet sich die Aufschrift "Rot Front". Das war der Gruß des Rotfrontkämpferbundes. In den 1990er Jahren scheiterten einige bürgerliche Berliner Politiker mit dem Versuch, das Ernst-Thälmann-Denkmal abzureißen. Und so kann man das äußerst gelungene Denkmal noch heute besichtigen.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2018.

Teil 1 von »Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin« erschien am 2018/03/25 auf kuhlewampe.net.
Teil 2 erschien am 2018/06/12.
Teil 3 erschien am 2018/08/14.

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2018/10/14

Herbst im Botanischen Garten

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Fotografiert im Botanischen Garten Berlin Dahlem der Freien Universität Berlin
von Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/10/11

art kicksuch

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© art kicksuch, oktober 2018.

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2018/10/10

Dahlienblüten

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Fotografiert von © Ella Gondek, September 2018.

Die Dahlie (Dahlia x hortensis) kommt aus Mexiko und gehört zur Familie der Korbblütler (Asteraceae). Sie ist nach dem schwedischen Botaniker Andreas Dahl (1751-1789) benannt. Eine Dahlie kann man auch im Topf auf dem sonnigen Balkon halten. Sie muss aber frostfrei überwintern.

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2018/10/09

Hoffentlich wird der Hambacher Wald gerettet !
Braunkohle-Stop jetzt !
Ende Gelände !

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2018/10/08

Tagebuch 1973, Teil 28: Von Teheran nach Mashad

Dr. Christian G. Pätzold

10. September 1973, Teheran - Mashad, Montag

Wir haben mit unserem Cartoonisten Mr. Ismail gemütlich gefrühstückt und sind dann zu Julia gefahren, um dort unsere abgestellten Rucksäcke abzuholen.
Der Bus nach Mashad bot ausnahmsweise viel Bewegungsfreiheit, De Luxe kostete 400 Rial, 1. Klasse 350 Rial von Teheran nach Mashad. Unser De Luxe schloss zwei Colas ein, eine Toilette gab es nicht im Bus. Im Bus konnte man auch Eiswasser bekommen. Unterwegs habe ich von weitem das Kaspische Meer gesehen. Am Meer ist alles Grün, ein großer Kontrast zum Landesinneren, es gibt hier wohl auch Reisanbau. Bei Stops redeten die kleinen Kinder uns oft an: "Hallo Mister, Missis; hello - goodbye; thank you; how are you Mister?" hundertmal hintereinander in Scharen. Sie freuten sich sehr über ihre Englischkenntnisse. Auf der Strecke gab es unterwegs, vor allem vor den Städten, Polizeikontrollen.

Rückblick Oktober 2018: Auf der alten Hippieroute

Ich war jetzt auf der alten Hippieroute von Teheran nach Indien. Sie wurde auch allgemein Hippie Trail genannt und entsprach einem Abschnitt der uralten Seidenstraße. In Teheran hatte ich im berühmten Hotel Amir Kabir gewohnt, das ein internationaler Treffpunkt auf der Hippieroute war, in dem man Erfahrungen mit anderen Reisenden austauschen konnte. (Damals wusste ich allerdings noch nicht, dass das Amir Kabir einmal so berühmt werden sollte.) Die Hippieroute bestand von etwa 1967 bis 1979. Der europäische Ausgangspunkt der Route war Istanbul.
Die Hippieroute führte von Teheran über Mashad, Herat in Afghanistan, Kandahar, Kabul, über den Khyber Pass (1.070 Meter hoch gelegen, über den schon Alexander der Große vor über 2.000 Jahren gezogen war) nach Peschawar in Pakistan, Rawalpindi und Lahore, und dann nach Indien. In Indien zerstreuten sich die Wege der einzelnen westlichen Hippies.
Indien war der Sehnsuchtsort der Hippies. Die Hippies suchten in Indien vor allem spirituelle Erleuchtung und fuhren zu solchen Orten wie Goa, Kathmandu oder Auroville. Ich war nicht in diesen Orten, woraus man schon erkennen kann, dass ich kein Hippie war, obwohl ich zur selben Generation gehörte. Ich hatte ein wissenschaftliches Interesse, die Welt kennen zu lernen, kein spirituelles Interesse an indischer Mystik, Gurus, Meditation und psychedelischen Drogen. Ich war zwar auch ein Rucksacktourist (Backpacker), aber kein richtiger Hippie, sondern ein Globetrotter. Die Hippies wollten nur nach Indien und Nepal, ich wollte um die ganze Welt.
1973 war diese Hippieroute eine gut befahrbare Strecke mit regelmäßigen Bussen. Die Grenzen zu passieren war kein zu großes Problem. Heute ist es natürlich wegen der Islamisten in Persien und wegen des Krieges in Afghanistan lebensgefährlich, dort zu reisen, weil ständig irgendwo Bomben hoch gehen. Aber damals funktionierte diese Route schon ein paar Jahre seit der Hippie-Ära sehr gut. Afghanistan war von 1933 bis zum Juli 1973 eine Monarchie gewesen und hatte die vergangenen Jahre eine relative Stabilität erlebt. Am 17. Juli 1973 wurde die Monarchie unblutig gestürzt und die Republik ausgerufen.
Damals im September 1973, als ich in Afghanistan war, war der Umsturz erst ein paar Wochen her. Es liefen zwar einige Soldaten in Kabul herum, aber die ausländischen Touristen hatten kaum Probleme. Der große Krieg in Afghanistan, der bis heute anhält, begann erst im Dezember 1979, als sowjetische Truppen einmarschierten.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2018.

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2018/10/05

Tagebuch 1973, Teil 27: Teheran

Dr. Christian G. Pätzold

8. September 1973, Shiraz - Teheran, Sonnabend

Meine Reisepartnerin und ich sind um 6:00 Uhr früh in Shiraz losgefahren und um 22:00 Uhr abends in Teheran angekommen. Im Bus waren außer uns noch zwei Engländerinnen und zwei Kuweitis als Ausländer. Die Kuweitis waren das reinste Witzgespann, ein großer Dicker, der den anderen, der klein und dünn war, ständig rumkommandierte.
In Teheran haben wir ein Taxi gefunden, um zu unserem Taxifahrer-Bekannten zu fahren, mit dem wir uns vor einer Woche für heute Abend verabredet hatten. Im Taxi haben wir einen Iraner getroffen, der in Deutschland technischer Zeichner gelernt hatte. Er sagte, er habe in Deutschland dreieinhalb Jahre studiert und müsse jetzt sieben Jahre im Iran bleiben. Jeden Tag gehe er zum Arbeitsamt und finde keine Arbeit, weil er keine Beziehungen habe. Er sagte, er habe einen Fehler gemacht, er hätte in Deutschland heiraten sollen.
Mit viel Mühe und Not haben wir das Haus des Taxifahrers gefunden. Es war schon sehr spät. Die Familie hatte schon im Bett gelegen und nicht mehr damit gerechnet, dass wir kommen. Er hatte aber seine Ehre in unser Kommen gesetzt. Ich war ziemlich erstaunt über seine Wohnverhältnisse. Er hatte sich das Haus selbst gebaut. Sieben Räume für vierzehn Personen und ein kleiner Garten. Er schien irre fleißig zu sein, arbeitete 16 Stunden am Tag und besuchte außerdem eine Abendschule, daher konnte er Englisch sprechen. Die Frauen, seine Frau und die seines Bruders, servierten uns ein köstliches Hühnchen. Wir saßen auf dem Fußboden, Möbel gab es nicht. Eine der Frauen trug den Chador, die andere nicht. Sie sagten, das liege an den Frauen selbst, die eine wolle ihn tragen, die andere nicht. Nachts fragten sie uns, ob wir bei ihnen auf dem Fußboden übernachten wollten. Angesichts der tollen Daunendecken, die sie anbrachten, haben wir zugestimmt. Der Taxifahrer war sehr positiv eingestellt und sagte nur gute Sachen über das Land. Er hatte ein Kaiserbild an der Wand hängen und war eben ein aufstrebendes Element, das sich für den Westen interessierte. Er hatte zwei Kinder. Ich war erstaunt, wie gastfreundlich und interessiert an Ausländern hier viele Menschen sind.

9. September 1973, Teheran, Sonntag

Vormittags sind wir zu Julia gefahren und haben mit ihr die Busfahrkarte nach Mashad gekauft, Deluxe 400 Rial. Dann haben wir im Institut Pasteur eine Choleraimpfung, die empfohlen wurde, kostenlos bekommen. In Tropenländern muss man mit Krankheiten rechnen, die es in Deutschland nicht gibt. Daher hatte ich vor der Reise einen Medizinischen Ratgeber für Reisen in heiße Länder durchgelesen. Darin gab es unter anderem Ratschläge für Impfungen und für eine kleine Reiseapotheke.
Wir sind dann zu unserem Cartoonisten Mr. Ismail gefahren, der uns einen Film, eine persische Familienkomödie, empfohlen hat. Für 40 Rial Eintritt airconditioned haben wir ihn uns angesehen. Der Hausvater in dem Film hat immer dafür gesorgt, dass die Frauen einen Chador trugen. Der Sohn musste wegen etwas längerer Haare zum Friseur. Die Männer waren Raufbolde, die sich immer blutig geschlagen haben. Insgesamt war der Film sicher aus soziologischer Perspektive interessant, denn er zeigte, wie wichtig Kleidungsstücke und Haarmoden in Gesellschaften sein können, um Konformität zu demonstrieren.
Abends fuhren wir zum Cartoonisten Mr. Ismail nach Hause. Er hatte uns angeboten, bei ihm zu übernachten. Wir unterhielten uns wieder über seine Heimat Ägypten, die ägyptische Revolution, Nasser, die Ereignisse 1967, Sadat. Mr. Ismail erzählte, dass seine Nachbarin geschieden sei, wie viele Frauen, und dass sie nur für ein Jahr Unterhalt für die Kinder bekomme. Die Frauen machten dann oft einen Kursus und arbeiteten als Schneiderin oder Friseuse. Vielleicht hing die hohe Scheidungsrate auch mit den verbreiteten Frühehen zusammen.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2018.

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2018/10/02

Zum 50. Todestag von Marcel Duchamp

Dr. Christian G. Pätzold

duchamp
Marcel Duchamp: Fountain von 1917. Handelsübliches Urinal. Mit R. MUTT signiert.
Foto von Alfred Stieglitz (1917). Quelle Wikimedia Commons.

Als der Franzose Marcel Duchamp 1917 ein Pinkelbecken als Kunstobjekt in New York City ausstellte, war das eine Neuheit in der europäischen und nordamerikanischen Kunstgeschichte, die die Kunst des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflussen sollte. Noch nie hatte ein Künstler ein so triviales Objekt wie ein Urinal als darstellungswürdig erachtet. Und noch nie hatte ein Künstler ein vorgefertigtes Industrieerzeugnis zum Kunstobjekt erklärt. Für Duchamp war bereits die Auswahl eines Gegenstandes ein künstlerisches Werk, eine These, die damals von vielen Kunstbeteiligten abgelehnt wurde. War das das Ende der Kunst? Die ganze Aktion muss man sich wahrscheinlich vor dem Hintergrund der Schrecken und Verbrechen des Ersten Weltkrieges vorstellen. Die damalige herrschende Gesellschaft predigte ein hohes Kunstideal, während sie gleichzeitig Millionen von Menschen in den Tod jagte.
Duchamp war zunächst Teilnehmer der Kunstbewegungen des Fauvismus und des Kubismus gewesen, die noch traditionell mit der Technik der Malerei arbeiteten. Ab 1913 wandte er sich mit den Ready-mades der experimentellen Kunst zu. Im Sommer 1915 übersiedelte Duchamp wegen des Ersten Weltkriegs von Paris nach New York, und so kam es, dass »Fountain« in New York City entstand. 1919 kehrte er nach Paris zurück, denn die Stadt war immer noch das Zentrum der internationalen Kunst.
Solche Alltagsobjekte wie »Fountain« wurden später Objets trouvés oder Ready-mades genannt und wurden nun häufig beachtet und verwendet. Sehr bekannt ist bspw. die »Brillo Box« (1964) von Andy Warhol, die direkt von Duchamp beeinflusst ist. Obwohl Duchamps Objekte industrielle Massenprodukte waren, während Warhols Brillo Box der naturgetreue Nachbau in Holz eines Warenkartons war. Duchamp begründete mit den Ready-mades die Objektkunst und einen ganz neuen Blick auf die Dinge. Alltägliche Objekte erhielten einen ästhetischen Blickwinkel und es ging nun um die Interpretation dieser Objekte. Damit ergab sich ein ganz neues Feld der Kunst. Viele waren erstaunt, dass zu Ende des 20. Jahrhunderts auch in den Museen fabrikneue Staubsauger von Jeff Koons ausgestellt wurden. Ist das Kunst, oder kann das weg? Noch spannender war allerdings die Weiterentwicklung der Objektkunst zur Konzeptkunst, bspw. bei Ai Weiwei.
Darüber hinaus war Duchamp am Dadaismus und am Surrealismus beteiligt. 1942 emigrierte Duchamp ein zweites Mal nach New York City, diesmal wegen des Zweiten Weltkriegs. Paris war von den deutschen Nazis besetzt und das Zentrum der internationalen Kunst verlagerte sich deutlich von Paris nach New York City. Die Nazis hatten bekanntlich ein sehr spezielles deutsches Kunstverständnis und alle modernen Künstler waren für sie "entartet", was schwer wiegende Konsequenzen haben konnte. 1955 wurde Duchamp US-amerikanischer Staatsbürger. Interessant ist auch, dass er 1962 Mitglied der internationalen Autorenvereinigung »Oulipo« (L’Ouvroir de Littérature Potentielle) wurde, die das experimentelle Schreiben voran brachte.
Man kann sagen, dass Marcel Duchamp durch sein experimentelles Vorgehen ein prägender Künstler für das 20. Jahrhundert war, auf einer Ebene mit etwa Pablo Picasso. Duchamp hat kein umfangreiches künstlerisches Werk hinterlassen, vielleicht nur 20 größere Arbeiten. Trotzdem war sein Einfluss auf spätere Künstler groß, auch Ai Weiwei bezeichnete ihn als sein Vorbild: "Meine ganze Arbeit ist der Duchamp-Ansatz: Kunst als intellektuelles und nicht als optisches Phänomen zu begreifen."
Marcel Duchamp wurde 1887 in der Normandie geboren. Er starb am 2. Oktober 1968 bei Paris.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2018.

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2018/09/30

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2018/09/27

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
Teil III
WILHELM UND ALEXANDER VON HUMBOLDT - DAS BRÜDERGESTIRN

humboldtdenkmal
Detlef Kraft: Denkmal für Wilhelm und Alexander von Humboldt, 1996, Bronze.
In Berlin Tegel, Karolinenstraße 19, vor der Humboldt-Bibliothek.
Es ist das einzige Denkmal weltweit, bei dem die Brüder gemeinsam auf einem Sockel stehen.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, September 2018.

Vergleicht man die beiden Brüder, findet man einen gemeinsamen Nenner, doch sie gingen sehr verschiedene Wege. Keinem von ihnen wird man mit bestimmten Etikettierungen gerecht, denn - jeder auf seinem Gebiet - leistete Beträchtliches und beeinflusste damit die ganze Epoche.
In dem tollen Buch von Andrea Wulf »Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur« ist zu lesen: "Ganz ähnlich wie Alexander, der die Natur als ein vernetztes Ganzes betrachtete, untersuchte Wilhelm die Sprache wie einen lebendigen Organismus. Wilhelm glaubte, man müsse sie, wie die Natur, im größeren Zusammenhang von Landschaft, Kultur und Menschen betrachten. Beide Brüder arbeiteten über Ländergrenzen und Kontinente hinweg: Alexander forschte nach globalen Pflanzengruppen, Wilhelm untersuchte Gruppen und gemeinsame Wurzeln verschiedener Landessprachen. Er lernte Sprachen (17 aktiv und 70 untersuchte er, Anm. d. Autorin) ... Rohdaten, die er für seine Theorien brauchte, genauso wie Alexander seine botanischen Sammlungen und meteorologischen Messungen als Bausteine seiner Hypothesen benötigte". (1) Alles sollte das Bild eines organischen Ganzen ergeben, die Natur sollte als globale Kraft dargestellt werden, als Netz des Lebens, daher brauchte es Vergleichsdaten, die sich die Brüder auf je unterschiedliche Weise beschafften. Alexander, indem er um den Globus reiste und seine botanischen und andere Sammlungen und Messungen vervollständigte, während Wilhelm eine internationale Korrespondenz mit der Wissenschaftswelt führte, die neben anderen Zeugnissen seiner Sprachforschungen in einer riesigen Bibliothek und einem beachtlichen, zum Teil leider verschollenen Nachlass zu finden ist.
Schon als Kinder von unterschiedlichem Temperament, war es Alexander, den das Fernweh ständig plagte und der ins Außen strebte, doch erst nachdem er als Mineraloge und Bergbauexperte die Höhlen in der Erde erforscht hatte und nebenbei immer akribisch Wissenschaft betrieb, konnte er 1799 endlich auf eine fast 5-jährige Weltreise gehen. Wilhelm zog es eher zu den Sprachen und der Politik, die er beide meisterte, nachzulesen in Teil I und II.
Beide gaben sich der Wissenschaft hin, und zwar mit tiefer und ernsthafter Leidenschaft und einem ebensolchen Erkenntnis- und Forscherwillen. Alexander sprach sogar davon, dass die Wissenschaft seine größte und auch einzige Geliebte sei. Während Wilhelm die Liebe und Affinität zur Sprache in die Wiege gelegt wurde, war es Alexander, der auch in der Sprache eine große Schönheit sah und vom "großen Bruder des Reisenden", wie er von Samuel T. Coleridge genannt wurde, sehr viel profitierte. Alexander von Humboldt verbinde seinen riesigen Wissensschatz mit dem "Auge eines Malers und den Gefühlen eines Dichters", schrieb Robert Southey. Er sei "unter den Forschungsreisenden das, was Wordsworth unter den Dichtern ist". (2) Also inspirierte er nicht nur die Wissenschaftswelt, sondern auch die Kunstwelt und entdeckte ganz neue Wege für beide Sphären, die vielleicht doch nicht so getrennt sind, wie uns immer dargestellt wird.
Wo Wilhelm schon war, folgte Alexander meist ein oder zwei Jahre später nach, Paris, Rom, London, sodass sie einander nie aus den Augen und aus dem Sinn verloren, im Gegenteil. Rege nahmen beide Anteil am Lebens- und Erkenntnisweg des Anderen. Durch ihre frühe hochkarätige Ausbildung (sie besuchten nie eine öffentliche Schule und wurden nur von Privatlehrern höchster Couleur unterrichtet, angeheuert von der reichen Frau Mama) kamen sie in Kontakt mit dem Wissen ihrer Zeit und konnten auf höchster Ebene kommunizieren, und das auch noch in verschiedenen Sprachen.
Was die Beiden für uns heute verkörpern ist ein Wissenschafts- und Forscher-Ideal, von dem wir derzeit abgekommen sind, denn mit ganzer Seele wollten sie sich den Erfordernissen ihrer Zeit stellen. Themen wie Kolonialismus, Globalismus, Sklaverei, Staatstheorie, Politik, Geopolitik, Ökologie und Nachhaltigkeit kamen ins Spiel. Sie beschäftigten sich, ihrer Zeit voraus, schon mit Sachen, die uns auch heute noch etwas angehen und aktueller denn je sind. Alexander sprach sich vehement gegen Sklaverei aus, er hatte es in Südamerika selbst miterleben müssen, wie Sklavenverkauf stattfand, und entwickelte eine tiefe Abscheu davor. Beim preußischen König konnte er, angesehen und populär, wie er war, das Verbot der Sklaverei per Gesetz erwirken. Also auch ein sehr praktisch denkender Mensch mit einer tiefen Humanität, der gemeinsame Nenner der beiden, so würde ich es konstatieren. Denn auch Wilhelm wollte die Bildung mit seiner Reform auf eine humane Grundlage stellen, was ihm teilweise gelang.
Kinder ihrer Zeit, der Aufklärung, waren sie allemal, doch auch für unsere Generation immer noch geeignet als Vorbilder und Idole, zu denen man aufschauen kann, weil sie uns so viele neue Impulse mitgegeben haben, dass auch die Wissenschaft heute sich daran messen lassen müsste. Ins Zentrum ihrer Forschungen stellten sie immer eine tiefe Humanität und Liebe zur Menschheit in der Gesamtheit, nicht zu trennen von allen anderen Lebewesen auf unserem wunderbaren und reichen Planeten. Tief verehrt wurden und werden sie auch in anderen Ländern, eigentlich auf der ganzen Welt, die Liste der Fans ist lang.
Durch die tiefe Hingabe an die Natur und deren Erleben als Keim eines Erkenntnisfortschritts haben sie uns einen Schlüssel für die Erschließung der Welt in die Hände gegeben, indem sie die Natur nicht als Sache behandeln und untersuchen, sondern als lebendigen Organismus, mit dem wir als gleichberechtigte Bewohner des Planeten, zusammen mit anderen Spezies und Lebewesen, ständig in Kontakt sind und auch bleiben sollten.

Anmerkungen:
1) Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, München 2018, S.252/ 253.
2) Ebenda, S. 218; S.217 "Langsam flossen Humboldts Beschreibung Lateinamerikas und seine neuen Naturansichten in die britische Literatur und Dichtung ein. In Mary Shelleys Roman Frankenstein, der 1818 erschien - nur vier Jahre nach dem ersten Band der englischen Ausgabe der Reise in die Aequinoctial-Gegenden -, wünschte sich Frankensteins Monster "in die weiten Urwälder Südamerikas". Kurz darauf wurde Humboldt von Lord Byron in Don Juan verewigt, wo sich der Dichter über das Zyanometer lustig macht - das Instrument, mit dem Humboldt die Bläue des Himmels gemessen hatte."; S.218 "Auch die britischen Romantiker Samuel Taylor Coleridge, William Wordsworth und Robert Southey begannen nun, Humboldts Bücher zu lesen."

© Dr. Karin Krautschick, September 2018.

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2018/09/26

"Der neue Künstler protestiert, er malt nicht mehr symbolistische und illusionistische Reproduktion, sondern handelt unmittelbar schöpferisch."

Tristan Tzara, 1919.

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2018/09/23

Ca'canny - immer schön langsam

von Dr. Hans-Albert Wulf, Berlin

cacanny

Faulheit braucht Freiheit. Ein Galeerensklave hat keine Möglichkeit faul zu sein. Faulheit setzt ein Mindestmaß an Entscheidungsspielraum darüber voraus, wie viel, wann und wie schnell einer arbeiten will. Und eben hierum dreht sich der ganze jahrhundertlange Kampf zwischen Unternehmern und Arbeitern. Es geht immer um den Konflikt von Lohn und Leistung.
Die Leistungszurückhaltung spielte vor allem in der angelsächsischen Arbeiterbewegung des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts eine Rolle. Der Terminus technicus, unter dem diese Taktik damals allgemein firmierte, trug den Namen »Ca’canny« und entstammt dem Schottischen. Er soll erstmals während des Streiks der englischen Hafenarbeiter 1896 als Synonym für Leistungszurückhaltung in den Sprachgebrauch eingegangen sein. Die sozialistische Zeitung Seamans Chronicle erläutert diesen Begriff in ihrer Ausgabe vom 24. Oktober 1896 folgendermaßen: "Was bedeutet Ca’canny? Es ist das eine plastische Redensart, durch die man das neueste Einsatzmittel für Arbeitsniederlegung charakterisiert. Wenn zwei Schotten spazieren gehen, und der eine läuft dem anderen zu schnell, so sagt dieser: Ca’canny, mon ca’canny!, Das heißt etwa: Lat di man Tid Mann, lat di Tid!" (Zit. nach v. Reiswitz 1902, S. 6).
Die Taktik des Ca'canny in der englischen Arbeiterbewegung zielte vor allem darauf ab, den Einzug neuer Technologien in den Betrieben zu verhindern oder zu verzögern, um bereits im Vorfeld den drohenden Gefahren für ihre Arbeitsplätze und ihre Löhne entgegenzuwirken. Eine umfassende Dokumentation von Fallbeispielen des Ca’canny wurde Ende des letzten Jahrhunderts in der Londoner Times unter dem Titel »Die Krisis der englischen Industrie« veröffentlicht. Diese Zusammenstellung bildet die Grundlage einer Broschüre, die der Generalsekretär des hamburgischen Arbeitgeber-Verbandes und Chefredakteur der Deutschen Arbeitgeber- Zeitung Freiherr von Reiswitz 1902 unter dem Titel: »Ca’canny - Ein Kapitel aus der modernen Gewerkschaftspolitik« den deutschen Lesern vorstellte. Hieraus zwei Beispiele: Als ein englisches Röhrenunternehmen seine veraltete Maschinerie durch eine neue, produktivere, aber auch teurere Anlage ersetzt hatte, reduzierten daraufhin die Arbeiter ihre Leistung in einem solchen Maße, das keine einzige Röhre mehr als vorher produziert werden konnte (S. 66).
In einer englischen Unternehmerzeitung wird die Taktik des Ca'canny plastisch folgendermaßen geschildert: "Die Arbeiter, welche Maschinen bedienen, wenden ihre ganze Erfindungsgabe auf, um die Maschinenarbeit ebenso teuer wie die Handarbeit zu machen. Nachdem sie die Maschine fünf Minuten lang mit voller Geschwindigkeit haben laufen lassen, scheinen sie es für notwendig zu halten, sie anzuhalten und nachzusehen, ob kein Bruch vorgekommen ist. Dann laufen sie in der Werkstatt herum und leihen sich eine Ölkanne oder einen Schraubenzieher, um damit etwas vollständig Überflüssiges zu tun. Damit bringen sie fünf Minuten bis eine Stunde hin und dann lassen die Maschine wieder einige Minuten laufen; und wenn man den Arbeiter fragt, so sagt er: Die Maschinen sind nichts wert; ich könnte die Arbeit mit der Hand schneller und besser tun" (Zit. nach Webb 1898, S. 357f.).
Die Ca’canny-Methode - so konstatiert Freiherr von Reiswitz vom Arbeitgeberverband im Nachwort seiner Broschüre - sei beileibe nicht allein der englischen Arbeiterbewegung eigentümlich, sondern habe ebenso in den deutschen Gewerkschaften Schule gemacht (1902, S. 98). Derartige Vorwürfe, die damals in der Unternehmerpresse wiederholt vorgebracht wurden, ließen die deutschen Gewerkschaften nicht unberührt. Einerseits war es für sie ganz selbstverständlich, dass sie auf Unternehmerstrategien zur Intensivierung der Arbeit reagieren mussten. Der von den Unternehmern proklamierten Maximalleistung galt es, eine Normalleistung entgegenzusetzen. Dem wird im Organ des Deutschen Bauarbeiterverbandes folgendermaßen Ausdruck gegeben: "Leider hat ein großer Teil unserer Kollegen noch nicht erkannt, dass sie dem Unternehmertum nicht ihr ganzes Ich, ihre gesamte Arbeitskraft hinzugeben brauchen. Gegenwärtig wird die Arbeitskraft jedes einzelnen im Dienste des Kapitalismus vollständig aufgesogen... diesem Übelstande wäre abzuhelfen, wenn die Kollegen in ihrer Leistungsfähigkeit etwas zurückhalten und sich darin nicht gegenseitig Konkurrenz böten." (Zit. nach A. Weber 1923, S. 773).
Auf der anderen Seite fühlte sich die deutsche Arbeiterbewegung einem ausgeprägten Arbeitsethos verpflichtet. Betonten doch die deutschen Gewerkschaften allenthalben ihre erzieherische Rolle für die Arbeitsmoral ihrer Mitglieder. Der deutschen Arbeiterbewegung liege es völlig fern - so die Metallarbeiterzeitung im Jahre 1905 -, die Arbeiter zum Müßiggang zu ermuntern. (MAZ 1905a, S.353). Ganz im Gegenteil: Gerade vom Standpunkt der Sozialdemokratie sei es eine Selbstverständlichkeit, "die Arbeiter zu pflichtgetreuen Menschen zu erziehen, die Disziplin im Leibe haben (MAZ 1908b, S. 43). Die deutschen Gewerkschaften seien stolz darauf, die tüchtigsten Arbeiter des Berufs zu ihren Mitgliedern zu zählen, während sie die minderwertigen Elemente den anderen Konkurrenzorganisation überlassen"(ebd.).
Mit Paul Lafargues »Recht auf Faulheit« hatte man nichts im Sinn. Es könne nicht das Ziel der Arbeiterbewegung sein, schlicht die Rollen mit den bürgerlichen Müßiggängern zu vertauschen und zur Abwechslung sich nun selbst auf die faule Haut zu legen. Das Predigen der Faulheit überlasse man den Anarchisten; die sozialistische Arbeiterbewegung dagegen habe immer schon auf die Erziehung zur Arbeit den größten Wert gelegt; denn schließlich würden durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität die Voraussetzungen für künftige Arbeitszeitverkürzungen geschaffen. "Wir wollen uns von der Arbeit emanzipieren durch die Arbeit", heißt es pointiert in einer Rezension von Lafargues berühmter Schrift. (MAZ 1911, 5.247).
Solche Bekenntnisse zu Fleiß und Arbeitsdisziplin waren keine leeren Worte, sondern sie entsprachen durchaus der Realität. Darauf deuten jedenfalls Aussagen unverdächtiger Wissenschaftler hin: Indem die Gewerkschaften von ihren Mitgliedern hohe persönliche Opfer verlangten, seien sie für die Arbeiter "eine stramme Schule der Disziplin", so das Lob in einer Untersuchung von 1911 (Zit. nach Protokoll 1913, S. 209). Max Weber kommt in einer empirischen Untersuchung von 1908/09 zu einem ähnlichen Befund: "Die sämtlichen männlichen Arbeiter, die von der Betriebsleitung als besonders stramme Gewerkschaftler bezeichnet wurden, zeigen Rekordleistungen." (M. Weber 1924, S. 160). Derartige Einschätzungen in den Sozialwissenschaften hielten die Deutsche Arbeitgeber-Zeitung allerdings keineswegs davon ab, die deutschen Gewerkschaftler des Müßiggangs und der Faulheit zu zeihen: "Nach den Begriffen der gewerkschaftlichen Presse verlangt es die Ehrenhaftigkeit nicht nur des Parteiführers, sondern des Arbeiters überhaupt, dass möglichst wenig und möglichst saumselig gearbeitet wird. Parole: Ca’canny - Immer langsam voran!" (DAZ 1908b).
Die oben benannte Ambivalenz in den deutschen Gewerkschaften, sowohl die Arbeit zu einem Menschheitsideal zu verklären, als auch die Arbeitskraft ihrer Mitglieder vor dem totalen Zugriff der Unternehmer schützen zu müssen, wird in der Unternehmerpresse genüsslich ausgeschlachtet. Auf der einen Seite macht man sich über den sozialdemokratischen Arbeitsbegriff lustig. Unter dem Titel »Das hohe Lied der Arbeit« kann man in der Deutschen Arbeitgeber-Zeitung z.B. folgendes lesen: "Als die Quelle aller Wohlfahrt, als den Ursprung aller Segnungen feiert die sozialistische Literatur die Arbeit. Sie allein hat die Menschheit auf die Höhen der Kultur gestellt, ihr gebührt Lob und Preis von jetzt bis in alle Ewigkeit." (DAZ 1908e) Auf der anderen Seite spart die Unternehmerseite nicht mit Kritik an gezielter Leistungszurückhaltung durch die Arbeiter. Das Ca’canny als "Kampf der organisierten Arbeiterschaft gegen jede durch die Maschine bewirkte Arbeitsersparung" (DAZ 1908a) sei Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Zerfallserscheinungen, der in seinen praktischen Folgen "zu einer Vernichtung höchster sittlicher Ideale führen" müsse (DAZ 1908f.).
Die Unternehmerpresse argumentiert bei ihren Ca’canny-Vorwürfen an die deutsche Arbeiterschaft auf zwei Ebenen. Zum einen nahm sie jeden Hinweis aus der Gewerkschaftsbewegung dankbar auf, der auf organisierte Leistungszurückhaltung hindeutete - so z.B. den Brief eines Gewerkschaftsbüros, in dem ein Mitglied wegen Akkordbrecherei gerügt wird. Der Kommentar der Deutschen Arbeitgeber- Zeitung hierzu: "Das ist Ca’cannypolitik in des Wortes verwegenster Bedeutung." (DAZ 1908g). Noch beweiskräftiger erschien der Unternehmerseite ein Artikel in der Metallarbeiter-Zeitung, betitelt : »Die passive Resistenz als Kampfmittel der Walzwerksarbeiter« (MAZ 1907b, S. 365). In diesem Artikel werden Überlegungen darüber angestellt, wie die Arbeiterschaft die zunehmende Komplexität industrieller Großbetriebe kampftaktisch sich zunutze machen könne. Angesichts der Störanfälligkeit großindustrieller Produktionsabläufe genüge es oftmals schon, alle Maßnahmen, die zur Sicherheit des Betriebes erforderlich und vorgeschrieben sind, peinlich genau zu erfüllen, um den Betrieb lahm zu legen. Diese Taktik des Dienstes nach Vorschrift könne gelegentlich effizienter sein als ein frontaler Streik. Für die Arbeitgeber-Zeitung waren diese Ausführungen ein gefundenes Fressen und der "unwiderlegliche Nachweis einer immer mehr um sich greifenden Ca’cannypolitik"; bei der passiven Resistenz handele es sich um eine "hinterlistige Methode" und ein "diabolisch geschicktes Programm" (DAZ 1907a).
Der zweite Aspekt der Unternehmerkritik an zunehmender Leistungszurückhaltung zielt - wie oben bereits angedeutet - auf die Arbeitsmoral der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Faulheit und Trägheit, so heißt es, seien die spezifischen Merkmale sozialdemokratischer Arbeitsauffassung. Blumig wird das Bild des faulenzenden Arbeiters (offensichtlich ein früher Verwandter von Florida-Rolf) in einem Roman mit dem Titel »Die Camarilla des Königs Demos« von Franz Fröhlich ausgemalt, der von der Deutschen Arbeitgeber-Zeitung auszugsweise abgedruckt worden war. Im Mittelpunkt steht hier ein sozialdemokratischer Arbeiter, dessen morgendlicher Arbeitsbeginn folgendermaßen beschrieben wird:
"Mit mattem, verzweifeltem Blick, in dem die ganze Pein seiner armen Seele deutlich zu lesen war, griff er behutsam nach der Feile und - legte sie wieder auf die Werkbank. Krempelte die Ärmel seiner Bluse bis fast unter die Achselhöhlen hinauf, nahm die Feile mit festem Entschluss neuerdings zur Hand, setzte den linken Fuß vor und schruppte kräftig los. Einmal - zweimal - dreimal. Dann war’s genug der Qual. Indem er ermüdet und schwer atmete, verließ er entkräftet und schnaufend den Saal und begab sich nach einem verschwiegenen Ort. Hier pflegte er der wohlverdienten Ruhe und las, gemächlich zurückgekehrt, die Zeitung" (Fröhlich 1911).
Angesichts der von der Wissenschaft gewürdigten hohen Arbeitsmoral der sozialdemokratischen Arbeiterschaft waren derartige Auslassungen der Unternehmerpresse natürlich ausgesprochen polemisch und kaum zu belegen. Kritik hieran gab es sogar aus den eigenen Reihen. Es sei verkehrt und der Wirklichkeit nicht entsprechend, den sozialdemokratischen Arbeiter "als lächerlichen Trottel oder als rüpelhaften Burschen vorzuführen" (DAZ 1907b). Gerade die sozialdemokratische Erziehung habe Fleiß und Tüchtigkeit in der Arbeiterschaft verankert. Zu diesen Einwänden stellt die Deutsche Arbeitgeber- Zeitung nun klar, es läge ihr fern, "die Tüchtigkeit und innere Gesundheit der deutschen Arbeiterschaft" (ebd.) zu bestreiten. Der Sozialdemokratie gebühre hieran allerdings kein Verdienst, im Gegenteil: "Nicht infolge, sondern trotz der Sozialdemokratie ist die Arbeiterschaft Deutschlands zum großen Teil noch ein brauchbares Glied der Gesellschaft geblieben." (ebd.).
Von den sozialdemokratischen Gewerkschaften wurden die Ca’canny-Vorwürfe der Unternehmer als bösartige Unterstellung zurückgewiesen. Es handele sich hierbei um einen "erbärmlichen Trick, um jeder Gegenwehr gegen die zunehmende Arbeitsintensivierung den Wind aus den Segeln zu nehmen". Was in den Betrieben geleistet werden müsse, sei geradezu ungeheuerlich; überall würde das Maschinentempo bis an die äußersten Grenzen gesteigert.’ "Es ist ein ruinöser Raubbau, den die kapitalistische Ausbeuterwirtschaft mit der Volkskraft treibt, und ohne auch nur zu murren, soll der Arbeiter immer und überall den oft wahnwitzigen Anforderungen an seine Arbeitskraft, an seine Leistungsfähigkeit genügen, andernfalls das Ausbeutertum und seine Handlanger unisono zu schreien beginnen: Ca’canny, Ca’canny!" (MAZ 1908f., S. 282).
Die ganze Ca’canny-Kampagne sei gestartet worden, um einen Vorwand zur Knebelung der Gewerkschaften und der Demontage ihrer Rechtsstellung zu schaffen. Der damalige Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien geht mit der Ca’canny-Broschüre des Freiherrn von Reiswitz hart ins Gericht, weil dieser eine Materialsammlung aus der englischen Arbeiterbewegung benutze, um damit die deutschen Gewerkschaften zu denunzieren. "Doch unsere Drachentöter hüten sich wohl, den Versuch zu machen, aus dem Wirken der Gewerkschaften Deutschlands den Nachweis für ihre Behauptungen zu führen. Genauso, wie der Schwindel von dem Streikterrorismus der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter bei dem Versuch aufgedeckt wurde, die deutsche Arbeiterschaft durch ein Zuchthausgesetz zu knebeln, genauso würde der Schwindel von der Schädigung der Volkswirtschaft durch die Gewerkschaften aufgedeckt werden, wenn die kapitalistischen Soldschreiber versuchen würden, diesen Schwindel an der Hand von Beispielen aus der deutschen Gewerkschaftsbewegung beweisen zu wollen." (Legien 1903, S. 19).
Eine Dokumentation über Ca’canny-Praktiken speziell der deutschen Arbeiterbewegung konnte von den Unternehmerverbänden denn auch nicht vorgelegt werden, da ihr Beweismaterial recht dürftig war und sich auf wenige, recht vage Hinweise beschränkte. Tatsächlich scheint das Ca’canny in der Form, wie es damals in England praktiziert wurde, in Deutschland kaum eine Rolle gespielt zu haben. Natürlich gab es das individuelle "Bremsen" als Reflex auf die Verschärfung der Arbeitsnormen. Vereinzelt wurde wohl auch das Kampfmittel der passiven Resistenz, als der Dienst nach Vorschrift, angewandt. Ca’canny als organisierte Kampfform der Arbeiterbewegung scheint es jedoch anders als in England in Deutschland kaum gegeben zu haben.

Literatur:

DAZ: Deutsche Arbeitgeber-Zeitung:
1907a, Nr. 51: Passive Resistenz.
1907b, Nr. 51: Zur Psychologie des deutschen Arbeiters.
1908a, Nr: 2: Ca’canny.
1908b, Nr. 4: Immer langsam voran.
1908e, Nr. 10: Das Hohe Lied der Arbeit.
1908f, Nr. 27: Ca’canny.
1908g, Nr. 34: Ca’canny.
Fröhlich, Franz: Ca’canny. In: Deutsche Arbeitgeber-Zeitung, 1911, Nr. 39.
Legien, Carl: Ca’canny. Neueste Scharfmacherpraktiken. In. Die Neue Zeit, 1903, 1. Bd., Nr. 1, S. 19-25.
MAZ: Metallarbeiter-Zeitung:
1905a, Nr. 45, S. 353: Die Arbeitsfreude.
1907b, Nr. 46: S. 365: Die passive Resistenz als Kampmittel der Walzwerksarbeit.
1908b, Nr. 5, S.34 und Nr. 6, S. 43: Die Sabotage als gewerkschaftliches Kampfmittel.
1908f, Nr. 36, S. 282: Ca’canny.
1911, Nr. 31, S. 247: Arbeit und Muße.
Protokoll der 11. ordentlichen Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Breslau 1913. Stuttgart 1913.
Reiswitz, W. G. H. von: Ca’canny. Ein Kapitel aus der modernen Gewerkschaftspolitik. Berlin 1902.
Webb, Sidney/Webb, Beatrice: Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine. Stuttgart 1898.
Weber, Adolf: Arbeitskämpfe. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 4. Auflage. Jena 1923, S. 765-788.
Weber, Max: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908/09). In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Tübingen 1924.

Der Artikel ist dem Buch entnommen: Hans-Albert Wulf: "Maschinenstürmer sind wir keine". Technischer Fortschritt und sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Frankfurt am Main/New York (Campus) 1988.

© Dr. Hans-Albert Wulf, September 2018.

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2018/09/20

Positions Berlin Art Fair
27. - 30. September 2018
Flughafen Berlin Tempelhof, Hangar 4, Columbiadamm 10

positions1
Auf der Positions Berlin Art Fair.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, September 2017.

Es gibt viele interessante Werke malender Künstler, grafischer Künstler und plastischer Künstler anzuschauen. Viele interessante Galerien. Ein Überblick über die deutsche und internationale Malereiszene. In einer ungewöhnlichen Location.

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2018/09/17

rechtaufarbeit

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2018/09/14

Die Lotusblüte

lotus
Lotusblüte (Nelumbo nucifera), fotografiert im Botanischen Garten Berlin Dahlem
von © Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2018.

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2018/09/11

Buchtipp: »Ungehorsam als Tugend« von Peter Brückner

Dr. Christian G. Pätzold

In diesem Jahr erschienen im Verlag Klaus Wagenbach in Berlin 5 Bücher in neuer Auflage, die ihren Ursprung um das Jahr 1968 haben. Sie enthalten Texte von Rudi Dutschke, Erich Fried, Ulrike Meinhof, Peter Schneider und Peter Brückner, die viel zum Verständnis von 1968 beitragen können. Ich habe mir den Band von Peter Brückner »Ungehorsam als Tugend« mit 7 Essays angeschafft.
Peter Brückner, geboren 1922 in Dresden, gestorben 1982 in Nizza an Herzversagen, hatte eine englische Mutter mit jüdischer Herkunft und einen deutschen Vater. Seine Mutter musste 1934 nach England emigrieren, während er bei seinem Vater in Deutschland blieb. Für die Nazis war er ein "Halbjude", was er aber verbergen konnte. Die Nazizeit überlebte er nur mit Glück. Diese Lebensgeschichte macht deutlich, warum Peter Brückner den fremden Blick auf Deutschland und die Deutschen hatte. Die meisten Mitglieder seiner Generation waren dagegen stark mit der Ideologie der Nazis infiziert.
Er promovierte 1957 in Psychologie und machte eine Ausbildung zum Psychoanalytiker. 1967 erhielt er den Lehrstuhl für Psychologie an der Technischen Hochschule Hannover. Die Wissenschaftsbürokraten in Hannover waren wahrscheinlich der Ansicht, dass sie einen harmlosen Psychologieprofessor eingestellt hätten. Aber dem war nicht so. Die meisten Universitätsprofessoren in Westdeutschland hatten 1967 einen Nazihintergrund. Peter Brückner dagegen sympathisierte mit der Studentenbewegung und wurde eine Leitfigur der Studenten, zum Symbol eines linken Professors, der die Bundesrepublik aus denselben Gründen kritisierte. Wegen des Vorwurfs von Kontakten zur RAF wurde er in den 1970er Jahren von seiner Lehrtätigkeit suspendiert. Es war die Zeit des Radikalenerlasses und der Berufsverbote. Er schrieb auch ein wichtiges Buch über Ulrike Meinhof.
Zunächst muss man bei dem Titel des Buches »Ungehorsam als Tugend« an das berühmte Essay »The Resistance to Civil Government« von Henry David Thoreau aus dem Jahr 1849 denken. Und tatsächlich steckt in den Essays von Peter Brückner viel Widerstandsgeist gegenüber staatlicher Herrschaft. Als politischer Psychologe untersuchte er so wichtige Fragen wie die Psychologie der Massen, die Psychologie des Mitläufers, die Psychologie des Vorurteils, die Psychologie des Gehorsams. Dadurch wird deutlich, wie der Faschismus in Deutschland auf psychologischer Ebene funktioniert hat, und leider auch in Zukunft wieder funktionieren kann, wie Peter Brückner ausdrücklich befürchtet. Das hört man ja täglich, wenn die Meinungsumfragen im Radio verkündet werden.
Interessant ist auch die psychologische Analyse von 1968, denn die antiautoritäre Bewegung hatte ja vor allem auch psychologische Motive, neben den meist offensichtlicheren politischen Motiven, wie der Beendigung des Vietnamkriegs. Psychologische Motive waren etwa der Widerstand gegen Bevormundung und persönliche Unterdrückung, der Kampf für Selbstverwirklichung, für eine freiere Sexualität. Das sind Fragen einer notwendigen Kulturrevolution, die das Bewusstsein der Menschen betreffen. Damit beschäftigte sich Peter Brückner.
Ich stimme fast allen Analysen von Peter Brückner in dem Buch zu. Nur in einem Punkt muss ich ihm widersprechen. Auf Seite 48 schreibt er, dass rebellische individualistische Menschen wie Multatuli, Vogeler, Mühsam oder Landauer "fast spurlos" vergangen wären. Das ist zum Glück nicht passiert. Sie sind heute äußerst lebendig, besonders bei denkenden Menschen.
Wie immer bei gesellschaftswissenschaftlichen und psychoanalytischen Büchern muss ich auch hier eine kleine Warnung aussprechen. Das Lesen könnte etwas schwierig werden, wenn keine marxistischen und psychologischen Grundkenntnisse vorhanden sind.

Peter Brückner: Ungehorsam als Tugend. Zivilcourage, Vorurteil, Mitläufer. Mit einem Vorwort von Barbara Sichtermann.
Berlin 2018. Verlag Klaus Wagenbach.
ISBN 978-3-8031-2790-7.

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2018/09/08

Belagerung

von Cornelia Becker, Berlin

Viertel vor Zehn, Sozialamt Wedding. In der Warteschleife seit zwei Stunden. Ein Sachbearbeiter streckt den Kopf zur Tür heraus: Nummer dreihundertsieben, dreihundertsieben.
Dreihundertacht und Dreihundertneun stehen bereit. Dreihundertsieben hat Pech gehabt, man soll auf dem Sozi seine Zeit nicht beim Pinkeln verplempern. Ausgepinkelt, Alter, morgen geht´s von neuem los.
Einer, den sie Willi nennen, in kurzen Hosen und Unterhemd, steht lauernd bereit: Ick muss heut janz dringend, es wird jetze Zeit ... Der Satz ist noch nicht beendet, da steht er wieder vor der verschlossenen Tür.
Der Fahrstuhl öffnet sich und entlässt einen Riesen mit einem blutunterlaufenem Auge, ausrasierten Schläfen und Stirn. Silberne Sandalen an den Füßen, schlurft er über den Flur und begrüßt die Kumpel mit Händedruck. Bleibt vor der Tür Nummer 75 stehen; die lakonische Bemerkung, dass die Türen von innen verschlossen werden müssen, wegen tätlicher Bedrohung der Mitarbeiter. Man bittet die Besucher um Verständnis.
Ham wohl Angst wa? Doch nich etwa vor mir?
Haha, du triffst doch nur noch daneben, nich mal die Karnickel inne Rehberge wern vor dir abhauen.
Wieder öffnet sich die Tür zum Sachbearbeiterhimmelreich. Dreihundertzehn, bitte. Nummer Dreihundertzehn. Hier wird geackert, hier wird geschafft. Am Morgen wieviel Nummern? Am Mittag schwirrt der Kopf vom Paragraphenbrei. Ausführungsbestimmungen, Ausnahmebedingungen.
Und der Willi belagert die geöffnete Tür: Wie lange dauert das denn heute wieder? Hab`nen Termin. Hab`keine Zeit. Könn Se mich nicht mal?
Der Sachbearbeiter sieht gezielt über ihn hinweg. Ein bunt bedruckter Jogginganzug drängt sich an dem kleinen Mann vorbei: Eh, ich bin dran, und schnippt ihm seine Nummer direkt ins Gesicht, bevor die Tür sich hinter ihm schließt.
Mensch, schieß den Willi ab, der hat wieder kein Sitzfleisch heute.
Ein dicker Bauch im lila Webpelz flaniert vorbei, angedreckter Kinderwagen in der einen, kleines Mädchen mit Zöpfen an der anderen Hand. Jetzt wird es Zeit für die Sonderzulage, wo doch das Dritte bald kommt. Die Frau baut ihren kräftigen Busen vor Willi auf: Mensch reg dir nicht uff, Willi. Kannste dir auf´n Kopf stellen, aber warten tuste wie icke.
Doch der Angesprochene ist schon wieder auf einen Stuhl gesunken, sitzt im Qualm seiner lose gedrehten Zigarette und winkt ab. Kaut an seinen Fingernägeln, springt wieder auf: Ick hab`um zwölfe `nen Termin beim Arzt, wegen meine Nierenbecken. Ne, jetze reichts mir, ick geh´ jetzte. Die Zigarette glimmt am Filter: Autsch! Glimmt auf dem grünen Linoleum weiter. Er tritt darauf: Ick geh´ jetz. Tritt wieder drauf und wieder: Ick geh´ jetz, droht er mit der Faust zur verschlossenen Tür und verlässt das Szenario unter Gelächter.
Ha ick ja jleich jesajt, so geht dat nich Willi! Ruft die Schwangere ihm hinterher.
Ist doch alles Blödsinn, ruft der mit dem dicken Auge, allet klene Fische. Er deutet auf sein Auge: Von der Treppe haben`se mir gestoßen. Brille und Auge kaputt.
Wohl zu tief ins Glas... ruft einer dazwischen. Ach, besoffen war der, ein anderer.
Ne, ne schon seit Wochen tu ich nicht mehr trinken. Rühre keinen Tropfen an. Kannste mir unter die Nase halten. Mann, det sind echte Probleme. Wat will der Willi denn? Auffallen, um jeden Preis, det will er, verstummt und starrt auf seine silbernen Sandalen.
Viertel vor elf. Sozialamt Wedding. Nummer dreihundertelf bitte.

© Cornelia Becker, September 2018.

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2018/09/05

art kicksuch

sonnenmeer

© art kicksuch, september 2018.

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2018/09/02

Foto von der Kuhle-Wampe-Sommerparty 2018

kwsommerparty
Von links nach rechts: Dr. Karin Krautschick, Dr. Hans-Albert Wulf, Peter Hahn,
Jürgen Stich, Manfred Gill, XY, Ella Gondek.

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2018/08/31

vorschau09

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2018/08/28

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
WILHELM VON HUMBOLDT. Teil 2: Zur Sprache
Was bringt uns ein Studium von Humboldts Schriften heute?

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Wilhelm von Humboldt.
Portrait von Bertel Thorvaldsen, Rom 1808.
Quelle: Wikimedia Commons.

Beschäftigt man sich intensiver mit Wilhelm von Humboldt, dann fällt auf, dass er viele Themen der Reflexion über die Sprache zwar gestreift und angeschnitten, aber kaum etwas bis zum Ende ausgeführt hat, wie z.B. das Projekt eines Atlas der Sprachen, der alle Kontinente einbezieht usw. Doch hat er wertvolle Vorarbeit dazu geleistet, die erst heute, nachdem seine Schriften entdeckt und aufgearbeitet werden, in vollem Umfang ermessen werden kann. (1)
Im Sinne der Romantik, die das Fragment als ihr gemäß favorisiert, ist das auch ein stimmiger Ansatz. Die Frage ist aber, ob Humboldt das auch so gesehen hat. Fakt ist, dass er sich viel vorgenommen hat für das von ihm konzipierte gigantische Sprach-Projekt, doch trotzdem lässt sich ein (nämlich sein) Erkenntnisgebäude entdecken, das ebenso fundamental angelegt ist wie leider auch heute fast immer noch unbekannt. Tief stieg er ein in den Bau der Sprache. Allein 14 südamerikanische Sprachen (2) untersucht und spricht er bzw. eignet sich diese im Rahmen seiner Studien an. Darunter aber auch Sprachen wie Griechisch, Latein und Französisch, die er schon in frühester Jugend erlernte. Später kamen Spanisch, Italienisch und Englisch dazu, die ihm gerade auch während seiner diplomatischen Laufbahn sehr hilfreich waren. Im Rahmen seiner sprachwissenschaftlichen Studien machte er sich aber auch mit dem Litauischen, Tschechischen, Ungarischen, den Sprachen des indonesischen und polynesischen Archipels, dem Chinesischen und Japanischen, dem Altägyptischen und dem Sanskrit vertraut.
Beredtes Zeugnis davon geben Schriften wie: Über Denken und Sprechen, Über die Natur der Sprache im Allgemeinen, Thesen zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft, Über den Dualis und die berühmte Einleitung zum Kawi-Werk/Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. (3)
Die letzten 15 Lebensjahre verbrachte er in seinem von Schinkel und Rauch umgebauten Tegeler Schloss, das immer einen Besuch wert ist, und im Unterschied zu seinen fragmentarisch gebliebenen sprachwissenschaftlichen und sprachvergleichenden Studien und Schriften zu Ende umgebaut wurde.
Allein, mit wem er alles korrespondierte, liest sich wie ein Who is Who der damaligen Wissenschaftselite weltweit und gibt in praxi einen Eindruck von der von ihm gelebten und postulierten Einheit in der Vielfalt - seinem erklärten Bildungs- und kulturellen Ideal. Zwar blieben diese seine sprachvergleichenden empirischen Studien relativ unbekannt, wir wissen, wo seine eigentliche Berühmtheit lag, doch ändert das nichts an der Tatsache, dass sie uns gerade heute etwas angehen, im Zeitalter der Globalisierung und des Postkolonialismus.
Wir kommen nun zu den Gründen, warum sein Werk, auch heute noch, nur Wenigen bekannt ist und nicht in voller Breite rezipiert wird, wie es sein müsste. Zum einen endete der DFG-Support, so dass das Projekt der historisch-kritischen Ausgabe an irgendeinem Punkt unterbrochen und leider nicht weiter geforscht werden konnte. Des weiteren - Zeichen seiner Zeit - das Unvollendete und Fragmentarische wird zur Kunstform und zum stilistischen Mittel auch der Wissenschaft erhoben. Ein weiterer Grund könnte sein, dass dieses Projekt insgesamt zu groß angelegt war bzw. zu breit gefächert, vielleicht auch zu exotisch. Unheimlich erschien der damaligen Wissenschaft wahrscheinlich auch die zu enge Verbindung von Sprache und Denken, die erst im 20. Jahrhundert thematisiert wurde, auch damit ist Wilhelm seiner Zeit weit voraus. Seine Pflichten als Staatsmann und Familienvater werden ihn auch derart beansprucht haben, dass er erst in den letzten 15 Jahren seines Lebens dazu kam, sich ausschließlich seinen Sprachstudien zu widmen.
Zur Ausgangsfrage zurück, lässt sich sagen, dass Wilhelm von Humboldt nicht nur Geister und Persönlichkeiten beeindruckte und beeinflusste wie den amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau (Walden), den englischen Philosophen und Ökonom John Stuart Mill und den amerikanischen Linguisten und bekennenden Anarchisten Noam Chomsky, über den wir im Rahmen dieser Reihe auch schon berichtet haben. Inspirierend auch seine Methode des "Beschreibens", die er der Methode des "Erklärens" vorzieht. Durch das Revolutionäre seiner Sprachauffassung, Sprache nicht mehr nur als Mittel der Kommunikation und des Ausdrucks, sondern als Werkzeug des Denkens zu sehen, ergeben sich für ihn daraus auch Implikationen die Denkungsart und den Charakter eines Volkes betreffend. An diesem Punkt schießt Humboldt übers Ziel hinaus, wie einige Wissenschaftler und Kritiker meinen, schnell an ihre eigenen Grenzen stoßend und ihn in der Konsequenz deshalb suspekt findend. Seine Gedanken diesbezüglich, die die späteren Entwicklungen in diesem Bereich vorweg nehmen, werden erst im 20. Jahrhundert aufgenommen durch sprachphilosophische Schulen wie z.B. den "Wiener Kreis", Ludwig Wittgenstein u.a.
Sein Geist lebt weiter in diesem groß angelegten Entwurf, der nicht hoch genug einzuschätzen ist. Hoffentlich inspiriert er sowohl Sprachwissenschaftler als auch Laien, sich auf dessen Spuren zu begeben. Beginnen kann man ja mit einem Besuch des Tegeler Schlosses, das im Sommer immer montags 10h Führungen durchs Haus anbietet, die leider etwas einseitig fast nur auf architektonische Aspekte des Umbaus eingehen. Es wäre eine Idee, ob die Nachfahren Humboldts, die noch heute in dem Schloss leben, nicht eine sprachgeschichtlich bzw. sprachwissenschaftlich orientierte Tour anbieten könnten, sowohl für den interessierten Laien als auch den Insider, damit uns Humboldt als der geniale und phänomenal begabte Sprachwissenschaftler im Gedächtnis bleibt, der er eben auch war, neben seiner amtlich bestätigten Laufbahn.
In Teil 3 zu Wilhelm von Humboldt werde ich das Brüder-Gestirn Wilhelm und Alexander von Humboldt behandeln. In Teil 4 zu Wilhelm von Humboldt liefere ich einen poetischen Nachtrag in Form eines Anagramms, das ich aus seinem Namen gefertigt habe. Ganz in Humboldts Sinn, neue und noch nicht ausgetretene Pfade für die Wissenschaft zu betreten, nichts als der reinen Erkenntnis dienend und gerade durch Unkonventionalität das Primat der Wissenschaft hoch haltend. Für mich ist er einer der Stammväter heutiger Wissenschaft, so wie ich sie mir vorstelle.

