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Archiv 2019

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Themen des Jahres 2019

Neues ManifestProf. Dr. Bauer2019/12/25
Weiße FleckenDr. Pätzold2019/12/22
Bildmontage Greta ThunbergProf. Dr. Bauer2019/12/19
Autorenfoto Wolfgang WeberLuke Sonnenglanz2019/12/17
Autorinnenfoto Ella Gondek2019/12/15
222. Geburtstag von Heinrich Heine2019/12/13
EimerkettenbaggerAchim Mogge2019/12/09
Das neue Bauhaus-Museum in DessauDr. Pätzold2019/12/06
Wie waren die 10er Jahre so?Dr. Pätzold2019/12/02
WeintraubenDr. Pätzold2019/11/27
Josef Hartwig: Das Bauhaus SchachspielDr. Pätzold2019/11/24
Extinction RebellionDr. Pätzold2019/11/21
herbst rapWolfgang Weber2019/11/18
In GuantanamoIngo Cesaro2019/11/15
GaneshaProf. Dr. Bauer2019/11/12
Mauerfall vor 30 JahrenDr. Pätzold2019/11/09
100 Jahre VolkshochschuleDr. Pätzold2019/11/05
Original BauhausDr. Pätzold2019/11/02
Herman Melville: »Bartleby, the Scrivener«Dr. Pätzold2019/10/27
Zur Sozialgeschichte des TeufelsDr. Wulf2019/10/24
sag die WahrheitWolfgang Weber2019/10/21
Grosser AbgangIngo Cesaro2019/10/18
WidmungProf. Dr. Bauer2019/10/15
Walter Gropius: Meisterhäuser in DessauDr. Pätzold2019/10/12
Wer Träume verwirklichen willKarl Foerster2019/10/10
Oktober im TiergartenDr. Pätzold2019/10/08
Tagebuch 36: Über den Khyber-PassDr. Pätzold2019/10/05
»Kuhle Wampe« im Kino Babylon2019/10/03
Tagebuch 35: KabulDr. Pätzold2019/10/02
UhuElla Gondek2019/09/29
Fritz Cremer: Denkmal für die InterbrigadistenDr. Pätzold2019/09/26
AprikosenDr. Pätzold2019/09/23
HolzART XXII in KronachIngo Cesaro2019/09/21
Denk’ ich anIngo Cesaro2019/09/20
Fundstück Fotos aus BremenProf. Dr. Bauer2019/09/18
VerteidigungenProf. Dr. Bauer2019/09/17
László Moholy-Nagy: Bauhaus-BalkoneDr. Pätzold2019/09/14
Fotos aus dem Chile der Unidad Popular2019/09/12
Foto von der Kuhle-Wampe-Sommerparty 20192019/09/10
Tag des Offenen Denkmals: GropiusstadtDr. Pätzold2019/09/06
Wie Opa und Oma ein Paar wurdenMarkus Richard Seifert2019/09/03
Zum 50. Todestag von Onkel HoDr. Pätzold2019/09/02
Der Tote in Goethes GartenhausDr. Wulf2019/08/28
Augustmorgen mit PurpurwindeSabine Rahe2019/08/27
zehn / neunundsechzig / dreiWolfgang Weber2019/08/25
zehn / neunundsechzig / zweiWolfgang Weber2019/08/23
zehn / neunundsechzig / einsWolfgang Weber2019/08/20
Zum 50. Todestag von Ludwig Mies van der RoheDr. Pätzold2019/08/17
Jimi in WoodstockDr. Pätzold2019/08/14
Vor MaltaIngo Cesaro2019/08/11
Hunnenrede des Wilhelm ZwoProf. Dr. Bauer2019/08/08
Paul Klee: Der goldene Fisch Dr. Pätzold2019/08/05
Der WerwolfChristian Morgenstern2019/08/02
Was gibt es Neues in China?Anna Gerstlacher/
Dr. Pätzold
2019/07/27
Bibliomania IIDr. Wulf2019/07/23
Die Yucca-PalmlilieElla Gondek2019/07/22
Neues DeutschlandliedMarkus Richard Seifert2019/07/20
Wassily Kandinsky: Komposition VIIIDr. Pätzold2019/07/17
Erich Fried auf der East Side GalleryDr. Pätzold2019/07/14
DamalsIngo Cesaro2019/07/11
Fridays For FutureProf. Dr. Bauer2019/07/08
Tagebuch 34: KabulDr. Pätzold2019/07/05
Tagebuch 33: Von Herat nach KabulDr. Pätzold2019/07/02
Zum 150. Geburtstag von Emma GoldmanDr. Pätzold2019/06/28
In memoriam Franz KafkaJenny Schon2019/06/26
Welchen Zweck hat Kunst?Dr. Pätzold2019/06/24
Besuch in GeorgienElla Gondek2019/06/21
Bibliomania IDr. Wulf2019/06/18
ÜberlegungIngo Cesaro2019/06/15
Frühlingsblüte von SKWBDr. Pätzold2019/06/13
Blick vom KreuzbergDr. Pätzold2019/06/12
Zum Ergebnis der EuropawahlDr. Pätzold2019/06/09
Oskar Schlemmer: BauhaustreppeDr. Pätzold2019/06/05
Politikerschelte: HaikusProf. Dr. Bauer2019/06/02
14 Thesen zur politischen LyrikDr. Pätzold2019/05/28
»Aus gegebenem Anlass« von Rudolph BauerDr. Pätzold2019/05/24
Song for Brexiteers and ProfiteersWolfgang Weber2019/05/22
Freiheit2019/05/21
Der MarienkäferElla Gondek2019/05/18
Dieser arme HomosaxonePeter Hahn &
Jürgen Stich
2019/05/15
Novemberrevolution 1918Prof. Dr. Bauer2019/05/12
László Moholy-Nagy: Komposition Z VIIIDr. Pätzold2019/05/09
Da kommt Bewegung aufIngo Cesaro2019/05/06
Zum 100. Geburtstag von Pete SeegerDr. Pätzold2019/05/03
Grüße zum 1. Mai2019/05/01
Pazifik - Plastik2019/04/27
Die BuchmenschenDr. Wulf2019/04/24
Tagebuch 32: HeratDr. Pätzold2019/04/21
Tagebuch 31: Herat (Afghanistan)Dr. Pätzold2019/04/18
Impressionen aus dem Bauhaus in DessauDr. Pätzold2019/04/15
100 Jahr BauhausDr. Pätzold2019/04/12
Zum 100. Todestag von Emiliano ZapataDr. Pätzold2019/04/10
Die Räterepublik in MünchenDr. Stumberger2019/04/07
In Memoriam Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky und
Carl von Ossietzky
Dr. Pätzold2019/04/04
AufstehenProf. Dr. Bauer2019/04/03
BeifangIngo Cesaro2019/04/01
bauhaus imaginista im HKW2019/03/28
Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE)2019/03/25
Von Arts and Crafts zum BauhausDr. Pätzold2019/03/22
FrühlingsanfangElla Gondek2019/03/20
Rosa Luxemburg und die StasiDr. Wulf2019/03/17
Wat koofe ich mir for een Groschen?Egon Erwin Kisch2019/03/15
30 Jahre World Wide WebDr. Pätzold2019/03/12
Fridays For Future und Greta Thunberg2019/03/10
Internationaler FrauentagDr. Pätzold2019/03/08
Alles ist ein zu Überschretendesart kicksuch2019/03/05
Das Lied vom KompromißKurt Tucholsky2019/03/02
Links auf kuhlewampe.net2019/02/26
Don Quijote oder die Tragikomik des LesensDr. Wulf2019/02/23
Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen ArbeitervereinGeorg Herwegh2019/02/20
Freier Eintritt in Staatliche MuseenDr. Pätzold2019/02/17
Der Mensch und seine ArbeitMarkus Richard Seifert2019/02/14
Will Lammert: Jüdische Opfer des FaschismusDr. Pätzold2019/02/11
Der LiebesperlenstrauchDr. Pätzold2019/02/08
Wer spricht?!art kicksuch2019/02/05
Beim Pecha Kucha im Haus für PoesieDr. Pätzold2019/02/02
»Homo Ludens« von Johan Huizinga (Teil 2)Dr. Krautschick2019/01/28
Kunst kommt von könnenKarl Valentin2019/01/26
Von der Dicken Berta zur Roten RosaDr. Pätzold2019/01/23
Sie drehen mir die Worte im Halse umart kicksuch2019/01/20
Das Personenregister ist aktualisiertDr. Pätzold2019/01/17
Die Ermordung von Rosa und KarlDr. Pätzold2019/01/14
Das Rathaus von HamburgDr. Pätzold2019/01/10
Tagebuch 30: Zur afghanischen GrenzeDr. Pätzold2019/01/07
Tagebuch 29: MashadDr. Pätzold2019/01/05
Filmplakat »Kuhle Wampe«2019/01/03
Willkommen zum 5. Jahrgang!Dr. Pätzold2019/01/01

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2019/12/25

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2019/12/22

Weiße Flecken 2019

Dr. Christian G. Pätzold

Auch in diesem Jahr gab es einige Personen und Themen, die es verdient hätten, etwas ausführlicher auf kuhlewampe.net gewürdigt zu werden. Aber die Arbeitskapazität ist begrenzt und so kann nicht alles kommentiert werden, wie man es gerne möchte. Zum Trost sollen hier wenigstens einige Stichworte genannt werden.
Dieses Jahr hat einige bekannte Künstler der älteren Generation dahingerafft, die unser Leben mehr oder weniger intensiv begleitet haben. Es fing schon im Februar an, als der Illustrator Tomi Ungerer, der Schauspieler Bruno Ganz und der exzentrische Modeschöpfer Karl Lagerfeld starben. Im Mai starben der Satiriker Wiglaf Droste und der Architekt der Moderne Ieoh Ming Pei. Im Juni starb noch der Cartoonist Guillermo Mordillo.
Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels wurde dieses Jahr an den politischen Fotografen Sebastião Salgado aus Brasilien verliehen, der 1944 geboren wurde. Der Preis wurde während der Buchmesse in Frankfurt am Main im Oktober überreicht. Salgado ist zwar kein Schriftsteller, aber er hat einige Bücher mit seinen Fotos veröffentlicht. Salgado bezeichnet sich als "Sozialfotografen", dessen Aufgabe es sei, "Licht auf Ungerechtigkeit zu werfen". Er nahm den Preis im Namen all jener an, die durch "brutale, von den reichsten Ländern der Welt kontrollierte Wirtschaftssysteme ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden". In seinen Fotoreportagen dokumentierte er das Elend von Flüchtlingen oder die Arbeitsbedingungen in Bergwerken. Über die Arbeit von Salgado gibt es den Film »The Salt of the Earth« von Wim Wenders aus dem Jahr 2014. Auch über Salgado hätte noch mehr berichtet werden können.
Auch der Blick 100 Jahre zurück auf das Jahr 1919 hätte etwas ausführlicher ausfallen können. 1919 wurde der Tonfilm erfunden. 1919 wurde von Benito Mussolini in Italien der Faschismus gegründet. Und vor 100 Jahren erschien das bekannte Buch »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« von John Reed, ein Augenzeugenbericht über die Oktoberrevolution von 1917.

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2019/12/19

Bildmontage von Rudolph Bauer
Greta Thunberg
Skolstrejk För Klimatet

rudolph9
http://www.rudolph-bauer.de/instagram/

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2019/12/17

wolfgang

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2019/12/15

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2019/12/13

Zum 222. Geburtstag von Heinrich Heine

heine

Heinrich Heine wurde am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf als Harry Heine geboren. Der Heinrich-Heine-Brunnen steht in der Bronx in New York City. Das Denkmal stammt von dem Berliner Bildhauer Ernst Herter, Marmor, 1899. Auf der Spitze sitzt die Loreley und kämmt ihr Haar, daher im Englischen "Loreley Fountain" genannt. Quelle. Wikimedia Commons.


Heinrich Heine
Lied von der Loreley


Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin;
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein;
der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar;
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei;
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh.

Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn;
und das hat mit ihrem Singen
die Lore-Ley getan.

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2019/12/09

Achim Mogge
Eimerkettenbagger

mogge
Eitempera auf Leinwand, 120 x 180 cm.

Das Bild zeigt den stillgelegten Bagger, der seine ursprüngliche Funktion verloren hat. Er steht wie ein riesiges Insekt erstarrt in der von ihm geschaffenen Wüstenlandschaft. Vor dem Abendhimmel, der sich in den großen Fensterfronten spiegelt, wirkt der Koloss fast filigran.
Durch einsetzende Korrosion hat die Auflösung begonnen, die Transformation hat begonnen und steht für den Umbruch und ein einsetzendes Umdenken im Umgang mit unserer Welt.

www.mogge-art.de

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2019/12/06

Das neue Bauhaus-Museum in Dessau

Dr. Christian G. Pätzold

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Das neue Bauhaus-Museum in Dessau an der Kavalierstraße.
Im Hintergrund links das Hauptpostamt, rechts die St. Johannis Kirche.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, November 2019.

Die Helle Panke in Berlin Prenzlauer Berg ist eine wunderbare Bildungseinrichtung unter dem Dach der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Hier können regelmäßig politische, gesellschaftliche und kulturelle Fragen von großer Wichtigkeit diskutiert werden. Lesenswert sind auch die zahlreichen Publikationen der Hellen Panke in Heftform. Insofern ist die Helle Panke vielleicht heute die einzige wahre Volkshochschule, die es in Berlin gibt. Die Helle Panke organisiert nicht nur Informationsveranstaltungen mit interessanten und kenntnisreichen ReferentInnen, sondern bietet auch von Zeit zu Zeit kulturelle Busexkursionen als Tagesfahrten an, bei denen Experten vor Ort referieren. Als es Mitte November zum neuen Bauhaus-Museum in Dessau/Sachsen-Anhalt ging, geleitet von Dr. Birgit Ziener, bin ich natürlich mitgefahren.

In Dessau gibt es vor allem 4 Dinge zu sehen:
Das neue Bauhaus-Museum in der Innenstadt, das im September 2019 eröffnet wurde.
Die historischen Bauhausgebäude von 1926, entworfen von Walter Gropius.
Die Meisterhäuser von Walter Gropius.
Und die Bauhaussiedlung und die Laubenganghäuser mit sozialen Wohnungen in Dessau-Törten.

Die Kunst- und Architekturhochschule Bauhaus (1919-1933) gehört zu den wenigen positiven Leistungen, die Deutschland im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Daher war es logisch, dass zum 100. Gründungsjubiläum 3 große neue Bauhaus-Museen in Weimar, in Dessau und in Berlin gebaut wurden, also an den drei Standorten des historischen Bauhaus. Es wurden viele Millionen Euro investiert, die gut angelegt sind, da es große Bauhaussammlungen gibt und viele Interessierte aus aller Welt in die Museen strömen. Das Bauhaus wurde 1919 in Weimar von Walter Gropius gegründet, wurde aber schon 1925 von den Konservativen und den Nazis vertrieben und musste nach Dessau umziehen, wo es 1932 von den Nazis vertrieben wurde und nach Berlin umziehen musste, wo es sofort endgültig von den Nazis geschlossen wurde.
Es ist interessant zu beobachten, wer heute alles große Reden über das Bauhaus schwingt, bspw. von der Bundesregierung, und sich die Verdienste des Bauhaus plötzlich auf das eigene Konto schreiben möchte. Dabei waren es genau Politiker dieser Couleur, die das Bauhaus damals schärfstens angefeindet haben und vernichten wollten. Das ganze ist eine üble Sache, aber es passiert oft in der Geschichte, dass schlechte Menschen etwas für sich stehlen möchten.

Und nun zum neuen Bauhaus-Museum in Dessau. Es handelt sich dabei um einen großen rechteckigen Kubus mit einer vollständigen Glasfassade, ganz im Sinn der Philosophie des Bauhaus. Der Entwurf für den Bau stammt von Roberto González, Anne Hinz, Arnau Sastre, Cecilia Rodriguez und José Zabala, fünf jungen addenda architects aus Barcelona. Das Erdgeschoss ist eine große lichtdurchflutete verglaste Freifläche mit Ticketverkauf, kleinem Café und kleinem Buchverkauf. An einem Ende befindet sich zudem ein Auditorium, in dem Vorträge gehalten werden können. Außerdem wird das Erdgeschoss für aktuelle Events genutzt.
Im Gegensatz zum hohen Erdgeschoss mit Tageslicht ist das Obergeschoss eine massive Black Box aus Beton ohne Fenster, in der die Bauhaus-Ausstellung mit mehr als 1.000 Exponaten gezeigt wird. Vielleicht hilft die Black Box dabei, sich auf die Ausstellungsstücke zu konzentrieren. Die Ausstellungsstücke jedenfalls machen den Besuch sehr lohnend, bspw. der Licht-Raum-Modulator von Moholy-Nagy. Im Ganzen betrachtet ist das neue Bauhaus-Museum in Dessau eine gute Architektur, die es sogar mit den beeindruckenden originalen Bauhaus-Bauten von Walter Gropius aus dem Jahr 1926 aufnehmen kann.

Am frühen Morgen, als wir in Berlin losfuhren, hat es noch geregnet und es war so richtig diesiger November. Als wir am Nachmittag die Bauhaus-Siedlung Dessau-Törten besichtigten, kam allerdings die Sonne heraus und der Himmel war blau. 1925 wurde Walter Gropius beauftragt, eine Reihenhaussiedlung dort im Süden von Dessau zu planen, denn die Wohnungsnot war damals groß. In der Siedlung Törten entstanden über 300 Reihenhäuser für Familien im Bauhaus-Design, mit großen Gärten für die Selbstversorgung mit Obst, Gemüse und Kleintieren. Der Preis für die Reihenhäuser mit Grundstück lag bei verhältnismäßig preiswerten 10.000 Reichsmark. In den Jahren 1929/30 entstanden dort noch Laubenganghäuser mit preiswerten Mietwohnungen, die vom zweiten Bauhaus-Direktor Hannes Meyer entworfen wurden.
In Dessau-Törten kann man deutlich sehen, wie die Bauhäusler und Walter Gropius sich für die Verbesserung der Lebenssituation der Arbeiter in den 1920er Jahren eingesetzt haben. Und wie sehr Walter Gropius die Idee der Gartenstadt (Garden City) am Herzen lag, also die Verbindung des Wohnens und Lebens mit und in der Natur, insbesondere mit angemessenen Gärten. Die nach Walter Gropius benannte Gropiusstadt in Berlin Neukölln aus den 1960er Jahren ist meilenweit von diesem Ideal entfernt.
Die Bauhaus-Gebäude gehören zum Weltkulturerbe der UNESCO und ich hatte den Eindruck, dass sich die Stadt Dessau darum kümmert. Umgekehrt wäre es auch unlogisch, denn die vielen Bauhaus-Touristen bringen viele Millionen Euro in die Stadt. Und so hat der gute alte Walter Gropius dafür gesorgt, dass Dessau heute noch floriert. Das zeigt, dass sich fortschrittliche Kunst und Ästhetik auch finanziell lohnen, ganz abgesehen von der Verschönerung des Lebens.

Seht bitte auch den Artikel "Walter Gropius: Die Meisterhäuser in Dessau" vom 2019/10/12 auf kuhlewampe.net.

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Der Licht-Raum-Modulator von Moholy-Nagy im neuen Bauhaus-Museum in Dessau.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, November 2019.

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2019/12/02

Wie waren die 10er Jahre so ?

Dr. Christian G. Pätzold

Die Digitalisierung der Bevölkerung ist in den 10er Jahren rasant vorangeschritten, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern. Dadurch haben sich viele Veränderungen in der Gesellschaft und in der Psyche ergeben. Die Menschen haben heute in Deutschland normalerweise ein Smartphone, das ist der wichtigste Gegenstand in ihrem Leben. Das Smartphone halten sie idealerweise den ganzen Tag in der Hand und sie starren unermüdlich auf dessen Display, um keine entscheidende Botschaft aus der Unendlichkeit des Internets zu verpassen. Durch das Smartphone hat das Telefonieren etwas nachgelassen, stattdessen werden viele Kurztexte gezwitschert und Bilder (gerne Selfies) versendet. Etwas sinnvoll Substantielles wird mit dem Smartphone meist nicht gemacht. Es dient vielmehr der wichtigen psychologischen Selbstvergewisserung, dass man irgendwie mit anderen Menschen verbunden ist und dass man noch existiert. Ich bin im Internet, also bin ich.
Sogar schon kleine Kinder verbringen heutzutage die meiste Zeit des Tages vor dem Bildschirm und betrachten hektische Trollfilme oder spielen alberne Computerspiele. Ich weiß nicht, ob das so gut ist.
Auch ich bin in den 10er Jahren nicht um die Fortschritte in der Digitalisierung der Gesellschaft herumgekommen. 2010 habe ich meine Homepage im WWW gestartet, 2015 dann diesen Blog kuhlewampe.net. Dadurch habe ich einige Entwicklungen des Computerzeitalters hautnah miterleben können.
Mit der Digitalisierung entstand in den 2010er Jahren eine ganz neue Wirtschaft, die Digitalwirtschaft, die mit Computern und dem Internet arbeitet. Die Kunden bestellen ihre Waren häufig von zu Hause aus über das Internet und lassen sich die Waren als Pakete zustellen. Da die zugestellten Waren oft nicht gefallen, werden sie häufig zurückgeschickt, was noch mehr CO2-Ausstoß produziert.
Der Mensch kann heute alles digital bestellen. Er muss nur noch von seinem Bett im Schlafzimmer zur Wohnungstür laufen, um die Waren in Empfang zu nehmen. Dadurch gehen viel weniger Menschen in die Geschäfte. Die neuen Digitalunternehmen, die diese Dienstleistungen anbieten, sind häufig von jungen Leuten als Start-ups gegründet worden. So sind viele neue Unternehmen mit vielen neuen Arbeitsplätzen entstanden, die allerdings oft noch prekär sind. Einige dieser Start-ups sind allerdings schon zu Milliarden-Unternehmen geworden, zum Beispiel in den USA und in China.
Es ist schon absehbar, dass das Internet nicht so bleiben wird, wie es jetzt ist, als offenes Netz, das die ganze Welt umfasst. Dazu sind die Interessen einzelner Staaten und Großmächte zu unterschiedlich. Gegenwärtig saugen bestimmte Geheimdienste nahezu alle Daten der gesamten Welt ab. Big Data. Spionage und Sabotage. China hat schon reagiert und sich vom Internet abgekoppelt und ein eigenes Intranet aufgebaut, das nur bestimmte Daten ins Land herein lässt und aus dem Land heraus lässt. Russland ist gerade dabei, ein eigenes Intranet aufzubauen. Und auch die Länder in Europa werden über kurz oder lang nicht daran vorbeikommen, eigene Intranets aufzubauen, wenn sie nicht zum Opfer von Cyberangriffen und Sabotage werden wollen. So ist leider die Realität.
Noch ein aktuelles Problem des Internets: Cyberkriminelle breiten sich immer mehr aus. Es scheint so zu sein: Kaum gibt es einen neuen Bereich der Gesellschaft, dann kommen schon die Kriminellen angeschlichen und wollen ihre Mitmenschen schädigen. Die Digitalisierung hat aber nicht nur negative Folgen wie den Überwachungskapitalismus gebracht, sondern auch zu einer großen Zunahme der Wissensmöglichkeiten für viele Menschen geführt.
Die Digitalisierung der Gesellschaft war zwar eine wichtige Entwicklung in den 2010er Jahren. Aber noch wichtiger waren die zunehmende Vermüllung der Erde und die damit verbundene Erderwärmung. Der Zeitpunkt ökologischer Kipppunkte rückt rasch näher. Dann sieht es wirklich zappenduster aus. Ein nachhaltiges Leben wäre notwendig gewesen. Das wissen wir schon seit 1972 (!), seit dem Buch »Die Grenzen des Wachstums« des Club of Rome.
In diesem Jahr haben Fridays For Future, Extinction Rebellion und Ende Gelände gezeigt, dass die Jugend noch nicht komplett eingeschläfert ist.

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2019/11/30

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2019/11/27

Tipp vom Bioobst-Gärtner: Weintrauben

Dr. Christian G. Pätzold

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Weintraube der Sorte "Bellarosso". Fotografiert von Ella Gondek.


Ich bin kein großer Weintrinker, da mir der Alkoholgeschmack meist nicht so gut gefällt. Aber ich esse gern frische Weinbeeren und auch Rosinen und trinke gern Traubensaft. Außerdem ist der Wein eine interessante Pflanze, die man dabei beobachten kann, wie sie sich nach allen Richtungen rankt und dabei mit ihren Rankfingern Halt findet. Auch seine Blätter sind sehr dekorativ und können sogar gegessen werden, wie in Griechenland als mit gekochtem Reis gefüllte Weinblätter in Olivenöl. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Weinstöcke schon seit vielen Jahrhunderten von Menschen gepflegt wurden.
Es ist allgemein bekannt, dass Weintrauben (Vitis vinifera) sehr schmackhafte und gesunde Früchte sind. Daher lohnt es sich, einen Weinstock zu pflanzen, wenn man ein kleines sonniges und windgeschütztes Plätzchen hat. Das ist auch ökologisch, denn Weintrauben, die mit dem Flugzeug um die halbe Erde fliegen, vielleicht von Süd-Afrika oder Chile nach Deutschland, schaden nur der Umwelt. Außerdem sind die gekauften Trauben vom Supermarkt oft mehrmals chemisch gespritzt. Ein Weinstock vom Gärtner ist nicht so teuer und kann schon für etwa 10 bis 20 Euro erworben werden. Dieses Geld hat man durch die geernteten Trauben nach ein paar Jahren wieder eingespart. Außerdem kann man sich am Anblick der schönen Weinblätter und Trauben erfreuen.