Anmerkungen:

1) Siehe dazu: Kurt Mueller-Vollmer: Wilhelm von Humboldts sprachwissenschaftlicher Nachlass: Probleme seiner Erschließung. In: Hans Werner Scharf (Hrsg.): Wilhelm von Humboldts Sprachdenken (Symposion zum 150. Todestag). Essen 1989.
Humboldts Plan, eine "Theorie der Menschheit" im Sinne einer Humanisierung der Natur und damit das Ganze des Lebens erfassend zu schreiben, scheiterte, trotz Vorarbeit, daran, dass das eigentliche Werk fehlt. Alexander von Humboldt wiederum gelang sein ähnlich fundamental angelegtes Werk mit dessen "Kosmos" - immerhin brachte der es auf fünf Bände.
2) So zum Beispiel Quechua, Betoi, Yaruro, Maipure, Tamanaco, Carib, Muisca, Guarani, Omagua, Lule, Abiponisch, Mocovi, Mbaya.
3) Dazu auch: Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Sprache, hg. von Michael Böhler, Stuttgart 2014, Reclam.

© Dr. Karin Krautschick, August 2018.

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2018/08/25

Friedenauer Friedhofsmäuse

Dr. Christian G. Pätzold

An einem schönen warmen Sommermittag saß ich entspannt vor dem Bäcker am Südwestkorso in Friedenau und schlürfte an meinem Espresso. Da fiel mir auf, dass eine Maus an der Mauer zum benachbarten Friedhof hinabkletterte. Dazu benutzte sie geschickt den Efeu, der an der Mauer wuchs. Wahrscheinlich hatten sie die verführerischen Bäckerdüfte angelockt. Wie immer im Sommer war die Luke zum Keller unter der Bäckerei aufgesperrt. Die Maus verschwand schnell in der Luke, um sich an den Getreidesäcken im Keller den Bauch voll zu schlagen. An dieses Erlebnis musste ich denken, als ich im Winter feststellte, dass irgendjemand den Efeu an der Mauer entfernt hatte. Aber ich hatte gehört, dass die Mäuse auch am reinen Kratzputz der Mauern hochklettern können.
Wir machen uns viel zu selten bewusst, dass wir Menschen nicht die einzigen Lebewesen in der Stadt sind. Da sind auch noch die vielen Vögel, die uns durch ihr Zwitschern im Frühling erfreuen. Oder ein Fuchs, der einem nachts über den Weg läuft. Oder Kaninchen, Wildschweine und Waschbären. Und nicht zu vergessen die niedlichen Fledermäuse, die in den Kasematten der Zitadelle Spandau wohnen. Um alle diese Tausende von Lebewesen kümmert sich der Berliner Wildtierbeauftragte, der sicher keinen leichten Job hat.

© Dr. Christian G. Pätzold, August 2018.

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2018/08/21

Vor 50 Jahren: Das Ende des Prager Frühlings 1968

Dr. Christian G. Pätzold

Für mich als jungen West-Berliner war es ein ziemlicher Schock, als ich am 21. August 1968 im Radio hörte, dass Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschiert waren. Zunächst hieß es, dass auch Truppen der DDR (Deutsche Demokratische Republik) einmarschiert wären. Deutsche Truppen in der Tschechoslowakei? Das erinnerte an die Nazis und 1938. Der deutsche Einmarsch stellte sich dann im Nachhinein allerdings als reine Propaganda heraus. Auf jeden Fall war ganz deutlich geworden, dass es große Widersprüche innerhalb des sozialistischen Ostblocks gab.
Warum war der Warschauer Pakt einmarschiert? Alexander Dubček, Erster Sekretär der tschechoslowakischen Kommunisten, wollte doch bloß "eine sozialistische Gesellschaft mit menschlichem Antlitz aufbauen". Aber das war natürlich einer starker Affront gegenüber der Sowjetunion, denn das hieß ja, dass es dort einen unmenschlichen Sozialismus gäbe, was natürlich Quatsch war.
Leonid Breschnew, der Generalsekretär des ZK (Zentralkomitee) der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) in Moskau, ließ nicht mit sich scherzen. Ihm war der Kurs von Dubček zu liberal. Dubček wollte die Zensur aufheben, bürgerliche Parteien zulassen und die Marktwirtschaft einführen. Das hätte wahrscheinlich den Zusammenbruch des Sozialismus im Ostblock bedeutet. Schließlich wurde Dubček durch Breschnew von der politischen Macht entfernt. Nach 1989 stellte sich heraus, dass Dubček gar kein Kommunist gewesen war, sondern ein Sozialdemokrat, der sich wie Gorbatschow an die Spitze der Macht geschlichen hatte, um den Sozialismus zu Fall zu bringen.
Im November 1968 wurde dann offiziell die Breschnew-Doktrin verkündet, nach der die sozialistischen Staaten nur noch beschränkt souverän waren. Wenn in einem dieser Staaten der Sozialismus bedroht wäre, dürften die anderen sozialistischen Staaten eingreifen. Breschnew wollte so die sozialistischen Staaten zusammen halten.
Schon einige Jahre vor dem Prager Frühling 68 gab es zahlreiche Reformdebatten im Ostblock. In der Tschechoslowakei waren die Schriften des Ökonomen Ota Šik (1919-2004) zum Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung einflussreich. Es sollte letztlich das egoistische und asoziale Individuum gefördert werden, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das war natürlich die kapitalistische Annahme, nach der der Egoismus zum größten Wohlstand führt. Die Förderung des primitiven Egoismus war alles andere als sozialistisch. Šik ist nach dem August 68 in die Schweiz emigriert und hat sich später glühend zum Kapitalismus bekannt.
Die Parteiführungen im Ostbock haben leider keinen dynamischen Weg vorwärts in der Wirtschaft gefunden. Die Wirtschaft funktionierte nicht so toll, wie sie angeblich im Kapitalismus lief. Der Wohlstand der Bürger war nicht so hoch, wie er angeblich im gelobten Westen Europas war. Von diesen Annahmen war vieles kapitalistische Propaganda, auf die die schlichten Bürger im Ostblock gerne hereinfielen.
In der Nacht zum 21. August 1968 marschierten etwa 500.000 Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei ein. Rumänien, Jugoslawien und Albanien beteiligten sich nicht an der Invasion. Einige Dutzend Tschechoslowaken wurden beim Einmarsch erschossen. Die NVA (Nationale Volksarmee) der DDR stand an der Grenze und wäre auch gern einmarschiert. Aber das Oberkommando des Warschauer Paktes verzichtete angesichts der Nazi-Vergangenheit auf einen größeren Einsatz der NVA. Es waren tatsächlich nur einige wenige Nachrichtendienstler der NVA in der Tschechoslowakei.
Für die antiautoritäre Jugendbewegung in West-Europa war die Beendigung des Prager Frühlings ein schwerer Schlag. Denn es hatte sich gezeigt, dass der Sozialismus im Ostblock nicht reformfähig und entwicklungsfähig war. Dieser Sozialismus war schon zu verknöchert und bürokratisch erstarrt und hatte die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung verloren, besonders der Jugend, der Intelligenz, der Künstler, aber auch vieler Arbeiter. Wie dann die Geschichte gezeigt hat, überlebte der Moskauer Sozialismus den Prager Frühling nur noch um 20 Jahre. Er brach 1989 wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Aber nicht nur die Sowjetunion zerfiel 1989 in ihre Einzelteile. Auch die Tschechoslowakei zerfiel mit der Samtenen Revolution von 1989 in zwei Staaten: Tschechien und die Slowakei. Heute ist das verkleinerte Russland immer noch eine Supermacht, aber leider kapitalistisch, imperialistisch und aggressiv. Tschechien und die Slowakei sind heute Mitglieder in der Europäischen Union (EU), die leider auch kapitalistisch ist. Insofern haben die letzten 50 Jahre nur bedauerliche Rückschritte für alle Seiten gebracht.

© Dr. Christian G. Pätzold, August 2018.

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2018/08/17

Die Villa Libris

Dr. Christian G. Pätzold

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Die Villa Libris am Rüdesheimer Platz in Berlin Wilmersdorf.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, April 2013.

Eine Bücherbox in einer ehemaligen Telefonzelle. Das ist ein gutes Projekt am Rüdesheimer Platz in Berlin Wilmersdorf, das schon seit 2011 prima funktioniert. Es gibt aber auch Bücherboxen an anderen Orten in Berlin, obwohl es noch mehr sein könnten. Im Moment soll es berlinweit 17 Bücherboxen geben. Villa Libris ist lateinisch und bedeutet "Haus des Buches". Man merkt, dass am Rüdesheimer Platz, allgemein Rüdi genannt, einige Altsprachler wohnen. Eine weitere Bücherbox gibt es bspw. am Mahnmal Gleis 17 am S-Bahnhof Berlin Grunewald.
Menschen können ihre Bücher, die sie nicht mehr brauchen, in der Bücherbox deponieren. Das habe ich auch schon so gemacht. Andere Menschen, die sie lesen möchten, können die Bücher kostenlos mitnehmen. Die Rettung der Bücher ist eine sehr schöne Sache. Wer wirft schon gerne Bücher in die Mülltonne oder ins Altpapier? Das ganze ist von einem privaten Verein organisiert. 24/7 geöffnet. Natürlich braucht es ein paar Ehrenamtliche, so genannte Kümmerer, die ab und zu in den Straßenbibliotheken etwas aufräumen.
Aber warum immer ehrenamtlich? Die Betreuung könnte auch ein hauptamtlicher Bücherfreund der Stadtbibliothek übernehmen. Jedenfalls läuft die ganze Sache sehr gut und ist wirklich zum Besten der Menschen, die dort vorbeikommen. Man kann in der Villa Libris auf echte Schätzchen treffen. Gerade neulich erst sind mir begegnet: Die gesammelten Werke von Heinrich von Kleist, eine Reclam-Ausgabe um 1900 mit einem wunderbaren Jugendstil-Leinen-Einband. Oder ein Roman von Upton Sinclair aus dem legendären Malik-Verlag, 1920er Jahre mit den berühmten Einbänden. Für Bücherwürmer gibt es dort immer Leckerbissen.
Die Telefonhäuschen, die früher häufig in Städten anzutreffen waren, werden kaum noch benötigt, weil viele Menschen jetzt ein Handy haben. Da ist es eine gute Idee, die Telefonhäuschen nicht einfach zu verschrotten, sondern als Bücherboxen weiter zu nutzen.

© Dr. Christian G. Pätzold, August 2018.

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2018/08/14

Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin, Teil 3
Max Lingner: Aufbau der Republik, 1952

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Max Lingner: »Aufbau der Republik«, 1952. Ausschnitt.
Wandfries, 24 m x 3 m, Fliesen aus Meißner Porzellan.
Leipziger Straße Ecke Wilhelmstraße in Berlin Mitte.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2018.

Max Lingner war ein Maler des Sozialistischen Realismus. Er wurde 1888 in Leipzig geboren und starb 1959 in Berlin (Ost). Von 1908 bis 1913 studierte er Malerei an der Kunstakademie Dresden. Dann kam der Erste Weltkrieg und er war von 1914 bis 1918 als Soldat an allen Fronten eingesetzt. 1918 war er am Kieler Matrosenaufstand beteiligt und Mitglied des Soldatenrates in Kiel. Nach erfolglosen Versuchen, sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen, zog er 1927 auf Anraten von Käthe Kollwitz nach Paris. Dort erreichte er in den 1930er Jahren einige Bekanntheit als Pressezeichner und schloss sich den revolutionären Künstlern Frankreichs an. Seit 1934 war er Mitglied der KP Frankreichs.
1939 wurde er im südfranzösischen Lager Camp de Gurs interniert. Nach der Flucht aus dem Lager kämpfte er in der Résistance gegen die Nazis. 1949 übersiedelte er in die DDR und wurde Professor für Malerei an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Nach 20 Jahren in Frankreich sahen die Gesichter seiner Frauen und Männer immer etwas französisch aus.
Der Wandfries »Aufbau der Republik« von 1952 zeigt den euphorischen Aufbruch der Arbeiterklasse nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals wurde optimistisch in die sozialistische Zukunft geblickt. Der Aufbau des neuen Deutschland nach dem Ende des Faschismus war für viele eine gute Sache, während die alten Nazis inzwischen nach West-Berlin und nach West-Deutschland geflüchtet waren und dort einträgliche Posten erhalten hatten. In dem Ausschnitt des Wandfrieses, der oben abgebildet ist, werden FDJler (Freie Deutsche Jugend) und junge Pioniere beim Singen und Musizieren dargestellt. Weitere Szenen zeigen unter anderem Arbeiter und Bauern bei der Arbeit.
Der riesige Gebäudekomplex an der Wilhelmstraße Ecke Leipziger Straße, an dem der Wandfries angebracht ist, wurde 1935 auf Veranlassung von Hermann Göring als Reichsluftfahrtministerium erbaut. Der brutal-bombastische Nazibau hat über 2.000 Räume und 112.000 Quadratmeter Geschossfläche. 1949 wurde in dem Bau die DDR (Deutsche Demokratische Republik) gegründet und Wilhelm Pieck zum Staatspräsidenten gewählt. Danach wurde der Bau "Haus der Ministerien" genannt und von Fachministerien der DDR genutzt. Nach 1990 war darin die "Treuhandanstalt" zur Privatisierung der Volkseigenen Betriebe der DDR untergebracht. Seit 1999 ist das Gebäude Dienstsitz des Bundesfinanzministeriums.
Der Wandfries von Max Lingner befindet sich im nordöstlichen Pfeilergang des Gebäudes. Durch den Wandfries wurde der Nazibau quasi sozialistisch umgewidmet. An der Stelle des Wandfrieses befand sich ursprünglich ein faschistischer "Soldatenfries" von 1941 mit nach Osten ziehenden Wehrmachtssoldaten.
Die größte Figur und Hauptfigur des Frieses befindet sich ganz links am Anfang des Frieses: Dort ist der Funktionär abgebildet, mit Anzug, weißem Hemd, Krawatte und Aktentasche, ganz im Look der alten Nazifunktionäre. Das ist ein früher Hinweis darauf, welchen Weg die DDR nehmen sollte. Der Funktionär war kein gutes Omen für die junge Republik, die letztlich auch am verknöcherten Funktionärsbürokratismus unterging. Der Inhalt des Wandfrieses wurde von Walter Ulbricht und Otto Grotewohl vorgegeben.

© Dr. Christian G. Pätzold, August 2018.

Teil 1 von »Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin« erschien am 2018/03/25 auf kuhlewampe.net. Teil 2 erschien am 2018/06/12.

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2018/08/11

Buchtipp: »Der raue Gesang« von Cornelia Becker

Dr. Christian G. Pätzold

chillida
Eduardo Chillida: Windkamm (Peine del Viento XV, Haizearen Orrazia),
San Sebastián (Donostia). 1977.
Quelle: Wikimedia Commons.

"Als er hochsah, schaukelte eine Möwe über ihm, die Flügel weit ausgebreitet trudelte sie mit dem Wind auf und nieder." So beginnt der Roman »Der raue Gesang« der Berliner Autorin Cornelia Becker, der uns auf eine Reise durch das Baskenland zu den Stationen und Werken des Plastikers Eduardo Chillida mitnimmt. Der baskische Plastiker Eduardo Chillida (1924-2002) ist sicher den meisten bekannt durch seine große Eisenskulptur »Berlin«, die vor dem Kanzleramt in Tiergarten steht. Die dicken rostenden Eisenstangen nähern sich symbolisch einander an, so wie die Teile von Ost-Berlin und West-Berlin nach der Wiedervereinigung, ohne wirklich aufeinander zu treffen. Dadurch hat man schon einen Eindruck, worum es in Chillidas Werk ging. Auch »Abesti Gogora«, der raue Gesang, ist der Name mehrerer Werke von Chillida aus Eichenholz.
Chillida war einer der wichtigen Plastiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, neben Alberto Giacometti, Jean Arp, Henry Moore, Richard Serra, Joseph Beuys und Jeff Koons. Seine Werke sind weitgehend abstrakt und weitgehend unpolitisch. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum er ab den 1950er Jahren anscheinend ziemlich unbehelligt im Baskenland arbeiten konnte. Das faschistische Regime Francos in Spanien fühlte sich nicht durch ihn gestört. Seine kunsthistorische Bedeutung ist aber groß, da er die Plastik in eine neue Dimension der Abstraktion beförderte. Der Weg dahin war weit und nahm seinen Anfang von den klassischen Skulpturen der alten Griechen, die Chillida im Pariser Louvre studiert hatte.
Die Reise, die die Hauptperson des Romans, Philipp, unternimmt, führt von San Sebatián im Baskenland, der Heimatstadt Chillidas, zum Kloster von Aránzazu, nach Zumala, und schließlich nach Sevilla und La Gomera. Es ist eine Reiseroute, die sein inzwischen verstorbener Vater für sie geplant hatte. Der Vater war Kunsthistoriker und hatte, wie die meisten KunsthistorikerInnen, einen Lieblingskünstler, in seinem Fall Eduardo Chillida.
Das Buch bietet nicht nur eine kunsthistorische Reise, die sich an die Idee einer Pilgerfahrt annähert, sondern auch eine gastronomische Reise durch die spanische Küche. Da dürfen Tapas natürlich nicht fehlen: Thunfischkroketten, in Schinken eingerollte Datteln, außerdem die berühmte Fischküche, gegrillte Gambas, frittierter Oktopus, Sardellenpastete, Seehecht mit Tomaten und frischem Ingwer, verschiedene Küchenkräuter, Tortillas, Flan.
Der Roman besteht aus 3 Erzählsträngen, die immer abwechselnd aufpoppen: Erstens der ältere Philipp auf seiner Reise im Baskenland 2011. Zweitens der junge Philipp mit seiner Mutter auf La Gomera 1986. Drittens der Lebenslauf von Eduardo Chillida. Zusätzlich taucht auch noch Berlin als Schauplatz auf. Diese Verflechtung dreier Geschichten macht das Lesen etwas sperrig. Aber das wird durch die gradlinige und klare Sprache des Romans wieder ins Lot gebracht. Insgesamt bietet der Roman viele Anregungen. Die Autorin unternimmt Ansätze zu einem psychologischen Roman, zu einem naturalistischen Roman, zu einem erotischen Roman. Aber letztlich setzt sich der kunsthistorische Roman doch durch.

Cornelia Becker: »Der raue Gesang«. Roman. Hamburg 2017. Edition Contra-Bass.
ISBN 978-3-943446-31-9.

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2018/08/08

Der Baum des Jahres 2018: Die Esskastanie

Dr. Christian G. Pätzold

esskastanie
Die Esskastanie in einer mittelalterlichen Darstellung (Tacuinum).

Um auf die Vielfalt und den Nutzen der Bäume hinzuweisen, wird jedes Jahr ein Baum des Jahres gewählt. In Deutschland ist dafür die Dr. Silvius Wodarz Stiftung zuständig. Die Bäume und der Wald sind in Deutschland durch die industrielle Landwirtschaft und die Klimazerstörung bedroht.
Dieses Jahr ist die Esskastanie oder Edelkastanie Castanea sativa aus der Familie der Buchengewächse (Fagaceae) der Baum des Jahres. Die Esskastanie ist nicht zu verwechseln mit der weiß oder rot blühenden Rosskastanie, die bekannter ist, weil sie häufig als Straßenbaum angepflanzt wird. Die Rosskastanien (Aesculus) gehören zur Familie der Seifenbaumgewächse (Sapindaceae) und sind mit den Esskastanien nicht näher verwandt. Die Früchte der Rosskastanie werden an Zootiere verfüttert und im Herbst gerne von Kindern zum Basteln von Männchen benutzt.
Die Früchte der Esskastanie dagegen heißen auch Maronen und sind eine Delikatesse für den Menschen. In Deutschland sind sie etwas aus der Mode gekommen. Fast nur noch auf einigen Weihnachtsmärkten trifft man auf Maronenverkäufer, die die Maronen in großen Eisenpfannen rösten. In früheren Jahrhunderten dagegen wurden die Maronen in Deutschland noch häufig angebaut und gegessen.
Maronen sind ein guter Lieferant von Kohlenhydraten für die menschliche Ernährung. Aber der Anbau von Getreide ist kostengünstiger, um Kohlenhydrate zu gewinnen. Außerdem hat im 19. Jahrhundert die Seuche des Kastanienrindenkrebses der Esskastanie zugesetzt. Und Deutschland befindet sich im nördlichen Randgebiet der Verbreitung der Esskastanie, denn sie braucht viel Sonne und Wärme, damit die Früchte ausreifen können. Aus diesen Gründen ist der Anbau der Esskastanie in Deutschland sehr zurückgegangen. Wenn es aufgrund des Klimawandels in Deutschland wärmer wird, dann wird es sich wieder lohnen, Esskastanienbäume anzupflanzen.
Heute werden die meisten Maronen in China geerntet, 850.000 Tonnen im Jahr 2006. Danach folgten mit weitem Abstand Südkorea (76.000 Tonnen), die Türkei, Italien, Portugal, Japan, Griechenland (20.000 Tonnen) und weitere Länder. Auch das Holz der Esskastanie wird genutzt, etwa zum Möbelbau. Esskastanien können sehr alt werden. In Sizilien gibt es eine Esskastanie, die über 2.000 Jahre alt ist.
In der Liste von Nutzpflanzen wird die Esskastanie als Samengemüse aufgeführt. Aber die Maronen sind eher eine Beilage zu vielen Gerichten und daher mit Kartoffeln oder Pasta zu vergleichen. Ihre Verwendung in der Küche ist vielfältig. Das Kastanienmehl wird zu Gnocchi, Pasta, Brot, Polenta und Gebäck verarbeitet. In Bio-Supermärkten und in türkischen Supermärkten ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass Maronen im Angebot sind.
Wenn man in der Suchmaschine "maronen rezepte" eingibt, erhält man im Internet zahlreiche leckere Rezepte mit Maronen, die leicht zu kochen sind. Ich habe mir in meinem türkischen Supermarkt mal eine Delikatesse geleistet, bei der die Maronen zu einer Art Konfekt verarbeitet sind. In den Mittelmeerländern werden die Maronen gerne in süßen Glukosesirup eingelegt. Das ist eine leckere Nachspeise.
In Berlin gibt es gegenwärtig nur wenige Esskastanien, vielleicht nur ein Dutzend Exemplare, bspw. im Botanischen Garten. Für Alle, die gerne Bäume umarmen, ist die Esskastanie sehr gut geeignet, denn sie ist sehr schön und sehr nützlich.

© Dr. Christian G. Pätzold, August 2018.

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2018/08/05

art kicksuch

gedanken

© art kicksuch, august 2018.

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2018/08/02

Wie wir alle Optimisten werden
Die einfache und preiswerte 10-Bohnen-Methode

gartenbohnen
Gartenbohnen. Quelle: Wikimedia Commons.

Die Krankenkasse DAK hat in ihrem Magazin fit! 2/2018 eine einfache Methode veröffentlicht, wie man Optimist bleibt und Kraft tankt, auch wenn alles so schrecklich ist:

"Stecken Sie sich morgens 10 trockene Bohnen in die rechte Hosentasche. Immer dann, wenn Ihnen etwas Positives auffällt, Sie etwa Kontakt mit einem freundlichen Menschen haben oder ein Sonnenstrahl Ihre Nase kitzelt, wandert eine Bohne in die linke Tasche. Am Abend leeren Sie die Taschen und zählen Ihre schönen Erlebnisse."

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2018/07/31

vorschau08

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2018/07/28

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
Wilhelm von Humboldt: Jurist, Diplomat, Bildungsreformer, Staatstheoretiker, Sprachforscher
Teil 1

humboldt
Das Humboldt-Schloss in Berlin Tegel, Parkseite.
Das Schloss wurde von dem Architekten Schinkel um 1820 im klassizistischen Stil gestaltet.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2013.

Erst 2017 erschien anlässlich seines 250. Geburtstages in Berlin das sprachwissenschaftliche Gesamtwerk Wilhelm von Humboldts in einer historisch-kritischen Ausgabe. (1) Obwohl Wilhelm von Humboldt die letzten 15 Jahre seines Lebens, er starb mit 67 Jahren 1835 in Berlin Tegel, ausschließlich seinen Sprachstudien widmete, ist sein Verständnis von den Sprachen der Welt bis heute wissenschaftlich nur wenig bis gar nicht erforscht. Wie es dazu kam, werden wir im Folgenden näher untersuchen.
Die Früchte seiner politischen Karriere konnte er nicht mehr wirklich ernten. Zwar stieß er mit der Gründung der Berliner Universität 1809/10, zusammen mit Freiherrn von Stein und Hardenberg, die Bildungsreform im preußischen Staat an, konnte aber nicht weiter wirken, da er nach 16 Monaten aus der Bildungspolitik wieder ausschied. Den von ihm anvisierten Ministerposten bekam er nicht, zu viele Intrigen seiner Rivalen schmälerten seinen Eifer und er zog sich zurück auf den Posten eines preußischen Gesandten in Wien. Auch seine Staatsreformen scheiterten angesichts der restaurativen Verhältnisse.
Dennoch hinterließ Humboldt seine Spuren, denn er reformierte die Idee von der Universität an sich. "Bislang galten die preußischen Lehranstalten schlicht als Berufsausbildungsstätten... Wilhelm entkoppelt die Hochschule jetzt von diesem vorgegebenen Karriereweg. Sein Ziel ist es, in der Universität Forschung und Lehre zu vereinen." (2) Revolutionär im Ansatz prägen Humboldts Ideen bis heute die Universitätspolitik, ohne dass uns das oftmals bewusst ist.
Aus Wien kehrte er im Juli 1819 in ein reaktionäres Berlin zurück, das nach den Karlsbader Beschlüssen vom August 1819 mit Zensur, Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit usw. eine für einen "aufklärerisch denkenden Menschen furchterregende Ordnung" (3) darstellte. Hardenberg hat sich den reaktionären Beschlüssen nicht entgegen gestellt und Humboldts Vision einer konstitutionellen Monarchie mit klar liberalen Zügen als Staatsform ließ sich nicht verwirklichen. Ende 1819 wurde er aus dem Staatsdienst entlassen. Im Frühjahr 1820 zog er sich in sein Tegeler Jagdschlösschen zurück und nahm von da an mit der Hilfe Karl Friedrich Schinkels und Christian Daniel Rauchs dessen Umbau im klassizistischen Stil vor. Nun konnte er endlich mit den Sprachstudien beginnen, für die er bisher nie die Zeit hatte.

In Teil 2 werde ich mich mit Humboldts Studien zur Sprache näher befassen.

Anmerkungen:
1) Wilhelm von Humboldts "Schriften zur Sprachwissenschaft". Digitale Briefedition im Rahmen eines Projektes der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft), Berlin 2017. Dieser digital aufbereitete Briefwechsel enthält Wilhelms sprachwissenschaftliche Korrespondenz, denn er forschte zu einer Vielzahl von Sprachen der Welt in der für ihn typischen Vorgehensweise der Verknüpfung von Theorie und Empirie, wobei die Schwerpunkte seiner Arbeit das Baskische, die amerikanischen Sprachen, das Griechische, Sanskrit, das Altägyptische, das Chinesische sowie die austronesischen Sprachen mit v.a. der Kawi-Sprache auf Alt-Java waren.
2) Peter Korneffel: Die Humboldts in Berlin. Zwei Brüder erfinden die Gelehrtenrepublik. Berlin 2017, S.77. (Elsengold Verlag).
3) Ebenda, S.89.

© Dr. Karin Krautschick, Juli 2018.

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2018/07/26

Verjüngung in der KoWa

Karl-Martin Hölzer/Carlos

Drei junge sozial-kompetente Aktivistinnen haben sich entschlossen, bei uns Probezeit zu machen, und gehen mit Volldampf ans Werk. Mit ihrem Dazukommen erweitern wir das Spektrum unserer politischen Aktivitäten um Klima- und Umweltschutz. Ein weiterer Interessierter der gleichen Altersgruppe aus dem gleichen politischen Kreis hat auch bereits sein Interesse bekundet, ebenfalls in Probezeit zu gehen.
Kaum angekommen, haben sie unsere Gartenbeete für die anstehenden Saaten und Pflanzungen bestens vorbereitet. Darüber freuen wir uns besonders, schon alleine deshalb, weil wir zurzeit für diesen Zeitraum niemanden gehabt hätten, der oder die dafür frei gewesen wäre. Auch der Jungpflanzenverkauf der "Bunten Beete" läuft auf vollen Touren. Und wie die Jungpflanzen sprießen auch die Ideen und keimen neue Aktivitäten. So sind auch Bienen im Anflug, die ein Probezeitler im Garten ansiedeln möchte. Ein weiterer Imker mit langer Erfahrung ist ebenso im Annäherungsprozess und verhandelt mit uns, 2 seiner Bienenvölker bei uns anzusiedeln und sich so mit unserer Lebensweise langsam vertraut zu machen und uns an seinen Erfahrungen mit den Bienen teilhaben zu lassen. Gleichzeitig hat Jan unser Gelände um mehrere Vogelnistkästen und Insektenhotels bereichert.
Auch im Haus geht der Ausbau unseres Badezimmers für Seminargäste voran und das trotz aller Herausforderungen, die "do it yourself" mit sich bringt. Zusammen mit unseren neu Dazugekommenen, die schon kurz nach ihrer Ankunft Einstieg in die regionale Berufswelt gefunden haben, zeichnen sich neue Chancen ab, eigene Betriebe und berufliche Perspektiven hier voranzutreiben und wieder zu beleben. Für unser weiteres Wachstum ist das von großer Bedeutung. Wir freuen uns über diese Entwicklung und sind gespannt, was dieses Jahr so alles passiert in der KoWa.

© Karl-Martin Hölzer/Carlos, Juli 2018.
Dieser Artikel erschien zuerst am 10. Mai 2018 auf www.kommune-kowa.de, das ist die Kommune Waltershausen in Thüringen.

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2018/07/24

Gedanken zu Prof. Dr. Elmar Altvater

Dr. Christian G. Pätzold

altvater
Elmar Altvater. Quelle: Wikimedia Commons.

Meine alte Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Freien Universität Berlin (FUB) liegt noch immer in der Garystraße in Dahlem, nahe beim U-Bahnhof Thielplatz, der seit neuestem U-Bahnhof Freie Universität heißt. Dort reihen sich Universitätsbibliothek, Henry-Ford-Bau mit Audimax und die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, an der ich studiert habe, aneinander. Die Anlage des Campus ist sehr aufgelockert und im amerikanischen Stil, denn die FUB wurde mit Hilfe der US-Amerikaner in den 1950er Jahren erbaut. Zwischen den Gebäuden befindet sich Rasen, auf dem man sich im Frühling und Sommer erholen kann. West-Berlin musste auch eine Universität bekommen, nachdem die alte Berliner Universität im sowjetischen Sektor lag. Es war die Zeit des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz. Wenn der Feind eine sozialistische Universität hatte, dann baute man eben eine kapitalistische Universität im amerikanischen Sektor von Berlin.
Meine alte Fakultät steht noch. Aber was für ein Unterschied zu damals. Die WiWi-Fakultät heißt inzwischen neudeutsch »School of Business« und ist eine Heuschreckenfarm. Zu meiner Zeit in den 1970er Jahren war das anders. Ich war ein begeisterter Student, neugierig und wollte alles wissen. Und ich konnte viel erfahren, denn aufgrund der besonderen historischen Situation, der Studentenbewegung von 1968 an der FUB, gab es am Fachbereich alles: Von kapitalistisch über keynesianisch bis marxistisch und alles dazwischen. Mir hat es so gut gefallen, dass ich dort auch promoviert habe. So wurde ich zum Dr. rer. pol. und zum Alumnus der Freien Universität Berlin.
Ich habe aber damals nicht nur bei den Ökonomen zugehört, sondern bin auch an andere Fachbereiche gegangen. Besonders die Politologen am Otto-Suhr-Institut (OSI) in der Ihnestraße um die Ecke haben mich interessiert. Dort lehrte auch der berühmte Politökonom Professor Dr. Elmar Altvater, der 1938 in Kamen/Nordrhein-Westfalen geboren wurde. Von seinem Geburtsjahr her war er also ein Mitglied der 68er-Generation. Er war 1971 an die FUB berufen worden, um die Studenten nach 68 zu beruhigen und wieder zum Studieren zu bringen. Ich war 68 an der FU unterwegs und weiß was los war.
Es muss 1975 gewesen sein, als ich ein Referat in einer Veranstaltung von Prof. Altvater hielt. Es ging um den Wirtschaftskreislauf. Ich hatte ein schönes Schaubild mit den Güterströmen und Geldströmen zwischen den Sektoren der nationalen Volkswirtschaft kopiert und erläutert und war der Meinung, dass ich doch etwas geleistet hätte. Aber erstens war der Wirtschaftskreislauf schon 1758 von François Quesnay erfunden worden. Und zweitens hatte ich vergessen zu erwähnen, dass das ganze Geld letztlich in die Taschen der Kapitalisten fließt und dass die Arbeiter kaum etwas vom Wirtschaftskreislauf abbekommen. Später ist mir klar geworden, dass ich die Sozialkritik vergessen hatte. Ich habe von Prof. Altvater gelernt, dass die kritische Sicht das Wichtigste ist. Vergiss niemals die Sozialkritik!
Man wird sich vielleicht fragen, wie ein marxistischer Ökonom im Jahr 1971 ein deutscher Beamter und Professor werden konnte. Das lag an der Studentenbewegung, an 1968 und am Kalten Krieg. Die Studentenbewegung in der Frontstadt West-Berlin hatte 1968 zum Zusammenbruch der Freien Universität Berlin geführt. Der Senat von West-Berlin versuchte mit aller Macht, die Universität wiederzubeleben. Denn ein Scheitern der Universität wäre für die Kommunisten in Ost-Berlin ein großer Triumph gewesen. Daher holte man ein paar wenige marxistische Professoren an die FUB, die die Studenten wieder zum Studieren bringen sollten. So kam es in dieser einmaligen geschichtlichen Situation dazu, dass marxistische Ökonomen zu deutschen Beamten ernannt wurden. Das war ein geschickter Schachzug der Bürokraten in der westberliner Wissenschaftsverwaltung. Man schlägt den Feind, indem man ihm etwas entgegen kommt. Danach ist kein linker marxistischer Ökonom mehr an einer bundesdeutschen Universität zum Professor ernannt worden. Der Staat wollte keine marxistischen Ökonomen und die Marxisten wollten wahrscheinlich auch keine deutschen Beamten werden. Lang lebe der Neoliberalismus!
Aber warum gab es überhaupt Ökonomen am Fachbereich Politikwissenschaft? Schließlich gab es ja auch einen Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, an dem die Studenten Ökonomie studieren konnten. Das hatte wohl mit der ursprünglichen Philosophie des OSI zu tun. Man war der Meinung, dass die Politikwissenschaftler und vielleicht zukünftigen Politiker auch etwas Ahnung von Wirtschaft haben müssten. Daher wollte man logischerweise auch Politökonomen am Fachbereich Politik haben. Und so kam Elmar Altvater ans OSI.
Im Grunde hängen Politik und Ökonomie als Wissensgebiete sehr eng zusammen. Eine ökonomische Analyse funktioniert nicht, wenn nicht auch die politischen Aspekte berücksichtigt werden. Der Staat setzt und verändert ständig die Rahmenbedingungen für das Wirtschaften. Umgekehrt funktioniert auch eine politische Analyse nicht, wenn die ökonomischen Gegebenheiten vernachlässigt werden. Denn hinter politischen Entscheidungen stecken oft wirtschaftliche Motive. Daher ist es notwendig, dass Ökonomen und Politologen zusammenarbeiten, wenn möglich als Politökonomen in einer Person.
Prof. Altvaters politischer Lebensweg liest sich wie ein Musterbeispiel der westdeutschen Linken. 1968 war er im SDS aktiv. 1970 gründete er mit anderen die berühmte Zeitschrift »Probleme des Klassenkampfs - Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik«, später nur noch PROKLA abgekürzt. Man wusste nicht mehr so richtig, für welche Klasse man eigentlich kämpfen sollte. Die westdeutsche Arbeiterklasse war inzwischen zum Kapitalismus übergelaufen und wählte kapitalistische Parteien. An die HiMidAkl (Historische Mission der Arbeiterklasse) glaubte man nicht mehr wirklich.
Die 1970er Jahre waren das Jahrzehnt der Anti-Atomkraft-Bewegung und so war es logisch, dass Prof. Altvater 1980 zu den Gründungsmitgliedern der Grünen gehörte, als dort noch zahlreiche Ökosozialisten versammelt waren. 2007 wurde er dann Mitglied der Partei der Linken, reichlich spät. Außerdem arbeitete er im wissenschaftlichen Beirat von Attac.
Prof. Altvater schrieb viele Bücher, er war ein Vielschreiber, aber durchaus mit Substanz. Zu erwähnen ist sein dickes Buch: »Grenzen der Globalisierung«, Münster 1997, zusammen mit Birgit Mahnkopf verfasst, das wahrscheinlich als sein Hauptwerk gedacht war. Ich habe schon Probleme mit dem Titel des Buches, der offensichtlich an das berühmte Buch »Die Grenzen des Wachstums« von 1972 angelehnt ist. Der Begriff "Globalisierung" bezeichnet eine Entwicklung, in der der Planet Erde immer mehr von der kapitalistischen Wirtschaft durchdrungen wird. Für mich ist diese Globalisierung inzwischen abgeschlossen, denn die Erde ist fast bis zur letzten Ritze kapitalistisch durchdrungen. Es macht also keinen Sinn, von "Grenzen der Globalisierung" zu reden. Der Buchtitel sollte eher heißen "Alternativen nach der Globalisierung" oder "Gesellschaftliche Alternativen in der Globalität". Inzwischen sind immerhin über 20 Jahre digital-kapitalistische Expansion in alle Richtungen seit Erscheinen des Buches vergangen. Das Buch wirft viele Fragezeichen auf. Aber im Ganzen zeigt das Buch doch die Richtung, in der die wichtigen und verwickelten Probleme der Menschheit angegangen werden müssen.
Elmar Altvater war ein recht orthodoxer Marxist, der aber den Umweltschutz im Blick hatte, wie schon Karl Marx und Friedrich Engels, denen es nicht nur um die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, sondern auch um die Ausbeutung der Natur durch den Menschen gegangen war. Kapitalistische Marktwirtschaft war für Prof. Altvater gleichbedeutend mit grenzenloser Plünderung des Planeten Erde. Dass dieses Modell der Wirtschaft nicht mehr lange funktionieren kann, war für ihn offensichtlich, denn die Erde ist nun mal ein begrenzter Platz. Prof. Altvater hatte den globalen Blick, er hatte die weltweiten Verflechtungen auf dem Schirm. Er war kein dogmatischer Schmalspurdenker, sondern hat sich auch mit anderen Theorien wie bspw. dem Keynesianismus auseinandergesetzt. Ich habe Prof. Altvater besonders als ernst blickenden Menschen in Erinnerung, der immer auf Sachlichkeit und auf Sozialkritik aus war.
Prof. Altvater hatte am OSI sehr viele Studenten, die seine Veranstaltungen besuchten, mehr als andere Professoren. Wenn er so etwas wie die Schule des Altvaterismus begründet hat, dann mit seiner Fähigkeit, politische Ökonomie und politische Ökologie global zusammen zu denken. Dabei war er nicht ein reiner Schreibtischtheoretiker, sondern er ging auch in andere Länder und Kontinente, wo er an Universitäten als Gast lehrte und diskutierte. Er hat sich seine Weltanschauung durch das Anschauen der Welt gebildet, was ich ein gutes Verfahren finde.
Wenn er auch bei den Studenten beliebt war, so blieb er doch in der weiteren Öffentlichkeit ziemlich unbekannt. Warum Elmar Altvater nicht so populär wurde, lag wahrscheinlich vor allem daran, dass er sich oft ziemlich staubtrocken und in ökonomischem Fachchinesisch ausgedrückt hat. Da konnten viele gedanklich nicht mehr folgen, es sei denn sie waren auch marxistisch ausgebildete Ökonomen.
Elmar Altvater ist am 1. Mai 2018 in Berlin gestorben.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2018.

Seht bitte auch den Artikel über Elmar Altvater von Georg Lutz, der am 2018/06/02 auf kuhlewampe.net erschienen ist.

Nachbemerkung von Dr. Pätzold vom 1. August 2018:
Dr. Hans-Albert Wulf hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es noch mindestens einen weiteren marxistischen Professor für Nationalökonomie in West-Deutschland gab, der nach 1971 eine Professorenstelle erhielt: Prof. Dr. Jörg Huffschmid (Köln 1940 - Bremen 2009), der 1973 Professor für Politische Ökonomie an der Universität Bremen wurde. Prof. Huffschmid war Mitglied der DKP. 1975 war er Gründungsmitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memorandum-Gruppe), zusammen mit Prof. Herbert Schui und Prof. Rudolf Hickel.

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2018/07/21

Die Stiefelputzmaschine im Klassenkampf

Dr. Hans-Albert Wulf, Berlin

bebel
August Bebel.

In einer 1875 erschienenen polemischen Schrift gegen die deutschen Sozialisten geht der stockkonservative Historiker Heinrich von Treitschke hart mit der Vision einer klassenlosen Gesellschaft ins Gericht. Diese sei ein schlichter Unfug und allein schon deshalb nicht möglich, weil es auch künftig - trotz aller Vervollkommnung des Maschinenwesens - niedere Arbeiten, insbesondere im Bereich der Dienstleistungen, geben werde. Eine Kultur ohne Dienstboten, so Treitschkes Fazit, sei undenkbar. (vgl. Heinrich von Treitschke: Der Sozialismus und seine Gönner. Berlin 1875, S. 17).
Dass derartige Redensarten von der Arbeiterbewegung nicht unwidersprochen hingenommen werden konnten, versteht sich von selbst. Der Vorsitzende der damaligen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, August Bebel, griff Treitschkes These denn auch prompt auf und setzte sich mit ihr in seinem erstmals 1879 erschienenen populären Werk »Die Frau und der Sozialismus« auseinander. Sowie im sozialistischen Zukunftsstaat die Lohnsklaverei beseitigt werde, so werde es auch keine Dienstboten mehr geben. Sofern auch künftig für bestimmte niedere Tätigkeiten keine mechanischen Hilfsmittel zur Verfügung stehen sollten, so solle jeder seine Stiefel gefälligst selber putzen (August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. Zürich-Hottingen (i.e. Leipzig) 1879, S. 155f. Frankfurt am Main 1977, S. 513f).
Mit dieser Bemerkung Bebels war die »Stiefelputzfrage« geboren, die als Kuriosum in die ideologische Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterbewegung und den bürgerlichen Parteien bzw. der Unternehmerpresse eingehen sollte.
Für Eugen Richter, den Anführer der Deutsch Freisinnigen Partei, war Bebels Entwurf eines sozialistischen Zukunftsstaates willkommener Anlass für eine Satire, in der er sich weidlich über die "sozialdemokratischen Zukunftsbilder" lustig macht. Richter malt hier u. a. eine Geschichte aus, in welcher der durch seine harte und verantwortungsvolle politische Tagesarbeit überlastete sozialdemokratische Reichskanzler schließlich eine Denkschrift verfasst, in der er von seinen Genossen verlangt, man solle ihm einen Diener für die Reinigung seiner Kleidung und zum Stiefelputzen zubilligen. Andernfalls könnten die wichtigen Staatsgeschäfte nicht mehr ordentlich erledigt werden, da ihm sehr viel Zeit mit der Erledigung der täglichen Obliegenheiten verloren gehe. Dieses Ansinnen des Reichskanzlers wird von seinen sozialdemokratischen Kabinettsmitgliedern scharf zurückgewiesen, weil die Folgen einer solchen Verletzung der sozialen Gleichheit unabsehbar sein würden. Es kommt daraufhin, so in Richters satirischer Vision, zu einer Kabinettskrise, in deren Verlauf der sozialistische Reichskanzler zurücktritt (Eugen Richter: Sozialdemokratische Zukunftsbilder. Frei nach Bebel. Berlin 1891, S. 19ff.).
Diese Persiflage Richters griff nun August Bebel seinerseits im Zusammenhang mit der 1893 im Reichstag geführten »Zukunftsstaatsdebatte« auf und konterte wie folgt:
"Herr Richter ist in seiner kleinlichen Auffassung so verrannt, dass er nicht einmal auf den Gedanken kommt, dass es auch möglich wäre, eine Stiefelputzmaschine zu erfinden und dass damit die geschilderte Gefahr für den sozialistischen Reichskanzler nicht existiert. (Große Heiterkeit) Meine Herren, Sie lachen darüber und amüsieren sich! Nun will ich Ihnen etwas sagen, über das Sie auch lachen mögen. Kaum war ein halbes Jahr vergangen, seitdem die Richtersche Broschüre erschienen war, da kam aus Nürnberg die Nachricht, dass ein dortiger Industrieller eine Stiefelwichsmaschine erfunden hat. Es wurde sogar behauptet, es wäre ein Parteigenosse des Herrn Richter. (Heiterkeit) Ob das nun wahr ist oder nicht, ist gleich; Tatsache aber ist, dass in Amerika schon heute Stiefelputzmaschinen in Gebrauch sind, und wenn die Herren dieses Jahr nach Chicago zur Weltausstellung fahren, können Sie sich mit Hilfe solcher Maschinen Ihr Fußzeug putzen lassen." (Bebel und sein "Zukunftsstaat". Vor dem Reichstag nach den stenografischen Berichten der Verhandlungen des Reichstags vom Januar und Februar 1893. Köln 1893, S. 115).
Wenn Bebel geglaubt hatte, mit der technischen Lösung der »Stiefelwichsfrage« seinem Widerpart Richter den Wind aus den Segeln genommen zu haben, so hatte er sich geirrt:
"Der Herr Abgeordnete Bebel sagt, dass infolge meiner Anregung eine Stiefelwichsmaschine erfunden sei. Also bemerken Sie wohl: Die Stiefelwichsmaschine ist in der heutigen Gesellschaftsordnung erfunden - warum brauchen wir demnach auf den sozialdemokratischen Staat zu warten .Es ist ja ganz unstreitig, dass mit der Zunahme der Maschinen eine Menge der persönlichen Dienstleistungen sich von selbst vermindert. Dazu braucht man gar nicht Ihren sozialdemokratischen Staat." (Richter a.a.O. S.147).
Diesen Einwand, dass infolge der bereits im Kapitalismus sich vollziehenden technischen Fortschritte sich der Sozialismus letztlich erübrige, konnte Bebel selbstverständlich nicht auf sich beruhen lassen. In einer Neuauflage seines Buches »Die Frau und der Sozialismus« dreht er kurzerhand den Spieß um. Infolge der Erfindung der Stiefelputzmaschine, "die sogar in der bürgerlichen Gesellschaft gemacht wurde" (August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. Stuttgart 1919. 157-161. Tsd, S. 473f. Frankfurt am Main 1977, S.514), sei der Haupteinwand von Treitschke und Richter, dass es in jeder Gesellschaft Dienstboten geben müsse, gründlich über den Haufen geworfen worden.
Handelt es sich bei dieser anekdotisch anmutenden Kontroverse auch um einen etwas abseitigen Fall, der außerhalb des für die Arbeiterbewegung zentralen Bereichs der industriellen Produktion liegt, so gibt sie doch beredte Auskunft über die wichtige Bedeutung, die von der Arbeiterbewegung der technischen Entwicklung für die Realisierung ihrer sozialistischen Zielvorstellungen beigemessen wurde.

Der Artikel ist dem Buch entnommen: Hans-Albert Wulf: "Maschinenstürmer sind wir keine". Technischer Fortschritt und sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Frankfurt am Main/New York (Campus) 1988.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Juli 2018.

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2018/07/18

Zum 100. Geburtstag von Nelson Mandela
Der lange Weg zur Freiheit

Dr. Christian G. Pätzold

mandela

"Bildung ist die stärkste Waffe, um die Welt zu verändern." Gesehen an der École élémentaire publique Finkwiller, 1 Rue de la Question in Strasbourg. Gemalt von dem französischen Graffiti-Künstler DAN 23. Foto von © Ferry van Dongen, August 2017.

Nelson Rolihlahla Mandela kam am 18. Juli 1918 in der Transkei zur Welt. Der Friedensnobelpreisträger von 1993 saß 27 Jahre im Gefängnis, die meiste Zeit davon auf der Gefängnisinsel Robben Island im Atlantik. Er hatte die Häftlingsnummer 46664. Er war der 466. Gefangene, der 1964 inhaftiert wurde. 1994 wurde Mandela schließlich der erste schwarze Präsident Südafrikas.
Das System der Apartheid begann um 1950 mit dem Population Registration Act, als die Afrikaner bestimmten Townships und Homelands zugewiesen wurden, um sie vom Wahlrecht auszuschließen. In den weißen Gebieten hatten die Afrikaner nur den Status von geduldeten Arbeitskräften. Sie wurden als billige Arbeitskräfte benötigt, aber demokratische Rechte sollten sie nicht haben. Aber nicht nur das. Sie sollten auch die Sprache der Diktatoren, Afrikaans, in der Schule sprechen. Das führte 1976 zum Aufstand in Soweto.
Die Politiker der Apartheid versuchten inzwischen, möglichst viele weiße Immigranten aus Europa nach Südafrika zu locken, um ihre Herrschaftsposition zu stärken. Aber diese Strategie war nicht sehr erfolgreich, denn die Westeuropäer fühlten sich als Europäer und wollten nicht ihre Heimat verlassen. Die Demokratie konnten sie mit dieser Strategie letztlich nicht aushebeln. Das Problem begann schon viel früher mit der Landfrage. Mandela schreibt an einer Stelle:

"Der weiße Mann war hungrig und gierig auf Land, und der schwarze Mann teilte das Land mit ihm, so wie sie miteinander auch die Luft und das Wasser teilten; Land war nichts, das Menschen besitzen sollten. Aber der weiße Mann nahm das Land, wie man einem anderen Mann das Pferd nimmt."

Am 11. Februar 1990 konnte Nelson Mandela sein Gefängnis verlassen. Damit endete sein langer Weg zur Freiheit. Nelson Mandela ist am 5. Dezember 2013 in Johannesburg/Südafrika im Alter von 95 Jahren gestorben. Sein Kampf für Demokratie, Freiheit und für die Rechte der afrikanischen Menschen wurde international gewürdigt. Besonders gewundert haben sich viele, dass er nach 27 Jahren im Gefängnis nicht verbittert und hasserfüllt war.
Zu Beginn des Jahres 2014 erschien der Film »Mandela - Der lange Weg zur Freiheit« des Regisseurs Justin Chadwick in den Kinos. Darin wird die Autobiographie von Mandela in 2 ½ Stunden beeindruckend nacherzählt.

Literatur: Nelson Mandela, »Der lange Weg zur Freiheit. Autobiographie«, Frankfurt am Main 1994. S. Fischer

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2018.

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2018/07/15

Charles Rennie Mackintosh in Glasgow

Ferry van Dongen

mackintosh
Armlehnstühle aus der Glasgow School of Art.
Fotografiert von © Ferry van Dongen, April 2018.