Beim Wein gibt es zahlreiche Rebsorten, die inzwischen aufgrund der Erderwärmung auch das nördliche Berliner Klima gut aushalten und die nicht sehr krankheitsanfällig sind. Man sollte bei der Auswahl der Weinsorte aber bedenken, dass es stark wüchsige Sorten und schwach wüchsige Sorten gibt. Stark wüchsige Sorten wie etwa "Venus" ranken viele Meter weit und eignen sich gut, wenn man etwa eine größere Hauswand auf der Südseite begrünen will. Wenn man nur wenig Platz hat, eignen sich schwach wüchsige Sorten wie etwa "Bellarosso". Diese Sorte ist sehr dekorativ, da sie zeitweilig grüne, gelbe und rote Beeren an der Weintraube hat. Bellarosso hat zwar Beeren mit Kernen, aber dafür sind die Beeren honigsüß. Kinder, die über Kerne in Beeren mäkeln, sind meiner Meinung nach schon zu verwöhnt. Die Erntezeit von Bellarosso beginnt in heißen Sommern bereits ab Anfang August.
Am besten pflanzt man den Weinstock im zeitigen Frühjahr vor dem Blattaustrieb, wenn der Boden frostfrei ist. In den ersten 3 Jahren muss man den jungen Weinstock regelmäßig gießen, bis sich die langen Wurzeln bis zum Grundwasser vorgearbeitet haben. Ansonsten ist auch noch etwas Bindearbeit nötig, denn die Weinranken müssen meist irgendwo festgebunden werden, entweder an einer Wand oder an einem Rankgerüst. Ansonsten ist ein Weinstock recht anspruchslos und produziert trotzdem köstliche Früchte. Bei der Sorte Bellarosso reicht auch ein Weinstock aus, denn die Sorte ist selbstbefruchtend.

Auch die Vögel, die Bienen und die Wespen und die Weinfliegen mögen die reifen Trauben sehr. Daher kann man seine Trauben schützen, indem man ab Anfang Juli luft- und lichtdurchlässige Organzabeutel über die Trauben zieht, oder jedenfalls über die meisten Trauben. Wenn man nur einen oder zwei Weinstöcke hat, ist das keine große Arbeit. Dann hat man eine schöne Weinernte. Die Organzabeutel sind mehrfach verwendbar. Andernfalls werden die leckeren Weintrauben leider komplett von der Tierwelt verspeist.
Es kann auch notwendig sein, die Weinstöcke im zeitigen Frühjahr mit einem Vogelschutznetz zu überdecken, denn einige Vögel betrachten die anschwellenden Weinknospen als Delikatesse.

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2019/11/24

Josef Hartwig: Das Bauhaus Schachspiel, 1923


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Zum 100. Jubiläum des Bauhaus. Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold.

Das Bauhaus-Schachspiel von Josef Hartwig (1880-1955) aus dem Jahr 1923 gehört zu den Design-Ikonen des Bauhaus, die noch heute produziert und gekauft werden. Das liegt zum einen daran, dass dieses Schachspiel eine Verkörperung der Bauhausphilosophie ist, zum anderen daran, dass die Gemeinde der Schachspieler noch immer sehr groß ist. Schon 1923 wurde das Schachspiel in verschiedenen Versionen verkauft, und zwar zu Preisen, die für Normalbürger bei weitem zu hoch waren. Und auch heute noch ist der Preis des Bauhaus-Schachspiels sehr hoch, die Verarbeitung der Hölzer ist allerdings edel.
Der geniale Entwurf des Schachspiels besteht darin, dass die traditionellen Figuren zum einen auf geometrische Körper reduziert sind, also so einfach wie möglich gestaltet sind. In einem zweiten Schritt sind die Zugeigenschaften der Figuren an ihren Formen ablesbar: Die Türme sind einfach Kuben, weil sie nur horizontal und vertikal bewegt werden können. Die Läufer bestehen aus sich kreuzenden Diagonalen, da sie nur diagonal bewegt werden können. Die Springer ziehen im Zick-Zack. Damit sind die Schachfiguren eine Verkörperung des Bauhausprinzips, dass die Form der Funktion folgen müsse (Form Follows Function).
Josef Hartwig war ein ausgebildeter Bildhauer, der aus München stammte. Von 1921 bis 1925 war er Werkmeister in der Stein- und Holzbildhauerei am Bauhaus in Weimar. Nachdem das Bauhaus 1925 in Weimar unter dem Druck der rechten Regierung in Thüringen geschlossen war, verließ er das Bauhaus und ging an die Frankfurter Kunstschule, wo er bis 1945 Bildhauerei unterrichtete. Er gehörte zu den rechts orientierten Lehrern am Bauhaus in Weimar, die den Umzug nach Dessau nicht mitmachten. Während des 3. Reiches war er Mitglied der NSDAP: Er starb 1955 in Frankfurt am Main.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/11/21

Extinction Rebellion


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Extinction Rebellion Straßen-Sit-In vor dem Bundesumweltministerium
in der Stresemannstraße in Berlin. 12. Oktober 2019.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.
extinctionrebellion.de


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2019/11/18


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© Wolfgang Weber, November 2019.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors dem Gedichtheft entnommen:
Wolfgang Weber: Haus & Strasse. Mit Fotos von luke sonnenglanz.
Berlin 2019, kleine welten verlag.

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2019/11/15


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2019/11/12


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2019/11/09

1989 annus horribilis
The commemoration machine is going into overdrive


mauerfall


30 Jahre ohne Mauer ?

Ich habe den 9. November 1989 auf dem westberliner Kurfürstendamm erlebt. Damals wohnte ich mehr zufällig in der Nähe des Kudamms, in der Pfalzburger Straße. Der Kudamm war und ist immer noch der westberliner Prachtboulevard mit breiten Bürgersteigen unter Platanen und mit teuren Luxusgeschäften. Zu Mauerzeiten war der Kudamm nicht so stark bevölkert und man konnte dort gut spazieren gehen, um etwas frische Luft zu schnappen. An jenem trüben 9. Novemberabend aber war der Kudamm plötzlich rappelvoll mit Menschen, die irgendwie anders, blass und abgekämpft im Gesicht aussahen und recht graue Kleidung trugen. Es waren DDR-Bürger, die durch die plötzlich geöffnete Berliner Mauer nach Westberlin in Scharen gedrängt waren und mir entgegen kamen. Es schien so, als ob sie auf dem Kudamm herausfinden wollten, ob der Kapitalismus wirklich so schön bunt war, wie sie es im Westfernsehen gesehen hatten. Der Kudamm war der Ort der Sehnsüchte, zu dem die Ost-Berliner strömten, an jenem Donnerstag, in jener Nacht des 9. auf den 10. November 1989.
Es war nicht so, dass ich die DDR-Bürger überschwänglich umarmt hätte und gesagt hätte: "Liebe Brüder und Schwestern! Schön, dass ihr endlich frei seid und auf dem Kudamm spazierengehen könnt!" Ich habe sie nur mit einer neutralen Einstellung beobachtet, mit einem Gefühl der Interessiertheit.
Natürlich war das modische Warenangebot ein großer Magnet. In der DDR waren modische Artikel Mangelware. Wenig später wurde dann ein Begrüßungsgeld von 100,- D-Mark an die DDR-Bürger ausgezahlt, das sofort für Westwaren ausgegeben wurde. Frauen kauften sich davon oft ein Paar modische Schuhe, Pumps genannt, das war ein Grundbedürfnis. Oder 1 Pfund Nutella. Männer bevölkerten eher die Kneipen und die Pornoshops. Wahrscheinlich schmeckte sogar das kapitalistische Bier besser.
Auf dem Kudamm fokussierten sich der Zusammenbruch der DDR, der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Zusammenbruch des Rest-Sozialismus. Das war schon eine krachende Zäsur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ost-Deutschland hat sich in den letzten 30 Jahren sehr verändert, nicht nur äußerlich, sondern auch mental. Der Kudamm dagegen ist seltsam unverändert geblieben. Dort gibt es immer noch die Luxusgeschäfte, in denen 99 % der Bevölkerung nicht einkaufen können. Bulgari, Gucci, Cartier, Prada, Chanel, Dolce & Gabbana usw. Der Kudamm war die schöne Illusion der Elysischen Felder, für die die Leute abgestimmt haben, mit dem KaDeWe als oberstem Tempel des Paradieses.

Am 10. November 1989 abends war ich bei dem großen Auflauf vor dem Rathaus Schöneberg, das damals der Sitz des westberliner Parlaments war. Auf der Treppe vor den Mikrofonen standen Bundeskanzler Helmut Kohl von der CDU, Außenminister Hans-Dietrich Genscher von der FDP, Willy Brandt von der SPD, der Regierende Bürgermeister von West-Berlin Walter Momper von der SPD und weitere Politprominente. Ich stand in einer großen Gruppe von Sympathisanten der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL), die damals noch halbwegs links war und Teil der westberliner Regierung. Als Helmut Kohl sprach, übertönten die Pfiffe und Buhrufe sein Mikro. Wir wollten kein vereinigtes Helmut-Kohl-Deutschland, das war klar. Aber genau das ist 1990 passiert, mit tatkräftiger Unterstützung der ostdeutschen WählerInnen. Helmut Kohl hat mit D-Mark-Scheinen gewedelt und sie haben ihn gewählt.

Viele sind 89 auf die Mauer geklettert, denn die Grenzsoldaten haben ja nicht mehr geschossen. Ein paar Tage nach dem 9. November habe ich mich am Brandenburger Tor als "Mauerspecht" betätigt, wie viele andere auch, das war damals Mode. Mit einem Schraubenzieher und einem Hammer ausgerüstet habe ich kleine Betonstückchen aus der Mauer gemeißelt. Die Betonstückchen der Berliner Mauer wurden ein beliebtes Souvenir der Touristen. Meine Betonstückchen habe ich noch ein paar Jahre aufgehoben und sie sind dann irgendwo verschwunden.
Als anti-faschistischer Schutzwall war die Mauer ja eigentlich gar nicht so schlecht, verglichen mit heutigen Zeiten. Aber nachdem die DDR zusammengebrochen war, weil die Sozialisten keine Mehrheit hatten und nicht mehr von der Sowjetunion unterstützt wurden, konnte man die Mauer ruhig als Mauerspecht bearbeiten. Ich war allerdings dagegen, die Mauer komplett abzureißen. Mir wäre es lieber gewesen, die Mauer wäre als historisches Denkmal stehen geblieben.
"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", das war die Drohung von Gorbatschow an alle Sozialisten in ganz Ost-Europa. Aber auch wer zu früh kommt, den bestraft das Leben. Man muss halt zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und das Richtige tun. Der Kopf muss beweglich bleiben.

Damals war mir schon klar, dass für Berlin eine neue Zeitrechnung anbrechen würde, dass Berlin größer geworden war und bedeutender. Die Abstimmung im Bundestag für Berlin als Hauptstadt und Sitz des deutschen Parlaments und der Regierung war dann aber sehr knapp ausgefallen, eine echte Zitterpartie, denn viele Politiker wollten lieber im gemütlichen Bonn am Rhein bleiben und dort ihren Weinschoppen trinken. Danach dauerte es einige Jahre, bis immer mehr Menschen nach Berlin zogen. Die Zahl der Berlintouristen erreichte immer neue Millionenrekorde. Die Baukonjunktur brauchte so um die 25 Jahre, um in Schwung zu kommen. Heute wächst Berlin, immer mehr Menschen wollen nach Berlin umziehen und die Konkurrenz um Wohnungen und Flächen nimmt zu. Berlin hat sich sogar schon einen recht wohlhabenden Speckgürtel zugelegt.
Und die Menschen? Nach 30 Jahren sind die DDR-Bürger äußerlich kaum mehr von den Wessis unterscheidbar, aber innerlich, zumindest die alten haben ihre ganz spezielle Ossi-Identität behalten, und vielleicht auch etwas Ostalgie. Das hat auch einiges mit der Art des Vereinigungsprozesses in den letzten 30 Jahren zu tun: Privatisierung der DDR-Betriebe, Treuhandanstalt, Abwicklung der Industrie, Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland, Gezwungensein, nach Westdeutschland wegen der Arbeitsplätze abzuwandern, Entwurzelung. Lebensunsicherheit wohin man blickt. Auch das hat die Rechtsextremisten im Osten gefüttert und groß gemacht.