Anfang April entspricht das Wetter in Glasgow den Erwartungen: grauer Himmel, regnerisch, eine milde Kühle. Glasgow ist eine alte Industriestadt, die schon bessere Tage gesehen hat. Anfang des letzten Jahrhunderts war es die sechstgrößte Stadt in Europa, geprägt von Schiffbau, Eisenhütten und Kohlebergwerken. Trotzdem hat Glasgow einen gewissen Charme, zu dem auch der Glasgow Style beigetragen hat. Der bekannteste Vertreter dieser modernen Designschule war Charles Rennie Mackintosh. Er wurde im Juni 1868 in Glasgow geboren und starb am 10. Dezember 1928 in London. In diesem Jahr wird sein 150. Geburtstag mit zahlreichen Veranstaltungen gefeiert. In Glasgow ist man noch nicht ganz mit den Renovierungen einiger Häuser durch.
Während seines Studiums an der Glasgow School of Art freundete sich Mackintosh mit Herbert MacNair an. Beide arbeiteten auch im Architekturbüro Honeyman & Keppie. Und beide lernten die Schwestern Frances und Margaret Macdonald kennen, mit denen sie eine Arbeitsgemeinschaft bildeten, The Four genannt. Architektur, Kunsthandwerk und Malerei, die Gruppe war in allen Bereichen kreativ.
Die Glasgow School of Art, von Mackintosh ab 1896 entworfen und erbaut, wird zurzeit noch renoviert. Es werden Führungen im neuen Gebäudeteil angeboten. An diesem Sonntagmorgen nehmen neben mir noch zwei Architektinnen aus New York teil. In einem Ausstellungsraum sind einige von Mackintosh entworfene Möbel aus der Schule und Bilder von seiner Ehefrau Margaret Macdonald Mackintosh ausgestellt. Die Einflüsse des Jugendstils und der Arts-and-Crafts-Bewegung sind deutlich zu erkennen. Die dekorative Gestaltung und handwerkliche Anfertigung weist darauf hin. Funktionalität stand schon im Vordergrund, zugleich sollte es aber auch schön sein. Mackintosh entwarf unter anderem den Hochlehnstuhl, der noch heute hochaktuell ist.
In Glasgow kann man sich Teehäuser wie die Willow Tea Rooms (werden ebenfalls gerade restauriert) in der Argyle Street anschauen, deren Inneneinrichtung, von den Möbeln über die Wandgestaltung bis zu den Tassen, von Mackintosh entworfen wurde. Und es sind noch weitere Gebäude zu sehen.
In der Kelvingrove Art Gallery and Museum gibt es zum Jubiläumsjahr eine Ausstellung: Making of the Glasgow Style (30. März bis 14. August 2018). Auf meinen Weg dorthin passiere ich den Kelvin Way, auf dem gerade ein Umzug stattfindet. Die schottische Gemeinschaft der Sikhs feiert Vaisakhi! Mit ihrer orangen Kleidung bieten sie ein fröhliches Bild in der etwas tristen, grauen Umgebung. Die Ausstellung ist kostenpflichtig, aber das Museum und die Kunstgalerie verlangen keinen Eintritt. Viele Familien nutzen die Gelegenheit, sich hier mit den verschiedenen Epochen Schottlands zu beschäftigen. Es herrscht ein freundlicher Trubel.
Anschließend gehe ich den Kelvin Way weiter aufwärts zum Campus der University of Glasgow. Neben der Universitätsbibliothek findet sich das Mackintosh House und die Hunterian Art Gallery. Man hat sein selbst entworfenes Wohnhaus etwas versetzt zu diesem Ort. Dieses Haus, wie auch andere Gebäude, weisen auf den Einfluss der traditionellen Bauweise des schottischen Landadels hin (Scottish Baronial). Das Haus mit den verschiedenen Zimmern gibt einen guten Eindruck seines Schaffens. In der Gesamtkomposition kann man die Moderne am besten erkennen. Auf dem Kaminsims stehen japanische Holzschnittdrucke. Auch von der japanische Kunst und Kultur war Mackintosh beeindruckt. Charles Rennie Mackintosh und seine Freunde haben in dieser Stadt deutliche Spuren hinterlassen.

Postscriptum: Dieser Beitrag hat eine traurige Aktualität. Die Glasgow School of Art stand am Abend des 15. Juni 2018 wieder in Flammen. Die Restaurierungsarbeiten vom letzten Brand in 2014 waren noch nicht abgeschlossen. Laut Statement der Kunsthochschule vom 17. Juni 2018 konzentriert man sich auf die Aufrechthaltung des Studienbetriebs. Die Untersuchung der Brandursachen liegt noch bei den Scottish Fire and Rescue Services.

© Ferry van Dongen, Juli 2018.

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2018/07/14

Ellas Garten blüht

ellasgarten
Fotografiert von © Ella Gondek, Juli 2018.

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2018/07/13

Die Faszination der Seerosenblüte
Zur Eröffnung des Victoria-Hauses in Berlin

Dr. Christian G. Pätzold

victoria
Blätter der Riesenseerose Victoria im Botanischen Garten Berlin Dahlem.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2018.

Zu Seerosen fallen einem meist die Jugendstilfliesen oder die impressionistischen Seerosenteichbilder von Claude Monet um 1900 ein, weil man sie in natura so selten zu sehen bekommt. Von Monets Bildern wanderten die Seerosen als Ornament auf Servietten, Vasen, Kleider und so weiter. Ein Seerosenbild von Monet kostet heute viele Millionen Euro. Das kann man jetzt in Berlin billiger haben, für ein gerade noch akzeptables Eintrittsgeld im Botanischen Garten.
Nach vielen Jahren ist wieder das Haus der Victoria im Botanischen Garten der Freien Universität Berlin geöffnet. Die Renovierung des über 100 Jahre alten Gewächshauses mit Wasserbecken war aufwändig. Dort sind jetzt die größten Seerosen der Welt zu sehen: Victoria amazonica vom Amazonas und Orinoco und Victoria cruziana vom Paraná-Flussgebiet, die früher Victoria regia genannt wurden. Sie gehören zur relativ kleinen Familie der Seerosengewächse (Nymphaeaceae). Außerdem wachsen dort Nymphaea gigantea aus Australien und weitere kleinere Seerosenarten.
Die Blätter von Victoria haben bis zu 2 Meter Durchmesser und können bis zu 50 Kilogramm tragen, dank raffinierter Luftpolster an ihrer Unterseite. Die Blätter haben hochgewölbte Seiten, damit sie nicht von anderen Wasserpflanzen überwuchert werden können. An den Seiten der Blätter befinden sich zwei Einkerbungen, damit Regenwasser ablaufen kann. Insgesamt sind die Blätter eine sehr raffinierte Konstruktion. Ihre Blüte, die 30 Zentimeter groß ist, blüht leider nur nachts, und zwar an zwei aufeinander folgenden Nächten. In der ersten Nacht blüht sie weiß, in der zweiten rosarot.
Victoria wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Süd-Amerika entdeckt. Sie ist nach der englischen Königin Victoria (1819-1901) benannt. Das erste Mal blühte Victoria 1852 in Berlin und seitdem hält die Faszination an. Viele Besucher des Gartens kommen extra wegen der Victoria.
Die Renovierung des Victoria-Hauses hat 12 Jahre gedauert und soll 10 Millionen Euro gekostet haben. 10 Millionen Euro für eine Seerosenblüte, die nur nachts blüht, wenn keine Besucher da sind? Da werden sich vielleicht einige fragen, ob das nicht etwas übertrieben ist. Vielleicht hätte man noch ein paar Jahre warten sollen. Dann sind die Temperaturen so angestiegen, dass die Victoria auch ohne Gewächshaus in Berlin wächst. Aber in der Zwischenzeit werden immerhin durch die neue Wärmeisolierung Heizkosten gespart.
Mir gefällt das Victoria-Haus trotz der Kosten gut. Es sind ja auch noch zahlreiche andere Seerosenarten, Wasserpflanzen und Sumpfpflanzen ausgestellt, darunter Lotus. Man bekommt ein Gefühl der Tropen, auch wenn man sich eine Reise in ferne Kontinente nicht leisten kann. Denn im Victoria-Haus ist es über 30 Grad warm, bei einer Luftfeuchtigkeit von 85 Prozent. Der ganze Aufwand dient der botanischen Forschung und Bildung und ist daher sehr schön.
Unter dem Victoria-Haus befindet sich der Eingangsbereich zu den Gewächshäusern. Dort sind einige Aquarien und Paludarien vorhanden, die weitere kleine Wasserpflanzen zeigen. Wahrscheinlich wegen Geldmangels und Personalmangels sind aber noch nicht alle Aquarien in Betrieb. Wer mal ein Aquarium hatte, weiß, wie viel Arbeit schon ein einziges Aquarium benötigt. Überhaupt hat der Senat von Berlin in den letzten 30 Jahren hier an der falschen Stelle gespart. Der Botanische Garten ist sehr wichtig für die wissenschaftliche Forschung und für die Umweltbildung. Dass der Garten gezwungen wurde, alberne Showveranstaltungen durchzuführen wie Cocktailschlürfen unter Palmen in warmen Sommernächten, ist einfach nur traurig.
Welchen Stellenwert hat die Bewahrung der Natur in Deutschland und in einer Stadt wie Berlin? Wenn man sich ansieht, wie der Botanische Garten von der Politik behandelt wird, dann nur einen sehr kleinen. Bäume werden in Berlin massenweise abgeholzt. Wahrscheinlich ist dem Staat die Baumpflege zu teuer. Die industrielle Landwirtschaft verseucht die Böden und das Grundwasser mit Gülle. Die Honigbienen werden durch Gifte vernichtet. In Berlin werden haufenweise Kleingärten zerstört, um Luxuswohnungen für internationale Kapitalanleger zu bauen. Damit sinkt die Lebensqualität immer mehr.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2018.

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2018/07/10

Der Sommer-Eismann

Dr. Christian G. Pätzold

eismann

Auslieferung von Eisstangen, Berlin zirka 1934. Dieses Bild stammt zwar aus den 1930er Jahren, aber ungefähr so hat es noch in den 1950er Jahren ausgesehen. Bundesarchiv, Bild 183-2004-0701-504. Wikimedia Commons.

Damals in den 1950er Jahren in Friedenau waren die Sommer lang und heiß. Es gab nur relativ wenige Bombengrundstücke, so dass der Zweite Weltkrieg für uns Kinder keine große Rolle spielte. Nur einmal habe ich mir beim Spielen auf einer Ruine in der Rheingaustraße eine Glasscherbe in die rechte Hand geschlagen. Die Sektorengrenze zwischen West-Berlin und Ost-Berlin war ziemlich weit weg. So war Friedenau mehr eine kaiserzeitliche Kleinstadtidylle, mit Bäcker und Konditor, Fleischerladen und Blumenladen. Ja, sogar Blumenläden gab es! Autos dagegen gab es noch kaum. Wir Kinder konnten auf der Wilhelmshöher Straße Hopse spielen, so wenige Autos kamen vorbei.
In unserer Küche hatten wir einen Eisschrank. Das war ein Eisschrank ohne Elektrokabel, denn einen elektrischen Eisschrank hatten wir damals noch nicht. Eigentlich war der Eisschrank auch mehr eine Kiste, etwa 1 Meter hoch, mit einer Metallwanne. In den Eisschrank konnte man Eisstücke hineinlegen, um die Lebensmittel im Sommer zu kühlen. Der Eisschrank spielte auch nur im Sommer eine gewisse Rolle, ansonsten stand er still und stumm in der Ecke, in der auch der Herd meiner Großmutter stand. Denn im Winter konnte man die Lebensmittel ja auf dem kalten Balkon frisch halten.
Meine schönste Jugenderinnerung ist der Eismann, der im Hochsommer auf der Straße mit seiner Glocke bimmelte. Er hatte eine sehr laute Glocke, die bis in die höheren Etagen der Mietshäuser durchdrang. Dann konnte ich mit einem Eimer auf die Straße laufen, um das Eis zu holen. Es ist keinesfalls so, dass Kinder immer nur spielen wollen. Sie wollen auch mal eine richtige Aufgabe haben, die auch Erwachsene tun, wie Eisholen. Wie der Eismann aussah, weiß ich heute nicht mehr. Ich war viel zu fasziniert von dem Eis, um mir die Gesichtszüge des Eismanns einzuprägen.
Im Juli und August hatte der Eismann seinen kleinen Wagen in der Stubenrauchstraße Ecke Wilhelmshöher Straße angehalten, genau gegenüber vom Eingang zum Kino »Baby«, das es allerdings heute nicht mehr gibt. Das Baby galt als das kleinste Kino Berlins. Der Wagen des Eismanns hatte im hinteren Teil einen Aufbau, in dem sich die großen dicken Eisstangen befanden. Die Eisstangen waren so durchsichtig und kristallklar und glitzerten in der Sommersonne. Und vor allem waren sie schön kühl.
Woher der Eismann die Eisstangen im heißesten Sommer hatte, weiß ich nicht. Ich habe aber gelesen, dass es in Eiskeller im Winter minus 24 Grad kalt werden kann. Eiskeller ist ein Ort in Berlin-Spandau. Die Bauern dort haben bereits vor Jahrhunderten in den Fließen im Winter Eis abgeerntet. Das Eis wurde in besonderen unterirdischen Lagern, den Eiskellern, für den Sommer aufbewahrt. Daher stammt der Ortsname Eiskeller.
Jedenfalls wurden die Eisstangen an meiner Straßenecke mit einem Pickel in kleinere Stücke zerteilt, die in meinem Eimer landeten. Wie viel ich für das Eis bezahlt habe, weiß ich auch nicht mehr, aber es war bestimmt nicht viel, vielleicht ein paar Groschen. Mit dem Stangeneis lief ich dann schnell wieder nach Hause, die Treppen hoch in den ersten Stock, in die Küche, wo das Eis in den Eisschrank gefüllt wurde. Ich schätze, dass das Eis etwa zwei bis drei Tage gehalten hat, bis es geschmolzen war.
Damals hatte ich keine Ahnung, wie warm es war, denn wir hatten kein Thermometer. Und den Wetterbericht im Radio habe ich auch noch nicht gehört. Aber es kann in Berlin schon mal 30 Grad warm werden im Sommer. Die Luft kann sich tagsüber um 15 Grad aufheizen. Aber die Steinmasse eines großen Mietshauses heizt sich nur um 1 oder 2 Grad auf. Daher war es im Haus schön kühl, wenn man in den Hausflur kam. Das war immer eine Freude bei der Hitze.
Irgendwann bekamen wir und die anderen Mieter dann einen elektrischen Kühlschrank, so dass der Eismann nicht mehr kam. Der alte Eisschrank verschwand. Das war in etwa die Zeit, als es auch keine Maikäfer mehr in den Kastanien gab.
In meiner gesamten Jugendzeit ist fast nichts passiert. West-Berlin war damals eine US-amerikanische Insel im sozialistischen Ozean, für die sich niemand interessierte und in der fast immer gähnende Langeweile herrschte. Natürlich, es war Kalter Krieg, aber in Friedenau ist wirklich nichts passiert. Eine endlose Leere des Lebens lag über Allem. Bespaßung von Kindern gab es bei uns so gut wie nicht, geistige Anregungen auch nicht. Es waren Sommerferien. Die Sonne schien, es passierte nichts. Es war still, es passierte nichts. Ich sah aus dem Fenster, es passierte nichts. Die Sonne schien immer noch, es passierte nichts.
Die einzige Ausnahme vom Nichts war der Eismann, weswegen ich hier an ihn erinnert habe. Aber halt, das stimmt nicht ganz. Ab und an kam auch ein Leierkastenmann vor unser Haus. Ich warf dann einen Groschen oder einen Sechser vom Balkon herunter, für seine Musik. Der Leierkastenmann hat sich das Geld wirklich verdient, denn ansonsten war nur Stille. Ab und an gab es noch die Wolkenbrüche im August, die Straßen und Keller unter Wasser setzten.
Noch ein Detail von damals habe ich in der Erinnerung, die unverschlossene Haustür. Unsere Wohnung hatte zwar ein Schloss, aber es war nur ein einfaches Schnappschloss, kein Sicherheitsschloss. Die Haustür war jedoch nie verschlossen. Man konnte in jedes Mietshaus hineinlaufen und die fünf Treppen bis zum Dachboden hochsteigen, wenn man Lust dazu hatte. Die Dachbodentür war auch oft unverschlossen. Es war abenteuerlich, was man alles auf den Dachböden finden und sehen konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte man die Mietshäuser nicht zu verschließen, weil die Mieter nichts besaßen, das wertvoll war. Daher gab es kaum Wohnungseinbrüche. Die ganze Gesellschaft war noch relativ egalitär, wenn man sie mit der heutigen gigantischen Ungleichheit in Deutschland vergleicht.
Etwa in den 1970er Jahren wurden die Mietshäuser dann zuerst nachts und schließlich die ganze Zeit verschlossen. Dazu war natürlich eine Investition nötig, die auf die Miete umgelegt wurde. Denn erstens musste ein neues Türschloss eingebaut werden und zweitens musste eine Klingelanlage und oft auch eine Gegensprechanlage installiert werden, damit die Haustür für Besucher geöffnet werden konnte. So wurde Berlin zur Stadt der verschlossenen Haustüren.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2018.

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2018/07/07

art kicksuch

aufloesen

© art kicksuch, juli 2018.

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2018/07/04

Tagebuch 1973, Teil 26: Shiraz

Dr. Christian G. Pätzold

7. September 1973, Shiraz, Freitag

Ich habe die Propaganda-Broschüre "The national uprising of August 19, 1953" (28. Mordad 1332) vom Ministry of Information gelesen. Die Broschüre beginnt so: "Rebellion is an inner force that urges the downtrodden to fight against the injustice of oppression." Es handelte sich um einen Aufstand der Armen in Süd-Teheran, und wurde zum Ausgangspunkt der "Weißen Revolution des Shahs und des Volkes" genommen. Der Aufstand wird als eine Revolte der armen, aber patriotisch gesinnten Massen gesehen. Gegenwärtig ist der zwanzigjährige Jahrestag des Aufstands. Jetzt beginnt der fünfte Fünfjahresplan und "the Imperial Government of Iran gains complete control of the Oil Industry, thanks to the wise leadership of the Shahanshah." Zu 1953: "The action of the King once again saved the Nation. In order to ostensibly put the situation to a test and censure the government for its foolish deeds, the Shahanshah Aryamehr left Tehran on the 16th of August 1953 for a foreign destination. After H.I.M.’s departure crowds and masses were brought to such an emotional pitch that in the span of three days, people that were naturally and spiritually close to the tradition of monarchy, originated since the ancient era of Cyrus the Great, rose up in mass against the government, and after an irresistible wave, overthrew it. By the 19th of August 1953, the Shah had come back to Tehran, welcomed by countless manifestations of great joy. As a result, the 19th of August 1953 inaugurates the beginning of a new era in Iran, a new surge of progress taking shape with the discarding of the old feudal system of land ownership, with the emancipation of women, with the merciless struggle against illiteracy, and with an unprecedented growth in the economic sector..."
Die Propaganda-Broschüre gab keinerlei Erklärung für den Aufstand. Bei dem Aufstand von August 1953 handelte es sich um einen von CIA und MI6 organisierten und finanzierten Staatsstreich (Operation Ajax), mit dem der Premierminister Mohammad Mossadegh gestürzt wurde. Hintergrund waren die britischen Profite aus der Ausbeutung des iranischen Erdöls, die durch Verstaatlichung gefährdet waren. Außerdem befürchteten die britische und die US-amerikanische Regierung eine Zusammenarbeit Mossadeghs mit der kommunistischen Tudeh-Partei sowie eine Annäherung des Irans an die Sowjetunion.
Durch Gespräche erfuhr ich, dass die marxistisch-leninistischen Klassiker im Iran noch von früher her im Untergrund in Farsi zirkulierten, zum Beispiel »Das Kapital« von Karl Marx. Ich war erstaunt, dass das polnische Teatr Stu aus Kraków unter der Leitung von Krzysztof Jasiński hier an dem Kunstfestival des Shahs teilnehmen durfte.
Um 20:00 Uhr haben wir eine iranische Theatervorstellung gesehen, in der der Puppenspieler alle seine Puppen umbrachte, weil sie nicht machten, was er wollte. Dieses Stück war sehr interessant. Vielleicht hatte das Stück einen subversiven politischen Hintergrund. Ich wäre gern noch die nächsten beiden Tage hier geblieben, um noch mehr Stücke zu sehen.
Um 23:00 Uhr haben wir am Grab von Hafis traditionelle persische Musik gehört. Ich habe mir vorgenommen, bei Gelegenheit mal Gedichte von Hafis und Saadi zu lesen. In einer warmen Sommernacht in den Rosengärten von Shiraz am Grab von Hafis traditionelle persische Musik zu hören, mehr Orient geht nicht.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2018.

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2018/07/02

Tagebuch 1973, Teil 25: Shiraz

Dr. Christian G. Pätzold

hafeziye
Das Hafeziyeh in den Rosengärten von Shiraz.
Quelle: Wikimedia Commons.

5. September 1973, Isfahan - Shiraz, Mittwoch

Meine Reisepartnerin und ich haben den Palast der vierzig Säulen (Tchehel Sotun) in Isfahan besichtigt, wo einer der Männer von gestern Abend als Restaurator arbeitete. Dort gab es wunderbare alte Wandgemälde. Die 20 Säulen der Veranda spiegeln sich in einem 110 Meter langen und 16 Meter breiten Wasserbecken, so dass sich zusammen 40 Säulen ergeben. In Persien werden reale Säulen und Scheinsäulen zusammengezählt. Dann fuhren wir zum Hotel und holten unsere Sachen ab. Der Hotelmann hatte auf die Rechnung geschrieben: "Ungeduldig ich wurde", weil wir letzte Nacht nicht zum Hotel gekommen waren, da wir bei unseren neuen Freunden übernachtet hatten. Ich hatte gar nicht daran gedacht, im Hotel Bescheid zu sagen.
Zur Bushaltestelle nahmen wir ein Privattaxi, worauf sich ein offizieller Taxifahrer mit unserem Fahrer gestritten hat. Bei der Busgesellschaft TBT bekam meine Reisepartnerin ihren Waschbeutel wieder, den sie dort am Tag vorher verloren hatte. Unterwegs nach Shiraz haben wir in einer Raststätte Kebab mit Reis für teure 70 Rial gegessen.
Von weitem haben wir die Ruinen von Persepolis gesehen sowie die Zelte, die der Schah 1971 für die Feierlichkeiten aus Anlass des 2.500 Gründungsjahres des persischen Reiches errichten ließ. Persepolis ist der griechische Name und bedeutet "Stadt der Perser". Die Stadt wurde 520 vor unserer Zeit von König Dareios I. gegründet. 330 vor unserer Zeit kam Alexander der Große vorbei und ließ Persepolis in Brand stecken. Trotzdem sind heute noch beeindruckende Überreste vorhanden. Kunstvolle Steinreliefs und viele beschriebene Tontafeln sind erhalten geblieben. Es wurde behauptet, dass Alexander die Stadt Persepolis aus Rache in Brand steckte, weil die Perser einige Zeit vorher die Akropolis in Athen verwüstet hatten.
In Shiraz angekommen haben wir erstmal in einer Eckdraußenkneipe am Busbahnhof Wasserpfeife geraucht, das heißt mit allen anderen zusammen, die auch dort waren. Später habe ich gehört, dass man dadurch Syphilis und anderes bekommen kann. Wir sind zum Touristenbüro gefahren, das aber um 6 Uhr abends schon geschlossen war, obwohl Festwochen waren. Darauf sind wir zur TV-Station gefahren, wo wir sofort unsere vorbestellten Eintrittskarten für das Festival bekamen. Außerdem wurde uns die Übernachtung in der Universität in Einzelzimmern mit Dusche für 100 Rial vermittelt. Abends haben wir in der Stadt dann noch eine persische Grafikausstellung gesehen, die Zeichnungen waren sehr regimekritisch, aber scheinbar wird die Ausstellung auch nur von Intellektuellen besucht. Mein Zimmer in der Universität war sehr komfortabel. Unsere neuen Freunde aus Isfahan hatten es sich nicht nehmen lassen und sind mit uns nach Shiraz gefahren. Sie wohnten neben uns in der Universität.
In der Stadt sahen wir Menschen von Stämmen, die in der Nähe von Shiraz leben. Sie trugen wunderschöne Kleider und kamen in die Stadt, um Schmuck zu kaufen. Ihre Röcke waren mit goldenen Fäden durchzogen und standen weit ab. Die Männer trugen interessante Kappen auf dem Kopf. Diese Bergstämme heißen Ghashghai.
In der Nachtdämmerung sah ich von meinem Zimmer aus ein größeres Rudel von Goldschakalen auf dem Universitätsgelände. Sie sahen so ähnlich aus wie Wölfe, waren ziemlich zutraulich und suchten anscheinend nach etwas Essbarem. In der Nacht haben stundenlang die Schakale geheult.

6. September 1973, Shiraz, Donnerstag

In der Universität gefrühstückt. Die Uni war sehr abgehoben vom üblichen Leben, sehr modern, mit sehr weitläufigen Grünanlagen und einem großen Swimmingpool. An der Uni in Shiraz gab es jährlich sehr viele Bewerber, nur 1.000 wurden aufgenommen. Im ersten Jahr kostete das Studium 1.000 Tuman, das heißt das Monatsgehalt eines Lehrers
Wir haben den Vakil Bazaar, die Vakil Moschee und den Caravanserail (Karawanserei, Saray-e Moshir) gesehen. Geld gewechselt für 1 DM : 28 Rial. Anschließend waren wir am Grab des berühmten Dichters Hafis (Hafeziyeh). Am Hafeziyeh wurde während der Festwoche traditionelle persische Musik gespielt. Shiraz wird die Stadt der Rosen und Nachtigallen, des Weins und der Dichtkunst genannt. Sie ist die Hauptstadt der Provinz Fars oder Pars, wovon Persien seinen Namen hat. Die beiden berühmtesten Poeten Persiens, Hafis (1320-1390) in seinem »Diwan« und Saadi (1200-1280) in seinem »Golestan« (Rosengarten) haben die Schönheiten von Shiraz besungen und liegen dort begraben.
Um 18:00 Uhr haben wir in der Literaturfakultät »Under Zaccour’s Patronage« von dem Regisseur Raymond Gebara aus dem Libanon gesehen: Eine Unterhaltungsshow, wobei die Könige nicht gut wegkamen.
Um 23:00 Uhr haben wir im Delgosha Garten das Stück »Origin of Blood« des Tenjo Sajiki Laboratory, Regie von Shuji Terayama, aus Japan gesehen. Das war schon ein ziemlich unglaubliches Stück. Ein Mann ging die Wand hoch. Menschen hingen in Plastiktüten nackt an Bäumen. Eine Frau schlich mit einer Fliegenklatsche um einen Tisch herum. Alles war supermanieriert und mit tollen Showeffekten. Der Abend in der dunklen, schwirrenden, warmen Sommernacht von Shiraz war sehr lang.

Anmerkung Juli 2018:
Mit Gebara und Terayama hatte ich zwei echte internationale Avantgarderegisseure der 1970er Jahre gesehen. Raymond Gebara (1935-2015) war ein Pionier des absurden Theaters in der arabischen Welt. Shuji Terayama (1935-1983) war ein japanischer avantgardistischer Regisseur. Sein Theaterstück »The Origin of Blood« beruht auf einer alten chinesischen Legende, die besagt, dass Menschen früher auf Bäumen wuchsen, wie die Früchte.
Das 7. Shiraz Festival of Arts vom 30. August bis 9. September 1973 war ein durchaus feines Festival. Es gab auch Ballet, Musik sowie Theaterproduktionen aus dem Iran, aus Jugoslawien, Frankreich, Nigeria, Marokko, Polen, Belgien, Tunesien, Jordanien, Zypern und Uganda. Andererseits war das Festival wahrscheinlich nur etwas für die Oberschicht, für iranische Intellektuelle, für Touristen und für die Theatermacher selber, und wahrscheinlich kostete das Festival eine ziemliche Stange Geld, um die internationalen Künstler einfliegen zu lassen. Ich hatte schon damals den Verdacht, dass das persische Volk damit wenig anfangen konnte. Die Islamisten haben das Festival dann gleich 1979 abgeschafft.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2018.

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2018/06/30

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2018/06/27

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
Victor Klemperer: »LTI«, Teil 3

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Foto von Alia Krautschick.

Victor Klemperers Anklage gegen die LTI, die Sprache des Dritten Reiches, arbeitet sich vorrangig an deren Begriffen ab, wie sie in den Sprachgebrauch der "Volksgemeinschaft" eingehen sollten. Dabei fand er entsprechende Musterbeispiele, die die Plattheit und Ideologielastigkeit des Vorhabens besonders entlarvten. Dieser einseitig doktrinäre und idelogiegesteuerte Gebrauch der Sprache im Sinne "unserer Sondersprache" (1) LTI zielte wahrscheinlich auch darauf ab, sich somit der "Vox populi" zu bemächtigen und sie nach und nach zu infiltrieren. Ein raffiniertes Unterfangen, mit den Mitteln der Rhetorik ein ganzes Volk zu übertölpeln, aber es gelang flächendeckend, wie Klemperer es immer wieder nachwies und mit Beispielen belegte.
Durch seine Lektüre von "Mein Kampf", der "Bibel des Nationalsozialismus", die 1925 zu erscheinen begann, konnte er nachweisen, dass damit die LTI "in allen Grundzügen buchstäblich fixiert" war, "alles, was sich noch später an Gesinnung, an Tat und Sprache des Nazismus hinzufand, das zeichnet sich in seinen Ansätzen schon in diesen ersten Monaten ab. (2) "Durch die "Machtübernahme" der Partei wurde sie 1933 aus einer Gruppen- zu einer Volkssprache, d.h. sie bemächtigte sich aller öffentlichen und privaten Lebensgebiete: der Politik, der Rechtssprechung, der Wirtschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Schule, des Sportes, der Familie, der Kindergärten und der Kinderstuben" und natürlich des Heeres. (3) Die selbstmörderische Freigabe von Wort und Schrift: niemand war mehr "an ein bestimmtes Dogma des Sittlichen oder des Schönen gebunden, jeder konnte frei wählen" (4). Wie frei kann ein versklavter Geist aber nun wirklich sein, der sich innerhalb einer Gefängnissprache, die von allen gesprochen wurde, behaupten muss?!
Als heraus stechende Schlagworte der Indoktrination können hierbei folgende gelten:
"gleichschalten": Das Mechanisieren der Person zeigt sich besonders in dieser "frühzeitigsten Schöpfung auf diesem Felde". "Lehrer verschiedener Anstalten, Gruppen verschiedener Angestellter des Justiz-, des Steuerdienstes, Mitglieder des Stahlhelms und der SA usw. usw. werden beinahe in infinitum gleichgeschaltet." (5) Die Versklavung des Geistes mittels Übergriffen aus dem Technischen zeigt sich auch in dem Wort "aufziehen". (6) Das Gewebe der "Staatsakte", auch ein LTI-Verbum (7), "wurde immer nach dem gleichen Muster aufgezogen" (8).
"Und hier ist nun das Wort, mit dem der NS vom Anfang bis zum Ende übermäßige Verschwendung getrieben hat. Historisch ist ihm jede Rede, die der Führer hält, und wenn er hundertmal dasselbe sagt, historisch ist jede Zusammenkunft des Führers mit dem Duce, historisch ist der Sieg eines deutschen Rennwagens, historisch die Einweihung einer Autostraße, und jede einzelne Straße und jede einzelne Strecke jeder einzelnen Straße wird eingeweiht; historisch ist jedes Erntedankfest, historisch jeder Parteitag, historisch jeder Feiertag jeglicher Art... und da das Dritte Reich nur Feiertage kennt... so hält es eben alle seine Tage für historisch." (9)
Da "der Nationalsozialismus auf Fanatismus gegründet ist und mit allen Mitteln die Erziehung zum Fanatismus betreibt", hat auch das Adjektiv "fanatisch" - dieses "Schlüsselwort des Nazismus", das "niemals durch das Übermaß der Anwendung wirklich entgiftet wurde, ein ähnlich hochfrequentiertes Schicksal. Während sich (aber) überall Brocken der LTI in der Sprache der Gegenwart breitmachen, ist "fanatisch" verschwunden." (10) Die künstlich induzierte und propagandistisch herbeigeführte Begeisterung, einer Art Hypnose ähnlich, führte naturgemäß irgendwann zu einer Abnutzung. Damit diese nicht als innere Schwächung erscheine, musste nachgelegt und eine "Steigerung über das nicht mehr zu Steigernde hinaus" versucht werden. 1944 schrieb Goebbels im "Reich": "die Lage sei "nur durch einen wilden Fanatismus" zu retten" (11).
Eine weitere Ingredienz der LTI ist das moderne Kurzwort. "Kein vorhergehender Sprachstil macht einen so exorbitanten Gebrauch von dieser Form wie das Hitlerdeutsch... seinem Anspruch auf Totalität gemäß technisiert und organisiert der Nazismus eben alles." (12). Nur wer Abbreviaturen wie BDM, HJ, MG, DAF .... beherrscht, ist Teil der "verschworenen Gemeinschaft" und kann jenen "Gefühlswert der Sonderbezeichnung" (13) erfahren oder "erleben", auch so ein Wort, das aufs Emotionale zielt, anstelle der Ratio. Diese "kollektive Geheimsprache" erinnert somit eher an die Gaunersprache, das so genannte Rotwelsch, das aus Geheimhaltungsgründen auch nur die Insider beherrschten. Einzelne eher an Parolen erinnernde Begriffe wie der "Endsieg", die "Endlösung", der "Blitzkrieg"und ähnlich aufgeladener sprachlicher Bombast sollten mobil machen und Beweglichkeit demonstrieren, denn um die Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Bewegung ging es ja; es war in erster Linie eine Dynamik, die alle via Sprache erreichen und mitreißen sollte.
Ein Adjektiv wie "kämpferisch", eines der Lieblingsworte, bezeichnet eine "zu keinem Verzicht geneigte Haltung des Gemütes, des Willens. Der Missbrauch, den man mit dem Kämpferischen getrieben hat, passt genau zu dem übermäßigen Verschleiß an Heroismus bei schiefer und falscher Verwendung des Begriffes".(14).
Die hier ausgewählten Worte sollen die anderen LTI-Verunglimpfungen der Sprache mit repräsentieren, denn Klemperer weist auf noch viele hin - das "Gift ist überall. Im Trinkwasser der LTI wird es verschleppt, niemand bleibt davon verschont" (15). Die perfide Technik und Technologie der LTI zeigt unmissverständlich die ideologischen Gedankenmuster dahinter, die so viel Unheil möglich machten. Wie man nicht nur an einzelnen perversen Tätern sah, setzte jeder auf seine Art diese Rassendoktrin in die Welt und hinterließ darin diese grauenhaften Schatten, weil es die LTI so mächtig und nachhaltig in ihre Hirne gepflanzt hatte.

Anmerkungen:
1) Victor Klemperer, LTI, Leipzig 1987, S.151.
2) Ebenda, S. 46.
3) Ebenda, S. 25; S. 25/26 Ich "verglich meine Lektüre einer Fahrt im Freiballon, der sich irgendeinem Winde anvertrauen und auf eigentliche Steuerung verzichten muss -, bald den "Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts" und bald ein "Taschenjahrbuch für den Einzelhandelskaufmann" studiert, jetzt eine juristische und jetzt eine pharmazeutische Zeitschrift durchstöbert, ich habe Romane und Gedichte gelesen, die in diesen Jahren erscheinen durften, ich habe beim Straßenkehren und im Maschinensaal die Arbeiter sprechen hören: es war immer, gedruckt und gesprochen, bei Gebildeten und Ungebildeten, dasselbe Klischee und dieselbeTonart. Und sogar bei denen, die die schlimmst verfolgten Opfer und mit Notwendigkeit die Todfeinde des NS waren, sogar bei den Juden herrschte überall, in ihren Gesprächen und Briefen, auch in ihren Büchern, solange sie noch publizieren durften, ebenso allmächtig wie armselig, und gerade durch ihre Armut allmächtig, die LTI."
4) Ebenda, S. 26.
5) Ebenda, S.164.
6) Ebenda S. 52 ff; Weiteres zum LTI-Verbum "aufziehen".
7) Ebenda, S. 50: "Staatsakt" - "rein sprachlich ist das Wort doppelt aufgeblasen. Einmal sagt es aus und bestätigt damit eine wirkliche Gegebenheit, daß Ehrungen, die der NS vergibt, staatliche Anerkennungen sind. Es enthält also das L`Etat c`est moi des Absolutismus. Sodann aber fügt es zur Aussage den Anspruch. Ein Staatsakt ist etwas zur Staatsgeschichte Gehöriges, also etwas, was dauernd im Gedächtnis eines Volkes bewahrt werden soll. Ein S. hat besonders feierliche historische Bedeutung."
8) Ebenda, S. 50.
9) Ebenda, S. 51; "Er nimmt sich so wichtig, er ist von der Dauer seiner Institutionen so überzeugt, oder will so sehr davon überzeugen, daß jede Bagatelle, die ihn angeht, daß alles, was er anrührt, historische Bedeutung hat."
10) Ebenda, S.65 ff "Daraus darf man mit Sicherheit schließen, daß eben doch im Volksbewusstsein oder -unterbewusstsein der wahre Sachverhalt all die zwölf Jahre lebendig geblieben ist: dies nämlich, daß ein umnebelter, der Krankheit und dem Verbrechen gleich nahestehender Geisteszustand durch zwölf Jahre als höchste Tugend betrachtet wurde."
11) Ebenda, S. 66.
12) Ebenda, S. 100.
13) Ebenda, S. 99.
14) Ebenda, S. 11.
15) Ebenda, S. 101.

© Dr. Karin Krautschick, Juni 2018.

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2018/06/25

Das Archiv Schreibende ArbeiterInnen

Dr. Christian G. Pätzold

archiv
Foto von Dr. Christian G. Pätzold

Zirka 400 "Zirkel schreibender Arbeiter" gab es im Verlauf von 40 Jahren DDR-Geschichte. Wobei der Begriff "Arbeiter" leicht in die Irre führt. Mitglieder der Zirkel waren oft Angestellte, Mitglieder der Intelligenz, Rentner, Studenten und vor allem auch Frauen. Daher waren die eigentlichen "Arbeiter" wohl oft unterrepräsentiert. Als Zirkelleiter waren oft professionelle Schriftsteller oder Schriftstellerinnen tätig, die für die Arbeit bezahlt wurden und davon wohl auch teilweise leben konnten.
Die Zirkel schreibender Arbeiter in der DDR sind mit dem Bitterfelder Weg verbunden, der Ende der 1950er Jahre die schriftstellerische Tätigkeit der Werktätigen ermuntern wollte. Bekannt ist noch heute die Losung "Greif zur Feder, Kumpel!" Die Entwicklung von sozialistischen Persönlichkeiten mit sozialistischem Bewusstsein sollte gefördert werden und tatsächlich waren die Zirkel eine wichtige kulturelle Initiative der Betriebe in der DDR. Alle Arten der Poesie und der Lyrik waren vertreten. Außerdem sollten eine "Sozialistische Nationalkultur" und ein "Künstlerisches Volksschaffen" etabliert werden. Einige professionelle SchriftstellerInnen sind aus den Zirkeln hervorgegangen.
1990 war der reale Sozialismus in der DDR zusammengebrochen. Nur ein Teil der Zirkel schreibender Arbeiter wurde weitergeführt, teilweise im Rahmen der Volkshochschulen. Es gab eine Zusammenarbeit mit dem "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt" in den alten Bundesländern.
Das heutige "Archiv Schreibende ArbeiterInnen" im Industriesalon Berlin Schöneweide hat etwa 10.000 Texte von etwa 3.000 AutorInnen gesammelt, die öffentlich zugänglich sind. Außerdem sind Anthologien, Literaturzeitschriften und Brigadetagebücher vorhanden. Das Archiv ist passend im ehemaligen Industriegebiet in Oberschöneweide untergebracht. Es ist ein Präsenzarchiv, aber Kopien von Texten können angefertigt werden. Das Archiv ist auch in der Archivdatenbank Kalliope der Staatsbibliothek Berlin vertreten. Neben dem Archiv organisiert der Verein SchreibArt e.V. eine Schreibwerkstatt und ein Lesepodium.
Das Archiv freut sich über Hinweise, Geschenke und Leihgaben: Manuskripte, Bücher, Bildmaterial, Zeitschriften, Protokolle, Verträge, Berichte, Szenen, Urkunden, Noten, Gedichte, Geschichten. Für Alle, die etwas zu bestimmten DDR-AutorInnen oder zu bestimmten Zirkeln schreibender Arbeiter recherchieren möchten, ist das Archiv sehr wertvoll.

Archiv Schreibende ArbeiterInnen Berlin
im Industriesalon Schöneweide
Reinbeckstraße 9, 12459 Berlin Oberschöneweide
Öffnungszeiten des Archivs: Mi und Do 10-15
Leiterin des Archivs: Dolores Pieschke.

Prof. Dr. sc. phil. Rüdiger Bernhardt schreibt am 22. Juli 2018 zum Archiv Schreibende ArbeiterInnen:
"Es ist verdienstvoll und begrüßenswert, dass in der Nr. 25/06/2018, auf die ich hingewiesen wurde, auf die schreibenden Arbeiter der DDR und vor allem auf die ehrenamtliche Arbeit des heutigen Archivs dafür hingewiesen wird. Noch verdienstvoller wäre es, würde mit korrekten Aussagen gearbeitet, zumal für die schreibenden Arbeiter seit einigen Jahren eine Gesamtdarstellung vorliegt (Rüdiger Bernhardt: Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg, Essen 2017, Neue Impulse Verlag). Um nur einiges anzumerken: Es gab nicht 400 Zirkel im Verlauf, sondern das war der aktuelle Höchststand 1960. Im Verlauf der Bewegung gab es sehr viel mehr Zirkel (ca. 1.600). Mitglieder waren Frauen wie alle anderen auch, nicht "vor allem auch". Es sollte auch nicht zur "schriftstellerischen Tätigkeit" ermuntert werden, sondern zur Beschäftigung mit Literatur und Kunst. Hervorgegangen sind nicht nur "einige professionelle Schriftstellerinnen", sondern auch Schriftsteller wie der Buchpreisträger Lutz Seiler. Aber das war nicht das eigentliche Ziel der Bewegung, die übrigens schon vor 1959 durch die spontane Gründung mehrerer Zirkel entstanden war. Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt entstand aus der Dortmunder Gruppe 61, beides also nach dem Beginn des Bitterfelder Weges. Vielmehr schaute man sich im Werkkreis manches von den Zirkeln ab, mit der Dortmunder Gruppe gab es eine zeitweise enge Beziehung. Es ging auch nicht um "alle Arten der Poesie" - was übrigens unterscheidet Lyrik von Poesie? -, sondern um dokumentarisches Material aus dem täglichen Arbeitsprozess usw. usf. Vielleicht lässt sich die inzwischen auch international sehr gründlich beachtete Bewegung (USA, Frankreich) gelegentlich einmal präziser vorstellen."
Prof. Dr. sc. phil. Rüdiger Bernhardt, ehemaliger Vorsitzender der Zentralen Arbeitsgemeinschaft schreibender Arbeiter und Leiter des Zirkels der Leuna-Werke.

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2018/06/23

Für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) von 1.100 Euro im Monat für Alle!
(Stand 2018)

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2018/06/21

Impression aus Hamburg: Der Hafen

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Im Hamburger Hafen.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, April 2018.

Der Hamburger Hafen ist ein zum Meer hin offener Tidehafen, das heißt die Gezeiten spielen eine große Rolle. Am Tag gibt es zweimal Hochwasser und zweimal Niedrigwasser als Folge der Gezeitenkräfte von Mond und Sonne. Der Wasserstand in der Elbe schwankt zwischen Niedrigwasser und Hochwasser um 3 bis 4 Meter. Der Hafen ist nicht nur ein Kreuzfahrtschiffhafen und ein Containerschiffhafen. Auch die Reeperbahn gehört dazu, bekannt als "die sündigste Meile der Welt".

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2018/06/20

Impression aus Hamburg: Die Elbphilharmonie

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Die Elbphilharmonie in der Hamburger Speicherstadt.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, April 2018.

Die Elbphilharmonie, kurz Elphi genannt, wurde am 11. Januar 2017 eröffnet. Der Entwurf stammt von dem Architekturbüro Herzog & de Meuron in Basel/Schweiz. Mit ihrem schwungvollen Dach, das an die Berliner Philharmonie erinnert, macht sie sich architektonisch gar nicht schlecht in der Speicherstadt. Die Baukosten von etwa 865 Millionen Euro (laut Wikipedia) haben allerdings bei den Hamburgern etwas Stirnrunzeln verursacht. Man kann sich ja auch Mozart und Beethoven fast umsonst im Internet anhören und ansehen.

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2018/06/17

50 Jahre Aktion Dritte Welt (ADW)

Eine Laudatio von Dr. Jörg Später, Freiburg

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Hey, stell dir vor, du bist auf einem 50. Geburtstag eingeladen, sollst eine Laudatio auf das Geburtstagskind halten, hast die Jubilarin aber schon eine Weile aus den Augen verloren. Du kanntest sie weder als Kind, noch als Teenie, hast sie einige Jahre als Erwachsene begleitet. Aber nützt ja nichts. Unser Job ist jetzt also eine Lobhudelei auf die große alte Dame Aktion Dritte Welt (ADW). Schon angesichts des unsinnlichen Namens ihrer Zeitschrift (izdreiw) ist es fast ein Wunder, dass dieses politische Projekt so lange überlebt hat. Das geschah natürlich vor allem wegen der Menschen, die sich in den fünf Jahrzehnten haupt- und ehrenamtlich in der Redaktion engagiert haben. 500 sollen es gewesen sein. Grund genug, diese Geschichte Paroli laufen zu lassen. Ähnlichkeiten mit anwesenden Personen sind reiner Zufall, unfaire Übertreibungen dagegen volle Absicht.

Die ADW war im Frühjahr 1968 durchaus eine Gegengründung zum SDS: Man darf die Dritte Welt nicht den kommunistischen Studenten überlassen, hat man sich gedacht. Manche meinen übrigens, die ADW entstamme aus einem eher sozialdemokratischen Elternhaus. Andere wiederum sprechen von einer volkswirtschaftlichen Clique, die an der Wiege das Kind schaukelte. Auch Juristen sollen herumgestanden haben. In jedem Fall also Bügelfalte und Schlips.

Na ja, das sind doch bürgerliche Kategorien und Alternativspießerklischees. Das Bemerkenswerte der ADW von Beginn an war ja doch, dass in jeder Gruppe und in jeder Generation eine heterogene Grundmischung vorhanden war, anders übrigens als in anderen neulinken Gruppen, vor allem bei den Parteisoldaten des Kommunistischen Bunds Westdeutschland, der in Freiburg im roten Jahrzehnt mit Abstand am stärksten war. 1968 sind eben alle, deren Herz am linken Fleck war, gegen Kapitalismus und Kolonialismus auf die Straße gegangen. Hunger, Ausbeutung, Krieg, Abhängigkeit - die Dritte Welt wurde entdeckt und nummeriert. Die Gesellschaft und, mehr noch, "das System" wurden in Frage gestellt, und es wurde ein Zusammenhang angenommen zwischen dem Reichtum des Nordens und der Armut des Südens. Und als Symptom dieses globalen Unwesens die Entwicklungspolitik kritisiert.

Entwickeln musste sich jedoch zunächst erst einmal die ADW selbst. Erster großer Höhepunkt war Ende 1968 die gewaltige charismatische Taufparty mit großer Ernst-Bloch-Musik, mit Günters krasser Blechtrommel und dem Entwicklungsministranten Erhard Eppler - und 4.000 Zuhörerinnen und Zuhörern. Nach diesem beeindruckenden Starauflauf kamen die Kindlein zuhauf, nicht nur noch mehr studentische Spezialisten aus Fachschaften, sondern Aktive vom Kirchentag, Praktiker aus ASA-Programmen, auch einige bündische Kommunisten und sogar Sportfreunde von der Sternwaldwiese. Dort spielten nämlich nicht nur die vom KBW Ausgeschlossenen gegen die aus dem KBW Ausgetretenen wöchentlich Volleyball um den Pol Pot, sondern die Internationalisten übten für ihre völkerverbindenden Sportfeste und spielten antiimperialistisches Völkerball: gute Völker gegen schlechte Völker.

Doch zurück zu den Anfängen: Aus dem Büchertisch in der Mensa wurde also Brot für die Welt von links unten. Apropos unten: Zuhause war man zuerst im feuchten Keller. In der Scheffelstraße. Immerhin hatte man einen Tisch. Um den ging man herum. Jeder schnappte sich eines der Blätter, die darauf herum lagen. Einer tackerte die Blätter am Ende zusammen und schon hatte man eine Zeitschrift. Das nennt man endogene Entwicklung.

Entwicklungshilfe bekam die ADW-Familie von VW. In Form eines Busses. Natürlich musste man dafür bezahlen - wie in der wirklichen Verwicklungshilfe auch. Mit dem Bus fuhr man dann nachts nach Hannover zu Gerhard Schröder. Für die Jüngeren hier: Das war der Robert Mugabe von SOAK, unserer Druckerei, auch ein chefloser Kollektivbetrieb. Später war Schröder Juso-Chef, dann SPD-Chef und Freund des VW-Chefs, dann Deutschland-Chef und jetzt Freund von Chef Putin. Dort in Hannover jedenfalls wurden die Blätter gedruckt, bevor sie wieder von den ADW-Kurieren mit demselben VW-Bus nach Freiburg zurückgebracht wurden. ADW-SOAK-VW - das war schon ein Motorisierter Intellektueller Komplex der besonderen Art. Aber nun begann die Zeit der Gegen-Information.

Der echte Mugabe hat übrigens mal hier bei einem Redakteur in der WG übernachtet. Die ADW war auf einem Höhepunkt. Mit dem Buch Entwicklungspolitik - Hilfe oder Ausbeutung (1978, mit acht Auflagen) besetzte sie über Jahre hinweg ein Vakuum. Das war eine super erfolgreiche Geschichte von Gegenöffentlichkeit - mit dem Ergebnis übrigens, dass die ADW zu einer bedeutenden Kaderschmiede für eben jene entwicklungspolitische Praxis wurde, deren wirtschaftliche Hintergründe gerade kritisch beleuchtet worden waren. Die ADW-Analysen schufen sozusagen die eigenen Arbeitsplätze. Und die Schlauberger bildeten sich noch dazu selbst aus - kleinunternehmerisches Selbst plus Self-empowerment plus nachhaltige Selbstentwicklung. Wer in der ADW gelernt hatte, den weltweiten Hunger zu kritisieren, musste ziemlich sicher selbst keinen erdulden. Eine Grundschule für das entwicklungspolitische Feld.

Ja, die ADW war längst in die Schule gekommen. Eine zweite Lebensphase hatte begonnen. In den Jugendjahren zog man - wir schreiben das Jahr 1978 - in die Kronenstraße ins Hinterhaus. Neue Freunde waren längst dazu gestoßen. Und zwar aus der linken Nachbarschaft. Man wohnte in einem antiimperialistischen Viertel. Da war ein wenig die Ironie der Geschichte im Spiel, denn die ADW war ja einst in Abgrenzung zum SDS gegründet worden, den es längst nicht mehr gab. Dafür war die ADW inzwischen gründlich sds-sisiert. Die Entwicklungshilfe sollte nicht mehr verbessert, sondern zerschlagen werden. Die Dependenztheorie war die theoretische Basis, von der aus die Welt interpretiert wurde. Man sympathisierte offen mit den antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungsbewegungen im Trikont. Das ging meist nach antiimperialistischer Schablone und striktem Lagerdenken. Superblamagen der Neuen Linken wie die Sympathien mit Maos Kulturrevolution oder den Roten Khmer in Kambodscha hatten kaum zu Erschütterungen geführt. Und generell galt, wenn es mal ruppig wurde: Wir spielen ja nicht Halma.

Auch intern nicht: Als sich die KBWler vor einer Sitzung trafen und ihr Abstimmungsverhalten untereinander absprachen, flogen sie wegen Fraktionsbildung raus. Dafür gab es ab Ende der 1970er immer wieder Zulauf aus der autonomen Szene. Manche aus der ADW nahmen auch am Freiburger Häuserkampf teil. Irgendwie gehörte ja doch alles zusammen: Dreisameck und Dreieckshandel, Dritte Welt und Dreitagekrieg. Das Lokale und Globale wurden zusammengedacht, manchmal in einem Anflug von Größenwahnsinn. Wer überall Zusammenhänge sieht, wird bald Opfer paranoider Logik. Auch dann, wenn es im richtigen Leben tatsächlich Verschwörungen gibt und nicht nur Verschwörungstheorien.

Zusammen gehörten aber in jedem Fall das Private und das Politische. Die ADW war auch ein Lebenszusammenhang. Und die Demokratie war eine Lebensform. Die Kronenstraße war in den 1980ern umzingelt von ADW-WGs. Drei allein in der Talstraße, dazu noch die Goethestraße und die Lessingstraße. Man wohnte zusammen, arbeitete zusammen, aß täglich zusammen. Aus diesem eigentlich politischen Zusammenhang entstanden Freundschaften, aus einigen sogar Kinder. Der Kollektivismus stand eben hoch im Kurs. In einem selbstverwalteten Laden ohne Chef und Staat ja auch eine Selbstverständlichkeit. Die Trennung von Kopf- und Handarbeit sollte aufgehoben werden. Es soll ja rotierende Dienste gegeben haben - wobei die Erinnerungen da doch deutlich auseinander gehen, vor allem zwischen Kopf- und Handarbeitern. Aber theoretisch zumindest konnte man morgens den Müll raustragen und die Post holen, dann Angeln gehen, den Fisch selber ausnehmen, nachmittags dann einen Finanzplan verabschieden, das Arbeiterfäustchen ballen und den Sandinisten einen Gruß schicken und schließlich abends ein kritischer Kritiker sein. Wenn einer ins Parlament wollte, dann hat das die Gruppe erst einmal genehmigen müssen.

Das gemeinsame Layouten mit dem revolutionären Fix-o-gum wurde zum Teambuilding. Andere Betriebe holen da für teures Geld Eventmanager, Motivationstechniker, Coachinggurus. Sie bauen Flöße, sprechen mit Pferden oder reisen ins Mittelalter. Wir haben einfach zusammen geklebt, Bildunterschriften getextet, die Herumstehenden befragt - und hatten diese zwei Tage eine Menge Spaß. Zugegebenermaßen waren einige nach fünf bis zehn Jahren Kollektivismus auch "abgefrühstückt". "Man muss auch mal gehen können", sagten die einst Junggekommenen, die nun um die 30 herum waren. Einige wollten endlich eine richtige Stelle, andere wollten von dem "Links-rechts-Scheiß" nichts mehr hören und machten Karriere. Manche wiederum gingen im politischen Streit mit Geschrei und Türeschlagen. Man ließ sich dann aus dem Impressum streichen. 1988 war so ein Bruch, als sich eine Fraktion dem Leuchtenden Pfad anschloss oder auch der Meinung war, dass der wahre zeitgenössische Antifaschismus im Antizionismus liege. Dem waren hässliche und fruchtlose Diskussionen vorausgegangen. In der Regel allerdings galt: Wer die Gruppe verließ, hatte meist andere Gründe als den Streit, der zum Anlass geriet.

Um 1990 stand jedenfalls bereits eine neue bunte Truppe bereit, um den Laden zu übernehmen. Geben wir ihr den Namen: die ideologiekritische Generation. Auffällig war, dass das eigentliche Kernthema: der Nord-Süd-Konflikt und die Entwicklungspolitik randständig wurde. Ein letztes Aufbäumen gab es, als sich eine Kleingruppe daran versuchte, den Bestseller über die Entwicklungspolitik zu aktualisieren und schon im Planungsstadium scheiterte. Ich kann mich noch erinnern, wie eines der Mitglieder nach einer Sitzung hoch ins Archiv kam und schimpfte: "Mann, Mann, Mann, jetzt wollen die schon ihre Löffel selber schnitzen."

Ja, mit der industriellen Moderne hatten manche große Schwierigkeiten. Jetzt gab es auch den ersten Veganer im Büro, ein Zivi übrigens. Überhaupt waren die Zivis wichtig und manchmal innovativ. Fast hätte man die Zdl-Berechtigung mal verloren, als man bei der Kampagne "Waffeln für El-Salvador" einen Rechtschreibfehler beging, und das L vergessen hatte. Die Zivis mussten immer vor den feudalen ADW-Wochenenden, die der Staat bezahlte, in die Herrenstraße zum Fischkaufen. Sie sollten dann je nach Vorrat entweder Rotbarsch oder Goldbarsch holen. Die Zivis waren überdies Spezialisten für Nachhaltigkeit. Einer hat mal drei Paletten Klopapier bestellt - und hätte fast Fahnenflucht begangen, als er eines Tages die Lieferung in einem großen LKW kommen sah. Das Klopapier ist übrigens vor zwei Jahren ausgegangen, hat also 25 Jahre lang gereicht.

Überhaupt wurde viel gemogelt. Die ADW-Finanzministerinnen hatten ihre schlaflosen Nächte ("Geschäftsführung" hieß der Bereich übrigens erst, als Männer die Stelle besetzten). Paragraph 19-Stellen, Arbeitslosenunterstützung, ABM mit Rückspenden, Arbeitslosenunterstützung, dann eine feste Stelle über das Institut für Dritte Welt-Forschung mit Rückspenden, danach Arbeitslosenunterstützung - manche konnten mit dem Paket einige Jahre in der ADW arbeiten. Zudem musste wegen der Zuschüsse im Haushalt immer ein Minus produziert und Veranstaltungen organisiert und nachgewiesen werden, die nie stattgefunden hatten. Die tatsächliche Arbeit war gleichwohl intensiver als woanders. Ich kann mich an kein Uniseminar erinnern, wo ich dermaßen viel gelernt hätte, wie in einer Themenschwerpunktgruppe der ADW. Hier eignete man sich Inhalte kommunikativ und kontrovers an, wie es in einem zweistündigen wöchentlichen Seminar gar nicht möglich wäre. Wer zudem mit einem eigenen Text durch das Stahlbad der Mittwochsredaktion gegangen war, den konnte danach so schnell nichts mehr erschrecken. Wer diese Schule mitgemacht hat, merkte später, wie lachhaft woanders, im "wirklichen Berufsleben" kritisiert und redigiert wird. Die meisten dieser Generation ab 1990 sind heute Textarbeiter. Allerdings haben viele auch ein Subordinationsproblem und sind für das normale Berufsleben verdorben.

Die Generation nach 1990 setzte sich von den Vorgängern ab, indem sie sich der Kritik der Politik verschrieb. Das lag zum einen an den Leuten: Manche orientierten sich an der Frankfurter Schule, andere waren bürgerliche Autonome, das heißt: Autonome, die Bücher lasen. Das lag aber auch an der allgemeinen politischen Entwicklung. An dem Doppelwopper von 1989 konnte man sich schon verschlucken: Die Sandinisten wurden schnörkellos abgewählt und die weltgeschichtliche Alternative zum Kapitalismus, der Sozialismus, verschwand mit einem Winseln von der Bühne. Den hatte man zwar nicht geliebt, aber das ausgerufene "Ende der Geschichte" traf linke Politik ins Mark. Der weltweite Befreiungskampf war nun nicht mehr als eine hohle Phrase.

Wer radikal bleiben wollte, orientierte sich eher an der Initiative Sozialistisches Forum, deren jour fixe ein Jahrzehnt lang der linksintellektuell attraktivste Ort in Freiburg war. Für die Älteren: die ISF war so etwas wie der KBW der 1990er Jahre. Ihre Wertkritik kannte die Formel, um den Code der kapitalistischen Gesellschaft und ihren Verblendungszusammenhang zu knacken. Die Kritik am falschen Ganzen musste logischerweise global anwendbar sein - ob es um Bananenhandel, die Unterdrückung der Aborigines, die Menschenrechte oder linke vernetzte und verstrickte Lobbypolitik ging, die Deutungsschablonen lagen immer gestanzt bereit. Es gab nach 1989 aber auch wirklich wenig an emanzipativer Praxis, was zu neuen Illusionen eingeladen hätte. Die große Ausnahme war vielleicht der Anti-Lenin aus Chiapas, der Subcommandante Marcos mit den Zapatisten. Bevor er sich die Hände blutig machte und von Macht korrumpiert wurde, ging der Zorro einfach nach Hause.

Fragend schreiten wir voran: soziale Bewegungen, machtfreie Räume und ein kritischer Internationalismus - das waren lose Orientierungspunkte nach den weltpolitischen Halluzinationen. Aber es gab auch neue weltanschauliche Angebote, nämlich die erwähnte antideutsche Tendenz. Dazu kam eine große Verwirrung um die Frage der militärischen Interventionen des Westens, beginnend mit dem Massenmord in Ruanda und dann verschärft nach 9/11. Der Grundsatz: im Zweifel gegen den Krieg und gegen moralische Kriegskredite galt nicht mehr.

Don’t mention the war! Immerhin war die ADW der 1990er sehr hellsichtig, was die Bedeutung von Flucht und Migration, Rassismus und Identitätspolitik betraf, die uns heute mehr denn je beschäftigen. Das, was heute die Republik, Europa und bald die ganze Welt erschüttert, hatte das iz3w schon lange im Visier, den ganzen Nationalismus und Autoritarismus.

Trotzdem ging es mit den Abos immer weiter bergab. Manchmal schien es dabei fast, als würde es die Redaktion geradezu noch darauf anlegen, die alte Solibewegung mit "Publikumsbeschimpfung" zu vergraulen. Insbesondere mit der Gesellschaft für das bedrohte Volk, die sich übrigens die Tage über das Karl-Marx-Denkmal in Trier beschwert hat (Marx=verbrecherische Ideologie, die den Dalai Lama nicht auf seinen Thron lässt), war man im Dauerclinch. Aber auch innerhalb der Gruppe verhärteten und polarisierten sich die Fronten über die Reizthemen Krieg und Israel, sodass die Heterogenität, die früher für Vitalität gesorgt hatte, nun als schwierig empfunden wurde und lähmte. Ein deutliches Indiz für die verlorene Lust am Streit: Die ADW-Wochenenden wurden eingestellt. Man fuhr nicht mehr gerne zusammen in den Urlaub!

Dass allerdings kein Generationswechsel wie die Jahrzehnte davor stattfand, als die Jungen die Alten mehr oder weniger aus der Kronenstraße hinaus schubsten, hatte mit all dem wenig zu tun. Auch nicht mit den angeblich unprofessionellen Arbeitsstrukturen, die ein Vorstand zu analysieren sich vorgenommen hatte. Der Modernisierungsvorstand, der mit Personalprofilen Unternehmerisches gegen Weltverbesserisches setzen wollte, scheiterte schon durch Dappigkeit in den Startblöcken. Aber das war wie gesagt nicht der Grund für den ausbleibenden Generationswechsel. Es waren schlicht keine neuen Jungen da, die alles besser machen wollten. Die jetzige Redaktion ist nun schon länger im Amt, als Kohl und Merkel jeweils Kanzler waren.

Das mit dem ausbleibenden Generationenwechsel stimmt aber nicht ganz. Ab Anfang 2000 hat das ADW-Schiff immer mehr Beiboote ins Wasser gelassen. So wie die großen Verlage auch. Der ZEIT-Verlag verkauft Wein, mit GEO kann man verreisen. Und die ADW? Ist ja schon immer viel mehr als nur eine Zeitschrift. Aber keiner merkt es. Da ist natürlich das Archiv, das tourismuskritische Projekt Fernweh, das Bildungsprojekt Fernsicht, Freiburg-Postkolonial, der südnordfunk, Turuq (Präventions- und Bildungsarbeit zum Themenfeld Islamismus). Insgesamt arbeiten derzeit 12 hauptamtliche (alle in Teilzeit) Leute in der Kronenstraße. Wer da mal mittags vorbeikommt könnte meinen, es handele sich um ein generationenübergreifendes Arbeitsprojekt samt Katze Kio, die übrigens bei e-bay gekauft wurde.

Was bleibt? Drei Generationen (wir nannten sie: eine sozialdemokratische, eine antiimperialistische, eine ideologiekritische) plus eine erneute Veränderung, die noch keinen Namen hat. Jede Generation grenzte sich dabei von der Vorgängerkohorte ab. Das nennt man: Generation-Building. Zudem: Viele politische Dummheiten, aber ständige Lernprozesse, vor allem in Demokratie als Lebensform. Aufregende und intensive Zeiten, die viele ADWler als die besten Jahre ihres Lebens bezeichnen.

Die ADW ist ein 1968er Produkt und damit Teil der Geschichte der "Neuen Linken" in der Bundesrepublik und der politisch-kulturellen Veränderungen in dieser Republik bzw. der Strukturen, die eben nicht verändert worden sind. Verändert hat sich allerdings vor allem die Öffentlichkeit: Während es in den 1970er Jahren zu wenig Informationen über das globale Dorf gab, hat man heute zu wenig Zeit, um all die Informationen zu lesen, die man, auch ohne allen medialen Unsinn, lesen könnte. Insofern ist es vielleicht ganz sinnig, dass in der Kronenstraße die "Aktion" wieder an Gewicht gegenüber der "Information" gewonnen hat.

Wie auch immer: Am Anfang - Ihr erinnert Euch - stand die gigantische Taufparty in der Stadthalle. Heute zum fünfzigsten Geburtstag machen wir wieder eine Party - natürlich ersetzen wir dabei das anfängliche T der Taufparty durch ein S! Viel Prost dabei.

Die Laudatio wurde von Dr. Jörg Später am 14. April 2018 in Freiburg im Breisgau gehalten.

© Dr. Jörg Später, Juni 2018.

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2018/06/14

Über Powernapping und Turboschlaf

von Dr. Hans-Albert Wulf, Berlin

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Wilhelm Busch: Die Fliege, Münchener Bilderbogen Nro. 425, 1866.

Je länger einer schläft, desto mehr verdient er. Wer bis zum Mittag schläft, erhält eine Sonderprämie. Wann und wo immer man ein Nickerchen machen möchte, man legt sich einfach aufs Ohr. Das nötige Bettzeug stellt die Natur. Es gibt Büsche, die tragen Betttücher aus Laub und ihre Rinde besteht aus Federkissen. Dieser Traum aus der "verkehrten Welt" des Schlaraffenlands war spätestens ausgeträumt, als man sich anschickte, aus Zeit Geld zu machen. Wer ihn dennoch weiter träumen wollte, dem rückten Weckkommandos zu Leibe, die mit Stangen gegen die Fenster klopften, um die müßigen Langschläfer zur Frühschicht zu treiben.
Solch handgreiflicher Methoden bedarf es heute freilich nicht mehr. Die Zeitdisziplin hat sich als Kulturtechnik voll in unsere Seelen eingebrannt. Dass einer morgens nicht aus dem Bett herausfindet, den lieben langen Tag in den Federn liegen bleibt, gilt als Sinnbild von Faulheit und Müßiggang schlechthin. Der Volksmund nannte diese Spezies drastisch beim Namen: Murmeltier, Bärenhäuter, Schlafhaube, Schlafmütze, Siebenschläfer, Träumer, Polsterdrücker usw. Und auch die Sprichwörter lassen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: "Der Schlaf ist ein Dieb, er stiehlt uns die Hälfte des Lebens." "Der Schlaf ist ein Bruder des Todes." "Je länger man schläft, je weniger man lebt." "Je länger geschlafen, je weniger geschaffen." "Lange schlafen, tut Laster schaffen." Schlafen hat in unserer Kultur meist eine negative Bedeutung. Der Schlaf widerspricht dem Projekt der vernunftgeleiteten Selbstkontrolle. Die Dauerschlafmüßiggänger, so sagt man, hätten das Leben mit dem Schlaf verwechselt.
Für den fleißigen und regsamen neuzeitlichen Menschen ist der Schlaf eine einzige unliebsame Störung. Bedeutet er doch, dass über einen längeren Zeitraum des 24-Stunden-Tages überhaupt nicht gearbeitet wird. Zudem ist ja zwischen einem Faulen und einem Schläfer äußerlich auch kaum ein Unterschied festzustellen. Der Schlaf, diese Sphäre der Untätigkeit, sei insofern nicht allein der kleine Bruder des Todes, sondern auch der Vetter des Müßiggangs und der Faulheit. Der Schlaf, so die Mahnung, sei ganz generell eine Pause des Lebens, eine im Grunde störende Unterbrechung. Der übermäßige Schlaf mache unser ganzes Gemüt weichlich und verdrossen, und hindert uns, auch wachend recht wirksam zu sein. "Leben ist doch nicht Atemholen, sondern Wirken." (Johann Bernhard Basedow, Zur christlichen Besserung und Zufriedenheit in den vornehmen Ständen, Leipzig 1782, S. 233f.)
Der Frühaufsteher, das ist heute der dynamische Tatmensch, der bevor er sich ins Büro begibt, erst einmal zehn Kilometer durch den Wald joggt oder 20 Bahnen im Schwimmbad herunterkrault. Der Frühaufsteher, das ist z.B. der Manager, der sich damit brüstet, mit nur vier Stunden Schlaf auszukommen und immerhin damit napoleonisches Format erreicht. Karl Kraus, der gegen die Geschäftigkeit der Frühaufsteher mit all seinem beißenden Sarkasmus Front machte und fürs mittägliche Aufstehen plädierte (da nur die Dummheit zeitig aufstehe), hat diese Entwicklung nicht aufhalten können. Schlaf benötigt Zeit und die lässt sich nicht beliebig vermehren. Das bedeutet, dass in der modernen Zeitbudgettheorie und -praxis die verschiedenen Sphären miteinander in Konkurrenz geraten. Die Zeit, die zu viel geschlafen wird, geht ja eindeutig zu Lasten der Arbeit und gehört daher letztlich zur Sphäre des Müßiggangs.
Trotz solcher Angriffe auf den Schlaf lässt er sich schlechterdings nicht völlig vermeiden. Schlafen muss der Mensch nun einmal, sonst geht er zugrunde. Schlafentzug war bei den Anachoreten in der ägyptischen Wüste im Mittelalter eine wichtige Askeseübung. Makarius der Große wollte sein Schlafbedürfnis zur Gänze überwinden. Immerhin schaffte er es 20 Tage und Nächte, also ca. 480 Stunden, bis ihm das Gehirn vertrocknet war. Der heutige Weltrekord im Nicht-Schlafen beträgt angeblich 266 Stunden. Wenn es auch aussichtslos sein dürfte, das Projekt des Makarius, des Schlafes vollends zu entraten, zu verwirklichen, so versuchten die Anachoreten dies wettzumachen, indem sie in unbequemer Lage schliefen - im Sitzen oder Stehen oder auf dem nackten Boden. Der Erfinder der so genannten wissenschaftlichen Betriebsführung und Vorkämpfer der Rationalisierung, Frederick Winslow Taylor (1856-1915), ließ sich hiervon offensichtlich inspirieren. Da er häufig unter Alpträumen litt und meinte, diese seien durch die Rückenlage beim Schlafen hervorgerufen, konstruierte er sich eine Vorrichtung aus Latten und Riemen, die bei Einnahme der Rückenlage einen derartigen Druck ausübte, dass er sofort erwachte. Dass Taylor angesichts solch fragwürdiger Therapie später chronisch unter Schlafstörungen litt und überhaupt nur noch im Sitzen schlafen konnte, ist nicht weiter verwunderlich.
Über solche individuellen Unbilden des Schlafentzugs hinaus kann Schlafmangel aber auch zu schweren Unfällen führen. Immer wieder, wenn es zu technischen Katastrophen kommt, wird als Ursache "menschliches Versagen" genannt und hierbei spielt sehr häufig Übermüdung des Bedienungspersonals eine entscheidende Rolle. So z. B. 1986 im Atomkraftwerk Tschernobyl, als eine Betriebsstörung auftrat, die den Verlust von Kühlwasser für den Reaktorkern zur Folge hatte. Die Belegschaft der Nachtschicht war völlig übermüdet und tat nun genau das Gegenteil dessen, was die Katastrophe hätte verhindern können. Als es zu einer Hitzeentwicklung im Reaktor kam, schalteten sie aus unerfindlichen Gründen alle automatischen Sicherungssysteme aus. Und damit nicht genug, legten sie auch noch das Notkühlsystem des Reaktors still. Die Folge war die bisher größte AKW-Katastrophe. All die angestrengten Zeitsparaktionen, all die Methoden zur Rationierung und Rationalisierung des Schlafs schlagen hier ins Gegenteil um. Schlafreduktion bedeutet, wie das Beispiel zeigt, dass Zeitsparstrategien blindlings in die technische Katastrophe führen und somit in höchstem Maße kontraproduktiv wirken können.
Derartige unausgeschlafene Unfälle müssen nicht immer solche apokalyptischen Ausmaße annehmen. In unserer Arbeitswelt sind sie tagtäglich gang und gäbe. Die häufigsten Arbeitsunfälle durch Müdigkeit sind Fehler bei der Bedienung von Maschinen, Stolpern über allerhand Gegenstände, die störend auf dem Boden herumliegen, Ausrutschen auf glatten oder glitschigen Flächen und Stürze von Leitern und Gerüsten. Bei Übermüdung leidet die Aufmerksamkeit, die Reaktionszeiten werden länger und die Konzentrationsfähigkeit lässt nach.
Welches sind nun die Ursachen von Übermüdung am Arbeitsplatz? Da sind zunächst einmal eine zu hohe Arbeitsbelastung und ein starker Arbeitsdruck. Und der hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Es gibt immer weniger Zwischenpausen, dafür aber immer stärkere Arbeitsintensivierung und Arbeitshetze bei steigenden Überstunden. Hinzukommen immer längere An- und Abfahrtwege. Die Zahl der Pendler steigt stetig an und sie pendeln immer länger. Und über all diesen Ursachen schwebt die Dunstglocke des Schlafmangels insbesondere bei Schichtarbeit.
Neben diesen Schäden für die einzelnen Beschäftigten bringt die Unausgeschlafenheit aber auch erhebliche wirtschaftliche Nachteile. Schlafmangel bedeutet ein Gesundheitsrisiko und dies führt bei den Beschäftigten zu wachsenden krankheitsbedingten Ausfallszeiten. Die Folgen sind unübersehbar: Laut mehrerer internationaler Untersuchungen geben fast die Hälfte der Erwachsenen an, dass ihnen Tagesmüdigkeit Probleme im Job bereite. Viele klagen über zunehmende Konzentrationsschwierigkeiten. Und dies hat unmittelbar ökonomische Folgen, weil müde Menschen unproduktiver sind, weil sie mehr Fehlentscheidungen treffen oder weil sie öfter in Unfälle verwickelt sind. Aus solchen vor allem ökonomischen Überlegungen hat sich die Idee des sog. Powernapping entwickelt. Sie ist eine Reaktion auf all diese betrieblichen Unausgeschlafenheiten. "Nap" bedeutet auf Englisch "Schläfchen" oder "Kurzschlaf", "to nap" heißt übersetzt "schlummern".
Nun ist der Mittagsschlaf ja bekanntlich kein neues Phänomen. In südlichen Ländern wie Italien und Spanien wurde die Mittagsruhe wegen der Hitze oftmals auf zwei Stunden und mehr ausgedehnt. Man geht zum Essen nach Hause und legt sich danach erstmal aufs Ohr. Diese traditionelle Sitte ist angesichts der Durchwucherung der Gesellschaften mit dem kapitalistischen Ungeist, insbesondere der Verdichtung der Arbeitszeit, allerdings auf dem Rückzug. Außerdem arbeiten immer mehr Arbeitnehmer heute in klimatisierten Großraumbüros.
Ein kurzer Schlaf, der den Energiespeicher wieder auffüllt, ist also keine Erfindung der modernen Zivilisation. Lange bevor Wissenschaftler seine positive Wirkung belegen konnten, hatte der Mensch das Bedürfnis, in der Mittagszeit zu ruhen. Und dies wird heute von neueren Erkenntnissen der Chronobiologie bestätigt. Die Chronobiologie geht davon aus, dass alle Menschen über eine so genannte „innere Uhr“, die von den Genen gesteuert wird, verfügen. Dies bedeutet, dass wir einem physiologisch bestimmten Biorhythmus unterliegen. Demnach ist die Leistungsfähigkeit keine durch den Tag konstant bleibende Größe, sondern lässt sich charakterisieren als eine Art Leistungskurve mit Höhen und Tiefen.
Mit der Verdauungsaktivität nach dem Mittagessen hat dies aber nur am Rande zu tun. Der Schlafforscher Göran Hajak schreibt hierzu: "Nein, das Mittagstief kommt so oder so. Für Menschen, die gegen sieben Uhr morgens aufstehen ohne Mahlzeit gegen 14 Uhr, mit Mahlzeit dagegen ein bisschen früher, eben meistens nach dem Mittagessen, was bei den meisten Menschen gegen 13 Uhr ist. Die Mahlzeit zieht das also etwas vor und verstärkt es." (Der Spiegel 24.04.2013) Zwischen 13 bis 14 Uhr stellt sich also mit schöner Regelmäßigkeit der Mittagsdämon ein und eine unabweisbare Müdigkeit verbreitet ihren bleiernen Dunst. Und dem sollte man sich nicht entgegenstellen. Das wäre töricht und ineffektiv. Studien belegen, dass wir nach einem Powernapping konzentrierter arbeiten, belastbarer und leistungsfähiger sind. Das berüchtigte "Mittagstief", auch als Suppenkoma bezeichnet, ist nichts anderes als Konsequenz der inneren Uhr, die nach einer zweiten, kurzen Schlafphase verlangt - dem altbekannten Mittagsschlaf. Für diese neue alte Idee des Mittagsschlafs haben findige Unternehmen der Einrichtungs- und Möbelbranche ihr Repertoire erweitert und bieten entsprechende Hilfsmittel an. Das reicht von verschiedenen Betten und Liegen und aufblasbaren Schlafkojen hin zu Gerätschaften für die musikalische Untermalung. Als Kuriosum hat sich die Einrichtungsbranche ein Kissen einfallen lassen, das haargenau einem Leitzordner nachempfunden ist.
Es wird gesagt, dass der perfekte Kurzschlaf, auch Turboschlaf genannt, etwa 20 bis 25 Minuten andauern sollte. Bei einer längeren Schlafphase fällt der Körper in einen Tiefschlaf und es ist dann nicht leicht, den Schläfer wieder in den Wachzustand zu holen.
Laut einer Studie der Fraunhofergesellschaft über den menschlichen Biorhythmus nimmt insbesondere im Dienstleitungs- und Verwaltungssektor der Anteil geistiger Tätigkeiten in unserer Gesellschaft stetig zu. "Um anstehende Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen, gewinnt die Förderung und Entfaltung der kognitiven, emotionalen und sozialen Ressourcen des arbeitenden Menschen an Bedeutung. Der produktive Einsatz und die Entwicklung der menschlichen Ressourcen erfordert eine regelmäßige Regeneration. Und dies kann durch die Einbeziehung menschlicher Rhythmen in die Arbeitsgestaltung erreicht werden. Die Leistungs- und Gesundheitsorientierung der Mitarbeiter trägt zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsqualität bei." Soweit die Fraunhofergesellschaft.

Beispiele für Powernapping

Im Rahmen eines Gesundheitsfürsorgeprogramms ermöglicht die Stadtverwaltung Vechta ihren Mitarbeitern im Anschluss an die gesetzliche 30-minütige Ruhepause eine mittägliche Entspannungspause. Die Beschäftigten verpflichten sich, die zusätzliche Pausenzeit für Entspannungs- bzw. Bewegungsübungen zu nutzen. Während dieser 20-minütigen Entspannungsphase sitzen die Beschäftigen auf dem Bürostuhl oder liegen auf einer Bodenmatte. Das Ergebnis lässt aufhorchen:
1. Hohe Arbeitsproduktivität: In keiner landesweit vergleichbaren Kommune ist die
Arbeitsproduktivität der Mitarbeiter - bezogen auf den Tätigkeitsumfang und den Personalbestand - höher.
2. Hohe Leistungsbereitschaft: Anfallende Mehrarbeit wird von den Mitarbeitern akzeptiert und von den Teams eigenständig organisiert.
3. Der Krankenstand liegt deutlich unter dem Durchschnittswert deutscher
Kommunalverwaltungen.

Beim Gelsenkirchener Haustechnikunternehmen Vaillant gehört das Nickerchen mittlerweile zum Tagesablauf. Zwei Räume mit gepolsterten Liegen und Kissen stehen den Mitarbeitern dafür zur Verfügung. Ähnlich verfährt man beim Chemiekonzern BASF, dem Automobilhersteller Opel sowie bei der Lufthansa.

Insgesamt hat sich das Powernapping trotz der erwiesenen Vorteile in Deutschland aber bisher kaum durchsetzen können. Chronobiologie und kapitalistische Ökonomie befinden sich hier ganz offensichtlich in einem krassen Gegensatz. Das vorrangige Ziel kapitalistischer Produktion besteht bekanntlich darin, möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Erstaunlicherweise gibt es aber dennoch etliche Bereiche unternehmerischen Handels, in dem von diesem zentralen Verwertungsinteresse abgewichen wird. Da ist z.B. die traditionelle straffe Betriebshierarchie, die ja angesichts der horizontalen computergestützten Kommunikation ein ausgewachsener Dinosaurier ist.
Und so ähnlich scheint es sich auch mit dem Powernapping zu verhalten .Oftmals geht es eben nicht nur um die Produktivität, sondern ebenso um Herrschaft und Kontrolle und die Wahrung der bestehenden Strukturen. Und beide Zielsetzungen können sich gewaltig ins Gehege kommen. Denn dass nun ausgerechnet jene Sphäre, die traditionell als Ausbund der Faulheit und der Trägheit gilt, eben der Schlaf; eine Futterstelle für wirtschaftlichen Erfolg sein soll, will in den Schädel eines traditionellen kapitalistischen Unternehmers nicht ohne weiteres hinein. Wer viel schläft gilt als faul und als Leistungsverweigerer oder gar als verdeckter Saboteur im Arbeitsprozess.
"Schlafen im Büro, das wäre ja wohl noch schöner? Wollt ihr am Ende gar eine Olympiade der Faulenzer veranstalten? Wer am meisten schläft, erhält eine Medaille? So wie im Schlaraffenland? Wer hat sich das bloß ausgedacht? Powernapping?! Wieder so eine amerikanische Mode! Das ist doch alles Quatsch Schlafen bei der Arbeit? Das haben wir noch nie gemacht. Da könnte ja jeder kommen. Da lob‘ ich mir unsere althergebrachten Tugenden. Arbeit ist Arbeit und Schlaf ist Schlaf. Und damit basta! Und wer an seinem Arbeitsplatz schläft, ist nichts anderes als ein Faulpelz. Solche Mitarbeiter können wir nicht gebrauchen. Übrigens Schlaf und Schlaf ist außerdem zweierlei. Wer will denn überprüfen, ob das Powernapping tatsächlich der Regeneration und der geistigen Fitness dient oder ob da nicht einer seinen Rausch vom Vorabend ausschläft. Und überhaupt: Die Maschinen schlafen ja schließlich auch nicht. Und gemessen an der Perfektion der Maschinen sind die Menschen mit all ihrer Fehlerhaftigkeit doch allzu oft nur Störquellen in der Produktion. Und nun kommen sie doch tatsächlich daher und wollen ein Mittagsschläfchen machen. Die Maschinen brauchen keinen Mittagsschlaf!"
Die deutsche Gesellschaft gilt gemeinhin als Leistungsgesellschaft. Und dort steht der Schlaf nicht gerade in einem guten Ruf. Für Menschen, denen der ganz offizielle Büroschlaf verwehrt ist oder die Angst haben, sich vor Kollegen, Vorgesetzten oder Besuchern lächerlich zu machen, hat ein findiges Unternehmen einen speziellen Powernapp-Liegesessel auf den Markt gebracht, dessen Rückenlehne sich mit einem leichten Handgriff in den Schlafmodus nach hinten kippen und sich ebenso rasch und einfach wieder in den Wachmodus zurückschnellen lässt.
Eine andere Möglichkeit des Powernapping liegt darin, dass man sich klammheimlich während der Arbeit auf die Toilette zurückzieht und dort ein kleines Nickerchen hält. Man nennt das dann Toilettnapping. Dass eine solche Form, sich kurzerhand von der Arbeit davonzustehlen, von Unternehmerseite nicht gern gesehen und nicht unbedingt als leistungsfördernde Angelegenheit betrachtet wird, zeigt eine kleine Geschichte von der Kieler Howaldtswerft aus den 60er Jahren. Für die mehrtausendköpfige Belegschaft gab es dort unendliche Fluchten von Toilettenkabinen, bei denen die Türen aus Kontrollgründen oben und unten abgeschnitten waren. Und um die Verweildauer zu beschränken, hatte man eine automatische Wasserspülung installiert, die alle fünf Minuten zentralgesteuert in allen Kabinen gleichzeitig ihren Dienst tat. Und so bot sich denn das groteske Bild, wie zig Arbeiter alle fünf Minuten wie auf Kommando sich mit der Bildzeitung in der Hand erhoben, um sich nach dem Ende der Wasserspülung wieder nieder zu setzten und die Lektüre fortzusetzen.
Unternehmenschefs und höhere Vorgesetzte haben sich da eine bequemere Art des Powernapping ausgedacht. Man schließt sich mittags im Büro ein und will auf keinen Fall gestört werden, da man ein wichtiges Auslandstelefonat zu führen habe.
Der Psychologe Jürgen Zulley ist in Deutschland einer der Päpste der Schlafforschung und Schlafkunde. Er hat unendlich viele Bücher zu diesem Themenkomplex verfasst und sich dabei sicher so manche schlaflose Nacht um die Ohren geschlagen. Die Bedenken gegen einen regenerierenden Mittagsschlaf, so sein Fazit, sind in unserer Gesellschaft traditionell fest verwurzelt: "Ein Firmenchef erzählte mir, dass er nach dem Mittagessen eigentlich seine Produktion zugunsten einer Ruhephase seiner Mitarbeiter abstellen könnte, weil in dieser Zeit so viel Ausschuss produziert wird. Er hat es aber nicht gemacht, weil er die öffentliche Kritik fürchtete, dass in seinem Betrieb geschlafen wird."

© Dr. Hans-Albert Wulf, Juni 2018.

Dr. Hans-Albert Wulf ist Soziologe und Autor des Buches »Faul! Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft«, BOD-Verlag 2016.

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2018/06/12

Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin, Teil 2
Walter Womacka: Aus der Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, 1964

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Walter Womacka: Aus der Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Detail, Klebeglas, 1964.
Im ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR, Treppenhaus.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2018.

Walter Womacka (1925-2010) war ein vielfach ausgezeichneter Staatskünstler der DDR, Mitglied der SED und von 1968 bis 1988 Rektor der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Seine Arbeiten sind typische Beispiele für den Stil des Sozialistischen Realismus. Einige seiner Arbeiten sind noch heute im ostberliner Stadtbild präsent, fast 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der DDR. Dazu zählt der Mosaikfries »Unser Leben« am Haus des Lehrers, Alexanderstraße 9, nahe des Alexanderplatzes. Dieser Mosaikfries aus dem Jahr 1962 ist in großer Höhe an allen vier Seiten des Hochhauses angebracht. Er gilt als das flächenmäßig größte Kunstwerk Europas und ist aus 800.000 Einzelsteinen zusammengesetzt. Vorbild für den Mosaikfries waren Wandbilder der mexikanischen Muralisten.
Ein weiteres Werk im Stadtbild ist »Der Mensch, das Maß aller Dinge« von 1968 an der Ecke Sperlingsgasse/Friedrichsgracht in Berlin Mitte. Das Wandbild besteht aus 360 emaillierten, vielfarbigen Kupferplatten und ist 90 Quadratmeter groß. Bekannt ist Walter Womacka auch für sein Gemälde »Wenn Kommunisten träumen« Öl auf Hartfaser, 280 x 552 cm, aus dem Jahr 1975, das im Palast der Republik hing. Heute befindet sich das Gemälde im Besitz des Deutschen Historischen Museums (DHM).
Das große Glasfenster in dem Foto oben heißt »Aus der Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung« und enthält Szenen aus der deutschen Geschichte. Es befindet sich im Treppenhaus des ehemaligen Staatsratsgebäudes der DDR, Schlossplatz 1 in Berlin Mitte. Heute ist dort die private European School of Management and Technology (ESMT) untergebracht. Das Glasfenster stammt aus dem Jahr 1964 und ist in Klebeglas-Technik ausgeführt. Dabei ist farbiges Glas auf weißes Glas aufgeklebt. Die überwiegend roten Farben des Südfensters leuchten besonders stark, wenn die Sonne darauf fällt. So entsteht ein glühender, farbenfroher Eindruck. Über dem Schriftzug "Trotz Alledem!" sind die Köpfe von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu sehen. Die Gründer der KPD wurden im Januar 1919 in Berlin umgebracht.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2018.

Teil 1 von »Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin« erschien am 2018/03/25 auf kuhlewampe.net.

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2018/06/10

Erinnerungen an Dieter Kunzelmann

von Dr. Hans-Albert Wulf, Berlin

Als ich 1964 in Tübingen Soziologie und Philosophie studierte, bin ich auf meinem Heimweg von der Uni auf ein Plakat gestoßen, das mich sofort elektrisiert hat. "Suchanzeige" stand groß drüber und: "Wir gehören dieser Welt nur in dem Maße an, wie wir uns gegen sie auflehnen."
Im Impressum war zu lesen: Th. W. Adorno, 6 Frankfurt/Main, Kettenhofweg 123.
Das stimmte natürlich nicht. Denn Adorno hatte ja bekanntlich den politischen Widerstand gegen die herrschende Gesellschaftsordnung längst zu Grabe getragen. Und er hat denn auch sofort Strafanzeige gestellt und die Münchener Autoren des Plakats wurden wegen der Verletzung des Presserechts verurteilt. Der berühmte Tübinger Philosoph Ernst Bloch hatte ebenfalls das Plakat gelesen und von der Sache Wind bekommen. In einem Brief an Adorno vom 11. 7. 64 schreibt er: "Wegen der Münchener Mistviecher habe ich mich umgehört. Vielleicht sage ich Dir nichts Neues, aber die Lumpen, die du Narren nennst, heißen: Dieter Kunzelmann, München 13, Bauerstraße 24 (ist der Chef)" u.a.
Ich habe natürlich nicht an Adorno, sondern an die auf dem Plakat ebenfalls angegebene postlagernde Adresse "Antithese" geschrieben. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Am 24. Juli erhielt ich eine Postkarte von Kunzelmann, in der er und sein Freund Frank Böckelmann ihren Besuch in Tübingen ankündigten, um eine "Mikrozelle" der "Subversiven Aktion" aufzubauen. (Bemerkenswert ist, dass man sich in den 60er Jahren bis in die revolutionärsten Kreise hinein noch mit "Sie" anredete.)
In Wikipedia wird die "Subversive Aktion" bündig folgendermaßen beschrieben: "Die Subversive Aktion war eine kleine gesellschafts- und konsumkritische Gruppe, die von 1963 bis 1966 bestand. Sie ging aus der Münchner Künstlergruppe SPUR (1958 bis 1962) hervor, griff die Kritische Theorie der Frankfurter Schule auf und leitete daraus provokative, nonkonformistische Aktionen ab, um auf eine Kulturrevolution hinzuwirken und diese symbolisch im Hier und Jetzt vorwegzunehmen. Ihr Gründer war Dieter Kunzelmann, prominentes Mitglied war der spätere Studentenführer Rudi Dutschke."
Eine sehr frühe Aktivität der Subversiven Aktion war ein Plakat zur Ermordung des amerikanischen Präsidenten Kennedy. Die Headline lautete: "Auch du hast Kennedy erschossen!" Und nun folgte ein im Jargon der Freudschen Psychoanalyse gehaltener Text, der nicht eben leicht zu verstehen war. Und als hätten die Verfasser dies geahnt, haben sie ihren Sermon mit folgendem Satz beendet: "Wer all dies nicht versteht, will es nicht verstehen und untermauert nur die Wahrheit dieser Sätze; gleichzeitig entpuppt er sich als devoter Befehlsempfänger gesamtgesellschaftlicher Dogmen." (Ich besitze noch drei Exemplare dieses Plakats und sie sind heute einiges wert.)
Theoretisches Organ der "Subversiven Aktion" war die Zeitschrift "Anschlag", in der Aufsätze von Böckelmann, Dutschke, Kunzelmann, Rabehl u.a. abgedruckt waren. "Alle Rechte bei denen, die sie sich nehmen" war im Impressum zu lesen. Darüber hinaus wurden zwei Hefte der so genannten "Unverbindlichen Richtlinien" publiziert. Im ersten Heft war das eschatologische Programm der Subversiven Aktion formuliert, in dem nichts Geringeres als die Abschaffung des Todes gefordert wird. ("Der Mensch muss sich verstehen als Herr über Leben und Tod.") Am Schluss des Traktats ist ein Satz zu lesen, der mich bis heute immer wieder fasziniert und belustigt hat: "Wir versprechen das Blaue vom Himmel herunter, und - wir werden es halten."
Zurück zur Tübinger Mikrozelle. Schon am 6. August erhielt ich eine weitere Postkarte, in der Kunzelmann und Böckelmann Nägel mit Köpfen machen:
"Sehr geehrter Herr Wulf! Vielen Dank für Ihren letzten Brief. Böckelmann und ich werden am Montag, 10. August nach Tübingen kommen und gleich nach unserer Ankunft bei Ihnen unser Hauptquartier aufschlagen. Wir hoffen in Ihnen eine wirkliche Stütze für die noch fragmentarische Mikrozelle Tübingen zu finden (sic!). Auf ein baldiges Kennenlernen, Ihr Dieter Kunzelmann, Frank Böckelmann. Bereiten Sie bitte alles vor. Wir haben nur zwei Tage Zeit, um die Blochsche Utopie in Tübingen zu verwirklichen. Bitte heuern Sie Bloch als Oberpriester für unsere mystischen Handlungen an!"
Großer Gott! Worauf hatte ich mich da eingelassen. Wollen die beiden Revolutionäre doch tatsächlich in meiner 12qm kleinen Giebelmansarde ihr Lager aufschlagen. Direkt unterm Dach in der 4. Etage. Wasser und Toilette im Keller.
Als Student im ersten Semester hatte ich naturgemäß nur sehr wenige Bücher und außer Adorno und ein bisschen Marx fast gar keine linken. Das sehen meine beiden Besucher bei ihrer Ankunft in meiner Winzmansarde mit einer gewissen Betroffenheit und ziehen sofort los, um Abhilfe zu schaffen. Nach zwei Stunden kehren sie zurück mit einem großen Paket linker Literatur. Darunter waren:
Herbert Marcuse, Eros und Kultur.
Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen.
Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Über Hegels Philosophie.
Anderntags ist Kunzelmann auf dem Weg zur Kellertoilette meiner Vermieterin im Treppenhaus über den Weg gelaufen und hat sie ohne weiteres als "blöde Hirschkuh" tituliert. Die "blöde Hirschkuh" hat mir daraufhin meine Giebelmansarde gekündigt und ich musste mir ein neues Zimmer suchen. Ich bin dann auf den Ammerhof gezogen und habe dort all die von Kunzelmann besorgten Bücher mit Begeisterung gelesen. Und so kann ich mit Fug behaupten, dass Dieter Kunzelmann mein politischer Lehrmeister war. Auch wenn die Mikrozelle Tübingen nicht zustande kam und sich die "Subversive Aktion" 1966 insgesamt auflöste.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Juni 2018.

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2018/06/08

Lesetipps: Einige (mehr oder weniger berühmte) Bücher von und über 1968

Aufgesammelt von Dr. Christian G. Pätzold

Die Bücher von und über 1968 füllen ganze Bibliotheken. Besonders jetzt, da ein halbes Jahrhundert vergangen ist, erscheinen einige neue Bücher. Daher habe ich mal eine kleine intuitive Liste zusammengestellt. Ich denke, dass diese Bücher den Zeitgeist der linken Revolte von 68 ganz gut wiedergeben, da sie entweder um 68 erschienen sind oder von Leuten geschrieben wurden, die dabei waren. Da ich damals aktiv an der Studentenbewegung in West-Berlin beteiligt war, ergibt sich ein Schwerpunkt auf West-Berlin, obwohl 68 natürlich eine fast weltweite Bewegung gewesen ist.
1968 war nicht nur ein Jahr der Musik, der Feten, der Aktionen, der Happenings, der Teach-ins, der Diskussionen und der Demonstrationen, sondern auch ein Jahr des Bücherlesens. Es gab damals ziemlich viele politische Buchläden und alle haben viel gelesen, denn alle wollten schlauer werden. Ich meine damit die Beteiligten an 68, nicht die Bild-Leser. Denen reichten großformatige Fotos und der Muff von tausend Jahren.
Man hat von einem "langen Jahr 1968" gesprochen, weil es schon am 2. Juni 1967 mit der Erschießung Benno Ohnesorgs anfing, und erst am 17. August 1969 mit dem Woodstock Music Festival endete. Ich hoffe, dass die folgenden Lesetipps für Menschen eine Hilfe sind, die sich näher mit 68 und den weit reichenden Folgen befassen möchten. Noch ein Tipp zur bequemen Bücherbeschaffung: Die meisten Bücher kann man heutzutage antiquarisch im Internet zu einem kleinen Preis bestellen. Manchmal hat man sogar Glück und bekommt einen echten historischen Buchschatz zugeschickt. Viel Spaß beim Schmökern.
In der folgenden Liste sind nur Bücher von richtigen Verlagen aufgeführt. Ich muss aber anmerken, dass um 1968 auch Dutzende von Raubkopien von systemkritischer Literatur kursierten, meist allerdings in kleinerer Auflage. Um die Geschichte der Raubdrucke zu schreiben, bräuchte man ein eigenes Kapitel.

1. Gretchen Dutschke: Rudi Dutschke. Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Eine Biographie. Köln 2007. Kiepenheuer und Witsch.
2. Ulrich Enzensberger: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967-1969. München 2006. Goldmann.
3. Ute Kätzel: Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration. Berlin 2002. Rowohlt.
4. Hajo Funke: antiautoritär. Hamburg 2017. VSA Verlag.
5. Jenny Schon: 1967 Wespenzeit. Roman. Berlin 2015. dahlemer verlagsanstalt.
6. Rainer Langhans/Fritz Teufel: Klau mich. StPO der Kommune I. Frankfurt/Main und Berlin 1968. edition Voltaire.
7. Gerd Koenen/Andres Veiel: 1968: Bildspur eines Jahres. Köln 2008. Fackelträger-Verlag. (zirka 200 kommentierte Schwarz-weiß-Fotos).
8. Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Berlin (Ost) 1968. Dietz. (zuerst 1848).
9. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. (One-Dimensional Man). Neuwied und Berlin 1967. Luchterhand.
10. Mao Tse-tung: Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung. Peking 1968. Verlag für fremdsprachige Literatur. ("Das rote Buch" oder "Maobibel" genannt).
11. Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. (Les Damnés de la terre). Vorwort von Jean-Paul Sartre. Reinbek bei Hamburg 1969. Rowohlt.
12. Ernesto Che Guevara: Guerilla - Theorie und Methode. Herausgegeben von Horst Kurnitzky. Berlin (West) 1968. Wagenbach.
13. Uwe Soukup: Der 2. Juni 1967: Ein Schuss, der die Republik veränderte. Berlin 2017. Transit.
14. Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hg.): 1968 Die Revolte. Frankfurt am Main 2007. S. Fischer.
15. Klaus Theweleit/Rainer Höltschl: Jimi Hendrix. Eine Biographie. Berlin 2008. Rowohlt.

Und dann sind 2018 im Verlag Klaus Wagenbach Berlin noch 5 wichtige Texte von damals erschienen:
16. Rudi Dutschke: Geschichte ist machbar. Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens.
17. Erich Fried: und Vietnam und.
18. Ulrike Marie Meinhof: Bambule. Fürsorge - Sorge für wen?
19. Peter Brückner: Ungehorsam als Tugend. Zivilcourage, Vorurteil, Mitläufer.
20. Peter Schneider: Ansprachen. Reden, Notizen, Gedichte.

Noch mehr interessante Bücher von damals:
21. Bahman Nirumand: Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt. Reinbek 1967. Rowohlt.
22. Hans Magnus Enzensberger (Herausgeber): Kursbuch. Frankfurt am Main 1965ff. Suhrkamp.
23. Malcolm X: The Autobiography. Harmondsworth 1968. Penguin Books.
24. Eldridge Cleaver: Soul on Ice. New York 1968. Dell Publishing Co.
25. Louis Althusser: Für Marx. Frankfurt am Main 1968. Suhrkamp.
26. Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie. 2 Bände. Frankfurt am Main 1968. Suhrkamp. (Die bunten Taschenbücher der edition suhrkamp, die seit 1963 erschienen, hatten hohe Auflagen. Schon die Regenbogenfarben allein waren ein Statement im Bücherregal).
27. Paul A. Baran: Unterdrückung und Fortschritt. Essays. Frankfurt am Main 1966. Suhrkamp.
28. Paul M. Sweezy: Theorie der kapitalistischen Entwicklung. Eine analytische Studie über die Prinzipien der Marxschen Sozialökonomie. Frankfurt am Main 1970. Suhrkamp.
29. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt am Main 1967. Suhrkamp.
30. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 3 Bände. Marx Engels Werke Band 23 bis 25. Berlin (Ost) 1969. Dietz.

Einige wichtige Autoren, die in theorieorientierten Studentenkreisen gelesen wurden:
31. Karl Korsch: Marxismus und Philosophie. Frankfurt am Main 1966. Europäische Verlags-Anstalt. (zuerst 1923).
32. Walter Benjamin: Illuminationen. Frankfurt am Main 1961. Suhrkamp.
33. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände. Berlin (Ost) 1954-1959. Aufbau-Verlag.
34. Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Frankfurt am Main 1968. S. Fischer.
35. Erich Fromm: Die Kunst des Liebens. Frankfurt am Main 1959. Ullstein.
36. Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus, 1969. Raubdruck der Ausgabe von Kopenhagen 1934.
37. Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Amsterdam 1967. de Munter. (zuerst 1923).
38. Karl Marx: Die deutsche Ideologie. Berlin (Ost) 1960. Dietz.
39. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (von 1844). Leipzig 1968. Reclam.
40. Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. Berlin (Ost) 1967. Dietz.

Hier noch einige Autoren, die am Rande gelesen wurden, in bestimmten politischen oder wissenschaftlichen Gruppen:
41. Josef Stalin: Über die Grundlagen des Leninismus. Peking 1965. Verlag für fremdsprachige Literatur. (von MaoistInnen gelesen).
42. Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution. Frankfurt am Main 1967. S. Fischer. (von TrotzlistInnen gelesen).
43. Hans Mayer: Anmerkungen zu Brecht. Frankfurt am Main 1967. Suhrkamp. (von GemanistikstudentInnen gelesen).
44. Victor Klemperer: LTI. Leipzig 1966. Reclam. (von GermanistikstudentInnen gelesen).
45. Michail Bakunin: Gott und der Staat und andere Schriften. Reinbek bei Hamburg 1969. Rowohlt. (Hauptsächlich von AnarchistInnen gelesen).
46. Peter Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs. Frankfurt am Main 1969. Insel Verlag. (Hauptsächlich von AnarchistInnen gelesen).
47. Guy Debord: La Société du Spectacle (Die Gesellschaft des Spektakels). Paris 1967. Buchet/Chastel. (Hauptwerk des Oberhaupts der Situationisten).
48. August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. Berlin (Ost) 1964. Dietz. (Von der neuen Frauenbewegung gelesen).

Wenn man sich die Liste so im Überblick anschaut, lagen die Schwerpunkte bei politischer Theorie, ökonomischer Theorie, Psychologie, Philosophie, Marxismus und Internationalem.

Abschließend möchte ich noch auf die umfangreiche Literaturliste von Rudi Dutschke aus dem Jahr 1966 hinweisen, die im Internet nachgelesen werden kann:
Rudi Dutschke: Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart, sds-korrespondenz sondernummer Berlin 1966.

Zu 1968 seht bitte auch die Artikel, die am 2018/01/18, 2018/01/21, 2018/04/11 und 2018/05/26 auf kuhlewampe.net erschienen sind.
Über die Mao-Bibel seht bitte auch den Artikel, der am 2016/02/18 auf kuhlewampe.net erschienen ist.

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2018/06/06

art kicksuch

optimiere1
optimiere2

© art kicksuch, juni 2018.

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2018/06/04

Jenny Schon
ObstSalat
den vernichteten Obstbäumen in Schmargendorf und anderswo gewidmet

der Verlust des Birnenbaums schmerzt am meisten
er war 100 Jahre alt...
die Kirschen vermissen die Stare
den Apfel der Wurm
die Pflaumen Omas Knödel
die Erdbeeren die Schnecken
und mit dem Pfirsich
verschwand das Paradies...

jenny1

© Jenny Schon, Juni 2018.

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2018/06/02

Denken in Zusammenhängen - Kapitalismuskritik auf hohem Niveau
Zum Tode von Elmar Altvater

von Georg Lutz, Freiburg

Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre öffnete sich ein Zeitfenster. Eine junge Generation von Gelehrten - im besten Sinne des Wortes - betrat die Bühne. Die Freie Universität Berlin (FUB) war der zentrale Ort des Geschehens. Am Otto-Suhr-Institut (OSI) lag der Fokus. Es begann ein neuer theoretischer Zyklus und Elmar Altvater war ein zentraler Akteur dabei.
Karl Marx war ein wichtiger Referenzpunkt. Ja klar werden heute sicher nicht wenige einwenden, der lag ja in den Jahren nach 1968 bei der akademischen Linken voll im Trend - wie jetzt auch wieder bei seinem runden Jubiläum. Das ist richtig und falsch. Man beschäftigte sich in Universitäten wieder mit Karl Marx und die blauen Bände standen in den linken Buchläden, oder man kaufte sie preiswert in Ost-Berlin.
Allerdings präsentierten der Marxismus-Leninismus (ML) kasernenhofsozialistischer Prägung und die damals in Teilen dominanten K-Gruppen Marx auf einem Denkmalsockel. Dieser spannende Theoretiker und leidenschaftliche Redner, der sich in Kontroversen hineinstürzte, war zum Säulenheiligen verkommen. Sätze wie "Der tendenzielle Fall der Profitrate" wurden als Glaubenssätze wie eine Monstranz vor sich hergetragen.
Elmar Altvater holte Karl Marx von diesen Denkmälern herunter. Er löste ihn aus den Versteinerungen. Es ging um die Wiederaufnahme eines Projekts, das sich mit dem Stichwort «Kritik der politischen Ökonomie» zusammenfassen lässt. Dies mündete, um es mit Antonio Gramsci, einem weiteren wichtigen Referenzpunkt zu sagen, in einer «Theorie der Praxis». In der viel zitierten Feuerbachthese, dass die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern sei, ist die Arbeitsaufgabe auch für kommende Generationen benannt. Die Analyse ist sehr klar. Es geht um unterschiedlichste Formen der Ausbeutung, Machtverhältnisse und Unterdrückung. Es ging Marx - und das hat Elmar Altvater immer wieder deutlich gemacht - aber nicht um eine Analyse, die sich einer Parteilichkeit unterordnet. Bei aller eingeforderten Pluralität gab es für Elmar Altvater aber auch Kerne von Marx, die Bestand haben. So geht es um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Geld ermöglicht hier eine Reflexivität, die das Handeln beeinflusst. Die Kategorie des Doppelcharakters der Arbeit eröffnete uns die Möglichkeit, Arbeit nicht nur als Produktion von Werten zu begreifen, sondern auch als Prozess der Transformation von Stoffen und Energie. Ökologische Fragestellungen lassen sich da auch heute anschließen.
Man muss aber auch Fehlentwicklungen thematisieren, die schon bei Marx angelegt waren. Er war ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts und bewunderte die Dampfmaschinen in den Fabriken. Da war er Modernisierungstheoretiker mit all den teleologischen Fallstricken, die wir inzwischen kennen. Nachfolger von ihm bastelten daraus ein plumpes Stufenmodell der Weltgeschichte. Marx selbst war aber ein komplexerer Denker, der seine eigenen Hauptthesen durchaus auch reflektierte und in Frage stellte. So gibt es im «Kapital» Textstellen, die die negativen ökologischen Folgen durchaus thematisieren. "Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit... Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter" (MEW 23: S. 529f., 1983). Genau dies analysieren wir ja heute im Rahmen der industrialisierten Landwirtschaft.
Trotzdem ist der Rationalismus für Marx eine feste Grundlage und daher glaubte er, auch da Kind seiner Zeit, an eine geplante Ökonomie, die dem sprunghaften Fetisch von Waren-; Geld- und Kapitalströmen überlegen sei. Die bewusste Lenkung der gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse kann aber die Betroffenen heillos überfordern und Gesellschaften in ein Chaos stürzen. Das, so Altvater, war ein Schwachpunkt bei Marx. Die Planungsakteure waren und sind überfordert und es fällt Marx auf die Füße, dass er sich zu wenig mit staatlichen Machtapparaten auseinandergesetzt hat.
Solch ein differenziertes und trotzdem wirkungsmächtiges Bild von Marx beeindruckte die Zuhörerinnen und Zuhörer im stets überfüllten großen Hörsaal im OSI. Wir als junge Studentinnen und Studenten saßen immer wieder staunend vor diesem hoch gewachsenen hageren Mann, der als titulierter «Marxist» so differenziert von Marx sprechen konnte. Das Theoriemagazin, in dem er regelmäßig publizierte, hieß PROKLA (Probleme des Klassenkampfs), klingt heute richtig schaurig, gleichzeitig hatte er aber Einreiseverbot in der DDR. Das passte in keine Schablone des Kalten Krieges.
Karl Marx war dabei aber nur ein wichtiger Referenz- und Diskussionspunkt. Es ging schlicht um die ganz große Fragestellung: Was hält die kapitalistische Moderne zusammen und wie kann man die Krisen und Grenzen erfassen und erklären? Dazu holte er auch unterschiedlichste Denkerinnen und Denker in seine Vorlesungen. Das Spektrum reichte von Ernest Mandel bis Wilhelm Hankel.
Ein Theoretiker, der so zwischen den Stühlen sitzt und heftige Diskussionen führen will, muss manchmal ein stoischer Zeitgenosse mit einer feinen Ironie sein. Elmar Altvater war kein Kumpel-Typ. Er wirkte zwischen den Palifeudels und Latzhosen mit seinem lässigen Gang im Nadelstreifenanzug und kleiner Zigarre in der Hand eher wie ein linker Bildungsbürger, ein Flaneur in den bewegten Zeiten der FU Berlin. Aber er hatte verdammt viel auf Lager. Wir, die aus WGs und besetzten Häusern aus Kreuzberg, Wedding, Schöneberg und Neukölln in seine Vorlesungen kamen, begannen mit ihm produktiv zu arbeiten.
Ein Beispiel sind die legendären Fachkurse zur Weltwirtschaft, die über zwei Semester gingen. Dort thematisierten wir die beginnende Abkopplung der Eurogeldmärkte, die Verschuldungskrisen und die IWF-Weltbankpolitik in den vielen Staaten Afrikas, Südostasiens und Lateinamerikas. Heute liegen die Beispiele in Südeuropa. Dependenztheoretiker wie Samir Amin, Immanuel Wallerstein oder André Gunder Frank waren wichtige Bezugspunkte bei dem theoretischen Erfassen der «Politischen Ökonomie des Weltmarktes». Die heutigen Debatten zum Thema Globalisierung lagen da noch in weiter Ferne. Elmar Altvater publizierte da aber schon Bücher mit Titeln wie «Sachzwang Weltmarkt. Verschuldungskrise, blockierte Industrialisierung, ökologische Gefährdung - der Fall Brasilien» (1987) oder «Die Armut der Nationen - Handbuch zur Schuldenkrise - von Argentinien bis Zaire» (1988). Im Vorwort zu «Sachzwang Weltmarkt» heißt es: "Tatsächlich sind die Konsequenzen der Weltmarktkrise in der Region Amazonien - wie in anderen Regionen Brasiliens und anderen hoch verschuldeten Ländern - im Alltagsleben sichtbar, konkret greifbar." Die Thesen von Altvater waren auch spannend, da er auch vor Ort war, forschte und auch Gastvorlesungen in Brasilien gab. Diese Analysen flossen dann beispielsweise in einen Gegenkongress zur IWF-Weltbanktagung 1988 in West-Berlin ein.
Es gab aber auch hier viele lebhafte Auseinandersetzungen. So ging es um die Fragestellung, in welcher Form es im herrschenden Weltmarktkontext auch Gewinner geben kann. Einige südostasiatische Staaten wie Südkorea ließen sich nicht mehr nur mit Werkzeugen der Dependenztheorie und Stichworten wie "verstümmelte Industrialisierung" fassen.
Elmar Altvater war kein Solitär, sondern bewegte sich mit anderen Freunden der theoretischen Kritik in einem gemeinsamen Raum des erwähnten Zeitfensters. Wolf Dieter Narr (Demokratietheorie), Bodo Zeuner (Gewerkschaften), Johannes Agnoli (Anarchie und Hegel) gehörten am OSI dazu. In anderen Fachbereichen agierten aber auch Wesensverwandte. Barbara Töpper (Lateinamerika Institut) oder Ekkehart Krippendorff (John F. Kennedy Institut) sind subjektive Beispiele. Sie diskutierten ganz heftig, waren aber gemeinsamer Teil des Theoriezyklus, der mit der beginnenden Pensionierung Anfang dieses Jahrhunderts sich zu Ende neigte. Weder vorher noch nachher gab es an Hochschulen in Deutschland solche Akademikerinnen und Akademiker, die den Historischen Materialismus vom Kopf auf die Füsse gestellt haben. Die Frankfurter Schule ist dabei sicher die wichtige Ausnahme. In Zeiten nach Bologna sind solche akademischen Querköpfe nicht mehr gefragt. Fachidioten, die schnell auf den Arbeitsmarkt kommen sollen, sind gefragte Studenten. Da hatte Elmar Altvater kaum mehr Platz.
Schülerinnen und Schüler sind in alle Welt verstreut, aber nicht mehr an der FU Berlin zu finden. Zudem haben sich viele Zeitgeistsurfer aus den Debatten und Weltbildern verabschiedet, beziehungsweise müssen wo ganz anders ihren Broterwerb verdienen. Elmar Altvater wollte sicher keine eigne Theorie-Schule, die nach ihm benannt ist, gründen. Die aktuell begrenzte Reichweite seiner Argumente hat ihm aber sicherlich in den letzten Jahren zu schaffen gemacht. So musste er sich konsequenterweise von einigen politischen Zusammenhängen, wie von den Grünen, verabschieden. Es gibt einige akademische Einzelpersonen jüngerer Generationen, die mit der Denke von Elmar Altvater arbeiten. Dazu gehören Ulrich Brand und Markus Wissen «Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus» (2017) oder Dorothee Bohle «Europas neue Peripherie. Polens Transformation und transnationale Integration» (2002).
Elmar Altvater ist am ersten Mai 2018 gestorben. Wir sollten nicht zu viel an ihn erinnern und damit verklären, sondern mit seinem theoretischen Werkzeugkasten weiterarbeiten. Er hat uns dazu einige Bücher hinterlassen. Dazu gehören sein mit seiner Lebensgefährtin Birgit Mahnkopf publiziertes Standardwerk «Grenzen der Globalisierung» (1996). Wer sich in etwas kompakterer Form der Denke von Elmar Altvater nähern will, dem sei das Gesprächsbuch mit Raul Zelik ans Herz gelegt: «Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft» (2009).