Auch bei mir hat sich irgendwie die Mauer im Kopf festgesetzt. Wenn man fast 70 Jahre in Berlin gelebt hat, dann hat man verschiedene Zeiten mitgemacht. Zeiten ohne Mauer nach dem Zweiten Weltkrieg, Zeiten mit Mauer, und wieder Zeiten ohne Mauer und als Hauptstadt. Die Mauer stand insgesamt 28 Jahre von 1961 bis 1989. Mittlerweile steht sie seit 30 Jahren nicht mehr. Sie wurde abgerissen und abtransportiert. Aber was weg ist, ist im Kopf noch lange nicht weg. Der psychologische Fachausdruck dafür ist Hysterese. Irgendwie will die Mauer aus meinem Kopf nicht raus.
Es ist so, als ob sich die Mauer in allen möglichen Synapsen meines Gehirns festgesetzt hätte. Wenn ich irgendwo bin oder hinfahre, sagen mir die grauen Zellen, jetzt bist du auf der anderen Seite der Mauer, jetzt bist du in Ost-Berlin, jetzt bist du in West-Berlin. Ich stelle mir vor, dass die zugewanderten Schwaben im Prenzlberg dieses Problem nicht haben. Bei mir ist es wohl schon zwanghaft. Ich kann mich nicht davon befreien.
Ich wüsste gern, ob andere Menschen diese Mauer-Psychose auch haben. Die Mauer gibt es ja in Wirklichkeit gar nicht mehr, bis auf ein paar kümmerliche Reste. Ich habe mich früher öfter gefragt, warum Leute Dinge in ihrem Kopf haben, die es gar nicht gibt, bspw. Feuer spuckende Drachen. Seit der Phantommauer in meinem Kopf kann ich sie etwas besser verstehen.

© Dr. Christian G. Pätzold, November 2019.

Im Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg gibt es die sehenswerte Foto-Ausstellung:
Stefan Moses - Abschied und Anfang. Ostdeutsche Porträts 1989-1990.

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2019/11/05

100 Jahre Volkshochschule (VHS) in Deutschland
Warum aus einer guten Idee oft nichts geworden ist
10 Thesen

Dr. Christian G. Pätzold

Die Volkshochschule in Deutschland ist im Wesentlichen ein Kind der Novemberrevolution von 1918. Nachdem der feudalistische Spuk des Kaiserreichs beseitigt war, konnte man daran gehen, etwas für die wissenschaftliche und politische Bildung des Volkes zu tun. Es gründeten sich zahlreiche Bildungsinitiativen. Wissenschaftliche Bildung sollte nicht nur etwas für privilegierte Jugendliche und für Reiche sein, sondern allen Menschen offen stehen. Auch in der Fläche des Landes sollte wissenschaftliche Bildung weitergegeben werden. Außerdem war Lebenslanges Lernen eine gute Idee. Darum sollten die Gemeinden Volkshochschulen einrichten, um für die Bevölkerung Bildung anzubieten. Soweit die Theorie.
Aber was ist nach 100 Jahren in der Praxis daraus geworden? Man fragt sich vielleicht, wie es sein kann, dass eine Hochschule des Volkes heutzutage Nähkurse für Küchenschürzen und Fußpilzberatung anbietet. Wie es dazu kam, war ein langer Prozess der Dummheit und Verdummung der Bevölkerung, der von den entscheidenden Politikern aus dem bürgerlichen und dem völkischen Lager in den letzten 100 Jahren betrieben wurde. Dazu 10 Thesen:

These 1
Auf kommunaler Ebene tummeln sich die bildungsfernsten Politiker und Opportunisten. Es wäre etwas besser gewesen, die Kompetenz für die Hochschulbildung des Volkes auf die Bundesländer zu übertragen.

These 2
Die Kommunen in Deutschland werden oft von besonders rückschrittlichen Kräften beherrscht, denen die Bildung des Volkes grundsätzlich zuwider ist. Die Leute sollen bitte weiter schön dumm bleiben, dann kann man sie besser manipulieren.

These 3
Posten bei den Volkshochschulen werden häufig mit ParteifreundInnen besetzt, die versorgt werden sollen, nicht nach Kompetenz. Es wäre besser, wenn nur kompetente WissenschaftlerInnen in den Volkshochschulen arbeiten dürften.

These 4
Die Kommunen haben meist eine klamme Kasse. Daher wird zuerst an den freiwilligen Ausgaben gespart, wie den Ausgaben für die Volkshochschule. Daher wäre es besser, wenn ein fester Prozentsatz des Landeshaushalts für die Volkshochschulen festgeschrieben würde.

These 5
Die Lehrkräfte an den Volkshochschulen erhalten heutzutage oft ein Hungerhonorar, von dem niemand leben kann. Durch diese Ausbeutung werden natürlich viele Lehrkräfte davon abgeschreckt, ihr Wissen weiterzugeben.

These 6
Inhaltlich muss sich eine Volkshochschule an wissenschaftlichen Themen orientieren und wissenschaftliche Fächer anbieten. Ohne wissenschaftlichen Anspruch ist der Name Volkshochschule ein übler Etikettenschwindel.

These 7
Die Bevölkerung wird gegenwärtig durch hohe Kursgebühren vom Besuch der Veranstaltungen abgeschreckt, da die Kommunen ihre Zuschüsse minimieren wollen. Bildung ist aber wichtig und sollte kostenlos angeboten werden.

These 8
Jede Volkshochschule sollte ihr eigenes Haus in zentraler verkehrsgünstiger Lage mit ausreichend Räumen für die Veranstaltungen haben, inklusive Café, Bibliothek und Aula.

These 9
In jedem Bundesland sollte es zusätzlich eine Heimvolkshochschule geben, mit Übernachtungsmöglichkeiten für längere Seminare über mehrere Tage. Es sollten auch Bildungsreisen und wissenschaftliche Busexkursionen angeboten werden.

These 10
Die Volkshochschule wird nie etwas Angemessenes werden, wenn die Bildung der Bevölkerung nicht flächendeckend zur Nr. 1 Priorität gemacht wird, und nicht aus den Klauen bildungsferner Politiker befreit wird. Dabei könnte es so schön sein: Die Volkshochschule als Kulturzentrum vor Ort.

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2019/11/02

Original Bauhaus
Ausstellung in der Berlinischen Galerie bis 27. Januar 2020

Dr. Christian G. Pätzold

originalbauhaus
Blick in die Ausstellung "Original Bauhaus" in der Berlinischen Galerie.
Im Vordergrund der Stahlrohrsessel Wassily von Marcel Breuer, 1926.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, September 2019.

Zum 100. Jubiläum des Bauhaus hatten sich die Berliner Museen gut koordiniert und einige erfreuliche Ausstellungen auf die Beine gestellt. Den Anfang im Frühjahr machte die Ausstellung "Von Arts and Crafts zum Bauhaus" im Bröhan Museum (siehe 2019/03/22 auf kuhlewampe.net), in der die kunsthistorische Vorgeschichte des Bauhaus, von William Morris zu Walter Gropius, gezeigt wurde. Dann folgte die große Ausstellung "bauhaus imaginista" im Haus der Kulturen der Welt (siehe 2019/03/28 auf kuhlewampe.net), die die Nachwirkungen des Bauhaus bis heute an zahlreichen Objekten demonstrierte. Und nun zum Abschluss des Jahres folgt die Ausstellung "Original Bauhaus" des Bauhaus Archiv Berlin. Die Ausstellung findet in der Berlinischen Galerie in der Alten Jakobstraße in Berlin Kreuzberg statt, da das Bauhaus Archiv gerade renoviert wird.
Anhand von vielen Bauhaus-Originalen, wie etwa den Stahlrohrsesseln von Marcel Breuer oder den Fotogrammen von László Moholy-Nagy, wird die innovative Kraft der Bauhaus-Künstler gezeigt. Es gibt viel zu entdecken. Die Originale stammen überwiegend aus dem Bauhaus Archiv Berlin, das die größte Sammlung weltweit zum Bauhaus besitzt.
Die Ausstellung in der Berlinischen Galerie ist leider sehr beengt und wenig großzügig aufgestellt, obwohl größere Ausstellungsräume zur Verfügung gestanden hätten. Sehr schade. Stattdessen werden in den großen Ausstellungshallen gleichzeitig zerbeulte Blechstangen ausgestellt. Die Präsentation der Ausstellungsstücke ist jedenfalls ihrer internationalen Bedeutung gar nicht angemessen. Der hohe Eintrittspreis ist außerdem für ein Landesmuseum eine Unverschämtheit. Der Berliner Kultursenator macht eine schlechte Politik, weil sich viele Menschen den Eintrittspreis nicht leisten können. Was für einen Sinn machen Kunstausstellungen, deren Eintrittspreise die Menschen vom Besuch abschrecken? Wenn man mit der Kultur etwas glänzen möchte, dann muss man sie auch richtig präsentieren.

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2019/10/31

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2019/10/27

Buchtipp:
Herman Melville: »Bartleby, the Scrivener«
oder der schwierige Kampf mit der Entfremdung

Dr. Christian G. Pätzold

bartleby
Occupy Wall Street. Protestschild, 28. September 2011.
Quelle: Wikimedia Commons.

Herman Melville hatte am 1. August 200. Geburtstag, denn er wurde am 1. 8. 1819 in New York City geboren. Bekannt ist er vor allem durch seinen Roman »Moby-Dick«, einen Walfang-Klassiker, den kaum jemand gelesen hat. Interessant ist aber auch seine Erzählung »Batleby, the Scrivener« von 1853.
Die Erzählung von Herman Melville handelt von einem Kopisten namens Bartleby in einer New Yorker Kanzlei an der Wall Street um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Kopist war damals ein häufiger Beruf, denn es mussten viele Schriftstücke und Rechtsurkunden von Hand abgeschrieben werden. Um 1850 waren Schreibmaschinen noch nicht im allgemeinen Einsatz. Auch Kopiermaschinen gab es noch nicht. Aktenkopist war ein anspruchsvoller Beruf, denn jedes Wort und jedes Komma mussten stimmen. Andererseits war das Kopieren von Rechtsurkunden eine "sprichwörtlich trockne, langweilige Art Tätigkeit", wie Melville schreibt.
Zunächst erledigte Bartleby die Aufgaben, die ihm sein Chef auftrug. Aber bald verweigerte er sich immer mehr einzelnen Tätigkeiten, wobei er stereotyp den Satz "Ich möchte lieber nicht" ("I would prefer not to") sprach. Das führte schließlich bis zur totalen Arbeitsverweigerung. Sein gutmütiger Chef ließ ihn trotzdem gewähren, nachdem Bartleby auch seiner Kündigung widersprochen hatte. Mit der Zeit richtete sich Bartleby in der Kanzlei häuslich ein. Sein Chef sah nur den Ausweg, mit seiner Kanzlei umzuziehen und Bartleby die Geschäftsräume komplett zu überlassen. Bis dahin hat die Geschichte noch komische Elemente.
Mit kapitalistischer Entfremdung wird im Marxismus der Zustand der Lohnarbeiter bezeichnet, die für einen fremden Zweck des Unternehmers arbeiten müssen. Die Lohnarbeiter sind danach nicht frei, ihre Arbeiten selbst zu wählen, sondern sie werden ihnen vorgegeben. Dadurch steht die Arbeit dem arbeitenden Menschen als etwas Fremdes gegenüber, daher das seltene Wort Entfremdung. Die Kritik an der Entfremdung im Kapitalismus war ein wesentlicher Baustein der sozialistischen Theorie von Karl Marx. Daher sind im Sozialismus auch selbstverwaltete Betriebe vorgesehen. Was Bartleby betrifft, so war seine nervtötende Büroarbeit mit Sicherheit entfremdet.
Bartlebys Verhalten wurde oft mit dem seines Zeitgenossen Thoreau verglichen. Henry David Thoreau musste 1846 einen Tag im Gefängnis verbringen, weil er sich geweigert hatte, seine Steuern zu bezahlen, aus Protest gegen die Sklaverei in den USA und gegen den Mexiko-Krieg. Aber Bartlebys Verhalten war kein ziviler Ungehorsam (Civil Disobedience) wie bei Thoreau, denn ziviler Ungehorsam richtet sich immer gegen Aktionen des Staates. Thoreau hatte es so arrangiert, dass jemand für ihn die Steuer nach einem Tag bezahlte, so dass er wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde. Aber durch seine 1tägige Haft wurde er zu einem internationalen Märtyrer und zum großen Vorbild für Mahatma Gandhi, den die Briten allerdings wesentlich länger einsperrten.
Die Verweigerungshaltung von Bartleby gegenüber der nervtötenden, stumpfsinnigen Büroarbeit war ein Anlass für die Occupy-Wall-Street-Bewegung in New York, ihn zu einem anti-kapitalistischen Vorkämpfer zu erheben. Melvilles Erzählung wurde 2011 sogar öffentlich im Zuccotti Park vorgelesen. Aber Bartleby landete schließlich im Gefängnis, wo er das Essen verweigerte und starb. Eine direkte anti-kapitalistische Kampfhandlung kann man bei ihm nicht entdecken. Bartleby fand sein Ende in den berüchtigten Tombs in Manhattan. "The Tombs" (Die Gräber) ist der Spitzname des Gefängnisses von New York City.
Handeln die Personen in Melvilles Erzählung nach unergründlichen Motiven? Ich denke nicht. Bartleby war kein Klassenkämpfer, sondern litt eher an einer schweren Depression (vielleicht teilweise verursacht durch seine entfremdete Arbeit), die ihn zum Nichtstun und schließlich zum Suizid trieb. Das scheint mir nach allem, was Melville erzählt, die wahrscheinlichere Diagnose zu sein.
Das Bartleby-Syndrom zeigt sich heute in den Tausenden von hilflosen und orientierungslosen Obdachlosen auf den Straßen von Berlin. Die Bartlebys von heute landen nicht mehr im Gefängnis, sondern auf der Straße. Der Staat spart Kosten.
Insgesamt ist »Bartleby, the Scrivener« ein schönes Stück Weltliteratur, das sich lohnt zu lesen. Eine Verfilmung von »Bartleby, the Scrivener« kann bei YouTube angeschaut werden.

Übersetzungen von Literatur aus einer anderen Sprache sind immer so eine Sache. Feinheiten und Wortspiele gehen oft verloren. Am besten man liest sie in der Originalsprache. Nur leider versteht man nicht alle Sprachen. Die folgende Übersetzung scheint mir aber gelungen zu sein:
Herman Melville: Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall Street. (Bartleby, the Scrivener, A Story of Wall-Street, 1853).
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Jürgen Krug.
Frankfurt am Main und Leipzig 2004. insel taschenbuch 3034. 100 Seiten.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2019.


Dr. Hans-Albert Wulf
Nachtrag zum Aufsatz über Bartleby oder die regressive Verweigerung


Die Erzählung »Bartleby der Schreiber« von Herman Melville aus dem Jahre 1853 handelt von einem Menschen, der nicht mehr mitspielen möchte und seine Aktivitäten als Büroangestellter bis hin zur eigenen Selbstaufgabe immer mehr reduziert. In der Literatur gibt es nur wenige Gestalten, die es mit Bartleby aufnehmen können. Möglicherweise gehört zu ihnen Oblomow aus dem gleichnamigen Roman von Iwan Gontscharow. In seinem trägen Leben, das er meist auf dem Sofa verbringt, steht die Lebensangst im Focus.
Und wie steht es mit Kafkas "Hungerkünstler"? Auch der verkümmert in seinem 40tägigen Fasten ebenfalls immer mehr zu einem Gerippe und schließlich verendet und stirbt er. Er hat dabei allerdings ein Ziel vor Augen: Seine Hungerkunst auf einen neuen Gipfel hinaufzuführen. Bartleby befindet sich mithin in bester Gesellschaft. Er ist der Antiheld par excellence. So wie er von seinem Autor Melville beschrieben wird, ist er eine recht kümmerliche Existenz, die immer mehr in sich hineinkriecht.
Wie kommt es aber, dass vor einigen Jahren die Occupy-Wallstreet-Bewegung in den USA ihn aufs Podest gehoben hat? Ist Bartleby etwa ein Vorkämpfer der "großen Verweigerung", wie sie einst der Philosoph Herbert Marcuse ausgerufen hatte? Für den französischen Philosophen Gilles Deleuze ist Bartleby "eine Art Held der Postmoderne, der sich weigert, ein Rädchen im Getriebe großer Systeme und Weltentwürfe zu sein:" Er sei "...der von den großen Metropolen niedergedrückte und mechanisierte Mensch, von dem man indes vielleicht erwartet, dass aus ihm der zukünftige Mensch oder eine neue Welt hervorgeht." So kann man es jedenfalls in Wikipedia nachlesen. Ist er ein Vorläufer der "Subversiven Aktion" oder doch eher nur ein sanfter Verweigerer in der Manier der Figuren von Robert Walser?

Ganz zweifellos befindet sich Bartleby in einer bemitleidenswerten extrem entfremdeten Arbeitssituation, wie sie von Marx beschrieben worden ist (vgl. MEW Ergänzungsband Berlin 1968, S. 510ff.). Entfremdung in dreierlei Hinsicht:
1. Seine Arbeitssituation ist fremdbesimmt. Er kann also die Bedingungen seiner Arbeit nicht selbst bestimmen.
2. Er hat keinen Einfluss darauf, was produziert wird. Die Inhalte seiner Tätigkeit bleiben ihm vollkommen äußerlich. (Produktebene)
3. Und schließlich hat er keine Verfügung darüber, was mit den produzierten Waren geschieht.

Wenn nun aber Bartleby als Vorbote antikapitalistischen Widerstands verklärt und gefeiert wird, so geht dies meines Erachtens an der Geschichte von Melville vorbei. Marx unterscheidet bekanntlich zwischen der "Klasse an sich" und der "Klasse für sich". Klasse an sich bedeutet, dass Menschen unter den gleichen objektiven kapitalistischen Bedingungen arbeiten, ohne diese aber durchschaut zu haben. Klasse für sich bezeichnet bei Marx dagegen den Zustand, in dem die Lohnabhängigen gelernt haben, das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis als kollektives Schicksal zu durchschauen und sich dagegen aufzulehnen. Und dies ist bei Bartleby überhaupt noch nicht der Fall. Von Gesellschaftskritik ist hier noch nichts zu erahnen, bestenfalls handelt es sich um eine verlarvte Form nach innen gerichteter regressiver Verweigerung.

© Dr. Hans-Albert Wulf, November 2019.

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2019/10/24

Dr. Hans-Albert Wulf
Vom Höllenfürst zum armen Teufel - Gedanken zu einer Sozialgeschichte des Teufels

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Lucas Cranach der Ältere: Tod und Teufel jagen den Menschen auf einem steinigen Weg, der in den Abgrund führt, 16. Jahrhundert.
Quelle: Wikimedia Commons.


Ich beginne mit einem Satz von Wilhelm Busch: "Das Gute - dieser Satz steht fest - ist stets das Böse, das man lässt." (Wilhelm Busch, Die fromme Helene) Die Sünden und Laster aufs Korn zu nehmen, ist allemal wirkungsvoller, als das moralisch Gute und die Tugenden zu beschreiben oder auszupinseln. So haben die Kirchen denn auch beispielsweise weniger den Fleiß und die Arbeitsamkeit gepredigt, als vielmehr den Teufel an die Wand gemalt und vor den schrecklichen Folgen der Faulheit und des Müßiggangs gewarnt. Seit dem 16. Jahrhundert entwickelte sich eine Koexistenz von zwei miteinander verwobenen Teufelsvorstellungen.

1. Der traditionelle Teufel. Der allmächtige Höllenfürst und universelle Herrscher des Bösen, der für alles Übel in der Welt verantwortlich war; für Hungersnöte, Pestilenzen und Kriege.
2. Neben diesen Furcht erregenden Vorstellungen vom Teufel etablierte sich seit dem 16. Jahrhundert ein weiteres Teufelsbild, gleichsam ein irdischer Teufel. Der Teufel wird nun in den Dienst moralisch-didaktischer Bestrebungen gestellt. Er wird zum Generalnenner für alle menschlichen Sünden und Abweichungen. Ähnlich wie im Kampf der ägyptischen Mönche gegen die Dämonen, wird hier dem Teufel eine ganze Schar von Gehilfen, gleichsam Unterteufeln, an die Seite gestellt. Jeder dieser Gehilfen ist für eine bestimmte schlechte menschliche Eigenschaft oder Sünde zuständig. Er ist derjenige, der die Menschen zu schlechten Taten anstiftet.

Das Bemühen um die moralische Besserung des Menschen führt dazu, immer neue Defekte aufzuspüren und in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Dementsprechend vermehrt sich auch die Zahl von Unterteufeln und sonstigen Gehilfen. Sie kriechen nun in sämtliche Poren des menschlichen Alltagslebens. Der Teufel mit seinem Hofstaat hat in dieser Vorstellung zwar seine allmächtige Wucht eingebüßt, dafür ist er aber allgegenwärtig. Der protestantische Theologe Martin Borrhaus (1499-1564) hat ausgerechnet, dass es nicht weniger als 2.665.866.746.664 Teufel gibt. (in Worten: 2 Billionen 665 Milliarden usw.) (vgl. Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, Köln 2003, S.374) Bei einer Bevölkerung im damaligen Deutschland von ca. 15 Millionen Einwohnern ergibt sich also, dass für jeden einzelnen Menschen 166.616 Teufel zuständig waren.
Angesichts solch universeller Teufeleien lag es nahe, die Schuld für alle nur denkbaren menschlichen Unarten und Abweichungen dem Teufel in die Schuhe zu schieben. Der Teufel könne uns zwar zu nichts zwingen, denn schließlich behielten wir ja unsere Freiheit. Er habe allerdings die Macht als Verführer. Um es neudeutsch auszudrücken: Er ist ein Strukturverstärker. Dort wo schon Sünde gedacht oder vorhanden ist, setzt der Teufel an.

Teufelbücher

Der literarische Ausdruck dieser neuen Teufelsvorstellungen waren die sogenannten Teufelbücher, die sich seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts als neues Genre ausbreiteten. Hierbei handelte es sich nicht um Bücher über Magie, satanistische Rituale oder Teufelsbeschwörungen, sondern um moralisch-erbauliche Traktate gegen alle nur denkbaren Alltagssünden. Es gab den Saufteufel, den Hurenteufel, Lügen- und Lästerteufel, Bettelteufel, Gesindeteufel, Neidteufel, Hochmutsteufel, Zauberteufel, Eheteufel, Jagdteufel und schließlich den Faulteufel.
»Lucifers Königsreich und Seelengejaidt« lautet der Titel einer katholischen Schrift aus dem 16. Jahrhundert, in welcher der Teufel sein Unwesen treibt und die Menschen verleitet, den Pfad der Tugend zu verlassen. Der Autor knüpft unmittelbar an die mittelalterlichen Hauptsünden (später "Todsünden") an. Es sind auch hier der Hochmut (Hoffart), der Geiz, die Gefräßigkeit, die Wollust, der Neid, der Zorn und die Trägheit. Der Teufel verfügt über einen Haufen von Knechten und Dienern und sie alle setzen den Menschen mit allerhand üblen Ränken zu. Wie Jäger machen sie Jagd auf die Seelen der Menschen (Seelengejaidt). Da wird der Mensch von einem Netz überzogen oder es werden ihm verborgene Fallstricke gelegt oder aber er fällt in eine Grube. Immer geht es darum, die Menschen in sündiges Handeln zu verstricken.

Wandlungen des Teufels

Im Laufe der Geschichte differenziert sich das Bild vom Teufel. Zunächst ist er der machtvolle Höllenfürst, der Unheil aller Arten über die Menschen bringt. In einem nächsten Schritt kriecht der Teufel gleichsam in die Menschen hinein und manipuliert sie von innen. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt, bis Mensch und Teufel miteinander verschmelzen und das menschliche Individuum selbst zum Teufel, zum Faulteufel oder Eheteufel wird. Von seiner Macht ist in dieser Vorstellung allerdings nicht viel übrig geblieben. Er verkümmert schließlich zum armen Teufel.
Die teuflischen Zwänge von außen werden nun von Selbstzwängen verdrängt. Hierzu zählt die bewusste Selbstkontrolle; und hier ist es vor allem das Gewissen, welches gleichsam als Buchhalter der Seele fortwährend Ist- und Sollwert des eigenen Verhaltens abgleicht und gegebenenfalls Korrekturen anmahnt.
In einem 1930 erschienenen Buch mit dem schönen Titel »Sich selbst rationalisieren« wird dem Selbstzwang mit dramatischen Worten eine geradezu existentielle Bedeutung beigemessen: "Sich selbst nicht gehorchen, das ist eine Schande, das ist ein schleichendes Gift, das zermürbt Charakter und Willen sowie Energie, Ausdauer und Selbstachtung wie eine versteckte, unerkannte, schleichende, tückische Krankheit, die den Körper langsam zerstört." (Gustav Grossmann, Sich selbst rationalisieren, 7. Auflage, Stuttgart und Wien 1930, S. 159) An die Stelle des hier angemahnten Selbstgehorsams ist heute bekanntlich die Selbstoptimierung getreten.
Mit der Entmachtung des Teufels will sich die katholische Welt bis heute nicht abfinden:"Der folgenschwerste Irrtum unserer Zeit ist zweifellos die Annahme, dass es keinen Teufel mehr gebe. Wenn es aber keinen Teufel gibt, dann gibt es auch keine Sünde und keine Hölle." - Womit soll dann aber den Menschen gedroht werden!? Als sich die Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert ausbreitete, verlor der Teufel seine Bedeutung als Droh- und Strafinstanz. Zumal da sich die Menschen in den grauenvollen frühkapitalistischen Fabriken des 19. Jahrhunderts ja bereits auf Erden unmittelbar in der Hölle befanden.
Heute ist der Teufel allenfalls noch im Kasperletheater oder als "Kinderschreck" zu sehen. Oder aber er fristet die harmlose und trostlose Existenz eines Fleckenteufels.
Die Menschen sind in ihrem Handeln zwar nach wie vor von Schlechtigkeiten und Bösartigkeiten geprägt, aber diese sind nicht mehr Einflüsterungen des Teufels. Sie sind verweltlicht. Aus Sünden werden nun Unarten und schlechte Verhaltensweisen. Das teuflische Fluidum wurde hinausgespült. Unsere ehemals teuflischen Eigenschaften wurden zivilisiert und vermenschlicht. An die Stelle des Teufels sind heute die Selbstoptimierungsprogramme und To-Do-Listen getreten, die uns ebenso fertigmachen können wie früher der Teufel.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Oktober 2019.

teufelduerer
Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, 1513, Kupferstich, 24,6 x 19 cm.
Quelle: Wikimedia Commons.