© Georg Lutz, Juni 2018.
Georg Lutz studierte in den achtziger Jahren Politologie am OSI.

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2018/05/31

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2018/05/28

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
Victor Klemperer: »LTI«, Teil 2

Erklärtes ideologisches und politisches Ziel der Nazis war es ja, das Volk via Sprache/LTI für dumm zu verkaufen. "Erstaunlich war dabei die schamlose Kurzbeinigkeit der Lügen, die in den Zahlen zutage trat; zum Fundament der nazistischen Doktrin gehört die Überzeugung von der Gedankenlosigkeit und der absoluten Verdummbarkeit der Masse." (1) Wie sollten die so genannten Gebildeten im Deutschland der damaligen Zeit auf ein so nett gemeintes Angebot reagieren? "Wie war es möglich, dass die Gebildeten einen solchen Verrat an aller Bildung, aller Kultur, aller Menschlichkeit verübten?" (2)
Selber verführt, glaubten diese Demagogen und Konstrukteure der LTI ja, dass sie die Speerspitze deutschen Geistes seien. Sie traten damit in Konkurrenz zur wirklichen Intelligenzia. Aber was tat die? "...ein studierter Mann wie dieser Literaturhistoriker! Und hinter ihm taucht mir die Menge der Literaten, der Dichter, der Journalisten, die Menge der Akademiker auf. Verrat, wohin der Blick reicht.", "...im Augenblick der höchsten Judennot zeichnet er das Zerrbild eines jüdischen Wucherers, um seinen Eifer für die herrschende Richtung zu beweisen." Wir wissen, was gemeint ist. Oder das Beispiel der Dichterin Ina Seidel, ihr "halb-schuldloses In-den-Verrat-Gleiten,...die reinen Herzens den romantischen Hang hinunterwandelt und beim späten hymnischen Glückwunsch für den deutschen Messias Adolf Hitler, den schon über und über mit Blut besudelten, anlangt." (3)
"Wie zielsicher demagogisch (oder um es in seiner Sprache zu sagen), wie volksnah der Führer gehandelt hatte, als er aus dem Judentum die Klammer um die Vielzahl der ihm feindlichen Faktoren machte." (4) Klemperer berichtet weiter: "Und nicht nur aus Büchern und Blättern, auch nicht nur im flüchtigen Wortaustausch während der qualvollen Aufenthalte im Restaurant, drang die LTI auf mich ein: das gute Bürgertum meiner pharmazeutischen Umgebung sprach sie durchweg", "kein Jargon, sondern immer noch die Sprache des Glaubens...".(5) "...ein neues Geschichtswerk und eine neue Literaturgeschichte...ich kommentierte sie unter dem Gesichtspunkt der LTI." Mit dem bloßen Verbot solcher Lektüre für die Allgemeinheit (notierte ich mir) wird es in Zukunft nicht getan sein, man muß den künftigen Lehrer auf Eigenart und Sünde der LTI genau hinweisen" ".(6) An dieser Stelle sei auch auf Klemperers "Das Tagebuch 1933-1945" verwiesen, das 1995 erstmalig erschien. (7)
Im dritten und letzten Teil der Reihe "LTI" werde ich mich dezidiert mit Sprachbeispielen aus Klemperers Alltag und seiner damaligen Lektüre beschäftigen. Diese belegen, dass der Wahnsinn Methode hatte und auf das, was sich bewährt hatte, wurde gern zurückgegriffen - eine Hitlist der meist gesprochenen Schlagworte und Phrasen der Indoktrination.

1) Zitiert nach: Victor Klemperer: LTI, Notizbuch eines Philologen, Reclam, Leipzig 1987, S. 230/231. Anm. d. Aut.: Deshalb gestaltete sich die LTI auch entsprechend simplizistisch, polarisierend und diskriminierend.
2) Ebenda, S. 282
3) Ebenda, S. 283
4) Ebenda, S. 289
5) Ebenda, S. 284
6) Ebenda, S.276/ 277
7) Victor Klemperer: Das Tagebuch 1933-1945, Eine Auswahl für junge Leser, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1997.

© Dr. Karin Krautschick, Mai 2018.

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2018/05/26

Der Mai 68 in Paris
Eine Chronik der Ereignisse

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Affiche Mai 1968. Quelle. Wikimedia Commons.

Die Pariser Barrikadennächte im Mai waren ein herausragendes Ereignis des Jahres 1968. Die Demonstrationen der Studenten und die Streiks der Arbeiter brachten das kapitalistische Frankreich zum Stillstand und den Präsidenten Charles de Gaulle zur Flucht nach Deutschland. Ausgangspunkt war der Campus von Paris-Nanterre und Anführer der Studenten in Paris wurde der Politikstudent Daniel Cohn-Bendit (Dany le Rouge).
Die Studenten waren unzufrieden mit ihren Studienbedingungen und allgemein mit dem autoritären Konservatismus unter Präsident De Gaulle. An der Universität von Nanterre westlich von Paris protestierten Studenten gegen Polizisten in Zivil auf dem Campus. Sie forderten eine Demokratisierung der Universitäten und kämpften gegen die Geschlechtertrennung in den Studentenheimen. Verhütungsmittel waren im katholischen Frankreich bis 1967 verboten.
Auch die französischen Arbeiter waren mit ihren Arbeitsbedingungen und mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit unzufrieden. Sie forderten Lohnerhöhungen. Es gab eine große Streikbereitschaft. Und es gab damals noch eine große Kommunistische Partei in Frankreich (PCF) zusammen mit ihrer Gewerkschaft CGT, die allerdings die Bewegung der Studenten und Arbeiter an einigen Punkten bremsten. Nach dem Mai 68 begann der allmähliche Niedergang der PCF.
Daneben gab es zahlreiche anarchistische, situationistische, maoistische und trotzkistische Anhänger. Daraus entstand insgesamt eine revolutionäre Situation, obwohl die Revolution letztlich scheiterte. Das Zusammenwirken von Studenten und Arbeitern im Mai 68 unterschied die Bewegung in Frankreich von der in anderen Ländern, in denen 1968 eine reine Studentenbewegung blieb. Eine weitere Ausnahme war vielleicht der Prager Frühling in der Tschechoslowakei.

1. Mai 1968 (Mittwoch): Nach 14 Jahren Demonstrationsverbot findet in Paris zum 1. Mai eine Großdemo statt, die von der Kommunistischen Partei Frankreichs und der CGT organisiert wurde.
2. Mai 1968 (Donnerstag): Schließung der Universität von Nanterre durch die Behörden.
3. Mai 1968 (Freitag): Aus Solidarität mit den Ausgesperrten von Paris-Nanterre besetzen Studenten die Sorbonne. Es folgt ein massiver Polizeieinsatz, in dem Tränengas eingesetzt wird. Die Polizei räumt die Sorbonne. Tausende Demonstranten liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei im Quartier Latin. 600 Studenten werden festgenommen.
4. Mai 1968 (Samstag): Die Sorbonne wird geschlossen.
5. Mai 1968 (Sonntag): Ein Hochschulstreik wird ausgerufen. 150. Geburtstag von Karl Marx. Die Bewegung der Studenten in Paris ist überwiegend marxistisch orientiert.
6. Mai 1968 (Montag): Demonstration der Studenten mit den Forderungen: Öffnung der Universität von Nanterre, Abzug der Polizei aus der Sorbonne, Freilassung der inhaftierten Studenten. Es folgt eine Straßenschlacht um die Sorbonne und erste Barrikaden werden errichtet, nachdem die Forderungen abgelehnt wurden.
10. Mai 1968 (Freitag): Barrikadennächte im Quartier Latin. Es gibt 60 Barrikaden rund um den Boulevard St. Michel. Pflastersteine und Tränengas. In der Nacht der Barrikaden räumt die Bereitschaftspolizei CRS das Gebiet. Es gibt hunderte Verletzte. Die Kommunistische Partei und die Gewerkschaften rufen den Generalstreik aus.
11. Mai 1968 (Samstag): Die Arbeiterbewegung solidarisiert sich mit den Pariser Studierenden. Premierminister Pompidou bricht wegen der Proteste seine Afghanistan-Reise ab. (In Deutschland: Zehntausende Menschen demonstrieren in Bonn beim Sternmarsch gegen die Notstandsgesetze. Die Notstandsgesetze werden dann am 30. Mai 1968 im Bundestag von SPD und CDU durchgesetzt.)
13. Mai 1968 (Montag): Eintägiger Generalstreik aus Protest gegen das Vorgehen der Polizei.
14. Mai 1968 (Dienstag): Auch in anderen französischen Städten kommt es zu Besetzungen von öffentlichen Gebäuden. Arbeiter in immer mehr Betrieben beginnen zu streiken. Es gibt die Forderung: "Alle Macht den Arbeiterräten."
16. Mai 1968 (Donnerstag): 50 Unternehmen sind besetzt.
17. Mai 1968 (Freitag): Der Generalstreik findet landesweit in Frankreich in allen Industriezweigen statt. 200.000 Arbeiter streiken.
18. Mai 1968 (Samstag): 2 Millionen Menschen streiken. Präsident De Gaulle kehrt vorzeitig aus Rumänien zurück.
19. Mai 1968 (Sonntag): Die 21. Internationalen Filmfestspiele von Cannes werden abgebrochen und die Jurymitglieder Louis Malle, Roman Polanski und Jean-Luc Godard erklären sich mit den Pariser Studenten solidarisch.
20. Mai 1968 (Montag): Die Arbeiter der Renault-Werke streiken unbefristet. Die Opposition fordert den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen, was von der Regierung abgelehnt wird.
24. Mai 1968 (Freitag): Straßenkämpfe im Pariser Quartier Latin. Präsident Charles de Gaulle kündigt Reformen im Bildungswesen und Lohnerhöhungen für die streikenden Arbeiter an.
27. Mai 1968 (Montag): Unterzeichnung der Abkommen von Grenelle (Accords de Grenelle) zwischen den französischen Arbeitgebern, den Gewerkschaften und der Regierung: Erhöhung des Mindestlohns um 35 %, Tariferhöhungen um 7 %, Verkürzung der Wochenarbeitszeit, Mitbestimmung. Die Streiks der Arbeiter haben also etwas gebracht.
29. Mai 1968 (Mittwoch): Präsident Charles de Gaulle (1890-1970) flüchtet insgeheim zu seinen Fallschirmjägern nach Baden-Baden/Deutschland, wo ihm General Jacques Massu seine Hilfe zusichert. General de Gaulle löst die Nationalversammlung auf und setzt über den Rundfunk Neuwahlen für den 23. Juni an. Er droht mit der Verhängung des Ausnahmezustands und fordert die Arbeiter auf, zur Arbeit zurückzukehren. Die CGT organisiert eine große Kundgebung, auf der eine Volksregierung gefordert wird.
30. Mai 1968 (Donnerstag): Tausende bürgerliche Franzosen demonstrieren auf den Champs-Élysées von der Place de la Concorde zur Place de l’Étoile für die Fünfte Republik des Generals de Gaulle.
10. Juni 1968: Daniel Cohn-Bendit wird verhaftet und nach Deutschland abgeschoben.
18. Juni 1968: Ende des Generalstreiks.
23. Juni 1968: Die Wahlen zur Nationalversammlung bringen einen Sieg der Gaullisten.

Zusammengestellt von Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/05/23

16. Linke Buchtage Berlin
1. - 3. Juni 2018

buecher
Alexander Rodtschenko: Plakat "Bücher für alle Wissensgebiete" für den Staatsverlag Lengis, 1925.

Im Mehringhof in der Gneisenaustraße 2a in Berlin Kreuzberg finden wieder die jährlichen Linken Buchtage statt. Dort kann man die neuen Bücher und die Verleger persönlich kennen lernen. Es sind so renommierte Verlage vertreten wie der Alibri Verlag aus Aschaffenburg, der Ça ira Verlag aus Freiburg, der Mandelbaum Verlag aus Wien und der Verbrecher Verlag aus Berlin. Außerdem Buchläden wie der Buchladen Schwarze Risse und das Rote Antiquariat. Gleichzeitig finden zahlreiche interessante Veranstaltungen und Buchvorstellungen statt.

16. Linke Buchtage Berlin vom 1. bis 3. Juni 2018 im Mehringhof
Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin Kreuzberg.

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2018/05/20

Abendrot an der Havel/Lieper Bucht

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Fotografiert von © Manfred Gill.

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2018/05/17

Das Shudao Studio in Dresden

Kathrin von Loh, Dresden

shudao
Fotografiert von © Yini Tao, April 2017.

Eine Besonderheit in Dresden, mitten in der lebendigen Neustadt, ist das Studio für chinesische Kultur: shu dao. shu - Kalligrafie, dao - der Weg oder auch, wie immer man es sieht, der Kernbegriff der daoistischen Philosophie im klassischen China. Seit 2014 arbeiten die jungen Künstler Yini Tao und Rao Fu auf vielseitige Weise am interkulturellen Austausch zwischen den beiden Ländern.
Yini Tao ist ausgebildete Bildhauerin, Keramikerin und Lehrerin für chinesische Sprache. Ihr Kursprogramm wendet sich sowohl an Erwachsene als auch an Kinder. Zusammen mit ihrem Mann Rao Fu, der sowohl als Kalligraf als auch als Künstler ausgebildet ist, bieten die beiden ein hochkarätiges und vielseitiges Angebot mit der Möglichkeit, auch selbsttätig Einblick in die chinesische Kultur zu erfahren. Yini Tao stammt aus Südchina, Rao Fu aus dem Norden - kennen und lieben gelernt haben sie sich an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Ihre beiden Kinder wachsen mit deutscher und chinesischer Kultur auf.
Das Shudao Studio organisiert alljährlich Neujahrs- und Mondfeste mit anziehendem Kunst- und Musikprogramm. Zum Beispiel führen Kinder einstudierte Tänze auf, begleitet auf der chinesischen Wölbbrettzither, der guzheng, oder Fu Rao bezaubert durch Kalligrafie-Performances. Die Tätigkeiten beider Künstler basieren auf klassischer chinesischer Philosophie und Kultur und werden zusammengeführt mit den Kenntnissen aus europäischer Malerei und Kunstgeschichte. Rao Fu ist ein hochmoderner Künstler, mit Ausstellungen in verschiedenen europäischen Städten, zur Zeit auch in Beijing und nächstes Jahr in Taipei.
Beide bereichern durch ihre Kunst auch den Chinesischen Pavillon auf dem Weißen Hirsch, dem einzigen originalen Gebäude aus der Kaiserzeit in China, das 1911 für die Große Internationale Hygieneausstellung erbaut wurde. In Dresden leben viele junge Studenten aus China, doch die meisten interessieren sich mehr für die Kultur aus den USA als für die eigene Kulturgeschichte. Schon deshalb ist die Arbeit der beiden eine Besonderheit und geprägt von freiem Geist, der Klassisches nicht dogmatisch sieht, sondern als hohen Anspruch für Gegenwart und Zukunft.
Die freie Montessorischule in Dresden hat seit vielen Jahren eine Partnerschule in Hangzhou, der Partnerstadt Dresdens, und auch hier wirken beide durch Malerei, Kalligrafie und Sprachkurse an der Schule und begleiten die Schüler als Vermittler zwischen den Kulturen und als Dolmetscher auf ihren Reisen nach China. Beide Künstler arbeiten an öffentlichen Projekten mit Schwerpunkten zum kulturellen gegenseitigen Verständnis von Ost und West aktiv mit.

© Kathrin von Loh, Mai 2018.

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2018/05/14

»Berliner Realismus« im Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg
Von Käthe Kollwitz bis Otto Dix
Ausstellung bis 17. Juni 2018

Dr. Christian G. Pätzold

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August Sander: Berliner Kohlenträger, 1928, Fotografie.
Zu sehen in der Ausstellung im Bröhan-Museum.

Ich möchte auf eine Ausstellung hinweisen, die wahrscheinlich zu den besten im Jahr 2018 in Berlin gehört: »Berliner Realismus« im Bröhan-Museum. Es werden an die 200 Kunstwerke (Gemälde, Grafiken und Fotografien) aus der Zeit zwischen 1890 und 1933 mit überwiegend Berliner Motiven gezeigt. Das ist eine gute Anzahl an Werken, die man als Besucher verarbeiten kann. Es sind nicht nur bekannte Namen wie Baluschek, Dix, Felixmüller, Grosz, Heartfield, Kollwitz, Nagel, Sander und Zille vertreten, sondern auch weniger bekannte Künstler wie bspw. die Arbeiterfotografen Ernst Thormann und Richard Woike. Die BesucherInnen treffen auf Ikonen der Kunstgeschichte wie den »Weberaufstand« von Käthe Kollwitz oder Fotomontagen von John Heartfield.
Der Direktor des Bröhan-Museums Dr. Tobias Hoffmann und die Kuratorin Dr. Anna Grosskopf haben eine großartige historische Schau des sozialkritischen Realismus zusammengestellt. Im informativen Katalog zur Ausstellung werden die Auseinandersetzungen der damaligen Zeit um den richtigen Weg der Künstler dokumentiert. Insgesamt weckt die Ausstellung das Interesse, sich auch mit der realistischen Berliner Kunst nach 1945 zu beschäftigen.
Berlin um 1900 war eine Millionenstadt geworden, in der die Industrie wuchs. Immer mehr Arbeiter zogen vom Land in die Stadt, wo sie sich ein besseres Leben erhofften. Meist landeten sie aber nur als Proletarier in erbärmlichen ungesunden Mietskasernen, in denen sie ein ärmliches Leben fristeten. Gleichzeitig gab es in der deutschen Hauptstadt politisch denkende, fortschrittliche Künstler, die sich in der Vereinigung »Berliner Secession« zusammengeschlossen hatten. Da lag es nahe, dass diese Künstler das Leben der Arbeiterklasse realistisch darstellten. In der Ausstellung werden Werke von Käthe Kollwitz, Hans Baluschek und Heinrich Zille aus der Zeit vor 1914 gezeigt. Der Kaiser war allerdings gar nicht erfreut, dass das Elend in seinem schönen Kaiserreich dargestellt wurde, und bezeichnete diese Kunst als "Rinnsteinkunst".
Bald darauf hatte sich der Kaiser durch seinen aufgeblasenen Imperialismus selbst ins Aus befördert. In einer 2. Sequenz der Ausstellung werden die Schrecken des Ersten Weltkriegs und die anschließende Revolution gezeigt. Eine 3. Sequenz zeigt dann Kunstwerke aus der Zeit der Weimarer Republik. Dass der Film »Kuhle Wampe« von 1932 in voller Länge in der Ausstellung gezeigt wird, freut mich natürlich auch, denn er ist ein erstklassiges realistisches Zeitdokument. Ab Herbst 2019 wird die Ausstellung als Übernahme im Käthe Kollwitz Museum in Köln zu sehen sein.

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2018/05/12

Ausstellung von Achim Mogge: Oxidation
Im Industriesalon Berlin Schöneweide bis 10. Juni 2018

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Achim Mogge, ohne Titel, 100 x 130 cm, Eitempera auf Leinwand.
Das Motiv befindet sich auf dem Industriegelände Oberschöneweide.

Achim Mogge stellt 17 Gemälde von menschenleeren, vor sich hin rostenden Industrielandschaften aus. Das Ende und der Verfall der Industriegesellschaft zeichnen sich ab. Wir leben heute ja weitgehend in einer digitalisierten Dienstleistungsgesellschaft. Stilistisch bewegen sich die Bilder zwischen Neuer Sachlichkeit und Fotorealismus. Es ist eine gegenständlich realistische Malerei, die dem Berliner Geist entspricht. Die rein technischen Konstruktionen haben durchaus künstlerische Aspekte und auch die rostende Morbidezza hat einen seltsamen Reiz neben der historischen Dokumentation
Achim Mogge gelingt es, die richtigen Blickwinkel und Perspektiven zu finden. Er ist der Maler des Rostes, der in Eitempera und mit ganz besonderen Pigmenten arbeitet. Bei der Malerei in Eitempera wird eine Verbindung von Ei und Öl eingesetzt, d. h. eine Mischung von ölhaltigen Teilen und wasserhaltigen Teilen im Malmittel. Es ist eine sehr alte Technik, in der schon die berühmten altägyptischen Mumienporträts gemalt wurden, die in jedem ägyptischen Museum ausgestellt werden. Auf jedem der Bilder von Achim Mogge taucht der Rost mit seiner sehr speziellen Farbigkeit auf. Das verrostete Fahrerhäuschen auf dem Bild oben hängt leer in der Luft, so als ob wir heute fahrerlos in die globalisierte Digitalisierung stolpern, nachdem wir aus der Industrie geflüchtet sind.
Der Industriesalon Schöneweide befindet sich in einer mittelgroßen Fabrikhalle auf dem großen Industriegelände in Berlin Oberschöneweide (Bezirk Treptow-Köpenick), am rechten Ufer der Spree. Es gibt auch ein Niederschöneweide am linken Ufer. Im Industriesalon sind Produkte der Elektroindustrie wie alte Radios und Fernseher ausgestellt, die früher hier hergestellt wurden. Technikgeschichte wird hier greifbar. Der Industriesalon bietet auch Führungen über das historische Industriegelände an. Daher ist der Industriesalon eine sehr gute Location für die Ausstellung von Achim Mogge.
In Oberschöneweide entstanden um 1900 die großen Fabrikhallen der Berliner Elektroindustrie, die der Gegend den Namen "Elektropolis" eingebracht haben. Architektonisch von Interesse ist bspw. der Peter-Behrens-Bau. Die AEG (Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft) erreichte von hier aus ihre große industrielle Bedeutung, unter anderem mit einer Fabrik für Akkumulatoren, einem Elektrizitätswerk, dem Kabelwerk Oberspree (KWO), dem Transformatorenwerk Oberspree (TRO) und einem Werk für Automobilbau. Gegründet wurde die AEG von Emil Rathenau (1838-1915). Ab 1915 wurde die AEG von seinem Sohn Walther Rathenau (1867-1922) geleitet.
Während des Zweiten Weltkriegs mussten in Oberschöneweide mehr als 6.000 ausländische Zwangsarbeiter für die Rüstung schuften. Nach 1945 lag Oberschöneweide im sowjetischen Sektor von Berlin. Die Werke der AEG wurden in Volkseigene Betriebe (VEB) umgewandelt. Bekannt war das Werk für Fernsehelektronik (WF). Nach 1990 brach dann die Industrie in Oberschöneweide wie insgesamt in Ostdeutschland zusammen. Elektrogeräte wurden jetzt in Asien gebaut. Die Gegend verfiel und die Menschen hatten keine Perspektive. Die großen historischen Industriehallen stehen nun schon fast 30 Jahre leer da.
Ich möchte noch einen problematischen Aspekt ansprechen. Schöneweide gilt immer noch als Hotspot der rechtsextremen Szene in Berlin. Oberschöneweide ist in Berlin meist als Oberschweineöde bekannt. Das muss nicht so bleiben. Der Senat von Berlin, der jetzt so schöne Überschüsse hat, sollte das einzigartige Areal endlich aufkaufen und die riesigen leeren Fabrikhallen an der Spree für zukunftsorientierte Wissenschaft und avantgardistische Kultur nutzen. Dann würde Oberschöneweide wieder zu einem interessanten Ort. Es gibt genügend Menschen in Berlin, die Oberschöneweide liften könnten.
Die Bilder der Ausstellung sind nicht nur Bilder. Wenn man etwas nachdenkt, steckt in ihnen viel Geschichte.
Dr. Christian G. Pätzold.

Ausstellung »Oxidation« von Achim Mogge
Im Industriesalon Berlin Schöneweide
Reinbeckstraße 9, 12459 Berlin Oberschöneweide
Bis 10. Juni 2018
Geöffnet Dienstag bis Sonntag 14-18 Uhr
Der Eintritt ist frei.
www.mogge-art.de
www.industriesalon.de

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2018/05/10

"Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual... In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik."

Walter Benjamin
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936.

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2018/05/08

art kicksuch

wichtig

© art kicksuch, mai 2018.

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2018/05/05

Zum 200. Geburtstag von Karl Marx

Dr. Christian G. Pätzold

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Geburtshaus von Karl Marx in Trier, Brückenstraße 10.
Quelle: Wikimedia Commons. Fotograf: Berthold Werner, 2014.

Der 200. Geburtstag von Karl Marx am 5. Mai 1818 führt mich in Gedanken zu seinem Geburtshaus in Trier an der Mosel. Trier ist ein hübsches Weinstädtchen, in dem die Besucher gerne 1 oder 2 Glas Wein trinken. Und deswegen hat Karl Marx dort wohl auch eine erfreuliche Kindheit und Jugendzeit verbracht. Wie auf dem Foto oben zu sehen ist, hat das Geburtshaus von Marx die letzten 200 Jahre in gutem Zustand überlebt. Das Haus ist von seinem Äußeren ein typischer Bau des 18. Jahrhunderts, mit zwei Geschossen und einem schiefergedeckten Mansarddach.
1818 war eine Zeit, in der der irre Militarist Napoleon endgültig aus Deutschland vertrieben worden war und es friedlicher wurde. Die Jugendzeit von Karl Marx sollte später Vormärz genannt werden, d.h. die Zeit vor der Märzrevolution von 1848. Es war eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs und der beginnenden Industrialisierung in Deutschland, in der die neue Klasse des Industrieproletariats allmählich entstand. Gleichzeitig war es andererseits auch die Zeit der deutschen Romantik, und einige Literaturkritiker haben in Karl Marx einen großen Romantiker gesehen. So weit würde ich nicht gehen. Marx war kein romantischer Poet, sondern ein großer Skeptiker, ein Kritiker und vor allem ein revolutionärer Denker.
Das Karl-Marx-Geburtshaus in Trier gehört heute der Friedrich-Ebert-Stiftung. Und die Friedrich-Ebert-Stiftung wiederum ist eine Organisation der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Es ist natürlich klar, dass eine kapitalistische Partei wie die SPD, die Millionen Arbeitslose mit Hartz IV in die Armut getrieben hat, einen Kommunisten wie Karl Marx nicht objektiv darstellen kann, es sei denn als Murx. Die SPD hat schon spätestens 1914 damit begonnen, den Marxismus zu entsorgen, schmückt sich aber immer noch gerne mit dem internationalen Ansehen von Marx. Daher ist zu befürchten, dass die viel besuchte Ausstellung im Karl-Marx-Haus, die jetzt gerade neu eingerichtet wurde und am 5. Mai eröffnet wird, wahrscheinlich eine Geschichtsklitterung ist, die man mit Vorsicht betrachten sollte. Man sollte den Wahlspruch von Karl Marx beherzigen: De omnibus dubitandum (An allem ist zu zweifeln). Ebenfalls am 5. Mai wird eine Große Landesausstellung über Karl Marx im Stadtmuseum Trier eröffnet. Wie wird die wohl ausfallen?
Im Karl-Marx-Haus in der Brückenstraße 10 lebte die Familie Marx nur 18 Monate zur Miete. Karl Marx wuchs dann in dem eigenen kleineren Haus in der Simeonstraße 8 auf, wo er bis zu seinem Abitur 1835 wohnte. Auch dieses Haus ist erhalten geblieben. Marx studierte danach ein Jahr in Bonn und einige Jahre an der Berliner Universität, wo er sich den Linkshegelianern anschloss, die die preußische Monarchie für vergänglich hielten. In Berlin wurde er zu einem echten Linken. 1841 promovierte Marx zum Doktor der Philosophie. Der junge Karl Marx, der Trier verließ, war noch ein überwiegend philosophischer Marx, der erst viel später zum Politökonomen wurde.
Karl Marx stammte väterlicherseits und mütterlicherseits aus alten Rabbinerfamilien. Die Rabbiner waren jüdische Schriftgelehrte und Intellektuelle. Der Vater von Marx war ein erfolgreicher jüdischer Rechtsanwalt. Um keine beruflichen Nachteile zu erleiden, trat der Vater von Marx zum Protestantismus über. Und so kam es, dass auch seine zahlreichen Kinder, darunter Karl Marx, im Jahr 1824 getauft wurden. Damit war Karl Marx offiziell Protestant, in Wirklichkeit aber Atheist und von seiner geistigen Kapazität ein jüdischer Intellektueller. Er war übrigens auch mit Heinrich Heine verwandt. Es kam im 19. Jahrhundert häufiger vor, dass deutsche Juden zum Protestantismus übertraten. Der Austritt aus dem Judentum war ein schmerzhafter Schritt, aber der Druck des preußischen Staates war oft zu groß.
Karl Marx wird heute aus verschiedenen Gründen am meisten in China verehrt. Daher hat die Kommunistische Partei Chinas der Stadt Trier eine riesige bronzene Karl-Marx-Statue des berühmten chinesischen Plastikers Wu Weishan geschenkt, und die Stadt Trier hat das Geschenk angenommen. Die Plastik ist über 4 Meter hoch. Die chinesische Begründung ist: "Ein großer Philosoph braucht eine große Statue". Diese Logik ist einleuchtend. Die Statue zeigt Marx nicht etwa als Kind oder als Jugendlichen in Trier, sondern als vollbärtigen Arbeiterführer, wie man ihn von späteren Fotos her kennt. Sie ist ein Kunstwerk, das in der Tradition des Sozialistischen Realismus steht. Zuvor hatten die Chinesen bereits der Stadt Wuppertal eine große Statue des Freundes von Marx, Friedrich Engels, geschenkt. Die Statue in Trier soll als Fotomotiv für die 150.000 Chinesen dienen, die jährlich Trier besuchen. Das sind mehr Chinesen als Trier Einwohner hat. Die Stadt Trier wäre auch schön blöd gewesen, wenn sie die Marx-Statue abgelehnt hätte, denn die Chinesen lassen jährlich Millionen von Euro in Trier.
Wenn man in Trier ist, kommt man nicht daran vorbei zu bemerken, dass die Stadt schon 2.000 Jahre alt ist. Zur römischen Kaiserzeit hieß die Stadt Augusta Treverorum (Stadt des Augustus im Land der Treverer). Auch ein Besuch der römischen Überreste in Trier lohnt sich, denn es ist erstaunlich, was sich 2.000 Jahre lang erhalten hat: Porta Nigra, Kaiserthermen, Amphitheater, Römerbrücke, Palastaula (Konstantinbasilika). Es ist beeindruckend, die alten Bauwerke zu betreten, in denen schon die alten Römer herumliefen. Vielleicht hat das auch dem jungen Karl Marx einen Sinn für Geschichte gegeben.
So unterschiedlich die Ansichten der zahlreichen Linken auch sind, Karl Marx und Friedrich Engels sind mit ihrer Vision der solidarischen klassenlosen Gesellschaft heute der gemeinsame Fels für alle Linken, auf dem man aufbauen kann. "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Karl Marx/Friedrich Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, 1848). Der Mohr hat uns nach 200 Jahren immer noch sehr viel zu sagen. Zum Beispiel, dass der Kapitalismus nicht funktioniert, weil er zwar ein paar Milliardäre produziert, während gleichzeitig Millionen Menschen verhungern. Weil der Kapitalismus dazu führt, dass die Erde bald so ruiniert ist, dass gar keine Menschen mehr hier leben können. Daher bringt es etwas, heute Marx zu studieren.

Auf kuhlewampe.net sind schon früher Artikel zu Karl Marx erschienen. Seht bitte auch: 150 Jahre »Das Kapital« von Karl Marx (22/03/2017) und: »Der junge Karl Marx« von Raoul Peck (20/04/2017).

Eine interessante Webseite zum 200. Geburtstag von Karl Marx ist: www.marx200.org.

© Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2018.

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2018/05/03

Internationaler Tag der Pressefreiheit
World Press Freedom Day

Heute ist der Internationale Tag der Pressefreiheit, der 1994 von der UNESCO initiiert wurde. Das ist ein Anlass zu betonen, dass Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit in vielen Ländern vielfach bedroht sind. Menschen und Organisationen, die sich für verfolgte JournalistInnen einsetzen, sind bspw. "Amnesty International", "Reporter ohne Grenzen" oder das "PEN-Zentrum". Die Arbeit der Presse ist sehr wichtig, denn ohne Presse bekämen wir keine Informationen und wären dumm wie Bohnenstroh.
Nach Angaben von "Reporter ohne Grenzen" wurden im Jahr 2017 mindestens 65 JournalistInnen, ReporterInnen, BloggerInnen und andere MedienarbeiterInnen wegen ihrer Arbeit umgebracht, vor allem in Syrien, Mexiko, Afghanistan, im Irak und auf den Philippinen. Natürlich sind Kriegsreporter und Kriegsfotografen besonders gefährdet: Allein am 30. April 2018 wurden mindestens 10 Journalisten in Afghanistan getötet, vor allem durch Bombenanschläge. 326 JournalistInnen saßen im Dezember 2017 im Gefängnis, vor allem in der Türkei, in China, Syrien, Iran und Vietnam. 54 JournalistInnen waren im Dezember 2017 entführt. Hinzu kommen noch die JournalistInnen, die aufgrund von Verfolgungen ins Exil getrieben wurden. Besonders kritische und investigative JournalistInnen wurden verfolgt, nicht gerade Sportreporter.
In Deutschland ist die Selbstzensur ein großes Problem. Viele JournalistInnen trauen sich nicht, ihre Meinung zu sagen, weil sie dann von den kapitalistischen Medienunternehmen keine Aufträge mehr bekommen. Dadurch wird die öffentliche Meinung in Deutschland von einer herrschenden Oligarchie der großen Medienkonzerne und Sendeanstalten gelenkt. Regelmäßig werden beispielsweise geschönte Arbeitslosenzahlen verkündet, indem Personen in befristeten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Fortbildung nicht zu den Arbeitslosen gezählt werden. Die Bevölkerung hat diese Manipulationen bereits erkannt und bezeichnet diese Medien oft als "Lügenpresse" und Fake News.
Pressefreiheit heißt nicht, dass man Lügen, faschistische Propaganda oder Volksverhetzung verbreiten darf. Die journalistische Arbeit muss sich an der Wissenschaftlichkeit und der Wahrheit orientieren. Dazu gehört, dass man gut recherchiert und die Meinungen aller Seiten berücksichtigt.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/05/01

kuhlewampe.net wünscht Allen einen fröhlichen 1. Mai!

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Jakov Guminer, Plakat 1. Mai, 1928.
Quelle: Wikimedia Commons.

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2018/04/30

vorschau05

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2018/04/27

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
Victor Klemperer: »LTI«, Teil 1

klemperer
Foto von Alia Krautschick.

Im Herbst 1946 spricht Victor Klemperer in Dresden erstmals öffentlich über seine Erfahrungen als Jude, der das Dritte Reich überlebt hat. Er nutzt dabei seine Mikrostudien, zusammengefasst im "Notizbuch eines Philologen", der Untertitel dieser profunden Sprachkritik und erstmaligen Anklage der LTI (Lingua Tertii Imperii) - der Sprache des Dritten Reiches - eines Propagandamittels par excellence, das - in sich totalitär - von der gesamten Sprachgemeinschaft übernommen wurde - ob bewusst oder unbewusst. Voran gestellt ist ein Zitat von Franz Rosenzweig "Sprache ist mehr als Blut", das auf den profunden Charakter dieser sprachlichen Manipulation und massenhaften Beeinflussung verweist.(1)
Klemperer, eigentlich Wissenschaftler/Romanist, konnte als Arbeitssklave, der dank seiner "arischen" Ehefrau in einer Mischehe überlebte, den Sprachverfall unter den Nazis beobachten. Diese Arbeit wurde ihm gleichsam zur "Balancierstange über dem Abgrund". Die Operatoren des Nazistaates wussten sehr genau, was sie taten, als sie ihre infame und betrügerische Ideologie in ihnen passend erscheinende Worte verpackten. Die Ideologisierung der Sprache, die mit ihrer Brutalisierung einherging, beschreibt Klemperer dezidiert, musste er doch die sich täglich verschärfenden Auswirkungen am eigenen Leib erfahren.
Es seien hier einige Beispiele genannt, wie diese Ausgrenzung via Rassenstarrsinn und anderen zweifelhaften politischen Zielen wie die Gleichschaltung des Volkes vonstatten ging.

Uniformierung der Namen: Horst-Israel oder Edith-Sara als kennzeichnende und verräterische Bezeichnung für die jüdische Abstammung - diese Namen waren amtlich und mussten immer angegeben werden, auch auf den Türschildern, ebenso wie der gelbe Judenstern, der ab 1941 als weitere ausgrenzende Maßnahme eingeführt wurde.

Abstammungsnachweise: Damit das Ariertum nachgewiesen werden konnte, wurden diese verlangt. Wenn diese nicht erbracht werden konnten oder der Anteil des Jüdischen überwog, musste mit schlimmen Konsequenzen gerechnet werden. Die Person wurde, abgesehen davon, dass sie aus dem Öffentlichen Dienst entlassen oder aller Privilegien der "Volksgemeinschaft" enthoben wurde, zum Staatsfeind erklärt und damit zum Freiwild, das auf offener Straße angepöbelt, bespuckt oder gejagt und ermordet werden konnte.

Gau für Provinz: Wieder ein Anknüpfen ans Teutschtum und "indem man dem "Warthegau" rein polnische Gebietsstücke eingliederte, legalisierte man den Raub fremden Landes durch deutsche Namengebung". "Ähnlich lag es mit der Bezeichnung Mark für Grenzland. Ostmark: das zog Österreich zu Großdeutschland, Westmark: das gliederte Holland an... Łódź, das polnische, (verlor) den eigenen Namen und (wurde) nach seinem Eroberer im ersten Weltkrieg in Litzmannstadt umgewandelt".(2)

Eindeutschung von slawischen Ortsnamen: Das Litzmannstadt-Getto und andere Namen, die "in die Höllengeografie der Weltgeschichte eingegangen sind" (3) wie Theresienstadt und Auschwitz, um nur diese beiden zu nennen.

Wenn man die Beispiele betrachtet, und es lassen sich ihrer noch viele finden, mutet es an wie eine Gleichung, die da via Sprache immer wieder aufgeht und zum gleichen Ergebnis führt, nämlich: Ausgrenzung, Diffamierung, Entwürdigung - alle Register werden gezogen, um eine Menschengruppe zu finden und entsprechend zu stilisieren, die für die Sündenbockfunktion am besten geeignet ist und sich dagegen am wenigsten wehren kann, da das Spiel von vornherein abgekartet ist.
Des Weiteren zählt Klemperer zu den rhetorischen Grundeigenschaften der LTI: deren Gefühlsbetontheit, im Unterschied zur Betonung der Ratio, die Versinnlichung und Greifbarkeit der Sprache, z. B. via Gebrauch von Runen und anderen gefühlsbeladenen Zeichen und ebenso die Rassendiskriminierung, die in deren Gebrauch nahezu eingeschrieben scheint, quasi ohne dass man es merkt. Auch das eines der Raffinements der LTI, die hier auf der Anklagebank von Klemperer exzellent vorgeführt wird.
Ich persönlich finde, dass jemand, der sich dezidiert mit Sprache und deren mitunter eben zerstörerischen Auswirkungen beschäftigt, an Victor Klemperers »LTI« nicht vorbei kommt. Ich empfehle es dringend zur Lektüre, da es einigen Aufschluss gibt darüber, wie und wie nachhaltig uns sprachliche Indoktrinationen prägen können, angefangen von den ersten Artikulationen, mit denen wir die Welt um uns zu erfassen versuchen. Es gibt kaum etwas Verwerflicheres als die Manipulation via Sprache bei abhängigen Wesen, die etwas Besseres verdient hätten - das ist Inhumanität in praxi und ein ideologischer Missbrauch der Sprache, dem auch mit entnazifizierenden Maßnahmen kaum beizukommen ist, wenn sich diese Sprach- und Reaktionsmuster erst einmal ausgebreitet haben. Es ist Vorsicht geboten vor dieser Verdunkelungsgefahr, am besten mit seismografischer Aufmerksamkeit für diese Art Veränderungen der Sprache und einem prüfenden Verstand gegenüber den eigenen sprachlichen Äußerungen, die nur allzu leicht der Reflexion entgehen in Richtung Automatismus und Einzwängung in eine verbrecherische Matrix. Souveränität über den eigenen Sprachgebrauch und Selbstausdruck, damit LTI und RTI (Ratio Tertii Imperii) keine Chance haben, sich derart flächendeckend auszubreiten.
"Die LTI ist eine Gefängnissprache (der Gefangenenwärter und der Gefangenen), und zur Sprache der Gefängnisse gehören unweigerlich (als Akte der Notwehr) die Versteckworte, die irreführenden Mehrdeutigkeiten, die Fälschungen usw. usw." (4).
Im Teil 2 befasse ich mich damit, wie es möglich war, dass "die Gebildeten einen solchen Verrat an aller Bildung, aller Kultur, aller Menschlichkeit verübten"(5).

1) Zitiert nach »LTI«, Reclam, Leipzig 1987.
2) Ebenda S. 88/ 89.
3) Ebenda S. 89.
4) Ebenda S. 89.
5) Ebenda S. 282.

© Dr. Karin Krautschick, April 2018. www.krautschick.de.

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2018/04/26

32. Jahrestag von Tschernobyl

Tschernobyl war eine Stadt im Norden der Ukraine nahe der weißrussischen Grenze. Dort ereignete sich am 26. April 1986, vor genau 32 Jahren, eine der größten Atomkatastrophen, ein GAU. Die Abkürzung GAU steht für "Größter anzunehmender Unfall" und bedeutet eine Kernschmelze im Reaktor, bei der viel Radioaktivität an die Umwelt abgegeben wird. Die radioaktiven Wolken flogen damals bis nach West-Europa. In Tschernobyl leben heute nur noch wenige Menschen, da das Gebiet stark radioaktiv verseucht ist. Tausende Menschen starben aufgrund des Unfalls und seiner Folgen.
Zum Zeitpunkt des Unfalls war die Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland schon einige Jahre ein starker Faktor. Ihr Motto war "Atomkraft - Nein Danke!". Aber heute sind immer noch Atomkraftwerke in Deutschland in Betrieb. Und das, obwohl sich im März 2011 im japanischen Fukushima eine weitere große Atomkatastrophe ereignet hat. Das zeigt, wie wenig die verantwortlichen Politiker und die Menschen, die sie gewählt haben, begriffen haben. Denn es gibt mit den erneuerbaren Energien Alternativen.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/04/23

50. Todestag von John Heartfield

heartfield
John Heartfield, Das letzte Stück Brot raubt ihnen der Kapitalismus, 1932, Wahlplakat.
Zu sehen in der Ausstellung »Berliner Realismus« im Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg.

Es ist an den 50. Todestag von John Heartfield zu erinnern, der am 26. April 1968 in Ost-Berlin starb. Geboren wurde er 1891 in Berlin. Er hieß eigentlich Helmut Herzfeld, gab sich aber 1916 aus Protest gegen die deutsche Aggression des Ersten Weltkriegs einen englischen Namen: John Heartfield. Schon am Gründungstag der KPD, am 31. Dezember 1918, trat er der Partei bei.
Aus dem Dadaismus kommend wurde er zum Begründer der politischen Fotomontage. Seine Buchumschläge für den Malik-Verlag, seine Fotomontagen für die Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) und seine politischen Plakate für die KPD waren in den 1920er und 1930er Jahren legendär. Er arbeitete eng mit George Grosz und Kurt Tucholsky zusammen. 1931 arbeitete er ein Jahr in der Sowjetunion. Noch heute sind zahlreiche seiner Plakate einem breiteren Kunstpublikum bekannt.
Vor den Nazis flüchtete er in die Tschechoslowakei und nach England. Nach dem Krieg kehrte er in die DDR und nach Berlin zurück. Sein Sommerhaus in Waldsieversdorf in der Märkischen Schweiz ist heute eine Gedenkstätte. Sein Grab befindet sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin Mitte.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/04/20

art kicksuch

kommuniziert

© art kicksuch, april 2018.

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2018/04/18

Tulpengrüße aus dem Garten von Ella Gondek

ella1
Fotografiert von © Ella Gondek, April 2018.
Dieses Jahr haben die lustigen Tulpen schon 24 Blüten bekommen.

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2018/04/17

Reisende soll man nicht aufhalten

Alte Lebensweisheit

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2018/04/14

Mehr Aphorismen von Dr. Wolfgang Endler, Berlin

Ein Herz für Kinder oder Lasset die Kindlein ...
Schießen auf Flüchtende wäre legitim, nicht aber auf Kinder;
meint die AfD-Landesvorsitzende Beatrix von Storch.
Ist sie das ihrem Rest-Gewissen schuldig
oder nur ihrem Namen?

Allternatiefe fölckisch Doitsche Orttograpfie
Mit der linken Hand ist er Leggasteenicka - mit der rechten Hand RRechtSSchraiba

lichtspiele / schattenspiele
spiele schläfrig am dimmer
buntes fernsehgeflimmer
taucht in flackernden schimmer
mein gestyltes zimmer

schärfer werden konturen
jetzt erscheinen figuren
in totschicken monturen
keinerlei blessuren

sonnenkreuz romantik
1000 jahre im rückblick
jeder arier ein prachtstück
und triumph der ästhetik

babylonischer baal?
blonde bestie brachial?
ausgeleuchtet total
original Riefenstahl

die gestalten verschwimmen
und ich blick` nun nach innen
bilder blitzschnell gerinnen
werden wachturm mit zinnen

"all along the watch tower"
singt ein ritter mit rauer
stimme über der mauer
abendwind, ein ganz lauer

lockt die sonne zum show down
und mich selber zum hinschaun
babelsberger film-traum
überzogen von goldschaum

flackern auf dem bildschirm
und auch in meinem großhirn
zeilen werden schwarz-weiß-zwirn
könnt´ es Theseus entwirrn?

lichtgestalten vom band
meiden den beckenrand
implosion - kabelbrand
schattenriss an der wand

Spuren_Lese
Kürzlich meinte ein namhafter Philosoph,
der Fortschritt sei eine Schnecke.
Endlich einmal eine alternative Erklärung
für die Vielzahl der Schleimspuren.

Die salzigen Tränen der Milliardärin
nach öffentlichen Gelöbnissen
für humanes Morden
nun die zivile Entsprechung
Mitbestimmung für Arbeiter
bei der freien Gestaltung
ihrer künftigen
Arbeitslosigkeit

Schräg-Lage à la Pisa
auf der Suche nach einem Ort
an dem ich lernen könnte
aufrecht zu gehen
fand ich nur
Fahr-Schulen

Alternatives Wort zum (blauen) Montag
Lieber Säuglinge statt Omas taufen
und besser O-Saft trinken als Koma-Saufen

Olympischer Wettstreit auf der Funkausstellung
unentschiedener Streit
zwischen Technikern und Zuschauern
ob nun die neuen Bildschirme
oder die aktuellen Programme
flacher wären

Weitere Aphorismen von Dr. Wolfgang Endler befinden sich in dem Buch:
Wolfgang Endler: mArkanT bis mAkaber. Aphorismen. FREEdrichshagener KleeBLATT 3, Berlin 2017.

Dr. Wolfgang Endler ist der Gewinner des Hattinger Igels 2016.

© Dr. Wolfgang Endler, April 2018. www.wolfgang-endler.de.

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2018/04/11

Vor 50 Jahren: Das Attentat auf Rudi Dutschke

Dr. Christian G. Pätzold

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Rudi Dutschke.
Quelle: Wikimedia Commons.

Rudi und Gretchen Dutschke hatten sich 1967 entschieden, nicht in die Kommune I zu ziehen. Stattdessen zogen sie ins SDS-Zentrum am Ku-Damm 140. Das war ein im Krieg beschädigter Altbau, der heute nicht mehr existiert. Der SDS war der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der 1967/68 eine große Rolle in West-Berlin spielte.
Vor dem Haus Kurfürstendamm 141 in Berlin-Wilmersdorf liegt heute eine Platte im Fußgängerweg, die an Rudi Dutschke erinnert. Die Aufschrift lautet:

"Attentat auf Rudi Dutschke, 11. April 1968. An den Spätfolgen der Schussverletzung starb Dutschke 1979. Die Studentenbewegung verlor eine ihrer herausragendsten Persönlichkeiten."

Rudi Dutschke (1940-1979) war tatsächlich ein führender Kopf im SDS, in der antiautoritären Westberliner Studentenbewegung und in der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Offiziell war er Soziologiestudent an der Freien Universität Berlin, aber eigentlich Berufsrevolutionär in der revolutionären Situation des Revolutionsjahres 1968. Rudi Dutschke wollte an jenem 11. April gerade mit seinem Fahrrad und seiner Aktentasche vom SDS-Zentrum losradeln, als er von drei Kugeln getroffen wurde, zweimal in den Kopf, abgefeuert von einem Attentäter, der ein Neonazi war. Aber auch der Hetze in der Springerpresse wurde eine Mitschuld gegeben. Die Propaganda der Boulevardpresse hatte damals einen sehr großen Einfluss, denn es gab noch kein Internet. Wer steckte hinter dem Attentat auf Rudi Dutschke? Diese Frage konnte nie aufgeklärt werden.
Die politischste Straße im West-Berlin des Jahres 1968 war der Kurfürstendamm, die kommerzielle Prachteinkaufsmeile in Charlottenburg und Wilmersdorf. Das hört sich vielleicht paradox an, aber auf dem Ku-Damm fanden fast täglich Demonstrationen der Studenten unter anderem gegen den Vietnamkrieg der USA statt. Besonderer Hotspot war das Café Kranzler an der Ecke Joachimstaler Straße, wo die Wilmersdorfer Witwen damals noch auf der Straße Sahnetortenstücke mit Schlagsahne aßen. Sogar die maoistische Rote Garde West-Berlin, die damals gerade die Große Proletarische Kulturrevolution durchführte, hatte ihr Hauptquartier nicht etwa im proletarischen Wedding, sondern am Lehniner Platz, in dem Gebäude, in dem heute die Schaubühne residiert. So ist es nicht verwunderlich, dass das SDS-Zentrum am Ku-Damm lag, in dem Rudi wohnte. Die APO war fast eine Ku-Damm-Bewegung. Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass die Studenten meist aus kleinbürgerlichen Familien stammten, während die westberliner Arbeiterklasse als reaktionär bis faschistoid eingestuft wurde.
Ich erinnere mich noch gut an die Demonstrationen und Teach-ins mit Rudi 1967. Rudi hatte immer sein Megaphon dabei. Er hatte eine kräftige, raue, markige, revolutionäre Stimme, die gut zu seinen schwarzen Haaren passte, und alles was er sagte war korrekt marxistisch-leninistisch. Denn er stammte aus der DDR, aus einem Dorf bei Luckenwalde im Süden der Mark Brandenburg, und hatte daher schon etwas Vorbildung in Sachen Marxismus-Leninismus. Wir jungen Westberliner waren 1967 noch ziemlich ahnungslos und mussten uns erst schlau machen. In der Schule hatten wir nie etwas von Karl Marx gehört. Rudi Dutschke war übrigens mit 21 Jahren, einen Tag vor dem Mauerbau am 13. August 1961, aus der DDR nach West-Berlin abgehauen.
Bücher waren für Rudi damals enorm wichtig und er entdeckte ständig neue Autoren, die er seinen Freunden empfahl. Dazu gehörten die Schriften von Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Frantz Fanon, Georg Lukács und die philosophischen Frühschriften von Karl Marx. Herbert Marcuse war der beste Denker, der sogar leibhaftig aus Kalifornien nach West-Berlin gekommen war, um mit Rudi Dutschke und den Studenten der Freien Universität die Transformation der Gesellschaft zu diskutieren. Wir haben damals alle ziemlich viel gelesen und die Buchhändler florierten sehr. In West-Berlin gab es sogar verschiedene politische Buchläden der verschiedenen sozialistischen Richtungen, die aus Ost-Berlin, aus Moskau oder aus Peking beliefert wurden.
Obwohl Rudi durch und durch Revolutionär war, lebte er doch mit einer US-amerikanischen Theologiestudentin zusammen, die er dann sogar geheiratet hat. Das galt natürlich als etwas spießig und bürgerlich und verursachte allgemeines Stirnrunzeln. Aber das war einer der vielen Widersprüche zwischen dem Politischen und dem Privaten des Jahres 1968. Der Sohn von Gretchen und Rudi, der im Januar 1968 geboren wurde, hieß dann übrigens als Kompromiss Hosea Che Dutschke. Den Che hat er inzwischen fallengelassen, den altisraelitischen Propheten Hosea nicht.
Es gab damals auch den Widerspruch zwischen der alten Vätergeneration und der jungen Nachkriegsgeneration, den Widerspruch zwischen Männern und Frauen, der mit der neuen Frauenbewegung immer schärfer wurde, den Widerspruch zwischen Studenten und Arbeitern, den Widerspruch zwischen der Dritten Welt und den imperialistischen Staaten. Am Ende wusste man vor lauter Widersprüchen kaum noch, was der Hauptwiderspruch und was die Nebenwidersprüche waren.
Gretchen Dutschke schrieb später, dass sie deswegen geheiratet haben, weil man damals 2.000 Mark vom westberliner Staat bekam, wenn man heiratete. Das war eine der hübschen und mehr plumpen Manipulationen des Staates, von denen Herbert Marcuse so ausführlich geschrieben hatte. Willy Brandt und der westberliner Senat wollten West-Berlin mit aller Macht als kapitalistische Insel im Kommunismus halten. Daher gab es auch Berlinzulage zum Lohn, eine so genannte Zitterprämie, um wenigstens noch ein paar Arbeitskräfte in West-Berlin zu halten. Außerdem wurden Arbeiter mit Begrüßungsgeld und Freiflügen nach West-Deutschland angelockt. Es kamen aber hauptsächlich Kriegsdienstverweigerer, weil es in West-Berlin wegen des Alliiertenstatuts keine Bundeswehr gab.
Gretchen und Rudi sind nicht in eine Kommune gezogen, weder in die Kommune 1 noch in die Kommune 2, die 1967 in Berlin entstanden. Die Luft in West-Berlin war schon ziemlich bleihaltig geworden. Am 2. Juni 1967 war der Student Benno Ohnesorg bei einer Anti-Schah-Demonstration in Berlin Charlottenburg erschossen worden. Gretchen und Rudi planten, mit Hosea Che in die USA auszuwandern. Aber dann kam der 11. April 1968 dazwischen. Rudi Dutschke war eine Jahrhundert-Persönlichkeit. Schade dass es heute niemanden wie Rudi mit seiner geistigen Klarheit, seiner Intelligenz und seinem Charisma gibt. Gretchen Dutschke lebt immer noch in Berlin und schreibt wichtige Bücher über 1968.
Im Rückblick war eine sozialistische Revolution in West-Berlin eine schwierige Angelegenheit, denn in der Stadt waren haufenweise US-amerikanische Panzer und Soldaten. Deren Abzug war unwahrscheinlich. Und einen Einmarsch der russischen Armee aus Ost-Berlin wollte fast niemand. Auf sich allein gestellt hätten die West-Berliner nicht überleben können. Eine Revolution in West-Deutschland war ja wohl noch unwahrscheinlicher. Aber so weit haben wir damals gar nicht gedacht. Viele wollten nur einfach ihren Frust über die tägliche Unterdrückung (durch die Ideologischen Staatsapparate, wie Althusser sie nannte) loswerden. Daher ist es keine Revolution geworden, sondern nur eine Revolte 68. Rudi Dutschke hatte gehofft, dass mit einer Räterepublik Westberlin gleichzeitig ein freiheitlicher Sozialismus in der DDR entstehen würde. Das war aber sehr optimistisch gedacht.
Die sozialistische Studentenrevolte hatte damals viele Feinde: Die SPD, die CDU, die Springerpresse, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit seinen Einzelgewerkschaften, die Alliierten in West-Berlin. Heute sind 50 Jahre seit dem Attentat vergangen, aber der Tag ist nicht vergessen. Vor dem Haus Kurfürstendamm 141 werden sich einige Genossinnen und Genossen versammeln.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2018.