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2019/10/21

Wolfgang Weber
sag die Wahrheit / tell the truth

eulenspiegel
Till Eulenspiegel in Mölln, seinem Sterbeort. Plastik von Karlheinz Goedtke (1915-1995), 1951. Fotografiert von Hans Weingartz. Quelle: Wikimedia Commons.


man sagt / in vino veritas /
im Wein findest Du die Wahrheit

wer zu viel trinkt / Wein / Bier / Schnaps / was auch immer

LALLT / Glossolalia / redet in Zungen / unverständlich

stört unter Umständen die anderen / spricht die Wahrheit

ja / Narren & Kinder / sagen die Wahrheit / nehmen keine Rücksicht

wenn sie's nicht übertreiben / bleiben sie populär / auch beim König / den sie kritisieren

Narren sind nicht gestört / sie haben den Durchblick

sie haben Glocken / mit denen sie läuten / & der Wahrheit & dem König heimleuchten

sie haben Kappen / Narrenkappen / unter denen Wahr & Weisheit / viel Platz haben

auch Comedians / Hip Hopper & Rapper / haben Kappen auf ihren Köppen / basecaps / Hüte / Mützen

Kappen bieten Zuflucht vor Tyrannen / Till Eulenspiegel

stören Narren die Wirklichkeit / nein / sie suchen die Wirklichkeit / schützen sie / sagen sie / sagen sie / begreifen die Wahrheit / sprechen sie aus / klar laut vernehmlich & deutlich

Narren kommen mit Wünschelrute / Wasser finden sie nicht / sie sind der Wahrheit auf der Spur

Narrenhände beschmieren Tisch & Wände

these boots are made for walkin’ / you keep on lyin’ / when you oughta be truthin’

diese Stiefel von / Nancy Sinatra & Lee Hazlewood / sind dafür gemacht / mit 7-Meilen-Stiefeln davon zu eilen

denn er / der ungenannte / lügt in einem fort / wo er die Wahrheit sagen sollte

© Wolfgang Weber, Oktober 2019.

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2019/10/18

cesaro5

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2019/10/15

rudolph3

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2019/10/12

Walter Gropius: Die Meisterhäuser in Dessau, 1926

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Die Meisterhäuser in Dessau von Walter Gropius, 1926.
Zum 100. Jubiläum des Bauhaus. Quelle: Wikimedia Commons.

Nur einen kurzen Fußweg von den Hauptgebäuden des Bauhaus in Dessau entfernt liegen die Meisterhäuser in der Ebertallee in einem Kiefernwald. Die 3 identischen Meisterhäuser und das Direktorenhaus wurden von Walter Gropius im kubistischen Stil entworfen und 1925/26 gebaut. Darin wohnten (zur Miete) und arbeiteten die Meister des Bauhaus, wobei sich jeweils 2 Meister ein Doppelhaus teilten, bspw. Klee und Kandinsky. Die Lehrer am Bauhaus hießen nicht Professoren, sondern "Meister", darauf legte Gropius Wert, denn er wollte die Kunst und die Architektur wieder mit dem Handwerk verbinden, ganz im Sinn der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung.
Berühmte Bewohner der Meisterhäuser im Lauf der Jahre waren: László Moholy-Nagy, Lyonel Feininger, Georg Muche, Oskar Schlemmer, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Hannes Meyer, Ludwig Mies van der Rohe, Josef Albers und weitere Meister.
Die Meisterhäuser sind eindeutig avantgardistisch. Solche Häuser gab es vor Gropius in Deutschland nicht. Klare Kuben, weiße Fassade, große Fensterfronten, kein Ornament und keine Verzierung, Flachdächer mit Dachterrassen. Die Häuser erinnern etwas an Wohnhäuser im Nahen Osten, für die Nazis waren sie "eine antideutsche Provokation". Das Meisterhaus von Wassily Kandinsky und Paul Klee ist original instand gesetzt worden und kann heute auch innen besichtigt werden. Dadurch erhält man einen interessanten Einblick in die Innenarchitektur und in die künstlerische Gestaltung durch Klee und Kandinsky. Auch wenn sich Walter Gropius äußerlich mit seiner Schwarz-Weiß-Philosophie durchgesetzt hat, so gestaltete doch Wassily Kandinsky das Innere seines Hauses als Farbsymphonie.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/10/10

"Wer Träume verwirklichen will, muss wacher sein und tiefer träumen als andere."

Karl Foerster (1874-1970), Gartenphilosoph in Potsdam

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2019/10/08

Oktober im Berliner Tiergarten

herbsttiergarten
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/10/05

Tagebuch 1973, Teil 36: Über den Khyber-Pass nach Peshawar

Dr. Christian G. Pätzold

khyberpass
Blick vom Khyber-Pass Richtung Indus-Tal (Pakistan).
Fotografiert von James Mollison, August 2004. Quelle. Wikimedia Commons.


21. September 1973, Von Kabul über den Khyber-Pass nach Peshawar in Pakistan, Freitag

Frühmorgens wurden wir geweckt und sind mit dem Taxi zur Bushaltestelle gefahren. Die Busgesellschaft "Afghanpost" machte einen sauberen Eindruck. Die ganze Strecke von Kabul über Jallabad nach Peshawar hat nur 100 Afghani gekostet. Wir sind mit drei Japanern, vier Franzosen und zwei Holländern gefahren. Ab Kabul war die Landschaft ziemlich fruchtbar, mit Feldern und Bäumen. Die Grenzstation am Khyber-Pass war sehr oasenartig.

Ausgaben in Afghanistan:
15,- DM Fahrtkosten
06,- DM Taxis
15,- DM Übernachtungen
34,- DM Essen und Sonstiges
70,- DM insgesamt für 9 Tage (13. bis 21. 9. 1973) pro Person.

In Pakistan war Linksverkehr und es gab eine Eisenbahn. Wir haben die afghanische Grenze mit vielen Stempeln aber ohne Schwierigkeiten passiert. Dafür hat der pakistanische Zoll alles aufgewühlt, aber wohl nur, weil zufällig ein Zollbeamter da war. Die Vaccination Card wollte überhaupt keiner sehen, Impfungen gegen Seuchen wurden anscheinend als Privatsache der Reisenden betrachtet. An der Grenze wimmelte es von Geldwechslern. Ich habe 5 DM getauscht: 1 DM zu 4 Rupees, unterteilt in 100 Paisas. Das Touristenbüro an der Grenze hatte nur 3 kümmerliche Prospekte über Südpakistan vorrätig.
In Peshawar angekommen lauerten schon die Pferdekutschen auf uns. Wir haben erstmal einen Vegetable Curry gegessen, der wahnsinnig scharf war, ein Vorgeschmack auf das indische Essen. Insgesamt habe ich für das Currygemüse, zwei Brote und Tee 3,20 Rupees bezahlt (doppelt so hoher Preis für Touristen). Ein Kutscher hat uns für 1,50 R. zum "Hotel National" gefahren, er wollte erst 4 R. Hier versuchte jeder, aus den Touristen möglichst viel Geld rauszuholen, aber nicht auf die freundliche Art, sondern ziemlich unverschämt. Das lag natürlich daran, dass die Leute hier so bettelarm waren. Ein Verkäufer auf der Bahnstation wollte uns einen Apfel für den gleichen Preis verkaufen, den er von den Pakistanis für zehn Äpfel verlangte. Drei Kilo Birnen für 50 Paisas, Tasse Tee mit Milch und Zucker 20 P., Coca Cola 70 P., zehn pakistanische Zigaretten mit Filter 1 Rupee.
Das "Hotel National" wimmelte nur so von Ungeziefer, stank nach Benzin oder so ähnlich und natürlich nach Hasch, was neben Opium hier reichlich konsumiert wurde. In der Mitte befand sich ein Hof, mit Tischen zum Teetrinken und Essen, laute Jaulmusik aus Lautsprechern, so richtig heavier Orient. Wir haben einen Raum für 5 Rupees gebucht und unsere Rucksäcke beim Manager gegen Quittung abgestellt, weil anscheinend viel geklaut wurde. Abends sind wir noch durch den Bazar gebummelt.

Exkurs 1: Der Khyber-Pass

Der Khyber-Pass ist schon seit alten Zeiten der wichtigste Übergang vom Mittleren Orient auf den Indischen Subkontinent, den auch die Armee von Alexander dem Großen im Jahr 326 vor unserer Zeitrechnung genommen hatte. Viel weiter ist Alexander allerdings nicht gekommen. Er hat wohl eingesehen, dass Indien damals doch etwas zu weit von Griechenland entfernt war. Viele Eroberer sind diesen Weg gekommen und viele Kulturen sind sich hier begegnet. Von Europa kommend befindet man sich nach dem Khyber-Pass im fruchtbaren Tal des Indus, der Heimat alter Zivilisationen, und hat die Wüsten Persiens und Afghanistans hinter sich gelassen. In Pakistan tritt der Fruchtbarkeit bringende Monsunregen vor allem im Juli und August auf.
Kabul liegt recht hoch auf 1.800 Metern über dem Meeresspiegel. Das war bis dahin der höchste Punkt auf meiner Weltreise. Später auf der Reise habe ich es allerdings in der Stadt Potosí in den Anden von Bolivien auf sage und schreibe 4.067 Meter über dem Meeresspiegel geschafft, ohne nach Luft schnappen zu müssen. Von Kabul bin ich also über den Khyber-Pass auf 1.070 Meter Höhe hinunter nach Peshawar im Indus-Tal auf 500 Meter Höhe gefahren. Damit bin ich an einem Tag eine Distanz von 1.300 Meter Höhe hinab gefahren.
Peshawar in Pakistan hatte damals 1973 beschauliche 270.000 Einwohner. Heute 2019 leben in Peshawar 2 Millionen Menschen. Daran kann man gut erkennen, wie stark das Bevölkerungswachstum in den letzten 45 Jahren zugeschlagen hat, besonders in armen Ländern. Bei einer Weltreise heute würde man ganz andersartige Städte sehen als 1973.

Exkurs 2: Über die Geschwindigkeit des Reisens

Ausreichend Zeit ist ein wichtiger Faktor beim Reisen. Man kann heute in 7 Tagen mit dem Flugzeug um die Erde jetten, aber so eine Reise bringt gar nichts, außer jeder Menge Abgase, die das Klima zerstören. Für das Reisen muss man sich Zeit nehmen, um Menschen (Einheimische, Ex-Patriates und andere Reisende) und Länder (politisch, geographisch, ökonomisch, soziologisch, kulturell) genauer kennen zu lernen und um seinen geistigen Horizont zu erweitern. Der menschliche Kopf braucht Zeit, um neue Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten. Es bringt auch nichts, mit dem Hochgeschwindigkeitszug in 300 Kilometern in der Stunde durch Europa zu rasen. Solche Hochgeschwindigkeitstrassen sind Prestigeprojekte von Politikern und Milliardeneinnahmen für Baukonzerne, aber für die Bevölkerung nur eine große Geldverschwendung. Menschen, die durch ihr Leben rasen, sind nur arme Getriebene, die ständig vor etwas flüchten, das sie in ihrer Psyche verfolgt. Die vom Geschwindigkeitswahn Besessenen sind dieselben, die die Erde ruiniert haben. Nur Slow Travelling macht Sinn. Zum richtigen Reisen braucht man leider Geduld. Geduld muss man lernen, wie man das Sehen lernen muss.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2019.

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2019/10/03

Kinotipp:
Der Film »Kuhle Wampe« von Bert Brecht, Slatan Dudow und Hanns Eisler
läuft am 4. Oktober 2019, 5. Oktober 2019 und 6. Oktober 2019
im Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin Mitte.

kinotipp

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2019/10/02

Tagebuch 1973, Teil 35: Kabul

Dr. Christian G. Pätzold


19. September 1973, Kabul, Mittwoch

Als meine Reisepartnerin und ich gestern am Abend noch beim Informationsministerium vorbeigekommen sind, durften wir nicht passieren, ein Soldat hat uns plötzlich mit aufgepflanztem Bajonett bedroht. Ein kleiner Schreck am Abend. Sogar die Soldaten haben hier ziemlich abgefetzte schäbige Uniformen.
Ich blieb heute im Hotel, da ich mich nicht wohl fühlte. Dort plauderte ich mit dem Hotelbesitzer, der sagte, dass jetzt viel weniger Hippies nach Kabul kämen. Die große Hippiezeit war wohl schon etwas vorbei. Er sagte, sie führen alle nach Katmandu in Nepal und blieben nur eine kurze Zeit in Kabul. Ein Hippie habe allerdings ein Jahr lang kostenlos in Kabul gelebt. Er habe die Zahlung immer hinausgezögert, indem er sagte, dass er auf Geld von zuhause warte. Die Polizei hatte ihm sogar ein Hotel zugewiesen. Letztlich hat dann wohl seine Botschaft alles bezahlt, inklusive Heimreise.
Abends hatten wir noch ein Gespräch mit dem Fernmeldemenschen von gestern. Er sagte, er konnte wählen zwischen einem Studium in der Sowjetunion oder in der Bundesrepublik Deutschland. Er wollte nicht in der Sowjetunion studieren, weil er dann seine Familie nicht hätte unterstützen können. Also hat er in Stuttgart in einer Polizeistation studiert und 500 DM monatlich bekommen, von denen er viel nach Hause geschickt habe. In der Sowjetunion bekomme man nur das Allernotwendigste gezahlt, Kost und Logis. Er hatte noch drei Brüder, einer ging zur Schule, der andere zur Armeeschule und der dritte half der Mutter im Haushalt. Der Fernmeldetechniker verdiente 2.000 Afghani = 90 DM im Monat und damit mussten alle auskommen. Sie hatten abgemacht, dass sie dem dritten Bruder später ein Geschäft kaufen würden, weil er jetzt zu Hause geblieben war. Er sagte noch, dass sich Jungen und Mädchen eigentlich nur auf dem Schulweg kennenlernen könnten.

20. September 1973, Kabul, Donnerstag

Morgens sind wir zum Goethe-Institut gepilgert, wo uns der Leiter, Herr Ernst Schürmann, ein Historiker, einen interessanten Vortrag über der Geschichte des Landes gehalten hat. Afghanistan als Durchgangsland der Mongolen und anderer nomadischer Völker. Ein Nationalstaat habe sich nicht entwickeln können, Afghanistan sei erst seit relativ kurzer Zeit ein Land. In Afghanistan leben zahlreiche Völker mit unterschiedlichen Sprachen.
Wir haben dann versucht, die Adresse vom Deutschen Entwicklungsdienst (DED) zu finden, was aber wegen der schlechten Markierung der Straßen nicht möglich war. Jedenfalls war die Bundesrepublik Deutschland in Kabul recht präsent mit Botschaft, Goethe-Institut und Entwicklungsdienst. Wir sind dann zum Kabul-Museum gefahren, das aber geschlossen war. In der Nähe war eine Schule, in die wir reingegangen sind. Es sollte gerade ein Fest mit Konzert stattfinden. Der Direktor der Schule war sehr freundlich zu uns, hat uns etwas herumgeführt und uns telefonieren lassen. Dann sind wir mit dem Bus für 1 Afghani in die Stadt gefahren, der vollkommen überfüllt war. Die Busse haben hier ganz vorne ein abgetrenntes Abteil für die Frauen.
Dann haben wir noch einen Hippie getroffen, der plante, aus der Türkei Hasch mitzunehmen. Außerdem haben wir noch einen Japaner mit dänischer Ehefrau getroffen. Abends hatten wir noch ein Gespräch mit einem spanischen Pärchen über den Pazifismus.

Postskriptum Oktober 2019:
Die westdeutsche Entwicklungshilfe in Afghanistan vor 45 Jahren war gut gemeint, aber in einem Land, in dem jeder auf jeden schießt oder Bomben hoch gehen lässt, hat sich natürlich in den letzten Jahrzehnten überhaupt nichts entwickelt. Heute höre ich im Radio, dass immer noch deutsche EntwicklungshelferInnen in Afghanistan sind. Aber das ist doch Unsinn. Was soll sich denn in einem Kriegsgebiet entwickeln? Außerdem wollen die Afghanen gar nicht von Deutschland entwickelt werden. Eine humanitäre Hilfe und Unterstützung ist nur nachhaltig, wenn die Menschen in beiden Ländern das wollen und wenn die aufgebauten Schulen, Brunnen, Straßen und sonstigen Verbesserungen nicht durch Krieg sofort wieder zerstört werden.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2019.

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2019/09/30

vorschau10

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2019/09/29

uhu

Ein Uhu bei einer Greifvogelvorführung im Innviertel. Es war beeindruckend, wie so riesige Vögel über die Köpfe der Zuschauer geflogen sind. Eulen sind schon seit den alten Griechen ein Symbol für Weisheit. Fotografiert von © Ella Gondek, September 2019.
www.adlerwarte-obernberg.at.

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2019/09/26

Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin, Teil 6
Fritz Cremer: Das Denkmal für die Interbrigadisten, 1967/68

Dr. Christian G. Pätzold

interbrigadisten
Denkmal für die Interbrigadisten in Berlin Friedrichshain.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2019.


Das Denkmal für die Interbrigadisten im Volkspark Friedrichshain in Berlin wurde von dem Plastiker Fritz Cremer 1967/68 erschaffen. Es erinnert an die Spanienkämpfer aus zahlreichen Ländern, die in den Jahren 1936 bis 1939 die spanische Republik gegen die faschistischen Truppen des Generals Francisco Franco verteidigten. Sie bildeten internationale Brigaden (Las Brigadas Internacionales) und wurden daher auch Interbrigadisten genannt. Die spanischen Putschisten unter der Führung von Francisco Franco kämpften damals gegen die Spanische Republik und wurden dabei von deutschen Truppen des Diktators Hitler unterstützt. Die Franquisten gewannen schließlich den Krieg und errichteten in Spanien eine Diktatur, die bis zum Tod von Franco im Jahr 1975 bestand, während seine Verbündeten Adolf Hitler und Benito Mussolini schon 1945 gestorben waren. Kurz vor seinem Tod setzte Franco in Spanien die Monarchie ein, um sein Erbe zu bewahren. Die Zahl der in Spanien gefallenen deutschen Interbrigadisten wird zwischen 800 und 3.000 angegeben. Die Interbrigadisten waren alle Antifaschisten, hauptsächlich Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten.
Der überlebensgroße bronzene Interbrigadist des Denkmals schwebt halb wie ein Kriegsengel durch die Luft. In der rechten Hand hält er ein hoch erhobenes Schwert, bereit zum Zuschlagen. Die linke Hand ist zur Faust geballt. Sein Blick ist kampfentschlossen. Das Schwert ist nur symbolisch zu nehmen. Damals kämpfte man in Spanien mit Pistolen, Gewehren und Maschinengewehren. Der Interbrigadist geht von der Idee her auf die Skulptur "Der Rächer (Der Berserker)" zurück, die Ernst Barlach 1914 zur Verherrlichung der Ersten Weltkriegs geschaffen hatte. Als ich zum Denkmal kam, wurden gerade Fotoaufnahmen gemacht. Das Denkmal wird anscheinend gerne fotografiert. Links vom Kriegsengel befindet sich eine große Relieftafel von Siegfried Krepp (1930-2013), auf der die Stadt Madrid abgebildet ist, mit der Aufschrift: "Madrid, Du Wunderbare". Außerdem sind weitere Szenen aus dem Spanienkrieg dargestellt.
In Berlin gibt es weitere sehenswerte Plastiken von Fritz Cremer. So das Bildnis von Bertolt Brecht vor dem Berliner Ensemble. (Seht bitte das Foto der Plastik von Bertolt Brecht, das am 2018/02/13 auf kuhlewampe.net veröffentlicht wurde). Oder die "Aufbauhelferin" und der "Aufbauhelfer", die vor dem Roten Rathaus in Berlin Mitte standen. Wegen des Neubaus der U-Bahn-Linie 5 sind diese beiden Plastiken im Moment eingelagert und nicht zu besichtigen. Wann sie wieder aufgestellt werden, ist unklar.

© Dr. Christian G. Pätzold, September 2019.

Teil 1 von »Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin« erschien am 2018/03/25 auf kuhlewampe.net.
Teil 2 erschien am 2018/06/12.
Teil 3 erschien am 2018/08/14.
Teil 4 erschien am 2018/10/17.
Teil 5 erschien am 2019/02/11.

Seht bitte auch den Artikel "80 Jahre Guernica", der am 2017/04/26 auf kuhlewampe.net erschienen ist.

Über den Kampf der Interbrigadisten gibt es den sehenswerten und spannenden DEFA-Spielfilm "Fünf Patronenhülsen" von 1960, Regie von Frank Beyer.

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2019/09/23

Tipp vom Bioobst-Gärtner: Aprikosen

Dr. Christian G. Pätzold

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Aprikosen der Sorte "Ungarische Beste". Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2019.

Aprikosen (Prunus armeniaca, lateinisch für Pflaumenbaum aus Armenien) sind sehr schmackhafte und gesunde Früchte. Wenn man ein sonniges und windgeschütztes Plätzchen von ein paar Quadratmetern hat, lohnt es sich, ein Aprikosenbäumchen zu pflanzen. Die Bäumchen halten inzwischen auch das nördliche Berliner Klima aus und werden nicht sehr groß, so dass der Platzbedarf überschaubar ist. Ich habe gute Erfahrungen mit der Aprikosensorte "Ungarische Beste" gemacht. Es gibt aber noch zahlreiche weitere Aprikosensorten. Ein junges Aprikosenbäumchen von der Baumschule ist nicht teuer. Am besten wird das Bäumchen im zeitigen Frühjahr gepflanzt, wenn der Boden frostfrei ist. In den ersten 3 Jahren muss man das Bäumchen in der Vegetationszeit regelmäßig reichlich gießen, bis sich die Wurzeln zum Grundwasser vorgearbeitet haben.
Aprikosen sind nicht sehr krankheitsanfällig. Im Frühjahr kann jedoch die Monilia-Spitzendürre auftreten. Am besten man schneidet die befallenen Zweigspitzen sofort mit der Gartenschere ab und entsorgt sie über den Hausmüll. An den Schnittstellen tritt Gummi aus, der die Schnittstellen verschließt. Das ganze ist nicht bedrohlich für die Pflanze.
Die Aprikosenfrüchte werden ab Anfang Juli gelb und orange und sind ab Mitte Juli genussreif. Das Fruchtfleisch löst sich meist gut vom Kern. Aprikosenfrüchte haben ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Fruchtsüße und Fruchtsäure. Die Früchte können frisch gegessen werden oder auf verschiedene Art verarbeitet werden, bspw. zu Marmelade. Wenn Aprikosen erstmal gepflückt sind, halten sie sich nicht lange. Aprikosen schmecken nur richtig gut, wenn sie erntereif vom Baum gegessen werden. Auch das ist ein Argument, einen Aprikosenbaum zu pflanzen. Gekaufte Aprikosen aus dem Supermarkt, die hunderte Kilometer gereist sind, können meist geschmacklich nicht mithalten.
Gifte wie Insektizide, Pestizide oder Herbizide werden natürlich in einem biologischen Garten sowieso nicht angewendet. Sie sind auch gar nicht notwendig, da der Garten im biologischen Gleichgewicht ist. Wenn zum Beispiel Blattläuse auftreten, dann werden sie von Marienkäfern in Schach gehalten. Oder um gefräßige Raupen kümmern sich die Meisen. Leider gibt es immer noch zahlreiche Gartenbesitzer, die sehr ungebildet sind und keine Ahnung von der Natur haben, so dass sie glauben, sie müssten ständig Chemie im Baumarkt kaufen.
Auch interessant zu wissen: Aprikosen gehören zur Familie der Rosengewächse (Rosaceae). Aprikosen heißen in Österreich Marillen, von lateinisch Armeniacum, die Armenische. Es gibt noch ein paar Tricks zum guten Aprikosenanbau (Befruchtung, Düngung, Fruchtschutz, Baumschnitt), die ich gerne denen erzählen könnte, die mir eine Mail schicken.