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2018/04/08

Das Luise & Karl Kautsky-Haus in Berlin Friedenau

Peter Hahn & Jürgen Stich

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Das Luise & Karl Kautsky-Haus in der Saarstraße 14 in Berlin Friedenau.
Foto von © Peter Hahn & Jürgen Stich, Januar 2018.

Die Saarstraße war in den Gründerjahren von Friedenau eine begehrte Adresse. Hier hatten sich Mitglieder des "Landerwerb- und Bauverein auf Aktien" attraktive Grundstücke gesichert, darunter die Gemeinderäte Ludwig Blankenberg, Hermann Hähnel und Wilhelm Fröauf. "Rechnungsrath" Fröauf war seit 1876 Eigentümer des Hauses Saarstraße Nr. 3. Im Jahr 1884 ließ er sich (und nicht wie so oft (ab)geschrieben Johannes Homuth) auf dem Grundstück Nr. 14 ein Landhaus errichten. Als "Architekt" wird W. Spieß genannt. Dabei kann es sich eigentlich nur um den Zimmermeister Wilhelm Spieß handeln, der mit E. (Ernst) Kreuschmer das Baugeschäft Kreuschmer & Co. in der Rheinstraße Nr. 8 betrieb. Für ihr Materiallager hatten sie vom Friedenauer Gemeindevertreter "Rechnungsrath Robert Hertel" in der Handjerystraße einen "Zimmerplatz" gepachtet.
Fröaufs Haus macht eine Veränderung deutlich. Nach 1874 hatte man in Friedenau auf den "Putzbau" gesetzt. Das hat sich nicht bewährt, da die dem Wetter ausgesetzten Gebäudeteile ziemliche Schäden aufwiesen. Inzwischen gab es rings um Berlin diverse Hoffmann‘sche Ringöfen, in denen wetterfeste Ziegel gebrannt wurden. Die in der Saarstraße Nr. 14 eingesetzten gelben Sichtziegel dürften aus der Ziegelei Glindow stammen. "Garniert" wurde das Haus mit spätklassizistischem Dekor.
Fröauf verkaufte das Anwesen 1892/93 an den Buchdruckereibesitzer Mann und zog in die Steinmetzstraße Nr. 2 in Schöneberg. Zwischen 1894 und 1902 werden als Eigentümer das "Patentbureau Gerson & Sache" und die Familie Lehment sowie von 1900 bis 1902 als Mieter "Redacteur Karl Kautsky" (1854-1938) mit seiner Ehefrau Luise geb. Ronsperger (1864-1944) aufgeführt. Da Rosa Luxemburg 1899 nach Friedenau gezogen war (erst Wielandstraße Nr. 23, dann Cranachstraße Nr. 53) kann es durchaus sein, dass es schon in dieser Wohnung Gespräche zwischen Kautsky und Luxemburg über die zukünftige Rolle der SPD gegeben hat.
Der "Geheime Kanzleirath" Johannes Homuth hatte 1886 das Haus Saarstraße Nr. 17 und später auch die Häuser Nr. 8-10 erworben. 1903 erwarb er das ehemalige Fröaufsche Haus Nr. 14. Friedenau war damals bereits im Umbruch. Mit den Bauordnungen von 1887 und 1893 konnten Landhäuser aus der Gründerzeit abgebrochen und durch mehrstöckige Mietswohnhäuser ersetzt werden. Familie Lehment übernahm 1903 als Eigentümer das Haus Saarstraße Nr. 19 - und "nahmen" Luise und Karl Kautsky nebst Söhnen Felix (1891-1953), Karl (1892-1978) und Benedikt (1894-1960) als Mieter gleich mit. 1908 zogen die Kautskys in das gerade fertig gestellte Mietwohnhaus Niedstraße Nr. 14. Hier fand Rosa Luxemburg (1871-1919) mitunter Zuflucht, wenn sie sich während ihrer heimlichen Liaison mit Kostja Zetkin (1885-1980) vor den Eifersuchtsattacken "ihres Mannes" Leo Jogiches (1867-1919) retten musste.
Das Landhaus Saarstraße Nr. 14 blieb bis 1927/28 im Besitz der Familie Homuth. Danach übernahm das Anwesen der Malermeister Hans Walldorf, bis dahin wohnhaft Fröaufstraße Nr. 4. Walldorf hatte ein Malereigeschäft. Er setzte den Anbau zwischen Nr. 14 und Nr. 13 durch. Zur Saarstraße entstand eine Garage und im schmalen Hinterhof ein "Schuppen". Laut Adressbuch war Walldorf bis 1954 Eigentümer. Die Eigentumsverhältnisse für die Jahre danach sind unklar. Im "Grundbuch von Friedenau, Blatt 1872" finden sich später folgende Eintragungen: "1. Frau Elisabeth Batzer in Berlin, neu eingetragen ohne Eigentumswechsel am 21.09.1999; 2. Ursula Bußmann geb. Kreetz, geb. am 08.08.1921, Erbschein, eingetragen am 20.01.2000; 3. Hans Bußmann, geb. 14.02.1917, Erbvertrag, eingetragen am 14.09.2004; 4. Martina Saddey, geb. 19.07.1963, Auflassung (Übereignung) vom 17.07.2004, eingetragen am 26.11.2004; 5. Zeltlagerplatz e. V., Bonn, Auflassung (Übereignung) vom 02.10.2009, eingetragen am 24.11.2009."
Der gemeinnützige Verein "Zeltlagerplatz" ist der Vermögensträger der "Sozialistischen Jugend Deutschlands - Die Falken", in dessen Besitz sich in Deutschland 29 Zeltlagerplätze nebst Immobilien von Schwangau in Bayern bis zur Insel Föhr in Schleswig-Holstein befinden. 2009 konnte der Verein das vernachlässigte Anwesen Saarstraße Nr. 14 erwerben. Der Architekt Martin Beisenwenger übernahm Umbau und Modernisierung des denkmalgeschützten dreigeschossigen Landhauses. Am 12. März 2011 wurde das "Luise & Karl Kautsky-Haus" als Bildungs- und Begegnungsstätte und Sitz der SJD-Bundesgeschäftsstelle eröffnet.
Wer sich die Fotos von vorher ansieht und das Haus heute außen und innen betrachtet, kann dem Architekten nur Hochachtung zollen. Was er bei einer Geschossflächenzahl von 604 m² geschickt untergebracht hat, nötigt Respekt ab, weil all das heute Erforderliche und Vorgeschriebene eingebracht und dabei das ehrwürdige Haus respektiert wurde. Ob die steilen Stufen im Treppenhaus, Geländer, Fenster, Türen oder an der Straßenfront der Ziergiebel im "Schweizer Stil", alles wurde umsichtig restauriert - selbst das "Bidet" von anno dunnemals wurde erhalten. Auf den vorhandenen Flächen im Innern wurden Seminarräume, Ausstellung und Bibliothek untergebracht.
Das Land Berlin und das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg, von den Sozialdemokraten dominiert, haben dem Projekt jegliche finanzielle Beteiligung verweigert. Es kam noch ärger: Als das "Luise & Karl Kautsky-Haus" darum bat, den direkt vor den Hauseingang gesetzten Parkscheinautomaten zu versetzen, weil er auch die Gedenkstele für Luise und Karl Kautsky verdeckt, teilte das Bezirksamt mit, dass "eine Verlegung ca. 1.800 € kosten würde und dieses Geld von der Verwaltung nicht aufgebracht werden kann". Die Genossen im Rathaus Schöneberg seien daran erinnert, dass die SJD (Sozialistische Jugend Deutschlands) Nachfolger der "Sozialistischen Arbeiter Jugend" (SAJ) ist, die 1922 während der Weimarer Republik nach dem Zusammenschluss von SPD und USPD gegründet und 1933 von den Nazis verboten wurde. Nachdem die Alliierten parteiungebundene Jugendgruppen zugelassen hatten, wurde 1946 der Grundstein für die "Falken" gelegt.
Im Souterrain, dem Seminarbereich der Bildungsstätte, haben die Falken in Zusammenarbeit mit dem Archiv der Arbeiterjugendbewegung und dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Ausstellung zu Leben und Wirken von Luise und Karl Kautsky und zu Aspekten der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung installiert.

© Peter Hahn & Jürgen Stich, April 2018.
Dieser Artikel erschien zuerst auf www.friedenau-aktuell.de. Mit freundlicher Genehmigung von Peter Hahn & Jürgen Stich übernommen.

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2018/04/06

Vor 50 Jahren: Die Ermordung von Martin Luther King jr.

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Martin Luther King jr. 1964.
Quelle: Wikimedia Commons.

Martin Luther King jr. war ein Baptistenprediger und Anführer des Civil Rights Movement in den 1960er Jahren in den USA. Die Menschen in der Bürgerrechtsbewegung kämpften für die Rechte der Afroamerikaner, die vielfach benachteiligt waren und oft nicht wählen durften, besonders in den Südstaaten. Die USA bezeichneten sich damals gerne als Land der Freiheit, aber tatsächlich wurde die Freiheit der Bürger an allen Ecken und Enden unterdrückt. Der Ku Klux Klan verübte zahlreiche Morde, um die Afroamerikaner einzuschüchtern.
Martin Luther King jr. wurde 1929 in Atlanta/Georgia/USA geboren. Er hieß eigentlich Michael King, aber bereits sein Vater, der ebenfalls Baptistenprediger war, hatte sich die Vornamen Martin Luther gegeben, aus Bewunderung für den deutschen Reformator. Kings Vater war auch bereits in der einflussreichen National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) aktiv. King Junior hatte ein großes rednerisches Talent und so wurde er ebenfalls christlicher Prediger.
Bei seinen Aktionen des zivilen Ungehorsams und Protests stützte sich King jr. auf die erfolgreiche Praxis von Mahatma Gandhi in Indien. Er war auch ein belesener Mensch, der bspw. die Bücher von Henry David Thoreau und von Karl Marx studiert hatte, obwohl er kein Marxist war, sondern den Individualismus betonte. Martin Luther King jr. erreichte es mit seinen Anhängern, dass die Rassentrennung in den Südstaaten aufgehoben wurde und dass die Afroamerikaner das Wahlrecht erhielten. Im Dezember 1964 wurde ihm dafür der Friedensnobelpreis verliehen.
Am bekanntesten ist King für seine Rede "I Have a Dream", die er während des Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit am 28. August 1963 hielt. Darin sagte er:

"I have a dream that one day this nation will rise up, and live out the true meaning of ist creed: 'We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal.'"

"Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihrer Überzeugung ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind gleich erschaffen."

Nicht nur Kings Bürgerrechtsaktivitäten waren dem weißen Establishment ein Dorn im Auge. Ab 1966 trat King auch öffentlich gegen den Vietnamkrieg auf. Das brachte ihn in die Nähe der Kommunisten, die den Vietnamkrieg der USA ebenfalls bekämpften. US-Präsident Lyndon B. Johnson wurde zu seinem Gegner. Und das FBI wurde intensiv gegen King eingesetzt. Am 4. April 1968 wurde King in Memphis/Tennessee von einem mehrfach vorbestraften weißen Rassisten erschossen, der später allerdings die Tat bestritt. In den Jahrzehnten nach der Tat entwickelten sich verschiedene Verschwörungstheorien, nach denen u.a. das FBI und die US-amerikanische Regierung für die Ermordung Kings verantwortlich gewesen sein sollen.
Nach der Ermordung von Martin Luther King jr. radikalisierte sich die Bewegung der Afroamerikaner in den USA. Im Herbst 1966 waren die marxistischen Black Panthers um Huey P. Newton, Bobby Seale, Stokely Carmichael und Eldridge Cleaver gegründet worden, die einen antikapitalistischen Kurs vertraten. Sie lösten sich allerdings schon 1982 wieder auf. Eine nachhaltige Wirkung in Richtung einer Besserung der sozialen Lage wurde kaum erzielt. Heute nach 50 Jahren sind die Afroamerikaner in den USA immer noch überproportional von Armut, Ausgrenzung und Kriminalisierung betroffen. Immerhin gibt es seit 1986 der Martin Luther King Day als offiziellen Feiertag in den USA.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/04/04

Tagebuch 1973, Teil 24: Isfahan

Dr. Christian G. Pätzold

isfahan
Der Hauptplatz von Isfahan, früher Königsplatz genannt, heute Platz des Imams.
Quelle Wikimedia Commons. Fotograf: Arad Mojtahedi.

3. September 1973, Teheran - Isfahan, Montag

Unser Hotel Amir Kabir in Teheran war sehr gut gewesen, sauber und preiswert. Wir stellten unsere Rucksäcke bei Julia ab und fuhren mit dem Bus nach Isfahan, nach Süden durch die persische Landschaft. Unterwegs gab es im Bus kostenlos Eiswasser und eine Limonade. Der Bus hielt unterwegs zweimal für einen Imbiss. Der Fahrer war ein kleiner Lustiger, der ständig irgendwelche Kerne kaute. Die Landschaft war sehr karg und sandig, wahrscheinlich weil es Spätsommer war. Ab und zu sah ich ein paar Sträucher und Schafherden, die das letzte Gras wegfraßen.
Bei der Ankunft in Isfahan haben wir gleich die Bus-Fahrkarten nach Shiraz gekauft, 140 R pro Person. Das Touristenbüro hat uns das Hotel Git-y vermittelt, 220 R mit Ventilator, ohne Dusche, etwas unproper. In der Jugendherberge kostete die Übernachtung pro Person nur 75 Rial im Dormitory von 10 Personen. Dann haben wir eine längliche Honigmelone für 18 R gekauft und aus der persischen Küche im Erdgeschoss gegessen. Reis ist die Grundlage der Küche, dazu Kebab und Tomaten. In Teheran haben wir oft Sandwiches gegessen, ein halbes mit Salami, Zwiebeln und Tomaten gefülltes Baguette, einfach und sehr schmackhaft.

4. September 1973, Isfahan, Dienstag

Unser Hotel lag, wie schon in Teheran, in der Straße, in der die Autos repariert wurden. Wir gingen zum Touristenbüro, wo uns der Mann die Sehenswürdigkeiten genannt hat. Der Schahplatz (Königsplatz) ist das Zentrum der Stadt und sehr groß. Der Mann im Touristenbüro war aber sofort bereit zuzugeben, dass der Schahplatz nicht der größte Platz der Welt ist, nachdem wir das bezweifelt hatten.
Wir haben zwei Teppichwerkstätten gesehen, in kleinen Räumen in Privathäusern, in denen die kleinen Mädchen den ganzen Tag knüpften. Wir wurden gleich auf der Straße abgefangen und uns wurden Teppiche sowie Miniaturen auf Kamelknochen oder Elfenbein, sehr schöne Malerei, zum Kauf angeboten. Außerdem wurden viele Kupferteller und Vasen mit floralen Verzierungen und Tiermotiven verkauft. Die Handwerker saßen im Freien oder in ihren Läden und ziselierten die Teller mit leichten Hammerschlägen. Auch bei der Bearbeitung der Kupferteller sah ich viele Jugendliche. Wir haben kein Kunsthandwerk gekauft, weil wir keinen Ballast mit uns rumschleppen wollten. Wir haben auch in eine Bäckerei hineingesehen. Die Leute schufteten da in riesiger Hitze wie die Verrückten. In vielen Häusern und Autos sah man das Bild des Propheten Mohammed. (Im Judentum, Christentum und im Islam gibt es zwar ein offizielles Bilderverbot, nach dem Gott und die Propheten nicht bildlich dargestellt werden dürfen, aber daran hielt sich das Volk nicht.)
Wir besichtigten den Ali Qapu Palast (früher auch Hohe Pforte genannt) am Schahplatz, ein überaus origineller Bau. Der Palast ist mehrstöckig und erinnert mit seiner Kubusform an ein modernes Wohnhaus, vor das noch eine riesige, von Säulen getragene Veranda gesetzt ist. Dort waren gerade Restaurierungsarbeiten im Gange, wie auch im Chehl Sotun Palast. Isfahan war in früheren Jahrhunderten die Hauptstadt Persiens und der Königsplatz das Machtzentrum. Wir trafen einen Derwisch, der sehr nett aussah und geknüpfte Kameltaschen verkaufte. Dann besichtigten wir die große Schahmoschee, die in der Kuppel ein siebenfaches Echo hat, und die Sheikh Lutfullah Moschee, beide am Schahplatz gelegen, auf dem die Herrscher früherer Zeiten wohl auch Polo gespielt haben sollen. Ich habe einige Fotos aufgenommen.
Die Architektur der Moscheen ist überwältigend und ganz Isfahan ist überhaupt ein Wunder der Baukunst. Die Kuppeln der Moscheen glitzerten so schön in der Sonne, weil sie aus glasierten Keramikfliesen zusammengesetzt sind. Die Muster auf den Wandfliesen der Moscheen, die kunstvollen kalligrafischen Bänder an den Kuppeln, die wie Waben ausgeformten Gewölbe, die sternförmigen Verzierungen der Kuppeln, die Blütenornamente, das Zusammenspiel der vorherrschenden Farben Türkis, Ultramarinblau und Gold sind einfach einzigartig und kaum beschreibbar. Es ergibt sich so ein Stadtbild von einzigartiger, faszinierender Schönheit, das sich von den hohen, kahlen Bergen der Umgebung abhebt. Die unterschiedlich hohen Kuppeln der Moscheen, die Minarette, die Häuser mit ihren manchmal geschwungenen Dächern, die Bäume, deren frisches Grün sich von der Sandfarbe der Häuser und dem Türkis der Kuppeln abhebt, geben dieser Stadt ein ungemein persönliches und anziehendes Gesicht. Ich hatte den Eindruck, dass Isfahan eine Stadt ist, in der man gerne mal ein Jahr leben möchte, um alle diese Schönheiten in Ruhe betrachten zu können. Man muss allerdings bedenken, dass diese Gegend eigentlich eine Wüste ist und dass alles Grün künstlich bewässert werden muss.
Wir gingen in eine der schmalen Gassen hinter der Schahmoschee. Die Wege, die von den die Häuser umgebenden Mauern gebildet werden, sind sehr schmal, so dass meist eine Seite der Gasse im Schatten liegt. Die über zwei Meter hohen Wände scheinen aus Lehm und Stroh gebaut zu sein und haben eine schöne sandtonige Farbe. Als wir in einen Hof sahen, fragte uns plötzlich jemand auf Österreichisch: "Kanni was für Sie tun?" Ein kleiner Junge, dessen Mutter Österreicherin war, hatte uns angesprochen. Wir sagten ihm, dass wir gerne den Hof sehen würden. Die Hausfrau saß im Hof und knüpfte einen Teppich. Die Zimmer hatten alle ihre Öffnung zum Hof. Ein junger Mann führte uns in ein Zimmer, das mit Teppichen ausgelegt war und in dem als einzigem Möbelstück eine riesige Musiktruhe prunkte. Alle Kinder des Hauses kamen, um uns anzusehen.
Unser neuer Freund führte uns anschließend in sein Haus. Wie fanden einen Kreis von drei Männern, der eine las nur zur Hause und war wahrscheinlich Dichter. Der andere kam aus Abadan und arbeitete gelegentlich beim Fernsehen. Der dritte war Maler und arbeitete als Restaurator. Wir unterhielten uns über deutsche Schriftsteller. Der Dichter schwärmte sehr von Hermann Hesse, Friedrich Nietzsche, Søren Kierkegaard und T. S. Eliot. Er zitierte ein Gedicht des Italieners Ungaretti: "It is dark, with frozen hands." "This is Iran." Mein Eindruck vom Iran war allerdings eher warm und sonnig, denn es war Sommer.
Wir fuhren mit unserer Gruppe von bizarren Existenzialisten zum Essen nach Julfa, dem armenischen Stadtteil von Isfahan. Anschließend haben wir alle süßlich riechendes Opium geraucht. Wir haben bei ihnen übernachtet. Das Opiumrauchen in Isfahan war schon der 4. kritische Moment meiner Weltreise. Das hätte auch schief gehen können. Morgen wollten wir nach Shiraz fahren, um einige Veranstaltungen des 7. Kunstfestivals zu sehen, das dort gerade läuft.

Postskriptum April 2018 zum Königsplatz in Isfahan:

Der Königsplatz heißt jetzt Meidan-e Emam (Platz des Imams) zu Ehren des Ajatollah Chomeini, des Anführers der Islamischen Revolution von 1979. Dass sich die Islamisten jetzt schon fast 40 Jahre im Iran halten konnten, zeigt, wie konservativ die Mehrheit der Bevölkerung in Wirklichkeit war. Der westlich orientierte Kurs des Schah wurde mehrheitlich abgelehnt. Der Königsplatz wurde um 1590 angelegt und hatte den ursprünglichen Namen Naqsch-e Dschahan (Abbild der Welt). Der Platz gehört zu den größten und schönsten Plätzen der Erde. Er misst 500 mal 150 Meter und ist ganz von zweistöckigen Arkadenreihen umgeben.
Am südlichen Teil des Platzes liegt die Masjid-i Schah, die Königsmoschee, erbaut 1611-1616. Sie hat ein großes von zwei Minaretten flankiertes Portal. Der Grundriss besteht aus einem zentralen Hof mit Wasserbecken, auf den sich von allen Seiten vier kuppelüberwölbte Iwane öffnen. Der Iwan ist eine für die persische Architektur typische Eingangs- oder Haupthalle. Die größte Kuppel, die reich mit glasierter Keramik geschmückt ist, befindet sich über dem Mihrab und wird von einem achteckigen Kuppelschaft mit Arkaden getragen. Der Mihrab ist eine reich verzierte Nische in Moscheen, die für das Gebet in Richtung Mekka weist. Die Gebetsrichtung nach Mekka wird Kibla genannt. Die Kuppeln haben natürlich die Funktion, einen großen Raum säulenlos zu überdachen, was mit einem Flachdach damals noch nicht möglich war. Die Königsmoschee ist eines der perfektesten islamischen Bauwerke überhaupt, auf einer Stufe mit dem Alhambra-Palast in Granada und dem Tadsch Mahal Mausoleum in Agra, die ich auch auf meiner Reise gesehen habe. Da die Moscheen nach Mekka ausgerichtet sein mussten, da die Mohammedaner alle in Reihen in Richtung Mekka beten, liegt die Königsmoschee nicht auf der Achse des Maidan-i Schah, sondern biegt leicht nach Südwesten ab.
An der Ostseite des Platzes liegt die Moschee des Scheich Lotfollah, 1603-1617, ebenfalls schräg zum Platz. Über ihrem einzigen Saal wölbt sich eine Kuppel mit Arabesken aus Emailkeramik, überwiegend sandfarben, während die Kuppel der Schahmoschee überwiegend grün-türkis glänzt.
An der Nordseite wird die Arkadenwand vom Tor des Basars unterbrochen und an der Westseite des Platzes liegt der Ali-Kapu-Palast gegenüber der Lotfollah-Moschee.
Etwas vom Schahplatz entfernt, schräg hinter dem Ali-Kapu-Palast, liegt der Tschehel Sotun, der Thronsaal von Schah Abbas mit seiner Verandaterrasse, deren Flachdach von 20 Säulen getragen wird, die sich im davor liegenden Wasserbecken spiegeln, was zusammen 40 Säulen ergibt. Da die Wandmalereien die jetzt regierenden Fundamentalisten gestört haben sollen, sollen sie sie aus religiösen Gründen mit einer Gipsschicht überdeckt haben, während sie damals, als ich dort war, gerade restauriert wurden. So kann es gehen.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2018.

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2018/04/02

Tagebuch 1973, Teil 23: Teheran

Dr. Christian G. Pätzold

2. September 1973, Teheran, Sonntag

Wir sind zum City-Theater von Teheran gefahren und bis ins Büro vorgedrungen. Dort arbeitete eine sehr interessante Frau, Vater Grieche, Mutter Deutsche, in Ägypten aufgewachsen und mit einem Russen verheiratet, der einen französischen Pass hat und jetzt mit ihr im Iran lebt. Außerdem sprach sie neben den Sprachen dieser Länder auch noch sehr gut Englisch. Man trifft auf Reisen ungewöhnliche Menschen. Wir baten sie, uns Eintrittskarten für das Theaterfestival in Shiraz zu besorgen, das wir in den nächsten Tagen besuchen wollten. Sie telefonierte extra nach Shiraz und reservierte Karten für uns, da schon alle Karten aus Teheran weggeschickt worden waren. Dann haben wir noch die Bühne dieses größten Theaters von Teheran besichtigt.
Wir sind dann zum Schah-Erinnerungsdenkmal (Shahyad Arya Mehr Monument) am Westrand der Stadt gefahren, das 1971 fertig gestellt wurde. Es lag in der Nähe des Flughafens und man konnte deutlich die umliegende bergige Wüste sehen. Zahlreiche Polizisten bewachten das Monument. Fotografieren war verboten. Unterhalb des Turms, der wie ein großes Stadttor aussieht, befand sich im Untergrund ein kleines Museum mit sehr wertvollen Kunstgegenständen und Geschichtsdokumenten. Danach wurde man in eine Art Gespensterbahn-Superkino geführt, auf Fließbändern rollte man durch sieben Räume. Optische und akustische Reize schlugen auf einen ein: 1. Raum: Leuchtdia über alles Mögliche auf der Welt, zum Beispiel sagte eine männliche Stimme fortlaufend auf Deutsch: "Es lebe die Pornografie". 2. Raum: Ballettfilm und Musik. 3. Raum: Film mit vorüber ziehenden Schafherden, Esel. 4. Raum: Film mit Meer und Bäumen, Gemälde auf Dias. 5. Raum: Film mit Portraits, Industrie. 6. und 7. Raum: Über den Schah, seine Krönung. Alles war sehr schick, modern und eindrucksvoll inszeniert, aber wohl auch etwas wirr und gewollt modernistisch. Polizisten haben die Taschen der Besucher durchsucht und waren an dem Tag in der Überzahl im Verhältnis zu den Touristen. Man hatte offenbar ständig Angst vor Bombenanschlägen.
Anschließend fuhren wir zu dem Cartoonisten Mr. Ismail von 'The Teheran Journal', der in einem alten Haus mit Garten in der Südstadt lebte. Wir hatten ihn am Morgen auf der Fahrt zum Theater im Taxi kennen gelernt. Die Taxis in Teheran nahmen immer mehrere Leute mit. Der erste Passagier konnte die Fahrtrichtung bestimmen, die anderen standen am Straßenrand und riefen ihr gewünschtes Fahrtziel ins offene Fenster der Taxis. Wenn es die gleiche Richtung war, wurden sie mitgenommen und zahlten die Differenz zwischen Anfang und Ende der Fahrt. Dieses System war für Ausländer nicht so leicht zu durchschauen. Aber dadurch haben wir im Taxi sehr interessante Leute kennen gelernt. Es gab in Teheran nicht nur die offiziellen Taxis, sondern auch viele Privattaxis.
Mr. Ismail war Ägypter und wollte auch um die Welt fahren. Er sah sich als Künstler: "I am God and child together". Er wollte 10 Jahre lang reisen und arbeiten und dann eine Frau aus Japan, Deutschland oder Schweden heiraten. Er sagte, dass es nicht schwer sei, eine Arbeit zu finden. Er war Maler, Cartoonist und Tierarzt. In dieser Reihenfolge suchte er sich Jobs in einem neuen Land. Mr. Ismail sagte, dass persische Frauen, wenn sie das Einkommen und die Position eines Mannes kennen, ihn sofort fragten, ob er sie heiraten möchte. Eine Liebesbeziehung wäre überhaupt nicht im Spiel, es gehe der Frau nur darum, ökonomisch abgesichert zu sein, da sie nicht arbeite. Wahrscheinlich war es schwierig für Frauen, eine Arbeit zu bekommen. Man lerne sich in Restaurants, in Taxis, bei Wohnungsbesichtigungen oder im Park kennen. Mr. Ismail zeigte uns dann noch von ihm angefertigte Karikaturen. Und er hat uns die Geschichte von Ägypten unter Nasser erzählt.
Auf der Fahrt zum Cartoonisten Mr. Ismail sind wir von einem Englisch sprechenden Taxifahrer zum Essen zu sich nach Hause eingeladen worden. Da wir morgen nach Isfahan und Shiraz abfahren, haben wir uns in einer Woche Samstag um 10 Uhr abends verabredet. Er war sehr freundlich, zweifelte aber, ob wir auch tatsächlich kommen würden.

Postskriptum April 2018:
Das Schiras-Kunstfestival war ein Festival für Moderne Kunst, das von 1967 bis 1977 stattfand. Es brachte die westliche Avantgarde-Kunst in der Musik, dem Tanz und dem Theater mit persischen Künstlern und persischem Publikum zusammen. Der Schah von Persien hatte den Plan, den Iran zu modernisieren und zu verwestlichen. Im Zusammenhang mit der Islamischen Revolution 1979 wurde das Festival beendet, da die Islamisten die westliche Kunst als dekadent und obszön betrachteten.
Der Shahyad Arya Mehr Turm heißt seit der Islamischen Revolution von 1979 Freiheitsturm (Burj-e Azadi). Er ist 45 Meter hoch und mit weißem Marmor verkleidet. Die Revolution gegen den Schah 1979 ist zwar gelungen, aber viele Perser wollten nicht den Gottesstaat, der danach kam und bis heute anhält.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2018.

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2018/03/31

vorschau04

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2018/03/28

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
Hannah Arendt: »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen« (1)

Banalität oder Radikalität des Bösen?

Allen Missverständnissen zum Trotz muss gesagt werden, dass Hannah Arendt die berühmte Wendung von der "Banalität des Bösen" in Anlehnung an Immanuel Kants Begriff der "Radikalität des Bösen" verwendet hat, als Antithese gewissermaßen. Gemeint ist eine Art Unreflektiertheit in Bezug auf das eigene Tun, wie sie es bei Adolf Eichmann beobachten konnte - im Unterschied zum "radikal Bösen" in Kants Sinne, das nur aus dem Kontext ideologischer Gedankengebäude erklärbar ist und nicht durch rational verstehbare Motive wie Neid, Habgier, Eifersucht, Eitelkeit - dieser philosophische Subtext wurde von den Lesern aber meist nicht verstanden - besagte "Banalität des Bösen" meint hier weder Dummheit noch Bösartigkeit, sondern im konkreten Fall Eichmann dessen "schiere Gedankenlosigkeit", die ihn zur von ihm organisierten Deportation der Juden verleitet habe.
In ihrem Prozessbericht, ursprünglich in der Zeitschrift The New Yorker veröffentlicht, kommentiert sie das 1961 in Israel durchgeführte Gerichtsverfahren und zeigt auf, Adolf Eichmann sei "kein Verbrecher im üblichen Sinn gewesen (für den ihn die Anklage hielt), sondern ein Schreibtischtäter, ein Verwaltungsmassenmörder, der sich nie ganz das Ausmaß der von ihm verursachten Katastrophe vor Augen geführt habe". (2) Bis in die Sprache hinein zeigt sich, dass die Ungeheuerlichkeit seiner Taten, immerhin war er für den Transport und die Vernichtung von 6 Millionen Juden verantwortlich, ihm nicht bewusst war. Dieses Defizit verweist auf den Charakter und die Neuartigkeit dieser Verbrechen, geplante und ordnungsgemäß (!) durchgeführte Massenmorde, die, ideologisch verbrämt, dem deutschen Volk als notwendig dargestellt wurden.

Eichmanns Sprache

Von eher bescheidener Intelligenz (die eines Postbeamten, hieß es) zeugen diese Beispiele einer antiquierten, zum Teil komisch wirkenden Sprache, als seien sie aus der hauseigenen Mottenkiste entnommen. Bei all dem, was da an Schrecken geschildert wird - in einer manchmal fast demütig wirkenden Sprache - versagt mitunter das Vorstellungsvermögen. Es streikt sogar die Sprache selbst und Eichmanns Sprache hatte ihm schon lange den Kampf angesagt. (3)
Im Laufe des viele Tage dauernden Prozesses konnte Hannah Arendt den Angeklagten gut beobachten und analysieren, was sie auch reichlich tat. Besonders amüsierte sie sich über dessen "gestörtes Verhältnis zur deutschen Sprache und schloss von seiner Unfähigkeit, sich vernünftig auszudrücken auf seine Unfähigkeit zu denken" bzw. auf seinen "pathologischen Mangel an Empathie". (4) "Verständigung mit Eichmann war nicht möglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft." (5)
Es werden Phrasen gedroschen und alle Sprachklischees bedient, die man sich nur vorstellen kann. Stellvertretend seien einige genannt: "...so, wenn er immer wieder von "geflügelten Worten" sprach, aber Redensarten oder Schlagworte wie zum Beispiel Himmlers Neujahrsparolen meinte, ...komisch auch die endlosen Sätze, die niemand verstehen kann, weil sie ohne alle Syntax Redensart auf Redensart häufen (er selber entschuldigte sich für diesen "milden Fall von Aphasie" damit: "Amtssprache ist meine einzige Sprache" ". (6) Der Vorwurf der Richter, dass dieses "leere Gerede" nur vorgetäuscht sei und der Angeklagte dahinter etwas verberge usw. zielt am Eigentlichen vorbei und ignoriert die "verblüffende Konsequenz, mit der Eichmann trotz seines schlechten Gedächtnisses Wort für Wort die gleichen Phrasen und selbst erfundenen Klischees wiederholte (wenn es ihm gelang, einen wirklichen Satz zu konstruieren, wiederholte er ihn so lange, bis ein Klischee daraus wurde)".(7) Beispielsweise fand er "tröstende" und "beschwichtigende" Worte, als es um die Vernichtung der Juden ging, dass "ja alles nicht so heiß gegessen werde, wie es gekocht wird" usw. Es stehen einem die Haare zu Berge, wenn man so etwas hört. Auch eine Phrase übrigens.
Mit ziemlicher Sicherheit dienten die mitunter diffusen Sprachregelungen der Nazis dazu, deren wahre Absichten zu verschleiern - wie deren Opfer sollten auch die Vollstrecker bis zum Schluss über ihr Schicksal getäuscht werden.

Warum das Buch lesen?

Es gibt eine Innenschau eines totalitären Systems von einem seiner emsigsten und überzeugtesten Vollstrecker. In der systematischen Darstellung des Völkermords mit fast allen seinen Facetten kann man sowohl von der Täterseite als auch der Opferseite erfahren. Eichmann gab sein Wissen, auch wenn es an Grauenhaftigkeit nicht zu überbieten ist, preis und wir sollten es für uns nutzen und daraus lernen.

Anmerkungen:
0) 1960 wurde der bei Kriegsende flüchtige Adolf Eichmann vom israelischen Geheimdienst in Argentinien aufgespürt und in einer verdeckten Aktion nach Israel gebracht, wo er 1961 vor Gericht gestellt wurde. Die Anklage lautete: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen das jüdische Volk.
1) Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, erschienen 1963, erweiterte Neuauflage 1965; dt. Ausgabe 1964; hier zitiert nach: Ausgabe München 1986.
2) Zitiert nach: Arendt, Annette Vowinckel, Leipzig 2006, S. 126/127: "Der Bericht ist getragen von einer harschen Kritik an der israelischen Staatsanwaltschaft und Regierung, die in dem Vorwurf mündet, man habe einen Schauprozess gegen Eichmann inszeniert. ...Zudem bewertet Arendt die Kooperation der Judenräte mit dem nationalsozialistischen Regime als Fehler und wirft dem "jüdischen Establishment" vor, stets auf den eigenen Vorteil bedacht gewesen zu sein. Das Erscheinen der Buchversion löste die genannte Eichmann-Kontroverse aus, die bis Mitte der sechziger Jahre anhielt und die zum Bruch zwischen Arendt und nahezu allen jüdischen Organisationen und Gemeinden führte."
3) Zitiert nach Eichmann in Jerusalem, München 1986, S.15/16: "Das Erschreckende an dem fabrikmäßig betriebenen Massenmord an den Juden ist nicht zuletzt in dem Tatbestand zu erblicken, daß mit Ausnahme der Vollstrecker eine systematische Verdrängung des Verbrechens stattfand, die gleichsam zum eigentlichen Charakter des nationalsozialistischen Herrschaftssystems gehörte und höchste Positionsinhaber nicht ausnahm."; S.126: "In Eichmanns Mund wirkte das Grauenhafte oft nicht einmal mehr makaber, sondern ausgesprochen komisch."
4) Ebenda S. 60.
5) Eichmann in Jerusalem, München 1986, S.126.
6) Ebenda S.124/125: "Doch die Amtssprache war eben gerade deshalb seine einzige Sprache geworden, weil er von Hause aus unfähig war, einen einzigen Satz zu sagen, der kein Klischee war."
7) Ebenda S. 125; S.133: "...diese schaurige Begabung, sich mit Klischees zu trösten, (verließ) ihn auch in der Stunde des Todes" nicht.

© Dr. Karin Krautschick, März 2018. www.krautschick.de.

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2018/03/25

Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin, Teil 1
Gerhard Thieme, Bauarbeiter, 1968

realismus1
Gerhard Thieme, Bauarbeiter, 1968. Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, November 2016.

Nicht weit vom Alex, an der Ecke Karl-Liebknecht-Straße/Hirtenstraße, steht die überlebensgroße Bronzefigur eines Bauarbeiters von Gerhard Thieme aus dem Jahr 1968 mitten auf dem Fußgängerweg. Die Figur ist den "Bauschaffenden der Hauptstadt" der DDR gewidmet. Ein Monument für die Arbeiterklasse, das in den Stadtraum passt. Die Figur ist 3,40 Meter hoch und wiegt beachtliche 800 Kilogramm. Buntmetallräuber, die die Figur klauen wollten, müssten also schon mit schwerem Gerät anrücken. Ich finde die Plastik gut gelungen und sehr professionell gemacht.
Im Lauf der Jahre ist die Figur etwas vernachlässigt worden und könnte etwas Denkmalpflege gebrauchen. Der Grünspan macht sich allerdings gut, denn er verleiht der Kleidung Patina. Der Zeigefinger der linken Hand ist golden, denn die Passanten berühren ihn oft. Daher hat die Figur im Volksmund auch den Namen "Goldfinger". Mit der rechten Hand scheint der Bauarbeiter etwas abzumessen, im richtigen Winkel betrachtet hält er die Kugel des Fernsehturms in der Hand. Der Bauarbeiter trägt Gummistiefel, eine einfache Bauarbeitermontur und vorschriftsmäßig einen Bauhelm. Daran erkennt man den Realen Sozialismus, denn die realen Vorschriften wurden in der DDR beachtet. Der Bauarbeiter ist kein hektischer Arbeiter oder ermatteter Arbeiter, sondern ein betrachtender Arbeiter. Insgesamt ist der Bauarbeiter ein passendes Zeitdokument zu den zahlreichen Neubauten aus DDR-Tagen, die in dieser Gegend von Berlin Mitte stehen.
Der Bildhauer Gerhard Thieme wurde 1928 in Rüsdorf nahe Zwickau/Sachsen geboren. Schon in seiner Jugend erlernte er das Holzschnitzen. Seit 1950 studierte er Bildhauerei in Ost-Berlin, von 1952 bis 1956 war er Meisterschüler von Fritz Cremer. Seitdem arbeitete er als freischaffender Bildhauer in Ost-Berlin. Seine Plastiken sind zahlreich im Ost-Berliner Stadtbild vertreten. Auch sehenswert: Sein Archimedes und seine Clara Zetkin.
Mit dem »Bauarbeiter« befinden wir uns im ostberliner Realismus der 1960er Jahre. Es war ein aufbauender Realismus der neuen sozialistischen Gesellschaft. Es ist interessant, diesen Realismus mit dem früheren Berliner Realismus einerseits und dem gleichzeitigen westberliner Realismus andererseits zu vergleichen. In der aktuellen spannenden Ausstellung »Berliner Realismus« im Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg geht es um realistische Positionen in der Kunst der Jahre 1890 bis 1933. Damals standen die Themen der Sozialkritik am kapitalistischen System und die Revolution im Vordergrund. Für den westberliner Realismus der 1960er Jahre war die Studentenrevolte prägend. Dafür steht etwa das Relief »Der Tod des Demonstranten« von Alfred Hrdlicka vor der Deutschen Oper in Berlin Charlottenburg, das am 2017/06/02 auf kuhlewampe.net gezeigt wurde.

© Dr. Christian G. Pätzold, März 2018.

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2018/03/22

Nachdenken ist gut, aber man sollte es vorher tun.
(vordenken ist besser als nachdenken)

Alte Lebensweisheit

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2018/03/20

Freude über den Frühlingsanfang

fruehling

Zaubernussblüte im Botanischen Garten Berlin Dahlem, fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold. Die Zaubernuss (Hamamelis) gehört zur Familie der Zaubernussgewächse und blüht schon im März. Flower Power: Im Botanischen Garten der Freien Universität Berlin gibt es jetzt wieder den Frühlingspfad, der zu vielen früh blühenden Pflanzen führt.

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2018/03/18

Chelifer cancroides

buecherskorpion
Bücherskorpion Chelifer cancroides.
Quelle. Wikimedia Commons. Foto von Christian Fischer.

Der Bücherskorpion Chelifer cancroides kommt in Mitteleuropa in der Wohnumgebung des Menschen häufig vor, wird aber kaum beachtet, weil er so klein ist. Er lebt auch gerne in Bibliotheken, Museen und Herbarien. Das kleine Tierchen macht sich sehr nützlich im Verspeisen von Bücherläusen, Staubläusen, Hausstaubmilben, Springschwänzen und Bettwanzen. Für uns Menschen ist der Bücherskorpion völlig ungefährlich, da er die menschliche Haut mit seinen kleinen Scheren nicht durchschneiden kann. Also seid nicht beunruhigt, wenn euch ein Bücherskorpion begegnen sollte. Zur Fortpflanzung bildet das Männchen ein Territorium von wenigen Zentimetern, wo es einen Balztanz aufführt, wenn ein Weibchen vorbeikommt. Bücherskorpione können 4 Jahre alt werden.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/03/16

50. Jahrestag des My Lai Massaker am 16. März 1968

Vor 50 Jahren tobte der Vietnamkrieg. Der Vietnamkrieg wird heute in Vietnam "Der Amerikanische Krieg" genannt. Anführer der vietnamesischen Freiheitskämpfer war Ho Chi Minh, auch liebevoll Onkel Ho genannt. Die US-Truppen führten einen äußerst brutalen Krieg, um den Kapitalismus in Vietnam durchzusetzen. Dabei warfen sie auch Napalmbomben und das Gift Agent Orange auf die Zivilbevölkerung ab.
Am 16. März 1968 begingen die US-Truppen ein Massaker an 504 vietnamesischen Zivilisten, darunter 182 Frauen und 172 Kinder, in dem Dorf My Lai in Zentralvietnam. Die US-Soldaten vergewaltigten Frauen und brachten fast alle Einwohner des Dorfes um. Auch alle Tiere wurden getötet. Dieses Kriegsverbrechen war von dem amerikanischen Armeefotografen Ronald L. Haeberle dokumentiert worden. In dem Dorf waren keine Vietcong-Kämpfer angetroffen worden und es gab auch keinen Widerstand der Bewohner.
Das Massaker wurde erst später durch die Berichte des Journalisten Seymour Hersh bekannt, der dafür 1970 den Pulitzer-Preis für internationale Berichterstattung erhielt. Inzwischen waren die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg auch in den USA immer größer geworden. Die öffentliche Meinung wandte sich auch aufgrund der Nachrichten vom My Lai Massaker gegen den Krieg. Am 30. April 1975 schließlich hatte die Vietnamesische Volksarmee Saigon eingenommen und die USA besiegt. Heute befindet sich an der Stelle des Massakers ein Dokumentationszentrum.
Aus deutscher Sicht ist anzumerken, dass die herrschenden westdeutschen und westberliner Politiker der CDU und SPD den Vietnamkrieg der USA unterstützten. Willy Brandt brauchte die USA, um West-Berlin vor dem Kommunismus zu retten. Die DDR dagegen unterstützte seit Mitte der 1960er Jahre den Vietcong.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/03/14

Was ist los in China?

Interview mit Anna Gerstlacher MA, Sinologin in Berlin
Die Fragen stellte Dr. Christian G. Pätzold

china
Wächterlöwen vor dem Chinesischen Garten, Berlin Marzahn.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2017.

CGP:
Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas Xi Jinping bezeichnet das chinesische Wirtschaftssystem als "Sozialismus chinesischer Prägung". Aber müsste man nicht vielmehr von Kapitalismus sprechen? In China gibt es große Privatunternehmen. Außerdem gab es in China 609 Dollar-Milliardäre, in den USA nur 552 (Hurun Report). In Beijing lebten 94 Milliardäre, in New York City nur 86. Die Kluft zwischen Armen und Reichen ist in China enorm. Sind die Begriffe "Sozialismus" und "Kommunistische Partei" da nicht Etikettenschwindel?

AG:
"Sozialismus chinesischer Prägung" ist ein Begriff, der mit Deng Xiaoping in den 1980er Jahren entstanden und heute noch in der Öffentlichkeit geläufig ist, auch Xi Jinping verwendet den Begriff in seinen Publikationen. Mit der Öffnung des Landes gingen die Umstrukturierung der Wirtschaft sowie die Privatisierung der Wirtschaft einher. Dazu gab es den Spruch von Deng Xiaoping: "Es ist egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, Hauptsache sie fängt Mäuse", er meinte damit Sozialismus oder Kapitalismus. in den 1990er Jahren wurde ein Teil der Staatsbetriebe in Privatbetriebe umgewandelt. Erste Joint-Venture-Unternehmen mit ausländischer Beteiligung (maximal 49 %) wurden gegründet. In Shanghai und Shenzhen entstanden Aktienbörsen. Heute ist der größte Teil der kleinen und mittleren Betriebe privat geführt. Schlüsselindustrien wie Energieversorgung und Schwerindustrie bestehen aber noch aus großen Staatsbetrieben. Grund und Boden sind noch staatlich, das ist eines der sozialistischen Merkmale. Mit Unternehmen und Privatpersonen gibt es nur Pachtverträge, die beispielsweise 99 Jahre laufen. Ein entsprechendes Pachtsystem gibt es auch in der Landwirtschaft. Obwohl die Armut weitgehend beseitigt ist, gibt es einen großen Stadt-Land-Gegensatz und die enorme Kluft zwischen Arm und Reich wächst ungehindert weiter.

CGP:
Xi Jinping spricht von der "Wiedergeburt der großen chinesischen Nation". Ist das nicht ziemlich nationalistisch? In China gibt es zahlreiche Ethnien, nicht nur die Han-Nation. Den Uiguren und den Tibetern wird die Unabhängigkeit verweigert. China hat Inseln im Südchinesischen Meer besetzt. Müsste man da nicht von einer imperialistischen Politik der chinesischen Führung sprechen?

AG:
China soll wieder die Stellung in der Welt bekommen, die es über Jahrhunderte als Reich der Mitte hatte. Dass China auf diesem Weg ist, wird u.a. durch die Tatsache deutlich, dass China mit den USA um den 1. Platz in der gesamten Weltwirtschaft ringt. Während der Kaiserzeit war China ein sehr abgeschlossenes Reich. Heute versteht sich China als globalisierte Weltmacht mit starkem Nationalbewusstsein; "aiguo zhuyi" bedeutet "das Land lieben". China ist ein multiethnischer Staat mit 56 Nationalitäten, die mit Abstand größte Ethnie sind die Han-Chinesen mit über 90 %. Die Gebiete der Minderheiten liegen weitgehend in den Grenzregionen, sie wurden zum Teil erst vor einigen Jahrhunderten annektiert. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Tibeter oder Uiguren sind aussichtslos, da die chinesische Regierung einen territorialen Rückzug keinesfalls akzeptieren würde. Im Gegensatz dazu gibt es durchaus expansive Bestrebungen, z.B. bei den Inseln im Südchinesischen Meer. Auch der infrastrukturelle Zugriff auf mittlerweile allen Kontinenten mit dem Ziel der Ausbeutung der Bodenschätze kann ebenfalls unter diesem Aspekt gesehen werden. Die weltweite Präsenz der Chinesen in der Wirtschaft wird von den westlichen Nationen zwar durchaus kritisch beobachtet, doch bisher wird der Erweiterung des chinesischen Einflusses kein ernsthafter Einhalt geboten.

CGP:
In der Presse ist in letzter Zeit viel vom chinesischen "Sozialkreditsystem" die Rede. Dabei werden alle Daten der Bürger in Computern zusammengeführt. Schon wenn man bei Rot über die Ampel geht, bekommt man Punktabzüge. Für einen Arbeitsplatz im Öffentlichen Dienst braucht man einen hohen Punktestand. Führt dieses System nicht zu einem totalen Überwachungsstaat?

AG:
Das Sozialkreditsystem befindet sich noch im Anfangsstadium, es wird bisher in überschaubaren Regionen erprobt. Ziel ist die Übertragbarkeit auf das ganze Land. Durch die heutige technologische Situation könnte eine Überwachung der gesamten Bevölkerung, zirka 1,4 Milliarden Menschen, und damit die größte Überwachung und Kontrolle in der bisherigen Menschheitsgeschichte aufgebaut werden. Einerseits sollen damit "Negativeigenschaften" wie Kriminalität, Betrug und Bestechung ausgemerzt werden, andererseits sind Steuerungen im Überwachungsstaat gezielt und leichter durchzuführen. Was zunächst harmlos klingt, kann ganz neue Menschen hervorbringen.

CGP:
Wie schätzt du die ökologische Situation in China ein? In der Presse ist oft von der immensen Luftverschmutzung in Beijing die Rede. Deutet das nicht auf eine rücksichtslose kapitalistische Ausbeutung der Natur hin?

AG:
Der immense wirtschaftliche Aufschwung der letzten 40 Jahre geht natürlich mit einem enormen Zurückdrängen, Verschwinden der natürlichen Gegebenheiten einher. Dies widerspricht somit grundlegend der alten chinesischen daoistischen Betrachtung vom Leben im Einklang mit der Natur. Die Wasser- oder Luftverschmutzungen beschränken sich nicht nur auf Beijing, sondern sie sind ernste Themen in allen Regionen des Landes. Auffallenderweise wird in unseren Medien nur über Smog berichtet, an den Tagen mit blauem Himmel scheint es kein Thema zu sein. Schon kurz nach der Gründung der Volksrepublik China gab es eine beachtliche Umweltschutzgesetzgebung. Aber erst in jüngster Zeit geht man gegen die verheerenden Folgen der Umweltzerstörung - u.a. durch Einflüsse und Erfahrungen auf nationaler und internationaler Ebene - verstärkt zur Anwendung der Verbote und zur Einhaltung der Gesetze über. Dem steht aber weiterhin eine wirtschaftliche Gier nationaler und internationaler Unternehmen nach unbegrenzter Steigerung der Produktion rücksichtslos und gnadenlos gegenüber. Längst hat auch die chinesische Regierung begriffen, dass ein großer Teil des gewaltigen Bruttosozialprodukts durch die Umweltzerstörung aufgefressen wird. Abschließend kann gesagt werden, dass eine überhebliche Haltung des Westens gegenüber der Entwicklung in China an keiner Stelle mehr gerechtfertigt ist, sondern dass sich durchaus gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe gegenüber stehen.

Anna Gerstlacher ist Sinologin und Studienreiseleiterin in China und Asien seit Ende der 1970er Jahre.

© Anna Gerstlacher, Dr. Christian G. Pätzold, März 2018.

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2018/03/12

»Das Schlaraffenland« (1530) von Hans Sachs (1494-1576)

AIn gegent haist Schlauraffen land,
Den faulen leuten wol bekant,
Das ligt drey meyl hinder Weyhnachten.
Vnd welcher darein wölle trachten,
Der muß sich grosser ding vermessn
Vnd durch ein Berg von Hirßbrey essn,
Der ist wol dreyer Meylen dick.
Als dann ist er im augenblick
Inn den selbing Schlauraffen Landt,
Da aller Reychthumb ist bekant.
Da sind die Heuser deckt mit Fladn,
Lebkuchen die Haußthür vnd ladn,
Von Speckuchen Dielen vnd wend,
Die Tröm (Balken) von Schweynen braten send.
Vmb yedes Hauß so ist ein Zaun,
Geflochten von Bratwürsten braun.
Von Maluasier (Wein) so sindt die Brunnen,
Kommen eim selbs ins maul gerunnen.
Auff den Tannen wachssen Krapffen (Gebäck),
Wie hie zu Land die Tannzapffen.
Auff Fichten wachssen backen schnittn.
Ayrpletz (Eierkuchen) thut man von Pircken schüttn.
Wie Pfifferling wachssen die Fleckn (Fladenbrot),
Die Weyntrauben inn Dorenheckn.
Auff Weyden koppen Semel stehn,
Darunter Bech mit Milich gehn;
Die fallen dann inn Bach herab,
Das yederman zu essen hab.
Auch gehen die Visch inn den Lachn,
Gsotten, Braten, Gsulzten (gesalzen) vnd pachn (gebacken)
Vnd gehn bey dem gestat (Ufer) gar nahen,
Lassen sich mit den henden fahen.
Auch fliegen umb, müget jr glauben
Gebraten Hüner, Genß vnd Taubn.
Wer sie nicht facht (fängt) vnd ist so faul,
Dem fliegen sie selbs in das maul.
Die Sew (Schweine) all Jar gar wol geratn,
Lauffen im Land vmb, sind gebratn.
Yede eyn Messer hat im rück,
Darmit eyn yeder schneydt eyn stück
Und steckt das Messer wider dreyn.
Die Creutzkeß (Käse) wachssen wie die steyn.
So wachssen Bawern auff den bawmen,
Gleych wie in vnserm land die pflaumen.
Wens zeytig sind, so fallens ab,
Yeder in ein par Stiffel rab.
Wer Pferd hat, wird ein reycher Mayer,
Wann sie legen gantz körb vol Ayer.
So schüt man aus den Eseln Feygn.
Nicht hoch darff man nach Kersen (Kirschen) steign,
Wie die Schwartzper (Heidelbeeren) sie wachssen thun.
Auch ist in dem Land ein jungkbrun,
Darinn verjungen sich die altn.
Vil kurtzweyl man im Land ist haltn:
So zu dem zyl schießen die gest,
Der weytst vom blat gewint das best;
Im lauffen gwindt der letzt alleyn.
Das Polster schlaffen ist gemeyn.
Ir Weydwerck ist mit Flö vnd Leusn,
Mit Wantzen, Ratzen vnd mit Meusn.
Auch ist im Land gut gelt gewinnen:
Wer sehr faul ist vnd schlefft darinnen,
Dem gibt man von der stund zwen pfennig,
Er schlaff jr gleych vil oder wenig.
Ein Furtz gilt einen Binger haller (Münze),
Drey gröltzer (Rülps) einen Jochims Thaler (Münze).
Vnd welcher da seyn gelt verspilt,
Zwifach man jm das wider gilt.
Vnd welcher auch nicht geren zalt,
Wenn die schuldt wird eins Jares alt,
So muß jm jener darzu gebn (Negativzinsen).
Vnd welcher geren wol ist leben,
Dem gibt man von dem trunck ein batzn (Münze).
Vnd welcher wol die leut kann fatzn (zum besten haben),
Dem gibt man ein Plappert (3 Kreuzer) zu lohn.
Für eyn groß lüge geyt (gibt) man eyn Kron (Münze).
Doch muß sich da hüten ein Man,
Aller vernunfft gantz müssig stan.
Wer synn vnd witz gebrauchen wolt,
Dem wurd keyn mensch im lande holdt,
Vnd wer gern arbeyt mit der handt,
Dem verbeut mans Schlauraffen landt.
Wer zucht vnd Erbarkeyt het lieb,
Denselben man des Lands vertrieb.
Wer vnnütz ist, wil nichts nit lehrn (lernen),
Der kombt im Land zu grossen ehrn;
Wann wer der faulest wirdt erkant,
Derselb ist König inn dem Landt.
Wer wüst, wild vnd vnsinnig (toll) ist,
Grob, vnuerstanden alle frist,
Auß dem macht man im Land ein Fürstn.
Wer geren ficht mit Leberwürstn,
Auß dem ein Ritter wird gemacht.
Wer schlüchtisch (liederlich) ist vnd nichtzen acht,
Dann essen, trincken vnd vil schlaffn,
Auß dem macht man im land ein Graffn.
Wer tölpisch ist vnd nichssen kann.
Der ist im Land ein Edelman.
Wer also lebt wie obgenannt,
Der ist gut ins Schlauraffen Landt,
Das von den alten ist erdicht,
Zu straff der jugent zu gericht,
Die gwönlich faul ist vnd gefressig,
Vngeschickt, heyloß vnd nachlessig,
Das mans weiß ins land zu Schlauraffn,
Damit jr schlüchtisch weyß zu straffn,
Das sie haben auff arbeyt acht,
Weyl faule weyß nye gutes bracht.

Hans Sachs, Schuhmacher.
Anno Salutis 1530.

Um das Schlaraffenland-Bild (1567, Alte Pinakothek München) von Pieter Bruegel dem Älteren zu verstehen, das am 20. Februar 2018 auf kuhlewampe.net erschienen ist, ist es notwendig, das Gedicht »Das Schlaraffenland« (1530) von Hans Sachs zu kennen, denn das Bild ist die optische Umsetzung des Gedichts von Hans Sachs. Er schmiedete seine Knittelverse "zu zimblicher freudt und fröligkeyt unnd zu erquicken der schwermütigen, trawrigen hertzen." Eine ausführliche niederländische Prosafassung dieses Gedichts war unter dem Titel »Van’t Luye lecker landt« im Jahr als "man schrieb tausend Zuckerkuchen, fünfhundert Eierfladen und sechsundvierzig gebratene Hühner, im Weinmonat, als die Pasteten gut schmeckten" in Antwerpen erschienen, und es ist wahrscheinlich, dass Bruegel dadurch angeregt wurde. Das Gedicht von Hans Sachs markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Arbeitsideologie zwischen mittelalterlicher bäuerlicher Anarchie und Fantasie einerseits und dem Aufscheinen der humorlosen protestantischen Arbeitsmoral andererseits.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/03/11

Winter am Elbufer bei Wittenberge

winter1
Foto von © Manfred Gill, Februar 2018.

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2018/03/10

Winter am Plauer See in Mecklenburg

winter
Foto von © Manfred Gill, Februar 2018.

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2018/03/08

Zum Internationalen Frauentag

weltfrauentag
Quelle: Wikimedia Commons.

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2018/03/06

art kicksuch

tabunebel

© art kicksuch, märz 2018.

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2018/03/04

Das Spiel mit der Evolution - CRISPR

Georg Lutz, Freiburg

Der Name CRISPR könnte zu einem knusprigen Bio-Müsli passen. Das ist es aber nicht. Es geht um eine etwas komplexere Geschichte: Den Namen Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats muss man als Laie zwei Mal lesen und versteht dann zunächst immer noch nur Bahnhof. Man sollte zu einem wissenschaftlichen Seminar bei den Biologen gehen. Warum sollten wir uns damit im Rahmen einer Kolumne beschäftigen? CRISPR ist ein verdammt mächtiges Instrument zur Erzeugung von genetisch veränderten Organismen. Wir sollten jetzt dringend einige Fragen stellen und Hürden aufbauen, sonst könnte die Zukunft unangenehm werden.
Versuchen wir, ohne in das Fachchinesisch zu verfallen, eine Annäherung. Es geht um die Entwicklung von molekularbiologischen Techniken zur "Verbesserung" von Pflanzen, aber auch Tieren und schlussendlich Menschen. Die Genbastler nehmen sich natürliche Reparaturmechanismen der Zelle zum Vorbild, um Änderungen im Genom herbeizuführen. Die Werkzeuge dabei sind so genannte Gen-Scheren, um gezielte, punktgenaue Eingriffe in das Erbgut einzupflanzen. In diesem Rahmen können auch synthetisch hergestellte Erbgutabschnitte eingebracht werden. Genome-Editing heißt die Überschrift für die Möglichkeit, das Erbgut eines Lebewesens in Teilen neu zu schreiben oder zu rekonstruieren. Damit sollen beispielsweise Krankheiten geheilt werden.
Es geht aber auch eine Nummer größer. Der Molekularbiologe George Church editierte 2015 mithilfe von Gentechnikwerkzeugen wie CRISPR mehr als ein Dutzend Gene des seit 4.000 Jahren ausgestorbenen Wollhaarmammuts in Zellen von Elefanten hinein. Eine genetische Rekonstruktion der imposanten Tiere ist für Church ein nahe liegendes Projekt, wie die Wiederbelebung eines Neandertalers. 2016 gelang es seinem Forscherteam durch massives Gen-Editing, Schweine zu humanisieren, um verbesserte Möglichkeiten bei Organspenden für Transplantationen zu schaffen. Die Heilserwartungen des Blockbusters Jurassic Park liegen hier nicht weit entfernt.
Was zunächst hilft sind die nüchternen wissenschaftlichen Einschätzungen. Das menschliche Genom folgt nicht der reinen Logik eines technischen Konstruktionsplans. Wenige Prozent kann man mit dem heutigen Stand der Technik nachbasteln. Der Rest bleibt in seiner Funktion bislang rätselhaft und wird von Experten als dunkle Materie der Biologie gekennzeichnet. Die Forscher sind folglich trotz der Sensationsmeldungen noch nicht so weit, Gott spielen zu können. Sie versprechen aber das Heilen von Krankheiten und die Verbesserung der Nahrungsmittelproduktion. Dies ist auch nichts Neues unter dieser Sonne. Allerdings sind die möglichen Nebenwirkungen auf einer ganz anderen qualitativen Stufe anzusiedeln. Wenn im 19. Jahrhundert eine Dampfmaschine explodierte oder Flussschlamm durch zu viel Phosphatdünger ersetzt wurde, blieben die Folgen lokal begrenzt. Bei der Nutzung von Kernenergie oder der massiven Verwendung von Produkten wie Glyphosat seit dem 20. Jahrhundert sind die Dimensionen der Folgen schon von einer anderen Qualität. Mit der Gentechnik, die Werkzeuge wie CRISPR einsetzt, fummelt der Mensch mit dem Zeithorizont von wenigen Jahren an der Evolution herum, die einen Zeithorizont von 3,5 Milliarden Jahren hat und auch einen Plan hat. Deren "Testreihen" liegen aber für uns im Verborgenen. Schon aus diesem Grund sollte das Motto heißen: Finger weg!
Gentechnische Verfahren sind im ökologischen Landbau aus diesem Grund nicht erlaubt. Das Vorsorgeprinzip muss Vorrang haben, um Umwelt und Gesundheit zu schützen. Gentechnik ist weiter eine Risikotechnologie. Die neuesten Versprechungen sollten uns nur hellhöriger werden lassen. Technologiefolgeabschätzung ist nicht nur ein Begriff für Experten. Daher müssen gentechnisch veränderte Organismen in der EU ein spezielles Zulassungsverfahren durchlaufen. Allerdings ist die Lobby der industriellen Agrarproduktion sehr wirkungsmächtig. Wir sollten auf der Hut sein.

© Georg Lutz, März 2018.

Georg Lutz ist Politologe und Journalist. Mit den neueren Werkzeugen der Gentechnologie beschäftigt er sich immer wieder, seit der Bastler Craig Venter sich schon vor Jahren rühmte, als erster künstliches Leben geschaffen zu haben.
Der Artikel erschien zuerst am 5. Januar 2018 auf amorebio.de. Mit freundlicher Genehmigung von Georg Lutz übernommen.

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2018/03/02

Den falschen Weg der Gentechnik stoppen

Georg Lutz, Freiburg

soja
Reife Sojabohnen. Quelle: Wikimedia Commons. Foto: Scott Bauer.

Für die Befürworter der Gentechnologie ist der Zeitpfeil des Fortschritts schon lange vom Bogen geschnellt und bewegt sich teleologisch voran. Reflektion oder eine grundsätzliche Folgeabschätzung stehen nicht auf der Agenda. Für sie ist die Gentechnologie mittlerweile Routine geworden, die immer mehr Möglichkeiten bietet. Krankheiten können geheilt werden und der Hunger wird von diesem Planeten verschwinden. Die Versprechungen liegen in der obersten Etage. Die Moderne mit ihren Versprechungen lebt hier völlig ungebrochen weiter.
Am Beispiel der Landwirtschaft lassen sich die Versprechungen konkretisieren. Neue Pflanzensorten sind immun gegen Schädlinge und Infektionen und gedeihen unter widrigen Bedingungen wie Kälte oder Trockenheit. Früher mussten Züchter mühsam über Jahre Pflanzen kreuzen und mendeln. Heute können gezielt einzelne Gene im Erbgut der Pflanze verändert werden. In den USA, aber auch in Brasilien, Argentinien und Indien sind Genpflanzen bei Soja, Mais und Baumwolle Alltag. Nur Europas Verbraucher zeigen noch die rote Karte für die Heilsversprechen. Aber diese gallischen Dörfer werden auch noch gefügig gemacht. Ist das Bild richtig? Nein, es ist falsch gezeichnet.
Die Versprechen der Agrarkonzerne und ihrer politischen Lobby sind verführerisch, doch die versprochenen Wunder erweisen sich als gefährlich platzende Blasen. Mit der Verwendung von genmanipuliertem Saatgut können nur kurzfristig Ertragssteigerungen erzielt werden und der Pestizideinsatz steigt mittelfristig sogar an. Das wichtigste Argument gegen Gentechnik ist aber der Rahmen. Dieser hat den Namen industrialisierte Landwirtschaft.
Die Dominanz und die Abhängigkeit von immer weniger oligopolistischen Playern, der zunehmende Einsatz von Agrargiften, da Monokulturen zunehmen und umgekehrt die Vielzahl an Sorten abnimmt, kennzeichnen die industriellen Anbausysteme, für die gentechnisch veränderte Pflanzen gemacht sind. Mögliche Gesundheitsgefahren sind nach wie vor nicht ausreichend untersucht und auch unter Wissenschaftlern umstritten. Die Resistenzbildung bei Unkräutern ist ein Phänomen, welches Bauern weltweit auf ihren Feldern sehen. Diese Entwicklung bedroht das Geschäft der Agro-Gentechnik. Bei den Bauern reichen die Ernteerträge nicht aus, um in den folgenden Jahren neue Samen bei Monsanto (jetzt bald Bayer) und Co zu kaufen, beziehungsweise die Anbaugebühren zu bezahlen. Dieses Risiko erscheint vielen Kleinbauern trotz der schönen Bilder der Propagandakampagnen zunehmend als belastend.
Die Versprechungen von Saatgutunternehmen auf höhere Erträge, eine bessere Bekämpfung des weltweiten Hungers und den reduzierten Einsatz von Pestiziden haben sich nicht erfüllt, erklärt die Trägerin des alternativen Nobelpreises Vandana Shiva immer wieder. Dagegen gibt es immer mehr "Superunkräuter", denen mit den herkömmlichen Mitteln nicht beizukommen ist. Kleinbauern landen nicht nur in Indien in einer Teufelsspirale der Abhängigkeit und des finanziellen Ruins.
Auch bei dem Verbrauchen in Europa kommt die Propaganda nicht an. Genprodukte liegen wie Blei in den Regalen. Die Kennzeichnung schreckt ab. Ob Kühe und Hühner mit gentechnisch veränderten Futterpflanzen gefüttert wurden, erfahren Verbraucherinnen und Verbraucher aber auch weiterhin nicht. Die Arbeit, öffentlichen Druck auszuüben, geht nicht aus. An dieser Stelle ist den vielen Basisaktivisten und den Netzwerken zu danken (vgl. Links), die immer wieder, wenn in Brüssel oder Berlin Entscheidungen anstehen, sich phantasievoll zu Wort melden. Mal liegt ein Gentech-Flickenteppich vor dem Kanzleramt aus, mal tanzen Gen-Mais-Kostüme, mal fliegen Schmetterlinge vor einem Monsanto-Monster davon - solche Bilder prägen dann auch die Medienwelt.
Es geht aber nicht nur um Protest und Dagegenhalten, sondern auch um Alternativen für die Bauern und Verbraucher. Auch an dieser Stelle ist immer wieder beispielsweise von der Stärkung lokaler Wertschöpfungsketten, die aber globale Zusammenhänge versteht, zu lesen.

www.gen-ethisches-netzwerk.de
www.meine-landwirtschaft.de
www.no-patents-on-seeds.org
www.saveourseeds.org

© Georg Lutz, März 2018.

Georg Lutz hat Vandana Shiva im Rahmen eines Kongresses zum IWF-Weltbanktreffen in Berlin 1988 zum ersten Mal erleben dürfen.
Der Artikel erschien am 17. Oktober 2017 auf amorebio.de. Mit freundlicher Genehmigung von Georg Lutz übernommen.

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2018/02/28

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2018/02/26

BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
HANNAH ARENDT Teil 1
»ELEMENTE UND URSPRÜNGE TOTALER HERRSCHAFT«

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Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um Band 3 des Dreiteilers "Totale Herrschaft", 1951 in Amerika und 1955 in Deutschland erschienen. Band 1 und 2 befassen sich mit den Themen "Antisemitismus" und "Imperialismus".
Hannah Arendt und der Totalitarismus, das ist keine zufällige Liaison, denn als Philosophin (später bezeichnet sie sich als Politische Theoretikerin) und 1933 aus Deutschland vertriebene Jüdin hat sie ihr Hauptthema, mit dem sie auch noch heute assoziiert wird, gefunden. Warum bleibt Arendt damit weiterhin interessant?
In den "Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft" stellt sie den Nationalsozialismus in Deutschland und den Stalinismus als erstmals in der Geschichte auftretende "totalitäre" Herrschaftssysteme einander gegenüber und versucht, deren Qualität und Eigenschaften herauszuarbeiten und gleichsam ist es für sie eine Abrechnung mit Nazideutschland und mit der Sowjetunion, wie sie unter Stalin ja noch bestand. Gemeinsamkeiten findet sie im Führerkult, in der Gleichschaltung der Massen durch Propaganda und Terror, anfangs noch als Mittel zum Zweck und später als Terror um des Terrors willen, avanciert dieser gewissermaßen zum Herzstück der totalitaristischen Herrschaftsform.
Arendt grenzt die totalitäre Herrschaftsform als qualitativ neue von den bisherigen bekannten ab, als da wären: Demokratie, Aristokratie und Monarchie bzw. deren Verfallsformen Ochlokratie (Pöbelherrschaft), Oligarchie und Diktatur. Zwar enthält die totalitäre Herrschaftsform diktatorische Elemente, doch gibt es einige historisch neue Charakteristika: "Neben dem Führerprinzip sind dies vor allem die Zwiebelstruktur des Herrschaftsapparates (die hierarchische Gliederung des Staates in verschiedene, einander mehrfach überlappende Ebenen), die Stiftung von organisatorischem Chaos durch Ämterdoppelung und unklare Kompetenzverteilung, die Umformung einer Partei zu einer Bewegung, die Entwicklung einer handlungsweisenden Ideologie, die Ausübung von Terror und die Einrichtung von Konzentrationslagern, die als Modell einer totalitär beherrschten Gesellschaft fungieren." (1)
Mit ihrer an politischer Philosophie geschulten Methode entschlüsselt Arendt, auf welchen Nährboden diese auf die Massengesellschaft zugeschnittene Ideologie fallen musste, um entweder als "Rasse" oder als "Klasse" die Köpfe zu erreichen und zu vernebeln.
Sobald das totalitäre System sich etabliert hat, sind Inhalte, ebenso wie die Menschen in ihm, überflüssig geworden - aus der Marxsche Traum vom Menschen als Agens bzw. Subjekt der Geschichte. Zum Glück ist diesen extrem totalitären Systemen, wie wir sie bisher kennen, keine lange Lebenszeit beschieden - 12 Jahre Nationalsozialismus und entsprechend der Stalinismus - sie fällt zusammen mit der Lebenszeit ihrer Exponenten.
Diese historisch zu verstehende Studie Arendts formuliert immanent eine radikale Kritik am abendländischen Denken als zweckrationales, das im Totalitarismus von der Ideologie ersetzt wird, deren Ziel die "arische" Weltherrschaft oder die klassenlose Gesellschaft ist.
Der Mensch wäre dann zum bloßen "Reaktionsbündel" geworden, das vollständig austauschbar ist und nicht mehr spontan handeln kann. "Dem Anspruch totalitärer Systeme, "Wahrheit" zu besitzen, setzt Arendt das Recht entgegen, Meinungen zu haben, sie öffentlich zu vertreten und als wiedererkennbare Person unter wiedererkennbaren Personen in Erscheinung zu treten. Damit verteidigt sie die "Pluralität" als "Grundbedingung des menschlichen Lebens" und verweist auf das "Recht, in der Öffentlichkeit handelnd zu erscheinen". (2)
Arendts Werk, obwohl als unsystematisch u.ä. angefeindet, überlebte und erlebte mit Beginn der 90er Jahre (der Wendezeit) eine Renaissance. Heute zählt es zu einem der Standardwerke der Totalitarismusforschung und ist ein erstes bedeutendes und mutiges Zeugnis der Auseinandersetzung mit diesen menschenfeindlichen zerstörerischen Systemen. Es liest sich passagenweise wie ein Thriller, obwohl sich Hannah Arendt mit großer Detailtreue und Expertenwissen an ihrem Gegenstand abarbeitet. Es ist belegt, dass Heinrich Blücher, ihr Ehemann und auch ein ausgewiesener Militärhistoriker, ihr mehr als nur über die Schulter geschaut haben muss bei der Abfassung dieses sehr empfehlenswerten und immer aktuell bleibenden Werkes.
Zusammen mit dem Buch "Eichmann in Jerusalem", über das ich in der nächsten Folge schreiben werde (These von der "Banalität des Bösen"), geht sie in "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" mutig voran in Sachen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. So erklärt sich auch ihre Abkehr von der klassischen Philosophie und Hinwendung zur Politischen Theorie. Ihr Leben lang beschäftigte Arendt das Verhältnis von Philosophie und Politik und wie diese ineinander greifen.

(1) Annette Vowinckel: Hannah Arendt, Leipzig 2006, S. 33.
(2) Ebenda S.40.

© Dr. Karin Krautschick, Februar 2018. www.krautschick.de.

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2018/02/24

berlin berlin

dr. christian g. pätzold

frostiges berlin im dezember
in diesen düsteren zeiten
zuwenig zum leben zuviel zum sterben
wer kümmert sich

die alten müssen pfandflaschen sammeln
auf ihrer route
in mülltonnen, müllkisten und abfallbehältern
durchwühlen um zu überleben

die rüstigen rentner fahren mit dem fahrrad von abfall zu abfall
die anderen mit dem einkaufsroller oder nur mit plastiktüte
die schwachen und kranken rollen mit dem rollator
von mülltonne zu mülltonne

die profis tragen handschuhe und haben ein lampe in der hand
um in die mülleimer zu leuchten
ihnen entgeht keine einzige pfandflasche
frauen und männer

die senioren stehen zu tausenden
vor den tafeln nach etwas essen an
das flaschensammeln reicht nicht zum leben
mieses essen, krümel aus resten

die warteschlangen der elenden
werden umschwärmt von scheinheiligen
pfarrer versprechen ihnen den himmel
wenn sie in die kirche eintreten

die armen müssen sich bücken
in den supermärkten nach sonderangeboten
die ganz unten im regal liegen
immer verbeugen vor dem kommerz

obdachlose schlafen in u-bahn-schächten
werden bestohlen, geschlagen, angezündet
am tag müssen sie aufs eisige pflaster
zur suppenküche

auf dem kalten bürgersteig kauern die bettler
eiszapfen
ein pappbecher steht vor ihnen
bitten still um ein paar cent für sich und ihren hund

das letzte grün wird zubetoniert
nachverdichtung der metropole
für chinesische millionäre
dieselautos verpesten die luft

die toten haben keine ruhe
friedhöfe sind jetzt bauland für spekulanten
für die gentry
bagger wühlen die knochen der toten um

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2018/02/22

Festival Musik & Politik

festival

Freitag 23. Februar 2018 bis Sonntag 25. Februar 2018
WABE
Danziger Straße 105
10405 Berlin Prenzlauer Berg
ÖPNV: S Greifswalder Straße
www.musikundpolitik.de
www.wabe-berlin.info

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2018/02/20

Fauler Zauber, Teil 2

Dr. Hans-Albert Wulf, Berlin

faulheit2
Pieter Bruegel der Ältere, Schlaraffenland, 1567. Quelle: Wikimedia Commons.

Der Fall Hodgkinson
Ein bizarrer Extremfall in der gegenwärtigen Faulheitsliteratur ist der Engländer Tom Hodgkinson. Er hat ein Buch mit dem verheißungsvollen Titel "Anleitung zum Müßiggang" (Berlin 2004) verfasst, das inzwischen weltweit eine Auflage von 200 000 Exemplaren erzielt hat und in etliche Sprachen übersetzt wurde. Hodgkinson gilt heute unangefochten als der Papst des Müßiggangs. Nachdem er früher viel Zeit in Bars und Klubs totgeschlagen hat, propagiert er nun ein zurückgezogenes Leben in Stille, Ruhe und Bescheidenheit. Sich möglichst radikal und umfassend aus allen stresshaften Dingen heraushalten, ist nun seine Devise. Zu Hause verharren und nichts tun. (Hodgkinson S. 201f.). Denn: "Beschäftigt sein, sich kümmern, Dinge tun: alles ist so vergeblich wie der Versuch, flussaufwärts zu rudern." (S. 205).
Von seinen Bucherlösen hat sich Hodgkinson ein altes Bauernhaus gekauft, um dort ein einfaches, von der Alltagshektik freies Leben zu führen und weitere besinnliche Bücher zu schreiben: "Die Kunst frei zu sein. Handbuch für ein schönes Leben.", "Leitfaden für faule Eltern", "Schöne alte Welt: Ein praktischer Leitfaden für das Leben auf dem Lande." Außerdem gründete er eine Zeitschrift mit dem Namen "The Idler" (Der Müßiggänger) und eine Art Müßiggangsakademie.
Redakteure der Zeitschrift "brand eins" haben Hodgkinson einmal auf seiner Ranch besucht, um mit ihm ein Interview zu führen, und berichten folgendes. "Der Wagen rollt langsam auf seinen Bauernhof in Martinhoe im südenglischen Devon zu. Es regnet, der Boden ist matschig. Hodgkinson eilt in schmutzigen Gummistiefeln über den Hof, grüßt und hilft mit dem Gepäck. 'Wir haben jetzt 20 Minuten Zeit, uns zu unterhalten. Dann muss ich zur Tankstelle, Geld ziehen, wir kommen zurück, haben Lunch, danach habe ich eine Skype-Konferenz, da können Sie gerne dabei sein, um 14.45 Uhr müssen wir los, die Kinder von der Schule abholen, später fahre ich mit ihnen nach Glastonbury auf ein Festival, vorher muss ich den Wagen beladen. Jetzt ist auch noch das Pony ausgebrochen ... wobei, vielleicht fahren wir doch besser gleich tanken.'"
Es ist insofern nicht erstaunlich, dass sich Hodgkinson in seinem neuesten Buch nicht mehr dem Müßiggang und der Landidylle zuwendet, sondern einen Ratgeber für das einst von ihm so verpönte Geschäftsleben geschrieben hat. "Business für Bohemiens: Die Kunst, ein kreatives Leben zu führen und dabei Geld zu verdienen".
Warum scheitern denn nun eigentlich immer wieder Versuche, sich unbekümmert und frohen Mutes der Faulheit und dem Müßiggang hinzugeben? Sicher, es gibt bei uns Menschen, die faul sind, aber meist freudlos und mit schlechtem Gewissen.
Eines ist klar: Die Kunst der Faulheit und des Müßiggangs wird nicht durch die Lektüre erbaulicher Bücher erlernt. Es braucht seine Zeit, bis all die kleineren und größeren mentalen Gefängnisse der Arbeitsgesellschaft in den Seelen der Menschen niedergerissen sind. Es hat ja auch Jahrhunderte gedauert, den Menschen Fleiß und Arbeitsdisziplin anzuzüchten und sie auf Trab zu bringen. Insbesondere für die Entstehung der industriekapitalistischen Gesellschaftsordnung war die Durchsetzung neuzeitlicher Arbeitstugenden von elementarer Bedeutung. Es genügte nicht, Dampfmaschinen, Webstühle und Spinnmaschinen zu erfinden. Es war ebenso notwendig, Menschen zu "erfinden", deren Psychostruktur der neuen Produktionsweise kompatibel war.

Der Zwang zum Selbstzwang
In seinem Werk über den "Prozess der Zivilisation" hat der Soziologe Norbert Elias diesen gesellschaftlichen Wandel eindrucksvoll dargestellt. Er beschreibt "die Verwandlung der gesellschaftlichen Fremdzwänge in Selbstzwänge, in eine automatische, zur selbstverständlichen Gewohnheit gewordene Triebregulierung und Affektzurückhaltung." (Elias, S. 343). Dies war ein Prozess, der mit viel Zwang, Widerständen und großen Schmerzen über die abendländische Bühne gegangen ist.
Eine wichtige Bedeutung hatte hierbei die Verinnerlichung der Zeitdisziplin. Die innere Uhr des Menschen musste auf die neuen ökonomischen Erfordernisse umgestellt werden. Waren bislang die Arbeitsabläufe von der Natur bestimmt, so tritt nun mit der Ausbreitung der kapitalistischen Ökonomie ein neues Zeitreglement an ihre Stelle. Zunächst ist es die Fabriksirene, welche die Menschen zur Arbeit ruft. Schritt für Schritt wird sie dann durch Elemente des Selbstzwangs ergänzt und schließlich auch ersetzt. An die Stelle der Fabriksirene tritt der häusliche Wecker, der gleichsam als Prothese des Selbstzwangs dient.
Im Laufe der Geschichte haben sich die "Selbstkontrollapparaturen" immer mehr verfeinert und perfektioniert. In einem 1930 erschienenen Buch mit dem Titel "Sich selbst rationalisieren" wird dem Selbstzwang mit dramatischen Worten eine geradezu existentielle Bedeutung beigemessen: "Sich selbst nicht gehorchen, das ist eine Schande, das ist ein schleichendes Gift, das zermürbt Charakter und Willen sowie Energie, Ausdauer und Selbstachtung wie eine versteckte, unerkannte, schleichende, tückische Krankheit, die den Körper langsam zerstört." (Grossmann, S. 159). Und in einem kürzlich (11. April 2015) erschienenen Artikel der "Wirtschaftswoche" nehmen die Gymnastikübungen des Selbstzwangs geradezu groteske Züge an: "Auch die intelligente Führung der eigenen Person macht die gute Führungskraft aus. Das heißt konkret: Sie handelt im Optimalfall stets bewusst, formt die Persönlichkeit und zahlt so auf die 'Marke Ich' ein."

Do it yourself
Der Optimierungs- und Beschleunigungswahn hat heutzutage viele Menschen in seinen Bann gezogen und gibt den Takt ihres Lebens vor. Begonnen hat es mit Frederick W. Taylor, dem Erfinder der "Wissenschaftlichen Betriebsführung"(1911). Er war einer der Ersten, der minutiös die Bewegungsabläufe seiner Arbeiter mit der Stoppuhr gemessen hat, um sie zu optimieren. Und auf seinen Fußwegen zählte er die Schritte, um den kürzesten Weg herauszufinden. Stoppuhren und Schrittzähler (Pedometer) sind heute gang und gäbe und dienen meist der eigenen Bewegungs- und Fitnesskontrolle. Jeder ist sein eigener Taylor.
Inzwischen gibt es eine Vielzahl technischer Apparaturen zu kaufen, welche die gesamte Bandbreite der Körperfunktionen überwachen und messen. Die Körperwaage gibt nun nicht allein das Gewicht an, sondern auch den Fettanteil. Und man kann sich allerhand Geräte anschnallen, die beim Joggen den Puls und alle möglichen Werte messen oder die Organe beim Schlafen überwachen. Aber das ist ja im Grunde alles schon wieder kalter Kaffee, wenn man an die gegenwärtig ausufernde Glücksoptimierungswelle denkt. Möglicherweise werden auch hierfür demnächst Messgeräte entwickelt.
Durch die Jahrhunderte wurde den Menschen ein ganzes Ensemble an Selbstzwangseinrichtungen gleichsam eingepflanzt und die Faulheit ausgetrieben. Dies schließt jedoch nicht aus, dass man sich diese Selbstzwänge immer wieder mit viel Disziplin, Eigenkontrolle und Planung abringen muss. Die oftmals brutalen Weckkommandos der Frühindustrialisierung gibt es gottseidank nicht mehr, dafür muss heute jeder für sich sehen, wie er morgens aus den Federn kommt.

Mentale Infrastruktur
Auf dem Boden solcher Selbstzwänge und Eigenkontrolle hat sich im Laufe der Zeit bei den Menschen ein Ensemble von Wert- und Einstellungsmustern herausgebildet, für das der Soziologe Harald Welzer den Begriff "mentale Infrastruktur" erfunden hat. Mentale Infrastruktur bedeutet, dass die heute vorherrschenden gesellschaftlichen Wertorientierungen den Menschen in Fleisch und Blut übergegangen sind und ihr Handeln prägen. Dies gilt beispielsweise für folgende Bereiche:
1. Wachstum, Konsum
2. Geschwindigkeit, Tempo, Mobilität
3. Effizienz, Leistung, Optimierung
4. Technische Innovation, technische Perfektion
5. Planung, Disziplin, Fleiß.

Deutlich zeigt sich dies bei der Liebe der Deutschen zum Automobil. Wie bei kaum einem anderen technischen Gegenstand fällt hier die ökonomische Wertordnung der Gesellschaft mit den Wünschen der Menschen nach Mobilität, Geschwindigkeit, Leistung und technischer Perfektion zusammen. Was soll ich aber mit einem superschnellen Auto anfangen, das doch meist nur im Stau steht. Die Absurdität besteht darin, dass viele Menschen Konsumartikel kaufen, für die sie hart arbeiten müssen, die sie aber oftmals gar nicht benötigen oder nicht sinnvoll nutzen können. Es entsteht ein fataler Teufelskreis aus Arbeit und Konsum, in dem sich Arbeitsfrust und Konsumsucht wechselseitig hochschaukeln.

Mentaler Schluckauf
Irgendwann gerät man bei diesem nicht enden wollenden Optimierungs- und Tempowettlauf an die eigenen physischen und psychischen Grenzen. Es stellen sich ein Katzenjammer und die Sehnsucht nach einem langsameren und überschaubaren Leben ein. Und hierfür liefern die unzähligen Faulheitsratgeber eine willkommene Stütze. Zwar ändern sie kaum etwas an den realen Lebensverhältnissen, aber sie können immerhin dazu verhelfen, dem Stress momentan die Spitze zu nehmen. Meist begnügen sie sich mit der Kultivierung von Faulheitsnischen für den Einzelnen. Natürlich kann ich mich nachmittags in die Badewanne legen, statt meine Steuererklärung zu machen. (Vorschlag von Tom Hodgkinson). Das ändert aber nichts daran, dass ich sie irgendwann dann doch machen muss. Auch wenn sich solche Bücher gelegentlich ausgesprochen radikal geben, so sind sie doch nichts weiter als privatanarchistische Versuche, sich dem Irrsinn der modernen Arbeitsgesellschaft zu entziehen. Faulheit wird hier zu einer Disziplin für den Feierabend oder den Urlaub, was ja auch einen Sinn machen kann, wenn man sich damit ein wenig von der Arbeits- und Alltagshektik erholen und Druck ablassen kann. Insofern sind die meisten dieser Bücher über das "Lob der Faulheit" und die "Kunst des Müßiggangs" eine Art von mentalem Schluckauf, mehr nicht. Es ist die Sehnsucht nach dem richtigen Leben im falschen, die aber mit der Faulheitsutopie nicht eingelöst werden kann.
Erst die radikale Abnahme fremdbestimmter Arbeit könnte zu einem besseren und sinnvolleren Leben führen. Und wenn Erwerbsarbeit in ihren heutigen Formen nicht mehr lebensbestimmend ist, wird auch die Faulheit als Kontrastbegriff zur Arbeit ihren Sinn verlieren. "Denn Faulheit ist eine verständliche Neigung, aber es kann kein Lebensprinzip sein." (Oskar Negt). Jenseits fremdbestimmter Erwerbsarbeit könnten an die Stelle von Faulheit Begriffe wie selbstbestimmtes Leben, Kreativität, lustvolle Arbeit, autonomes Handeln, gutes Leben, genussvolle Zeitverschwendung und auch Muße treten.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Februar 2018.

Dr. Hans-Albert Wulf (1944) ist Soziologe und Autor des Buches "Faul! Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft" BOD-Verlag 2016.

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2018/02/18

Fauler Zauber, Teil 1

Dr. Hans-Albert Wulf, Berlin

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Félix Vallotton (1865-1925), la paresse, 1896. Holzschnitt, 17,8 x 22,4 cm.
Quelle: Wikimedia Commons.

Ein Gespenst geht um in unserem Lande, es ist das Gespenst der Faulheit. Wenn ich den Begriff "Faulheit" bei Google eingebe, werden mir dort sage und schreibe 1,2 Millionen Treffer aufgelistet. Und was dort alles so auftaucht könnte unterschiedlicher kaum sein: "Experte verrät fünf Tipps, wie Sie Ihre Faulheit überwinden." "Erfolg durch Faulheit. Warum träge Menschen erfolgreicher sind." "Beweg deinen Arsch! Sieben Schritte gegen Faulheit und Trägheit." "Faulheit ist ein Zeichen von hoher Intelligenz".
Auch wenn der Faulheit neuerdings verstärkt positive Seiten abgewonnen werden, so überwiegen im gesellschaftlichen Faulheitsdiskurs doch nach wie vor die negativen und kritischen Töne. Wer in unserer Gesellschaft nicht arbeitet, gilt gemeinhin als asozialer, charakterloser und verachtungswürdiger Faulpelz. Die Kritik an der Faulheit ist heute in allen Gesellschaftsschichten gleichermaßen verbreitet. Dies drückt sich nicht zuletzt in der Bewertung der Langzeitarbeitslosen aus, die von einem Drittel der Bevölkerung durchweg als faul eingestuft werden. Ein Leben ohne Erwerbsarbeit kann man sich bei uns kaum vorstellen.

"Das Recht auf Faulheit"
Das christliche Arbeitsethos ist in unserer modernen Arbeitsgesellschaft nach wie vor fest verankert und hat sich in die Seelen der Menschen eingefressen. Doch es hat dagegen auch immer wieder Kritik und Widerstand gegeben. Man denke nur an die Romantik (Schlegel) und vor allem an den Faulheitsklassiker Paul Lafargue, dessen Schrift von 1880 "Das Recht auf Faulheit" auch heute immer wieder neu aufgelegt wird.
An Lafargue orientieren sich bis heute Faulheitsapologeten, die dem Arbeitsstress den Kampf angesagt haben und den Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft propagieren. "Der in der Hängematte dösende Eingeborene der Trauminseln ist unser Vorbild. Und bald wird auch dem Letzten einsichtig, dass der malochende, schwitzende, nervlich zerrüttete Lohnabhängige ein Gespenst grauer Vergangenheit sein muss", schreibt der Schriftsteller Peter Paul Zahl in einem Vorwort zu Paul Lafargues "Recht auf Faulheit". Und im Manifest der "Glücklichen Arbeitslosen" heißt es: "Die glücklichen Arbeitslosen sind Menschen, die arbeitslos und glücklich sind oder die gern arbeitslos und glücklich sein möchten."
"Die Entdeckung der Faulheit. Von der Kunst bei der Arbeit möglichst wenig zu tun" lautet der Titel eines Buches von Corinne Maier. Faulheit ist hier ein Mittel, den Stress während der Arbeit herunterzufahren, also langsamer zu arbeiten. Oder am besten an seinem Arbeitsplatz möglichst gar nichts tun. Sich gezielt einen Arbeitsbereich suchen, bei dem man sich vor der Arbeit drücken kann. Ob solche Faulenzerei angesichts moderner Kontrollmechanismen im Betrieb lange gut gehen kann, muss jedoch bezweifelt werden.

"Lob der Faulheit"
Von solchem Widerstand gegen den Arbeitsstress ist in den meisten der in den letzten Jahren erschienenen Büchern zum "Lob der Faulheit" oder der "Kunst des Müßiggangs" kaum die Rede. Die meisten Titel begnügen sich mit Ratschlägen für den vom Burnout geplagten Zeitgenossen. Es sind gut gemeinte Appelle an die gestressten Alltagsmenschen, doch einmal "fünf grade sein zu lassen" oder "alle Viere von sich zu strecken". "Ich setze nicht mehr auf die Kraft gesellschaftlicher Veränderungen, sondern vielmehr auf die existentielle Besinnung des Einzelnen auf sein Leben, auch wenn die Zwänge des Alltags eine Neuorientierung erschweren", schreibt Wolfgang Schneider in seiner "Enzyklopädie der Faulheit" (S. 174). Das klingt nach einer Glück-im-Winkel-Philosophie und Spitzwegidylle. Jeder für sich, Gott gegen alle.
Der Schriftsteller Björn Kern hat vor kurzem beim Fischer-Verlag ein Buch (mehrere Auflagen) mit dem aufmunternden Titel "Das Beste, was wir tun können, ist nichts" veröffentlicht. Auch hier geht es nicht um Veränderungen im realen Arbeitsalltag, sondern um individuelle Lösungen, die sich aber vor allem im Kopf abspielen. "Das Schöne am Nichtstun ist, dass Sie noch heute, gleich nachdem sie dieses Kapitel beendet haben, mit dem Nichtstun beginnen können. Selbst wenn sie gerade an Ihrem Arbeitsplatz sitzen und diese Zeilen heimlich lesen müssen, führt ausschließlich Nichtstun aus Ihrem Dilemma. Wie Sie nun wissen, heißt das nicht, dass Sie nicht mehr arbeiten müssen, es heißt zunächst einmal nur, dass Sie zufrieden mit Ihrer Arbeit sind. Wenn Sie nicht aufhören können zu arbeiten, dann arbeiten Sie eben weiter, das ist doch nicht schlimm." (Kern, S. 246). Geht’s noch?

Faulheit ist gesund
Das Arztehepaar Prof. Dr. Peter Axt und Dr. Michaela Axt-Gadermann liefert den medizinischen Nachweis, dass es gesund sei, öfter mal faul zu sein, dass zu viel Sport den Körper belastet und Langschläfer mehr leisten. Auf der Grundlage einer Art "Stoffwechseltheorie" haben sie ein "revolutionäres Programm" entwickelt, mit dem man kostbare Lebensenergie spart und in gesunder und munterer Verfassung steinalt wird.
Dieses Ziel verfolgt auch Inge Hofmann in ihrem Buch mit dem Titel "Lebe faul, lebe länger." Sie propagiert das Prinzip "biologischer Faulheit". Faulheit ist auch bei ihr gleichbedeutend mit dem rationellen Umgang mit der eigenen Energie, um so in der Leistungs- und Hektikgesellschaft besser mithalten zu können. Von "perfekter Faulheit" ist hier absurderweise die Rede. Perfektion in der Faulheit! Welche Perversion! Vielleicht auch noch ein Faulheitsoptimierungsprogramm? Warum nicht?

"Die neue Faulheit"
Dies wird allen Ernstes von solchen Autoren vertreten, welche sich anschicken, die Faulheit ökonomisch zu verwerten. Faulheit gilt hier - man höre und staune - als ein Mittel zur Effizienzsteigerung. Faulheit wird als wesentliche und geradezu unverzichtbare Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg angesehen. "Ohne unsere natürliche Faulheit gäbe es gar kein ökonomisches Denken." Es wird hier zwischen schlechter und guter Faulheit unterschieden. "Faulheit ist eben nicht gleich Faulheit. Es gibt die ursprüngliche 'schlechte', in der Regel unbewusst bleibende Faulheit, das klassische Faulenzertum, das unter anderem den leistungsschwachen, unmotivierten Mitarbeiter eines Unternehmens als 'Minderleister' negativ kennzeichnet. Und es gibt die neue 'gute', bewusst gewählte Faulheit als persönliche Entscheidung zur kreativen Muße - eine Faulheit, die offenbar gegen ihre eigentliche Natur produktiv ist und ihre Anhänger zu cleveren Müßiggängern (!) adelt." (www.seneca-vision.de).
Hatte man früher den Lenkern unserer Wirtschaft die "Managerkrankheit" attestiert, die nach 16stündigen Arbeitstagen meist mit dem Herzinfarkt endete, so haben die Unternehmer neuerdings die Faulheit für sich entdeckt. Aber hier im Sinne einer sogenannten "operativen Faulheit" (Karl de Molina) als Mittel zur Steigerung der Rentabilität.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Februar 2018.

Dr. Hans-Albert Wulf (1944) ist Soziologe und Autor des Buches "Faul! Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft" BOD-Verlag 2016.

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2018/02/15

Berichte zur Schräg_Lage der Nazi_on

Dr. Wolfgang Endler, Berlin

Störung auf der Fest-Platte
Wenn der Nazi "Neger" schreit
fehlt mehr als nur ein Megabyte.

Alternative Forst-Dienstleistungen
für den Neubau des nationalen Holzweges
reißen sich opferbereite Dünnbrettbohrer
sogar das Brett vom Kopf

Symptom_b_schreibung
Wenn es zutrifft,
dass unsere Gesellschaft
sich oft unerwachsen verhält:
ist die AfD dann letztlich
nur ein Pubertätspickel?

Komplementäre Dema_logik
dem einen nach dem Mund reden
dem anderen den Mund verbieten

Pharmak_o_logische Frage/n
Wenn die AfD als CSU forte wirkt -
ist die CSU dann AfD light?
Und folglich Sahra W.
AfD homöopathisch?

Nach der Wahl ist vor der Wahl
Große Enttäuschung über das Bundestags-Wahlergebnis
der AfD bei Björn Höcke. Seine Erwartung:
symbolträchtige 19,33 %!

noch sicherheitshalber untersuchen
angesichts hoher Honorarzahlungen an fragwürdige V-Leute
wäre zu untersuchen, ob der Verfassungsschutz
oft als Organ der Rechtspflege fungiert?

Weitere Aphorismen von Dr. Wolfgang Endler befinden sich in dem Buch:
Wolfgang Endler: mArkanT bis mAkaber. Aphorismen. FREEdrichshagener KleeBLATT 3, Berlin 2017.

© Dr. Wolfgang Endler, Februar 2018. www.wolfgang-endler.de.

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2018/02/13

Ein Besuch der Brecht-Weigel-Gedenkstätte in der Berliner Chausseestraße

Dr. Christian G. Pätzold

brecht
Bildnis von Bertolt Brecht, geschaffen von Fritz Cremer, vor dem Berliner Ensemble in Berlin Mitte. Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, April 2013.

Bertolt Brecht (Augsburg 10.2.1898 - Ost-Berlin 14.8.1956), der Drehbuchautor von Kuhle Wampe, hat so viel geleistet in seinem Leben, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Dabei ist er schon mit 58 Jahren an Herzproblemen gestorben. Am bekanntesten ist wohl seine »Dreigroschenoper« von 1928. Das dtv-Lexikon von 1966 bezeichnete ihn als den "bedeutendsten deutschen Dramatiker der Gegenwart".
Eine gute Annäherung an Brecht ist ein Besuch der Brecht-Weigel-Gedenkstätte in der Chausseestraße 125 in Berlin Mitte. Dort befinden sich die letzten Wohnungen von Bertolt Brecht und Helene Weigel, die besichtigt werden können. Sie lebten dort ab 1953 und empfingen in der Wohnung ihre zahlreichen Freunde und Mitarbeiter. Alles ist so geblieben, wie es am letzten Lebenstag war. Mütze und Spazierstock von Brecht hängen noch original am Haken. Brecht war auch ein China-Fan. Chinesische Schriftrollen und Bildrollen hängen an den Wänden. Die Parfümflacons von Helene Weigel stehen noch original auf ihrem Nachttisch.
Die Wohnungen von Brecht und Weigel befinden sich im Hinterhaus. Im Vorderhaus des Brecht-Hauses befindet sich das Literaturforum, das ständig interessante Lesungen und andere Veranstaltungen anbietet. Die Fenster von Brechts Wohnung gehen auf den Dorotheenstädtischen Friedhof hinaus. Dort befinden sich die Gräber von Bertolt Brecht und Helene Weigel. Wenn man sich dort auf die Bank setzt, kann man die vier schwarzen Friedhofskatzen beobachten, wie sie nach Mäusen suchen. Es ist gar nicht so einfach, die vier schwarzen Katzen auseinander zu halten.
Nicht zu weit entfernt ist auch das Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm, an dem Brecht und Weigel bis zuletzt wirkten. Ein Theaterbesuch an diesem legendären Ort ist empfehlenswert. Brecht nannte seine Gruppe von Schauspielerinnen und Schauspielern das "Berliner Ensemble", daher wird das Theater am Schiffbauerdamm auch Das Berliner Ensemble genannt. Helene Weigel spielte dort in Stücken von Bertolt Brecht, wie: »Mutter Courage und ihre Kinder«, »Herr Puntila und sein Knecht Matti«, »Die Mutter«, »Die Gewehre der Frau Carrar« und »Der kaukasische Kreidekreis«.

© Dr. Christian G. Pätzold, Februar 2018.

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2018/02/10

120. Geburtstag von Bertolt Brecht
Brecht in Augsburg

Ferry van Dongen

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Brechts Geburtshaus in Augsburg. Quelle: Wikimedia Commons.

Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren. Sein Geburtshaus, in dem er nur ein halbes Jahr lebte, ist heute ein kleines Museum im Lechviertel, dem alten Handwerksviertel. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in der Bleichgasse. Und viel länger hielt es ihn auch nicht in dieser Stadt. Nach dem Notabitur 1917 schrieb er sich zum Medizinstudium in München ein.
Während seiner Zeit in Augsburg schrieb Brecht erste Gedichte und Texte, und mit Baal entstand das erste Theaterstück, welches dann in München uraufgeführt wurde. Baal ist ein Außenseiter, ein Schriftsteller, der sich nicht anpassen will. Das Drama beschreibt ein Stück weit auch den jungen Bert. Es gibt ein paar Anzeichen dafür, dass er seine Geburtsstadt nicht sonderlich mochte. Und auch die Stadt Augsburg tut sich mit Bertolt Brecht bis heute schwer. Bis in die 80er Jahre galt die Regel: Ist man für Brecht, so ist man Kommunist!
Immerhin gibt es heute mit dem Brechthaus, das erst 1998 eröffnet wurde (pünktlich zum 100. Geburtstag!), ein kleines, wenn auch nicht beeindruckendes Museum. Die Tagestouristen in Augsburg kommen auf ihrem Weg vom Rathausplatz zur Fuggerei fast direkt am Brechthaus (Auf dem Rain 7) vorbei. Es präsentiert Texte und Fotos zu Brechts Leben und Werk, eine Lebend- und eine Totenmaske, das Schlafzimmer der Mutter u.v.m. Seit einiger Zeit wird diskutiert, wie man mit dem Haus weiter verfahren soll. Mit etwa 7.000 Besuchern im Jahr geht das Brechthaus im Vergleich zu den anderen Attraktionen in Augsburg etwas unter, wird aber doch zur Kenntnis genommen. Im Stadtrat gab es die Idee, die Einrichtung der Regio Tourismus für die Vermarktung zu überlassen. Am sinnvollsten finde ich den Vorschlag, ein Literaturhaus zu gründen, das im Programm dem Schriftsteller und Menschen Bert Brecht gerecht wird.
Neben dem Brechthaus gibt es eine Brecht-Forschungsstätte, die der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg angegliedert ist und sich v.a. auf das Frühwerk konzentriert. Die Forschungsstätte rangiert gleich hinter dem Brecht-Archiv in Berlin.
Ein Festival wird seit einigen Jahren von der Stadt organisiert. Das diesjährige Festival beginnt am 28. Februar und hat das Thema "Egoismus - Solidarität". Und auch das Festival hat seine eigene Geschichte. Begonnen hatte es 2006 unter dem Namen "augsburg brecht connected". Kurator war der Schriftsteller Albert Ostermaier, und nach der Kommunalwahl 2008 kam das Aus. SPD und Grüne hatten zu viele Stimmen verloren. Seit 2010 gibt es das Brechtfestival mit neuer Konzeption, seit letztem Jahr mit einem neuen Kurator.
Ach ja, der Vollständigkeit halber, alle drei Jahre vergibt die Stadt Augsburg auch einen Brechtpreis. Und es gibt eine Reihe aktiver Menschen zum Beispiel im Brecht Kreis Augsburg, die u.a. Veranstaltungen organisieren und um die Redaktion des Dreigroschenhefts, einer quartalsweise erscheinenden Zeitschrift, die Informationen zu Bertolt Brecht sammelt.
Die Diskussionen und Auseinandersetzungen über Bert Brecht in Augsburg könnten mit zahlreichen Anekdoten und Peinlichkeiten ausführlicher beschrieben werden. Es sind politische Auseinandersetzungen und es geht um persönliche Reputationen gerade im Kulturbereich. Ich muss in diesem Zusammenhang immer an das Gedicht "Vom armen B.B." denken. Und dabei habe ich immer eine hörenswerte Vertonung des Gedichts von Ernst Stötzner in den Ohren. Das Stück befindet sich auf dem Album "Bertolt Brecht: Zeit Wird Knapp" von Heiner Goebbels und Alfred Harth aus dem Jahr 1981.

Das Dreigroschenheft erscheint im 25. Jahrgang und die Ausgaben finden sich unter http://www.dreigroschenheft.de/

Vom 28. Februar bis 4. März 2018 finden im Rahmen des Brechtfestivals verschiedene Veranstaltungen statt. Das Programm und weitere Informationen findet man unter https://brechtfestival.de/

© Ferry van Dongen, Februar 2018.

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2018/02/08

Eine Neuheit bei kuhlewampe.net: Das Kommentarfeld

Nach vielfachem Wunsch ist es nun endlich gelungen.
Auf kuhlewampe.net gibt es ein Kommentarfeld, das über die Schaltfläche "Kommentare" im Kopf dieser Seite erreichbar ist.
Auf diese Weise könnt ihr bequem eure Meinung zu einzelnen Beiträgen auf Kuhle Wampe sagen, sei es Kritik oder Lob oder alles dazwischen.
Substantielle Kommentare werden dann dort veröffentlicht.
Ich freue mich auf euren Input.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/02/05

art kicksuch

kommunikation

© art kicksuch, februar 2018.

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2018/02/02

Filmkritik: »Die Berliner Bettwurst« von Rosa von Praunheim

Dr. Christian G. Pätzold

rosa
Rosa von Praunheim 2016. Quelle. Wikimedia Commons.

Zur Schwulenszene in Berlin hatte ich als Hetero nie einen engen Kontakt. Ich hatte zwar Bekannte und Kollegen, die schwul waren, aber ich war nicht in den einschlägigen Lokalen als Gast. Es ist bekannt, dass das Zentrum der Berliner Schwulenszene im Norden Schönebergs liegt, rund um den Nollendorfplatz, den Winterfeldtplatz und den Viktoria-Luise-Platz. Das große Desaster der Schwulenszene ereignete sich in den Jahren 1985 bis 1990, als zahlreiche Schwule an Aids starben, darunter auch ein Freund von mir. Einige Schwule haben auf wunderbare Weise überlebt. Daher blieb die Szene trotzdem weiter sichtbar, schon wegen des jährlichen Christopher Street Day und wegen des langjährigen Regierenden Bürgermeisters, der schwul war. Das war auch die Zeit, als einige prominente Schwule geoutet wurden.
Rosa von Praunheim ist mir seit den 1970er Jahren ein Begriff, denn als Filmemacher stand er natürlich im Scheinwerferlicht der Berliner Öffentlichkeit. Aber ich war wie gesagt weder in der Berliner Schwulenszene noch in der Cineastenszene unterwegs. Daher ist mir Rosa von Praunheim damals nie persönlich begegnet. Fest steht, dass er ein politischer Mensch ist. Seine besondere Stärke ist das Dokumentarische. Er drehte sehr viele meist kürzere Dokumentarfilme, zum Beispiel Filme über den New Yorker Christopher Street Day, über Lotti Huber, über Dr. Magnus Hirschfeld, über Rainer Werner Fassbinder, über Charlotte von Mahlsdorf und noch zahlreiche andere Persönlichkeiten, die teilweise durch seine Filme erst berühmt wurden. Rosa von Praunheim ist so etwas wie ein Menschensucher und Menschenfinder. Natürlich hat er auch eine Homepage mit Shop im Internet, die sehr informativ ist.
Rosa von Praunheim wurde am 25. November 1942 als Holger Radtke geboren, und zwar im Zentralgefängnis von Riga in Lettland. Das war schon mal ein origineller Start ins Leben. Seine biologische Mutter litt an Schizophrenie und wurde im Zuge der Euthanasie umgebracht. Über seinen biologischen Vater ist nichts bekannt. Wenig später wurde er von seiner Ziehmutter übernommen und erhielt den Familiennamen Mischwitzky. Den Namen Rosa von Praunheim nahm er in den 1960er Jahren an, wobei Rosa eine Erinnerung an den Rosa-Winkel in den Nazi-KZs ist und Praunheim eine Erinnerung an den Stadtteil von Frankfurt am Main, in dem er aufwuchs.
In der schwulen Buchhandlung »Prinz Eisenherz« in der Schöneberger Motzstraße habe ich mir zwei Filme von Rosa gekauft, »Die Bettwurst« von 1971, auch als Die Kieler Bettwurst bekannt, und »Die Berliner Bettwurst« von 1973 (West-Berlin in den tollen 70er Jahren!), die es zusammen auf einer DVD gibt. Ich glaube, dass die beiden Filme die Lebenswirklichkeit vieler deutscher Schwuler um 1970 ganz realistisch wiedergeben. Damals war gerade erst der Beginn der neuen deutschen Schwulenbewegung und der Emanzipation. Bei vielen Schwulen gab es noch die Vorstellung und den Druck, sie müssten eine Beziehung mit einer Frau haben und nach außen so tun als wären sie Heteros. Womöglich sogar heiraten. Und viele Schwule lebten noch mit einer ganz kleinbürgerlichen Ideologie, die vorschrieb, alle kleinbürgerlich-spießigen Verhaltensweisen der Heteros zu übernehmen.
In den beiden Filmen stehen für das Kleinbürgertum die Szenen Der Tanztee, Der Kleingarten oder die Geschenkeverteilung unter dem Weihnachtsbaum. Die Filme fühlen sich auch deswegen so authentisch an, weil die Darsteller keine Kunstfiguren spielen, sondern sich selbst darstellen. Man hat jedenfalls diesen Eindruck. Sie sind Laiendarsteller. Die Filme sind zwar Spielfilme, aber sie haben schon einen starken dokumentarischen Charakter, der sich später bei Rosa durchsetzte. Ich finde die Filme nach fast 50 Jahren außerdem immer noch lustig. Man bekommt durch die Filme einen Einblick in einen ganz anderen Kulturkreis. Und das ist doch das Beste, was Filme leisten können, indem sie den geistigen Horizont der Zuschauer erweitern. Da stört es auch nicht, dass einige Bilder etwas unscharf und verwackelt sind.
Hauptdarsteller der Filme sind Luzi Kryn aus Kiel und Dietmar Kracht aus Mannheim. 1968 scheint komplett an ihnen vorbeigegangen zu sein, sie scheinen total durchgeknallt zu sein. Solche Darsteller musste man damals erst einmal finden. Dass Rosa von Praunheim mit 29 Jahren schon so durchdachte Filme drehen konnte, finde ich doch erstaunlich. Als Filmemacher muss man ein Drehbuch schreiben, die richtigen Schauspieler finden, Regie führen, wahrscheinlich noch die Kamera bedienen, das Geld auftreiben, den Film schneiden und zum Schluss noch vermarkten. Alle diese Fähigkeiten hatte Rosa von Praunheim schon mit 29! Luzi und Dietmar leben heute nicht mehr. Luzi Kryn starb im Jahr 2000 mit 81 Jahren. Dietmar Kracht ist schon 1976 im Berliner Grunewaldsee ertrunken. »Die Bettwurst« mit Nacktszene war erfolgreicher als »Die Berliner Bettwurst« ohne Nacktszene. Das war vielleicht die Ursache dafür, dass Rosa von Praunheim später häufig Nacktszenen in seine Filme eingebaut hat.
Manche LeserInnen werden sich vielleicht fragen, was eine "Bettwurst" ist. Eine Bettwurst ist ein längliches Kissen, das als Kopfstütze im Bett dient. Man kann die Bettwurst auch als Nackenrolle bezeichnen. Eine Bettwurst bekommt Dietmar zu Weihnachten vor dem Tannenbaum geschenkt.
Rainer Werner Fassbinder und Robert van Ackeren waren damals in den 1970er Jahren Filmregisseure, die einen ähnlichen Stellenwert hatten wie Rosa von Praunheim. Van Ackeren war übrigens der Kameramann des Films »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« von Rosa von Praunheim aus dem Jahr 1971. Dieser Film ist immer noch sein bekanntester Film und er war der eigentliche Ausgangspunkt der modernen deutschen Schwulenbewegung, denn aufgrund des Films bildeten sich viele Schwulengruppen. Fassbinder ist früh gestorben und von van Ackeren hat man irgendwann leider nichts mehr gehört. Aber Rosa von Praunheim hat weiter munter in Berlin mit seiner Ziehmutter zusammen gelebt und unzählige Filme gedreht. Er hat einfach eine Kamera genommen und ohne irgendwelche großen Mittel, fast aus dem Nichts, einen Film gedreht.
An Rosa von Praunheim beeindruckt mich, dass er kontinuierlich über 50 Jahre lang Filme über Persönlichkeiten gemacht hat, meist über schwule Persönlichkeiten. Wahrscheinlich konnte er das nur von West-Berlin aus. Aber warum hat er sich schon in seinen Zwanzigern West-Berlin ausgesucht? Hatte er damals schon einen Lebensplan im Kopf? Andere Leute arbeiten sich über Jahrzehnte nach oben, zum Beispiel zum Schriftsteller. Andere haben einen Plan und scheitern. Andere bekommen keinen Fuß auf den Boden. Aber Rosa hat 50 Jahre lang das Richtige gemacht und mit Erfolg. Wie hat er das nur gemacht? An Rosa gefällt mir die Konsequenz in seinem Leben. Er hat konsequent über Jahrzehnte Filme gemacht. Er war konsequent dokumentarisch. Er war konsequent politisch. Darüber hinaus hat Rosa auch noch Bilder gemalt, vorzugsweise von Penissen, die in seinem Shop 500,- Euro kosten.
Dann bin ich Rosa von Praunheim zum Glück doch noch persönlich begegnet. Und zwar im August 2015 in den »Kunst-Werken Institute for Contemporary Art« in der Auguststraße 69 im Scheunenviertel. Dort trat er im Rahmen der Gesprächsreihe »On Violence« auf. Das Thema Gewalt taucht immer mal wieder in Rosas Filmen auf. Er hat daher einige mehr oder weniger brutale Szenen aus seinen Filmen gezeigt.
Vor der Veranstaltung hat mich Rosa sogar persönlich angesprochen und mich ausgefragt, was ich so mache. Ich war nämlich der erste Besucher, was ich oft bin. Dieses Auf-die-Leute-Zugehen kannte ich schon von anderen Personen, ich war daher nicht zu sehr überrascht. Er hat auf mich einen sehr entspannten und freundlichen Eindruck gemacht. Gesprächspartnerin von Rosa war Tina von Mendelsohn. Wie sich herausstellte, hatte sie leider »Fifty Shades of Grey« nicht gelesen. Rosa hat sich auf dem Podium in einen weißen Anzug eingekleidet, mit einer roten Aids-Schleife. Dazu trug er einen rosafarbenen Zylinderhut. Er sah so ähnlich aus wie ein Zirkusdirektor bei einer Pferdedressurnummer.
Rosa hat betont, dass er zum linken, anarchistischen Flügel der Schwulenbewegung gehörte. Das ist auch nicht verwunderlich bei seinem Jahrgang 1942, und bei einem jungen Menschen, der die antiautoritäre 68er-Bewegung in West-Berlin mitgemacht hat. Das bedeutet aber nicht, dass alle Schwulen links eingestellt wären. Unter den Schwulen gibt es heute alle möglichen politischen Richtungen. Es gibt sogar schwule Nazis, obwohl die Nazis die Homosexuellen in ihren Konzentrationslagern umgebracht haben. Die Schwulen wurden in den KZs durch Misshandlungen umgebracht oder „auf der Flucht“ erschossen. Einige wurden auch durch medizinische Experimente getötet oder in den Selbstmord getrieben. Das Phänomen der schwulen Nazis demonstriert sehr deutlich, dass der menschliche Kopf erstaunliche Windungen aufweist. Rosa von Praunheim hat jedenfalls viel erlebt in seinem Leben, entsprechend viel hat er zu erzählen.
Dann hat Rosa noch Gedichte von sich verteilt. Ich habe ein kleines anarchistisches Gedicht aus dem Körbchen gefischt:

"Die Wahrheit existiert nicht
Die Lüge auch nicht
Nur der Blick in Deine Augen
Sagt mir
Die Schuld ist eine Sache der Macht"
Am Ende des Gedichts steht in rosafarbiger Handschrift:
"love Rosa".

Im November 2017 ist Rosa von Praunheim 75 Jahre alt geworden. Er wirbt noch immer unermüdlich Filmförderungsgelder ein und dreht seine Dokumentarfilme. Gerade im November 2017 ist sein interessanter Film »Überleben in Neukölln« in die Kinos gekommen. Darin werden Persönlichkeiten der Schwulen- und Lesbenszene, bspw. Juwelia, vorgestellt. Und dann hat er auch gerade sein neues Musical über sein Leben auf die Bühne des Deutschen Theaters in Berlin gebracht.

© Dr. Christian G. Pätzold, Februar 2018.

Die Bettwurst/Die Berliner Bettwurst, BRD/Mallorca 1971/1973, 81 Min./71 Min., Farbe.
Regie: Rosa von Praunheim.
Kamera: Rosa von Praunheim, Bernd Upnmoor.
Darsteller: Luzi Kryn, Dietmar Kracht, Lou van Burg, und weitere.
FSK 16.

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2018/01/31

vorschau02

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2018/01/28

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
Hans Mayer: "Der Turm von Babel" und "Ein Deutscher auf Widerruf"
Teil 2

mayer

Hans Mayer, obwohl wissenschaftlich ausgebildet in der Juristerei, Historie, Philosophie und Literatur, war doch insgeheim immer auf dem Weg dahin, Schriftsteller zu werden, das war seine eigentliche Ambition und Sehnsucht, die er später im Leben durch seine wunderbaren Bücher - "diesem sonderbaren Gemisch aus Geschichte und Literaturgeschichte, Erzählung und Essay" (1) - auch verwirklichen konnte. Langsam, aber sicher tastet er sich an diese Aufgabe heran, und das nicht ohne Umwege. Im "Turm von Babel" geht es um die Erfahrung mit der noch jungen, sich gerade auf die "eigenen Füße" stellenden DDR. Bekanntschaften aus Kölner Zeiten, z. B. mit Otto Grotewohl, Wilhelm Pieck und anderen Leuten aus dem Widerstand geben Hans Mayer den Rahmen, die Situation dort politisch und auch persönlich zu beurteilen, als Kommunist der alten Tage sozusagen, denn schon früh begann er, sich für den Marxismus zu interessieren.
Mayer steht mit beiden Beinen auf geschichtlichem Boden und gleichzeitig hat er Verfolgung und Ausbürgerung erlebt, musste insgesamt dreimal emigrieren - eine exemplarische und jüdische Perspektive auf das Deutschtum bzw. Deutschsein. Vorbilder auf seinem Weg zur "Kenntlichkeit", er meint damit ein Zu-sich-selbst-Kommen, waren besonders fünf Persönlichkeiten: der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, der Sozialphilosoph Max Horkheimer, der Historiker Carl J. Burckhardt, Ernst Bloch und Bertolt Brecht.
Während es im "Turm von Babel" vorwiegend um die DDR und ihre Literatur geht, legendär die Vorlesungen im Hörsaal 40 der Leipziger Universität, zu denen er eben auch Westschriftsteller wie Günter Grass, Ingeborg Bachmann u. a. einlädt, sowie sein Wirken dort ab 1948 als berufener Professor für den Lehrstuhl Neuere Deutsche und Welt-Literatur bis zu seiner Flucht in den Westen 1963, geht es in "Ein Deutscher auf Widerruf" (2 Bände) um seinen Werdegang von frühester Kindheit bis ins hohe Alter, also um die Zeit nach der Emeritierung in Tübingen, wo er 2001 stirbt.
Der "Turm" ist v. a. ein Zeitdokument und literaturgeschichtlich sehr interessant, da es auch einen Versuch der Einordnung damaliger im Osten produzierter Literatur unternimmt. In der Auseinandersetzung mit Georg Lukács und anderen marxistischen Koryphäen über den Begriff des "sozialistischen Realismus", ein schwer einzulösendes Diktum, nicht nur für die Literatur, auch in der Bildenden Kunst war der Begriff eher problematisch, theoretisiert Mayer, immer auf der Grundlage des von ihm verehrten Marxismus. Ein Kopfmensch par excellence.
Durch die Flucht in die BRD im Jahre 63 gewinnt Hans Mayer auch noch die westdeutsche Perspektive hinzu und was sich in den Jahren nach 45 dort getan hat. Es sei die Begegnung mit der Gruppe 47 genannt. Interessant ist, dass er auch in späteren Jahren noch daran festhält, dass die DDR der bessere deutsche Staat sei - er wird seine Gründe gehabt haben.
Beide Bücher erzählen von Begegnungen mit bedeutenden Zeitgenossen und in welcher Form sie für HM wichtig wurden. Auch das Scheitern wird nie ausgespart, z. B. an widrigen Umständen, denn HM als Jude hatte nach 1933 in Deutschland nichts mehr zu lachen und musste fliehen, wie viele Andere - es markiert eher den Weg dieses mutigen Intellektuellen, der auch zu Ruhm und Ehren kam, und zwar in beiden Teilen Deutschlands. Er blieb der Idee des Marxismus, wahrscheinlich bis zu seinem Aufenthalt in der DDR, treu und es fällt schwer, diese Anfänge nur als Jugendsünde anzusehen, hat er sich Zeit seines Lebens bemüht, diese Perspektive auch auf die Literaturbetrachtung anzuwenden. Die Werke sprechen für sich und sind immer eine Lektüre wert.
Am Beispiel Georg Büchners zeigt sich Mayers dialektisches Geschichtsverständnis, das ein marxistisches und streng an der Historie orientiertes ist und immer und vor allem Arbeit am literarischen Material. Die schon 1935 im Schweizer Exil begonnene berühmte Studie "Georg Büchner und seine Zeit" (1946) wurde später von der Universität Leipzig als Habilitationsschrift anerkannt. "Hier soll durch einen Mann (Büchner) hindurch eine Epoche sichtbar gemacht und zugleich gezeigt werden, wie eine Epoche sich ihren Mann formt." (2) Sein Aufruf an die hessischen Bauern ist die "ergreifendste Personifizierung des Übergangs zwischen "ehemaligen Ständen und ungeborenen Klassen" ". (3) "Es ist eines der wesentlichen Verdienste der Arbeit Hans Mayers, den echten Willen Büchners zu gesellschaftlicher Neugestaltung nachgewiesen und die innige Verbindung dieses Werks mit der außerliterarischen Aktion bestätigt zu haben." (4) - eine Parallele zu Hans Mayer, wie ich behaupte. Des Weiteren schrieb er Bücher über u. a. J. W. Goethe, Montaigne, Robert Musil, James Joyce, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Uwe Johnson, Günter Grass und Hans Henny Jahnn.
Wenn einer objektiv über die damaligen deutschen Zustände urteilen konnte, dann er, zumal er die ganze Historie der Deutschen sowie ihrer Literatur- und Kunstentwicklung mit auf dem Radar hatte, und zwar aus eigenem Erleben u n d eigener Anschauung. Durch die Exilerfahrungen in der Schweiz, später Frankreich glich er sein Wissen auch mit dem dortigen Stand der Literatur und Philosophie ab - ein Mann, der zwischen den Zeiten und auch zwischen den Welten stand.
Das Deutschsein auf Widerruf war für ihn Fluch und Gnade zugleich, denn nur so konnte er sich eine Offenheit und Sensibilität im Umgang mit seiner Zeit bewahren, auch wenn diese teuer erkauft waren. Hans Mayer hat seine Chancen genutzt und Schwierigkeiten meist gut umschiffen können, ohne ein Opportunist geworden zu sein, seine Ideale hat er nie verraten. Man kann mit Fug und Recht sagen, Hans Mayer war einer der reflektiertesten Menschen, die je auf deutschem und auch europäischem Boden wandelten.

(1) Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf/Erinnerungen, Frankfurt am Main, 1988, Bd.1, S.117.
(2)+(3) Georg Büchner und die Moderne: Texte, Analysen, Kommentar, Bd. 2, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2001, S.149.
(4) Ebenda, S.150.

© Dr. Karin Krautschick, Januar 2018. www.krautschick.de.

Der 1. Teil über Hans Mayer erschien am 2017/11/25 auf kuhlewampe.net.

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2018/01/26

Holocaustgedenktag
Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945

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Eingangstor des KZ Auschwitz. Quelle: Wikimedia Commons.

Das Konzentrationslager Auschwitz (in Oświęcim/Polen) war ein Vernichtungslager der deutschen Faschisten zwischen 1940 und 1945. Dort wurden 1,5 Millionen Menschen ermordet, darunter etwa 90 % Juden. Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz von der sowjetischen Roten Armee befreit, und zwar von Truppen der 322. Infanteriedivision der 1. Ukrainischen Front. Häftlinge von Auschwitz starben noch nach der Befreiung trotz medizinischer Hilfe, weil sie schon so geschwächt waren. Die Massenmörder von Auschwitz flohen vor allem nach West-Deutschland. Einige wurden später verurteilt.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/01/24

Kataloniens Unabhängigkeit

Dr. Christian G. Pätzold

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Die spanische Regierung hatte tausende spanische Polizisten nach Katalonien geschickt, die die Wahllokale besetzten und Wahlurnen und Stimmzettel beschlagnahmten, um das Referendum für die Unabhängigkeit Kataloniens am 1. Oktober 2017 zu verhindern. Katalanen wurden von spanischen Polizisten verprügelt. Trotzdem haben 90 % der Wähler für die Unabhängigkeit Kataloniens gestimmt. Für mich ist es klar, dass das katalanische Volk das Recht auf Unabhängigkeit hat. Die Katalanen sind ein eigenes Volk mit einer eigenen Sprache und mit einer wundervollen katalanischen Kultur. Jedes Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung. Katalonien ist ein Land mit 7,5 Millionen Einwohnern. Zum Vergleich: Dänemark hat 5,7 Millionen Einwohner, Slowenien hat 2 Millionen Einwohner.
Der spanischen Monarchie, die von dem Faschisten Franco eingesetzt wurde, war mit dem Referendum ein schwerer Schlag versetzt worden. Die freie Republik Catalunya hatte einen großen Sieg errungen. Die Führer der Europäischen Union haben sich leider gegen das katalanische Volk gestellt. Das ist ein weiterer Minuspunkt für die EU. Das Recht auf Freiheit gilt natürlich nicht nur für die Katalanen, sondern auch für die Völker von Schottland, des Baskenlandes, von Korsika und von Flandern.
Das spanische Verfassungsgericht hatte die Sitzung des katalanischen Parlaments am Montag, 9. Oktober 2017, verboten, auf der die Unabhängigkeit Kataloniens erklärt werden sollte. Daraufhin tagte das katalanische Parlament erst am Dienstag, dem 10. Oktober. Carles Puigdemont i Casamajó, der Präsident der Generalitat de Catalunya, hat nicht die Unabhängigkeit Kataloniens ausgerufen, wie er es versprochen hatte. Er sagte er wolle noch verhandeln. Viele fühlten sich von Puigdemont verraten. Andererseits wusste Puigdemont, dass für "Rebellion" in Spanien 30 Jahre Haft angedroht werden. Wer möchte schon gerne 30 Jahre in einem spanischen Knast schmoren? Der Kampf für die Freiheit wird in Spanien als "Rebellion" bezeichnet.
Danach hieß es plötzlich, Puigdemont habe doch eine Unabhängigkeitserklärung unterschrieben. Darauf forderte ihn der spanische Regierungschef Rajoy ultimativ auf, bis Donnerstag, 19. Oktober 2017, zu sagen, ob Katalonien sich für unabhängig erklärt habe oder nicht. Andernfalls drohte er Konsequenzen an. Gleichzeitig wurden katalanische Freiheitskämpfer verhaftet und in spanische Gefängnisse geworfen.
Puigdemont äußerte sich am Donnerstag wieder nicht eindeutig. Daraufhin kündigte Rajoy am Samstag, 21. Oktober 2017, an, die katalanische Regierung abzusetzen, das katalanische Parlament aufzulösen und Neuwahlen in Katalonien innerhalb von 6 Monaten anzusetzen. Puigdemont wurde inzwischen von einigen schon Verräter genannt, weil er zögerte, die Unabhängigkeit auszurufen. Dieser Vorwurf hat sich aber später als unbegründet herausgestellt.
Am Freitag, 27. Oktober 2017, kam es dann in Madrid und Barcelona zu entscheidenden Entwicklungen. Der spanische Senat, die zweite Kammer, autorisierte den spanischen Ministerpräsidenten Rajoy, Zwangsmaßnahmen gegen die katalanische Regierung zu ergreifen. Gleichzeitig stimmte das katalanische Parlament in Barcelona mehrheitlich dafür, die unabhängige Republik Katalonien zu verwirklichen. Damit waren die Konfrontationslinien klar gezogen und der Machtkampf begann. Rajoy stellte Katalonien unter Zwangsverwaltung und setzte Neuwahlen in Katalonien für den 21. Dezember 2017 an.
Am Montag, 30. Oktober 2017, beantragte die spanische Staatsanwaltschaft Anklage gegen Puigdemont wegen Rebellion, worauf die 30 Jahre Gefängnisstrafe stehen. Puigdemont war inzwischen mit einigen seiner Minister nach Brüssel in Belgien geflohen, wo sich die noch einzige diplomatische Vertretung von Katalonien befindet. Im Notfall hätte er dorthin flüchten können. Auch die flämischen Separatisten haben ihm Asyl angeboten. Am 2. November 2017 sollte Puigdemont vor Gericht in Madrid erscheinen, er blieb aber in Brüssel. Acht katalanische Minister aber, die in Madrid erschienen waren, wurden ins Gefängnis gesteckt. Dann hat die spanische Staatsanwaltschaft einen europäischen Haftbefehl gegen Puigdemont erlassen. Die belgische Justiz musste jetzt innerhalb von 60 Tagen entscheiden, ob Puigdemont an Spanien ausgeliefert wird.
Der europäische Haftbefehl der spanischen Staatsanwaltschaft gegen Puigdemont und seine Minister hatte in Belgien keine Aussicht auf Erfolg. Daher wurde er am 5. Dezember 2017 zurückgezogen. Der spanische Haftbefehl gegen Puigdemont wurde aber aufrechterhalten, so dass er jederzeit verhaftet werden konnte, wenn er nach Spanien zurückkehren sollte.
Es kam der 21. Dezember 2017 und damit die Wahl in Katalonien. Die Befürworter der Unabhängigkeit erhielten eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Von den 135 Sitzen im Parlament in Barcelona erreichten:
Junts x Cat (Junts per Catalunya, Gemeinsam für Katalonien) von Puigdemont: 34 Sitze.
ERC (Esquerra Republicana de Catalunya, Republikanische Linke Kataloniens) von Oriol Junqueras: 32 Sitze.
CUP (Candidatura d’Unitat Popular, Kandidatur der Volkseinheit, neomarxistisch): 4 Sitze.
Am Tag darauf hat Puigdemont dem spanischen Ministerpräsidenten Rajoy ein Gespräch außerhalb Spaniens angeboten. Das wurde von Rajoy umgehend abgelehnt.
Am 17. Januar 2018 tagte dann das Parlament in Barcelona zum ersten Mal seit der Wahl vom 21. Dezember. Zum Parlamentspräsidenten wurde der Unabhängigkeitsbefürworter Roger Torrent von der Esquerra Republicana de Catalunya gewählt. Die Wahl des Präsidenten von Katalonien ist für den 31. Januar 2018 geplant. Puigdemont will von Brüssel aus in Katalonien regieren. Dann ist Puigdemont noch nach Kopenhagen geflogen und hat Katalonien zum "Dänemark des Südens" erklärt.
An dieser Stelle der Entwicklung mache ich mal einen Punkt. Die Unabhängigkeit Kataloniens hängt weiter in der Schwebe. Die Unabhängigkeit Kataloniens ist zwar deklariert aber noch nicht realisiert. Die spanische Regierung hat keine Mehrheit in Katalonien. Und die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter haben keine militärische Macht, um das spanische Militär aus Katalonien hinauszuwerfen. Die Anführer der Unabhängigkeit sitzen im spanischen Gefängnis oder im Exil in Brüssel. So hängt die ganze Sache in der Luft. Aber die Geschichte der freien Republik Catalunya wird weitergehen.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2018.

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2018/01/21

1968 Teil 2

Dr. Christian G. Pätzold

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Bei einer Demo in West-Berlin im März 1968. Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold.

Was hat vom 68er Geist bis heute überlebt?

Ein Hauch von Revolution lag in der Luft. Die Atmosphäre war so vibrierend, dass man es sich heute, in Zeiten des Mehltaus eines banalen Konsumkapitalismus, kaum noch vorstellen kann. John Lennon hat sein Lied »Revolution« gesungen. Und sich natürlich gegen die Revolution ausgesprochen. Mick Jagger hat sein Lied »Street Fighting Man« gesungen und die Situation richtig als Palastrevolution eingeschätzt. So eine Revolutionsstimmung wie 68 gab es in Deutschland erst wieder 1989.
68 war vorbei, und die Bewegung begann sich in den 1970er Jahren in noch mehr verschiedene neue soziale Bewegungen aufzufächern, was in der Vielfalt von 68 schon angelegt war. Einige Auffächerungen erwiesen sich als kurzlebig und überlebten die 70er Jahre nicht, wie die K-Gruppen oder der bewaffnete Kampf der Roten Armee Fraktion (RAF). Einige Autoren haben im Nachhinein die Gewalt zum zentralen Element von 68 hochstilisiert. Auch Hajo Funke widmet einen großen Teil seiner Flugschrift »antiautoritär« der Gewaltfrage (VSA Verlag, Hamburg 2017). Die Bewegung 2. Juni, die Tupamaros oder die RAF spielten für die wenigsten 68er in der 1970er Jahren noch eine zentrale Rolle. Die meisten hatten erkannt, dass man bei den gegebenen sozialen und politischen Verhältnissen in West-Deutschland mit bewaffnetem Kampf nicht zum Sozialismus kommt.
Viel erfolgreicher war die Ökologiebewegung, deren Beginn mit dem Buch »Die Grenzen des Wachstums« von 1972 angesetzt werden kann. Zuerst wurde die Anti-AKW-Bewegung in den 70er Jahren immer stärker. 1980 gründeten sich dann die Grünen als Partei, in West-Berlin als Alternative Liste. Umweltbewusstsein, Bio-Lebensmittel und natürliche Landwirtschaft sind Themen, die heute immer noch im Gespräch sind. Etwa 10 Prozent der WählerInnen interessieren sich heute noch dafür.
Auch für den Frieden interessieren sich noch viele Menschen, obwohl die Friedensbewegung viel an politischer Kraft in Deutschland verloren hat. Erfolgreicher war die neue Frauenbewegung, die von 68 ihren Ausgang nahm. Damals hatten Frauen noch weniger Rechte als Männer und wurden überall benachteiligt. Durch die feministische Bewegung in den letzten 50 Jahren hat sich viel verändert. Frauen haben heute viel mehr Bildungsmöglichkeiten und Arbeitsmöglichkeiten als damals.
Auch die wirksame Emanzipation der Schwulen und Lesben kam erst mit 68 und hat viele Fortschritte gemacht. Das betraf zwar nur eine relativ kleine Gruppe in der Gesellschaft. Aber es zeigt, dass sich durch den 68er Geist auch vorher unterdrückte Randgruppen befreien konnten.
Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern hat sich auch durch 68 verändert. Aufgrund der antiautoritären Erziehung wurden Kinder nicht mehr so oft verprügelt wie vorher. Viele Eltern gründeten Kinderläden, um eine neue Pädagogik zu fördern. Die selbstverwaltete Schule für Erwachsenenbildung existiert noch heute im Mehringhof in Berlin Kreuzberg.
Die Bewegung in West-Berlin hatte erstaunlicherweise kaum auf die Menschen in Ost-Berlin abgefärbt. Es gab zwar die Solidaritäts-Kampagne mit Angela Davis, die später Ost-Berlin besuchte und von der FDJ gefeiert wurde. Aber eine autonome Studentenbewegung oder Jugendbewegung gab es nicht in der DDR. Rudi Dutschke, der Star der westberliner Studentenbewegung, war ja ein abtrünniger Ost-Sozialist, der 1961 einen Tag vor dem Bau der Mauer aus der DDR nach West-Berlin geflüchtet war. In West-Berlin waren die Studenten gegen den Vietnamkrieg der USA, aber der westberliner Bevölkerung war das alles ziemlich egal. In Ost-Berlin war die Ablehnung des Vietnamkriegs von oben angeordnet, aber den meisten Ost-Berlinern war das wohl auch alles egal. In den 1980er Jahren hatten sich die Zeiten schon geändert. Damals gab es in West-Berlin und in Ost-Berlin Punks. In der DDR gab es zunehmend westliche kulturelle Einflüsse. Trotzdem war die Übernahme der DDR durch die BRD im Jahr 1990 mit einem kulturellen Schock verbunden, denn viele DDR-Bürger verstanden kaum, wie sich die Wessis verhielten. Die Ossis hatten sich zwar nach der D-Mark und nach den westlichen Waren gesehnt, durch Werbung und anderes verpeilt, aber sie hatten kaum eine Ahnung, worauf sie sich da noch alles mit dem glitzernden Kapitalismus einlassen würden.
Haben wir heute ein "links-rot-grün versifftes 68er-Deutschland", wie einige Politiker der AfD behaupten? Ich halte das für Quatsch. Wir haben heute fast denselben Kapitalismus wie 68, allerdings mit dem Unterschied, dass es damals noch Vollbeschäftigung gab. Kulturell hat sich in den Köpfen vielleicht ein wenig verbessert. Aber ich fürchte, dass die Verbesserungen doch nur bei kleinen intellektuellen Kreisen angekommen sind.
Später in diesem Jahr habe ich eine kleine Bibliographie mit interessanten Büchern über 1968 auf kuhlewampe.net geplant. Denn es sind schon einige Neuerscheinungen zum 50. Jubiläum angekündigt.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2018.

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2018/01/18

1968 Teil 1

Dr. Christian G. Pätzold

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Fritz Teufel bei einer Demo gegen den Vietnamkrieg vor dem Amerika-Haus in West-Berlin im März 1968. Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold.

1968 jährt sich jetzt zum 50. Mal und das ist ein Anlass für einige Zeitgenossen und Zeitzeugen zurückzublicken. Ich war damals ein aktiver Beobachter der Studentenbewegung in West-Berlin. Im Sommer war ich in London und in Paris, so dass ich die Stimmung auch in diesen Zentren der Bewegung kennen lernen konnte. 1968 kann man aber nicht isoliert betrachten. Auch die Jahre 1967 und 1969 gehörten dazu. Als besondere Ereignisse fallen einem da der 2. Juni 1967 und der Tod von Benno Ohnesorg in West-Berlin ein, oder das Woodstock Music Festival im US-Bundesstaat New York im August 1969.
Im Folgenden möchte ich vor allem 2 Fragen behandeln: Was für eine Bewegung war 68 eigentlich? Und: Was hat vom 68er Geist bis heute fortgewirkt?

Was für eine Bewegung war 68?

Zunächst war 68 eine internationale Jugendbewegung. Die Zentren der Bewegung waren über verschiedene Länder verteilt: Flower Power in San Francisco, West-Berlin, Swinging London, Paris, Prag mit dem Frühling von 68, die Große Proletarische Kulturrevolution der Roten Garde in China. Die Beteiligten waren in ihren 20er Jahren, sie gehörten zur Generation, die nach dem 2. Weltkrieg aufgewachsen war. Damals gab es den Spruch: "Trau keinem über 30!" Und tatsächlich waren nur wenige ältere Menschen in der Bewegung vertreten. Das war in West-Deutschland besonders deutlich, weil hier die ältere Generation im Faschismus sozialisiert worden war oder dabei mitgemacht hatte.
68 war eigentlich nicht nur eine Bewegung, sondern bestand aus vielen Strömungen, aber in einer Richtung. Der Kern der Bewegung von 68 war das Streben nach Befreiung bei der jungen Generation. Daher wurden die alten Autoritäten der Eltern und der Professoren an den Universitäten angegriffen. Der brutale Krieg der USA in Vietnam, der mit dem Kampf gegen den Kommunismus begründet wurde, wurde abgelehnt. Die kapitalistische Konsumgesellschaft und die Profitorientierung wurden kritisch gesehen. Der Kampf der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt wurde unterstützt. So gab es eine Menge Punkte, die man gemeinsam am herrschenden kapitalistischen System ablehnen konnte und gegen die man protestieren und demonstrieren konnte.
Ein wichtiges Merkmal der 68er Bewegung war ihre Vielfältigkeit. 68 war gleichzeitig eine Musikbewegung, eine Lebensgefühlsbewegung (sexuelle Befreiung), eine Hippiebewegung, eine Kunstbewegung, eine Studentenbewegung und eine außerparlamentarische Opposition (APO). Die englische Beatmusik hatte damals die ganze Jugend im Westen (und teilweise auch im Osten) begeistert. Aber es gab auch Folk Music und psychedelische Musik. Diese revolutionären Musikrichtungen waren der Soundtrack und der Rhythmus von 68. Musik lag immer in der Luft und wurde natürlich auf den Partys ständig gespielt. Das führte zu großen Musikfestivals, wie dem Monterey Pop Festival im Summer of Love in Kalifornien 1967 oder zu Woodstock 1969, auf denen die Musikstars der Zeit wie Jimi Hendrix, Joan Baez, The Who oder Janis Joplin sangen und spielten. Für viele junge Leute war die Musikbewegung das Wesentliche an 68. Politische Fragen haben diese jungen Leute kaum erreicht. Man kann sich mal die Charts von 1968 und von 2018 anhören. Das wäre ein interessanter Vergleich und wahrscheinlich würde man einen ganz anderen Beat feststellen.
Gleichzeitig war 68 eine Friedensbewegung, die sich besonders gegen den Vietnamkrieg richtete. Es war die Zeit der Napalmbomben, des My Lai Massakers und von Agent Orange. Besonders in den USA mussten sich die jungen Leute damit auseinandersetzen, weil sie Einberufungsbefehle bekamen. Viele verweigerten in den USA den Militärdienst und wanderten ins Gefängnis. Viele junge Männer kamen auch nach West-Berlin, weil es hier keinen Militärdienst gab. West-Berlin war eine besondere politische Einheit unter der Herrschaft der West-Alliierten, seit 1961 ein eingemauertes Biotop, umgeben vom realen Sozialismus. Die denkende Jugend hatte keine Lust auf militärischen Drill und auf Krieg.
Besonders pazifistisch waren die Hippies, die einen wichtigen Teil von 68 ausmachten, obwohl sie nicht als politisch bewusst oder gar sozialistisch angesehen wurden. Sie hatten einen Hang zu Landkommunen, zu Reisen nach Indien, zur Bewusstseinserweiterung durch Drogen, zu indischen Religionen und Praktiken. Die Hippiebewegung sollte später für die Ökologiebewegung wichtig werden. In West-Berlin spielte eine bunte Hippietruppe das Musical Hair. Die Abgrenzung der Jugend von den erwachsenen Spießern vollzog sich auch über die bunte Kleidung und die langen Haare. Jeder sah sofort am Äußeren, wer zu den Spießern und wer zu den Gammlern gehörte.
In meiner Erinnerung ist die Buntheit von 68 geblieben. Damals war alles sehr bunt, so knallbunt, wie man es sich heute in grauen Zeiten kaum noch vorstellen kann. Die Kleidung war bunt, die Architektur, die Malerei, die Möbel, die Wohnungen, alles. Das Plattencover von Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band war bunt. Die bunte US-amerikanische Pop-Art war auf ihrem Höhepunkt und ein wichtiger Teil des Gefühls von 68. Künstler wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg und Tom Wesselmann, um nur einige wenige zu nennen, inszenierten die Farbigkeit.
Neben den kulturellen Besonderheiten war die linke Politik ein wichtiger Aspekt von 68. Bewegungen der Emanzipation waren die Bürgerrechtsbewegung (Civil Rights Movement) in den USA, die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und die internationale Studentenbewegung.
Die Afroamerikaner in den USA wurden oft als Menschen zweiter Klasse behandelt, teilweise gelyncht und so entstand die Bürgerrechtsbewegung für gleiche Rechte. Ihr Anführer Martin Luther King jr. wurde im April 1968 in Memphis erschossen, die Bewegung radikalisierte sich, es entstanden die Black-Power-Bewegung und die Black Panthers.
Der Kolonialismus war 1968 schon weitgehend geschlagen. Es gab aber noch die Apatheid-Regime in Süd-Afrika und in Rhodesien, die Kolonialgebiete Portugals und den Neo-Kolonialismus der USA in Süd-Amerika. Dagegen kämpften die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt in Asien, Afrika und Lateinamerika. Zu einem Idol der 68er wurde der Guerillero Heroico Che Guevara, der 1967 mit seiner Guerillatruppe in Bolivien erschossen worden war.
Der bekannteste Teil von 68 in Deutschland war die politische Studentenbewegung, denn ihre Straßendemonstrationen waren am wirksamsten in der Öffentlichkeit. Sie richtete sich zunächst gegen die Alleinherrschaft der alten Professoren, der Ordinarien. Neue Studieninhalte und Studienmethoden sollten an der Universität erkämpft werden. Die Studenten forderten Mitbestimmung (Drittelparität). Ideologisch knüpfte die Studentenbewegung an den Marxismus der 1920er Jahre an. Herbert Marcuse war dabei mit seinen wichtigen Büchern der Vordenker. Er lehrte nicht nur in Kalifornien, sondern kam auch nach West-Berlin, um mit den Studenten zu diskutieren. Sehr viele Bücher wurden damals gelesen, natürlich vor allem die marxistischen und leninistischen Klassiker, die in hoher Auflage in Ost-Berlin, Moskau und Peking verlegt wurden. Es gab zahlreiche sozialistische Strömungen in der westdeutschen Studentenbewegung, Maoisten, Marxisten-Leninisten, Realsozialisten, Neue Linke, Trotzkisten, Anarchisten, Autonome, Spontis, Provos, Situationisten.
Zu den Büchern, die 68 in West-Berlin gelesen wurden, gehörten auch auffällig viele psychologische und psychoanalytische Schriften von Sigmund Freud, Erich Fromm und Wilhelm Reich. Besonderes Interesse fand die Massenpsychologie des Faschismus, um das Denken der älteren Generation zu verstehen.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2018.

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2018/01/15

Aus einem Kästchen mit bezweifelbaren Zitaten

"Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf!"

"Wir wollen nicht ein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei!"

"Vorwärts immer! Rückwärts nimmer!"

"Die Partei hat immer Recht!"

Liste wahrer Sätze

"Das Leben ist wie ein Vanilleeis. Isst du es auf, dann ist es weg. Isst du es nicht auf, dann ist es auch weg."

"Keine Lyrik ist auch keine Lösung."

"Die Dichter und Denker / Holt in Deutschland der Henker." Brecht.

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Adorno.

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2018/01/13

art kicksuch

irrig

© art kicksuch, januar 2018.

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2018/01/11

Eine Neuheit bei kuhlewampe.net:
Das Personenregister für die Jahre 2015, 2016 und 2017

Wenn man ein paar Jahre einen Blog schreibt, dann verliert man leicht den Überblick darüber, wer über wen wann etwas geschrieben hat. Um etwas Übersicht zu schaffen, gibt es jetzt ein neues zusätzliches Personenregister für die Jahre 2015, 2016 und 2017 auf Kuhle Wampe, das jährlich erweitert werden soll. Das Personenregister ist über die Schaltfläche "Personen" im Kopf dieser Seite erreichbar. Ich hoffe, dass es eine große Hilfe ist, wenn man Autoren und frühere Artikel über Personen sucht.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2018/01/09

Das alte Rathaus von Bernau bei Berlin

rathausbernau
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, August 2017.

Kuhle Wampe interessiert sich für historische Rathäuser. Nachdem hier bereits die Rathäuser von Rostock, Kursk, Breslau und Kassel gezeigt wurden, folgt nun das alte Rathaus der Stadt Bernau nordöstlich von Berlin, im Barnim im Bundesland Brandenburg gelegen. Es ist ein ganz bescheidenes Rathaus aus dem Jahr 1805, aus der Zeit des Klassizismus. Mit seinen 9 Achsen und 2 Geschossen strahlt es schnörkellose Solidität aus. Über der Eingangstür ist das Stadtwappen mit dem roten brandenburgischen Adler und dem schwarzen Bären vor einem Eichenbaum angebracht. Zur Verschönerung dienen die historischen Laternen und die Geranien.

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2018/01/07

Tagebuch 1973, Teil 22: Teheran

Dr. Christian G. Pätzold

1. September 1973, Teheran, Sonnabend

Zuerst habe ich wieder in der Ferdowsi Street Geld getauscht, 1 DM : 28,50 Rial. Ferdowsi war ein berühmter persischer Dichter des 10. Jahrhunderts, der das Gedicht Shahnameh (Buch der Könige) verfasst hat. Dann sind wir zur afghanischen Botschaft (Sefarate Afghanistan) in der Nordstadt gefahren. Meine Reisepartnerin hatte sich ihre schicksten Kleider angezogen, was sehr geholfen hat. Das erste, was der Mann in der Botschaft sagte, war, dass ich meine Haare kürzer schneiden müsste. Ich sagte das gleich zu, daraufhin bekamen wir das Visum für Afghanistan innerhalb von zwei Minuten. Andere langhaarige Reisende hatte große Probleme. Einer, der sehr lange Haare und einen sehr langen Bart hatte, wollte sich auf keinen Fall von ihnen trennen. Er sagte, er sei ein bekannter Schriftsteller in den USA und sei auch an sein Aussehen gebunden, außerdem sei er schon mit Haaren hässlich aber ohne sei es einfach unmöglich. Der Botschaftsbeamte ließ sich aber gar nicht beeindrucken. Er sagte, er könne auch nichts für die Bestimmungen, in seinem Land herrsche eine Militärregierung und die wolle das so. Wegen unseres Visums sollten wir zuerst morgen wiederkommen, aber als wir darauf bestanden, dass der Weg zu weit sei, bekamen wir es sofort. Die anderen Reisenden sind gegangen und haben sich abspeisen lassen. Im Orient kann man verhandeln. Zwei Passbilder waren nötig für das Visum. An einen seriös aussehenden Schweizer hat der Konsul einen großen Afghanistanprospekt verteilt, an uns einen kleinen und an die anwesenden Hippies gar keinen Afghanistanprospekt. Das war ein fein abgestuftes, diplomatisches Fingerspitzengefühl verratendes Verfahren.
Danach haben wir die Busfahrkarten nach Isfahan für Montag 10:00 Uhr bei TBT gekauft und 150 Rial für das Ticket bezahlt. Anschließend waren wir teuer im Hotel essen, Spaghetti Bolognese 80 R, Bier 35 R.
Dann sind wir wieder angesprochen worden und wurden zu originellen athletischen Übungen gebracht, Eintritt preiswerte 20 R pro Person. Das Etablissement hieß 'Zoorkhaneh-e Jafari' (Athletic Exercises) in der Varzesh Street. Mit Hilfe von großen Holzkeulen wurde Gymnastik nach alter Tradition mit viel Zeremoniell gemacht. Es gab einen Trommler, der gleichzeitig sang, außerdem viel Weihrauch. Der Herr Jafari, dem das Etablissement gehörte, sollte der beste Gymnastiker im Iran sein. Zum Abschluss wurde ein Schahbild überreicht, nachdem Herr Jafari eine lange Rede gehalten hatte. Die Vorstellung dauerte eine Stunde. An den Übungen waren auch ein sehr alter Mann, ein kleiner Junge und ein Riese beteiligt. Zusammen mit der spärlichen Gymnastikbekleidung ergab das einen sehr pittoresken Anblick.
Danach sind wir im Citypark spazieren gegangen und haben Zeitung gelesen: Über den 10. Parteitag der KP China, den Zusammenschluss Ägypten - Libyen, über den saudiarabischen Scheich, der den Amerikanern mit einem Ölstop drohte. Die Zeitung brachte sehr interessante Nachrichten aus dem arabischen und dem asiatischen Raum, die man in Europa normalerweise nicht zu lesen bekommt. An englischsprachigen Zeitungen gab es 'Kayhan' und 'The Teheran Journal'. Ich habe Weintrauben für 10 R das Kilo gekauft.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2018.

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2018/01/05

Tagebuch 1973, Teil 21: Teheran

Dr. Christian G. Pätzold

31. August 1973, Teheran, Freitag

Teheran liegt 1.190 Meter hoch und es gibt Klimaanlagen. Isfahan und Shiraz liegen sogar 1.500 Meter über dem Meeresspiegel. Je höher man kommt, desto kühler wird es. Die Augusthitze war noch erträglich.
Ich habe ein paar Postkarten nach Berlin abgeschickt, Porto 10 Rial. Wir sind zu Julia gefahren und dann zum Haus von Fleischermeister Josef. Er fuhr einen in Persien gepressten und montierten Wagen, der Motor kam aus England, Paykan 1725, von seinem Chef bezahlt. Er wohnte in einem 3-Zimmer-Haus in Bungalowbauweise etwas außerhalb der Stadt, mit Garten, großem Swimmingpool und einem Gärtner. Ein Taxiwagen kostet hier 25.000 Tuman, bei einem Umsatz von etwa 100 Tuman pro Tag, die Zulassung kostet 15.000 Tuman. Die persischen Familien haben in der Regel viele Kinder, so zwischen 5 und 10, sie lebten meist in einem Raum auf Teppichen ohne Möbel. Das Einkommen eines Arbeiters in der Wurstfabrik soll 400 Tuman monatlich betragen, das eines Vorarbeiters 700 Tuman, ein Bauarbeiter verdiente nur 200 Tuman = 60 DM. In der Wurstfabrik wurde 48 Stunden in der Woche gearbeitet, mit zwei Stunden Pause pro Tag. Während man krank war, konnte man drei Monate nicht gekündigt werden. Die Arbeitslosigkeit war relativ groß, aber Fachkräfte gab es kaum, da keiner sein Wissen weitergab. Eine Berufsausbildung gab es nur auf privater familiärer Ebene.
Die Straßenbäume in Teheran mussten künstlich jeden Tag bewässert werden. Für das Absägen von Bäumen bekam man zwei Jahre Gefängnis. Das Teheraner Gefängnis sollte überfüllt sein mit Menschen, die wegen Rauschgift-, Verkehrs- und Eigentumsdelikten und besonders politischen Delikten einsaßen. Josef erzählte, dass er dort einmal in einer 30 qm Zelle mit 42 bzw. 64 Leuten gehaust habe, nachts pro Mann eine halbe Decke, falls man überhaupt einen Platz zum Liegen fand. An das Teheraner Gefängnis wurde täglich eine Tonne Bullenfleisch geliefert. Ein deutscher Elektriker, der bei Michaeljan gearbeitet hatte, sollte in Mashad wegen 1,5 kg Rauschgift zwei Jahre lang sitzen und eine Geldstrafe bezahlen müssen.
Kommunistische Bombenanschläge kamen anscheinend öfter vor. Josef sagte, dass "sich der Schah noch fünf Jahre hält, weil die Leute immer kultivierter werden." Er erzählte, dass der Ministerpräsident vor zwei Jahren die Buspreise von 2 R auf 4 R erhöhen wollte. Als Busse angezündet und geschossen wurde hat der Schah, der wie immer, wenn es brenzlig wurde, gerade im Ausland war, von dort angerufen und die Beibehaltung der alten Preise angeordnet. Der Schah wäre nie zu sehen, seinen Palast habe er an seine Verwandten verschenkt und er habe sich einen neuen Palast außerhalb der Stadt bauen lassen, weil er vor Bombenanschlägen nicht sicher wäre, sagte Josef. Alles was passierte, ordneten der Schah oder seine Ratgeber an. Josef sagte, dass die Söhne aus reichen Familien sich nicht die Hände schmutzig machen wollten, obwohl sie gut für den Vater arbeiten oder lernen könnten. "Sie bekommen mit Achtzehn den Führerschein und einen Mercedes." Die Wurstfabrik 'Michaeljan Sausage and Meat’ hatte 100 Arbeiter und 80 Arbeiter in der Schweinemästerei. Heutzutage würden mehr Schweine in die Wurst getan, da es kaum Bullenfleisch gäbe. In fünf Jahren könnte die Kapazität von 3 auf 15 Tonnen Fleisch pro Tag gesteigert werden, wenn Fleisch zum Wurstmachen da wäre, sagte Josef. Er sagte, er fahre nie in die Südstadt, wie alle Ausländer. Er hat uns gerade zu unserem Hotel Amir Kabir gefahren und nicht weiter. Julia sagte, dass man in der Südstadt seine Lebens nicht sicher sei, zum Beispiel sei dort ein ausländischer Diplomat umgebracht worden.
Wir haben im Kettenrestaurant 'Moby Dick’ gegessen, sehr teuer aber supermodern und sauber. Zwischendurch mussten wir mal in einen gekühlten Raum wegen der starken Sommerhitze draußen.
Die Schauergeschichten über die Südstadt haben uns nicht davon abgehalten, trotzdem hinzufahren. Ein Student hat uns den Weg zum Bazar gezeigt. Er sagte, die Leute hier würden alle gern reisen, aber sie könnten nicht, weil es zu teuer wäre. Er sagte: "I admire you because of your travelling." Vor dem Eingang zur Moschee befand sich ein großer Bazar, das war der echte Orient. Kein einziger Europäer war zu sehen, keine Frau ohne Chador, dem Umhangtuch zum Bedecken der Figur. In die Moschee durften wir nicht rein, weil meine Reisepartnerin keinen Chador hatte. Wir wurden von einem deutsch sprechenden Menschen angesprochen. Die Leute waren sehr freundlich zu uns und diejenigen, die eine ausländische Sprache beherrschten, meist englisch, sprachen uns gerne an. Vielleicht wollten sie auch einfach mal ihr Englisch üben. Der Bazar um die Moschee war sehr attraktiv und flirrend. Wir haben eine Melone, die es hier in großen Mengen gibt, für 15 Rial gekauft und sind zum Amir Kabir Hotel zurückgefahren.

Postskriptum Januar 2018:
Fleischermeister Josef hat es tatsächlich exakt vorhergesehen. Fünf Jahre später musste der Schah vor der Islamischen Revolution des Ajatollah Chomeini aus Persien flüchten. Jetzt 40 Jahre später gibt es wieder neue Demonstrationen im Iran und man weiß nicht, ob daraus eine neue Revolution wird. Der Iran ist meines Erachtens heute ein Pulverfass mit Millionen von jungen Menschen ohne Arbeitsmöglichkeit und Zukunftsperspektive, die auch nicht aus dem islamischen Gottesstaat rauskommen können.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2018.

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2018/01/03

Kuhle Wampe, 1932

kuhlewampe1

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2018/01/01

Heute beginnt der 4. Jahrgang

Dr. Christian G. Pätzold

Ich wünsche allen Fans von Kuhle Wampe ein schönes neues Jahr 2018! Im vergangenen Jahr war Kuhle Wampe auf Expansionskurs, sowohl die Zahl der Beiträge als auch die Zahl der Bilder sind erheblich angestiegen. Es gab insgesamt 170 Beiträge. Mehr sind kaum zu schaffen. Die Zahl der Bilder müssen wir in 2018 etwas reduzieren, denn Bilder verlangsamen den Ladevorgang. Die Artikel auf Kuhle Wampe werden übrigens noch nicht von Robotern geschrieben, sondern von originalen Menschen.
Im vergangenen Jahr nutzten über 3 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt das Internet. Ich freue mich darüber, dass kuhlewampe.net ein Teil dieses internationalen Netzwerkes ist und einen kleinen Beitrag zur Information und Unterhaltung beisteuern kann. Bisher wird Kuhle Wampe hauptsächlich in Deutschland und in Österreich gelesen. Im ganzen Jahr 2017 registrierte kuhlewampe.net insgesamt 18.525 Besuche (Visits). Bitte empfehlt kuhlewampe.net bei euren Freundinnen und Freunden weiter! Die Beschäftigung mit kulturellen Themen ist immer eine Freude.
Den ganzen Film »Kuhle Wampe« von 1932 kann man übrigens bei YouTube im Internet anschauen. Das ist auch so eine positive Seite des Internets, dass man einige Filme kostenlos sehen kann. Der Film wurde dort schon über 58.000 mal aufgerufen. Sehr lohnenswert, denn der Film ist ein wichtiges avantgardistisches Kunstwerk des 20. Jahrhunderts.
Ein Ausblick auf das Jahr 2018: Im Januar wird es eine Neuheit auf Kuhle Wampe geben: Ein Personenregister für die Jahre 2015, 2016 und 2017. Das wird das Finden von Personen und von früheren Artikeln sehr erleichtern. Dann haben wir das 50. Jubiläum von 1968. Daher wird die Studentenbewegung von damals in einigen Beiträgen eine Rolle spielen, bspw. das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 auf dem westberliner Kurfürstendamm. Außerdem sind der 120. Geburtstag von Bertolt Brecht am 10. Februar und der 200. Geburtstag von Karl Marx am 5. Mai zu feiern. Insgesamt bleibt Kuhle Wampe weiterhin bei seiner Linie: Anything goes. Neue Autorinnen und Autoren und Fotografinnen und Fotografen sind herzlich willkommen! Außerdem arbeite ich daran, dass wir ein Kommentarfeld auf kuhlewampe.net bekommen. In der Zwischenzeit schreibt eure Kommentare bitte an post(at)dr-paetzold.info.
Wie immer im Januar wurde der Bildhintergrund von kuhlewampe.net umtapeziert. An der Stelle der selbstkletternden Jungfernrebe vom letzten Jahr befinden sich jetzt tropische Baumfarne, die ich im Botanischen Garten Berlin Dahlem fotografiert habe. Da sie nicht frosthart sind, wachsen sie im Gewächshaus.
Ich möchte allen sehr danken, die im letzten Jahr großzügig und gratis etwas zu Kuhle Wampe beigetragen haben: Ferry van Dongen, art kicksuch, Henrik Zoltan Dören, Olga Ramirez Oferil, Miro Wallner, Ella Gondek, Charlie, Karl-Martin Hölzer/Carlos, Dr. Karin Krautschick, Brigitte Blaurock, Jenny Schon, Georg Lutz, Maria Anastasia Druckenthaner, Dr. Hans-Albert Wulf, Dr. Wolfgang Endler und Dr. Felizitas Hartwig. Es ist eine Freude, mit so kreativen Menschen zusammenzuwirken.

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