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2019/09/21

HolzART XXII in Kronach (Oberfranken)


In diesem Jahr fand im Landkreis Kronach am Frankenwald das Internationale Kunstprojekt HolzART XXII statt. 12 Holzbildhauerinnen und Holzbildhauer aus 7 europäischen Ländern haben zwei Wochen lang in offenen Ateliers heimische ganze Baumstämme aus dem Frankenwald bearbeitet. Dadurch erhält der Wald eine zusätzliche künstlerische Bedeutung. Den Hauptpreis gewann Henrik Sigensgaard aus Dänemark. Das Kunstprojekt wurde von Ingo Cesaro vom Verein Regionale Kunstförderung Kronach konzipiert und organisiert. Die Open-Air-Ausstellung am Fuß der Festung Rosenberg in Kronach ist noch bis zum 26. Oktober 2019 zu sehen.


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"Der Rat" von Urban Stark, Belgien. Eine Installation mit 8 Beichtstühlen, innen mit Schiefer ausgelegt und alle mit einem Spinnennetz verbunden. Eiche.
Fotografiert von © Ingo Cesaro, August 2019.


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"Schlafender Gigant" von Henrik Sigensgaard, Dänemark. Als Friedenssymbol gedacht. Der Drache beschützt und schreckt Feinde ab, also kann er Kriege verhindern. Eiche.
Fotografiert von © Ingo Cesaro, August 2019.


holzart3

"Hüterinnen" von Jolanta Switajski, Polen/Deutschland. Aus einem Stamm vier Frauenfiguren gesägt. Reine Frauenpower. Eiche.
Fotografiert von © Ingo Cesaro, August 2019.

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2019/09/20

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2019/09/18

Fundstück Fotos aus Bremen
fotografiert von © Rudolph Bauer, Juli 2019


rudolph1


rudolph2

www.rudolph-bauer.de

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2019/09/17

Rudolph Bauer
Verteidigungen


wissenschaftler entwickeln waffen-
systeme im orbit
und berufen sich dafür auf die freiheit
der forschung

militärpfarrer segnen den leopard 2
im auftrag christlicher seelsorge

berufsmörder befehlen
die kollaterale auslöschung von
kindern frauen alten
und werden zum general ernannt

staaten verletzen
die souveränität anderer staaten
unter berufung auf den grundsatz
der sicherheitsverantwortung

militärs zerstören
gesellschaftliche strukturen
angeblich
zur wahrung der menschenrechte

regierungen missachten das völkerrecht
weil sie bei rechtsverletzungen
anderer regierungen nicht wegschauen

sie rüsten und führen kriege
zur rohstoffsicherung
das nennen sie friedenssicherung

militärisches eingreifen
bezeichnen sie als gebot der humanität

sie lassen zivilisten töten
und sprechen
von humanitärer intervention

die armee zieht in den krieg
scheinlegitimiert durch friedensmandate

in weiter ferne am hindukusch
wird deutschland verteidigt

wer die wahrheit sagt
den heißen sie lügner
zur wahrheit erheben sie lügenwörter

© Rudolph Bauer, September 2019.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors dem Buch entnommen:
Rudolph Bauer/Thomas Metscher: Aus gegebenem Anlass. Gedichte und Essay. Hamburg 2018. tredition.

Rudolph Bauer ist promovierter Politikwissenschaftler. Als solcher war er 1972 bis 2002 Professor an der Universität Bremen. Er publiziert wissenschaftlich und literarisch zu gesellschaftlichen und politischen Themen. Diese bearbeitet er auch künstlerisch mit Hilfe von Bildmontagen in der Tradition von John Heartfield; siehe:
https://www.instagram.com/bauerrudolph/

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2019/09/14

László Moholy-Nagy: Xanti Schawinsky auf einem Bauhaus-Balkon, 1928


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László Moholy-Nagy: Xanti Schawinsky auf einem Bauhaus-Balkon, 1928. Fotografie..
Zum 100. Jubiläum des Bauhaus. Quelle: Wikimedia Commons.


László Moholy-Nagy (1895-1946) aus Ungarn war einer der experimentierfreudigsten Meister am Bauhaus. Er malte konstruktivistische Gemälde, schuf Fotocollagen und experimentierte mit Fotografie, Licht (Licht-Raum-Modulator von 1928) und Tönen. Er war auch der Designer und Typograf der "bauhausbücher" und der Zeitschrift "bauhaus".
In den 1920er Jahren erlebte die experimentelle Schwarz-Weiß-Fotografie einen Höhepunkt in Deutschland. Die Fotografie war noch nicht so alt und daher wollten viele das neue Medium ausprobieren, das faszinierte und in Konkurrenz zur klassischen Malerei trat. Einige Kritiker sind sogar der Meinung, dass die 1920er Jahre das beste Jahrzehnt der Fotografie überhaupt gewesen sind. Es gab zahlreiche Arbeiterfotografen, die experimentierten und deren sozial-dokumentarische Fotos in der großformatigen Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (A-I-Z) erschienen. Dort erschienen auch einige der berühmten politischen Fotomontagen von John Heartfield. Ein avantgardistischer Fotograf der Zeit war der Dadaist und Surrealist Man Ray in Paris, der die Rayographie, das "Fotografieren ohne Kamera", perfektionierte. Es gab August Sander in Köln, der mit seinen Porträtfotos "Menschen des 20. Jahrhunderts" dokumentierte. Auch noch der Film »Kuhle Wampe« von Bert Brecht und weiteren Künstlern aus dem Jahr 1932 ist ein Beispiel für die experimentelle Schwarz-Weiß-Fotografie der Zeit, wenn man etwa an die Fahrradszenen mit ihren Schattenbildern auf dem Asphalt denkt. Mit der Farbfotografie experimentierte Moholy-Nagy erst in den 1930er Jahren.
Moholy-Nagy forderte ein "Neues Sehen". 1925 veröffentlichte er das Buch »Malerei, Photographie, Film« (Bauhausbücher Band 8). Die neue Fotografie sollte die Wahrnehmung erweitern durch "seltene Sichten, schräg aufwärts, abwärts, Verzerrungen, Schattenwirkungen". Er experimentierte auch mit Fotogrammen, bei denen Gegenstände direkt auf das Fotopapier gelegt und belichtet wurden. Direkte Malerei auf Film ohne Kamera. Er entwickelte auch das "Typophoto", bei dem Typographie, also Schriftzeichen, in das Foto integriert werden.
Das Foto oben ist durch die Perspektive schräg aufwärts ein ungewöhnliches Foto. Es zeigt die Südbalkone des Prellerhauses im Gebäudekomplex des Bauhaus in Dessau. Es gab auch Balkone an der Ostseite. Überhaupt waren die Bauhaus-Balkone wegen ihrer geometrischen Struktur ein beliebtes Motiv der Schwarz-Weiß-Fotografie der Zeit, zum Beispiel bei den fotografierenden Bauhausstudenten.
Das Prellerhaus in Dessau beherbergt 28 Atelierwohnungen, je 7 auf 4 Etagen, die von den fortgeschrittenen Studenten bewohnt wurden. Heute kann man dort eine Übernachtung im originalen Bauhausambiente buchen. In den 1920er Jahren war die Wohnungsnot groß und so waren die Atelierwohnungen bei den Studenten sehr begehrt. Obwohl der Begriff Atelierwohnung etwas hoch gegriffen ist, denn die Wohnungen bestanden nur aus einem Zimmer von 25 Quadratmetern, mit einer Schlafnische, einem Zeichentisch, einem Waschbecken mit fließend kaltem und warmem Wasser, einem großen Fenster und einem kleinen Balkon, auf dem man einen Stuhl aufstellen konnte. Toilette oder Dusche gab es nicht im Zimmer, sondern nur auf der Etage.
Das Prellerhaus war von Walter Gropius entworfen worden und wurde 1926 fertig gestellt. Die Atelierwohnungen erlaubten Wohnen und Arbeiten in einem Raum. Es war das erste Studentenwohnheim Deutschlands, das in die Hochschule integriert war. Im Sockelgeschoss befanden sich Serviceeinrichtungen wie Küche, Dusche und Wäscheraum. Die begehbare Dachterrasse eignete sich für Turnübungen an der frischen Luft. Wohnplätze für 28 Studenten, das war nicht viel. Aber für mehr hat wohl das zur Verfügung gestellte Geld nicht gereicht.
Xanti Schawinsky (1904-1979), der auf dem Foto kühn über der Balkonbrüstung schwebt, war ein sehr aktiver Student am Bauhaus in den Jahren 1924 bis 1928, der sich auch für Fotografie interessierte. Das Foto hat eine bestimmte Symbolik, denn auch das Bauhaus befand sich meist in einem prekären Schwebezustand, ständig angefeindet von den Rechtsextremisten, die diese linke Hochschule vernichten wollten. Denn am Bauhaus lehrten ja ausländische Meister wie László Moholy-Nagy, während gleichzeitig "deutsche Volksgenossen hungerten".
Die Frau von Moholy-Nagy, Lucia Moholy (1894-1989), war ebenfalls Fotografin und hat in den 1920er Jahren die Arbeiten der Bauhauskünstler in zahlreichen Fotos dokumentiert. László Moholy-Nagy war ein Sozialist, dem der "Neue Mensch" sehr wichtig war. 1938 konnte er vor den Nazis in die USA flüchten.

Dr. Christian G. Pätzold.

Seht bitte auch den Artikel »László Moholy-Nagy: Komposition Z VIII, 1924« vom 2019/05/09 auf kuhlewampe.net.

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2019/09/12


artechile


Foto aus dem Chile von Salvador Allende. Fotografiert von John M. Hall, Anfang der 1970er Jahre. Das Foto ist zu sehen in der Ausstellung "Tausend Tage Zukunft. Fotos aus dem Chile der Unidad Popular" in der Pablo-Neruda-Bibliothek in Berlin Friedrichshain.

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2019/09/10

sommerparty

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2019/09/06

Tag des Offenen Denkmals am 8. September 2019

Dr. Christian G. Pätzold

gropiusstadt
Die Gropiusstadt in Berlin Neukölln. Quelle: Wikimedia Commons.

Der Tag des Offenen Denkmals findet in Deutschland jährlich am 2. Sonntag im September statt. In anderen europäischen Ländern an anderen Tagen. Er wird in Deutschland von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz koordiniert. An diesem Tag sind in Deutschland über 7.000 Denkmäler für die Öffentlichkeit zugänglich. Das ist eine gute Gelegenheit, mal ein Denkmal in der Nähe besser kennen zu lernen. Denn normalerweise steht man nur vor einem Denkmal und erfährt nichts, während am Tag des Offenen Denkmals Führungen angeboten werden, so dass man hinter die Kulissen sehen kann und interessante Infos erhält.
Das diesjährige Motto ist: Modern(e): Umbrüche in Kunst und Architektur. Damit ist allerdings nicht etwa nur die Moderne des 20. Jahrhunderts gemeint, sondern sämtliche Umbrüche in der gesamten Kunstgeschichte, die alle mal modern waren. Insofern fallen für die Stiftung Denkmalschutz alle Denkmäler sämtlicher Jahrhunderte unter den Begriff Moderne, so dass man 7.000 „moderne“ Denkmäler besichtigen kann.
In Berlin findet der Tag gleich an 2 Tagen statt, am 7. und am 8. September 2019, wahrscheinlich weil es so viele Denkmäler gibt. Das Programm kann man sich aus dem Internet als PDF downloaden. Es sind hunderte Denkmäler geöffnet, wodurch die Auswahl nicht leicht ist. Aber angesichts von 100 Jahren Bauhaus könnte man sich mal mit moderner Architektur des 20. Jahrhunderts beschäftigen, zum Beispiel mit der Gropiusstadt, wo auch Führungen angeboten werden.
Die Gropiusstadt wurde mit 18.500 Sozialwohnungen ab 1962 im Süden des Berliner Bezirks Neukölln gebaut, um die Wohnungsnot abzumildern. Das war ziemlich in der Pampa gelegen, direkt an der Staatsgrenze zur DDR. Die Gropiusstadt wurde von dem ehemaligen Bauhausdirektor Walter Gropius (1883-1969) geplant, dem es schmeichelte, dass eine ganze Stadt nach ihm benannt wurde. Wie viele Architekten haben schon das Vergnügen, dass eine ganze Stadt ihren Namen trägt? Sehr wenige.
Walter Gropius ist am 5. Juli 1969 in Boston/USA gestorben und musste (zum Glück) nicht mehr miterleben, wie aus seiner Stadt ein miserables "Proletengetto" wurde. Wer dort lebte, war schon als Unterschichtler abgestempelt. Die ganze Sache war von Anfang an falsch, als reine Schlafstadt gebaut mit tausenden von "Arbeiterschließfächern" oder "Kaninchenställen", wie die Wohnungen genannt wurden. Man hätte Obstgärten anlegen können. Stattdessen hat man asphaltierte Flächen für Autos gebaut. Man hätte dort auch Arbeitsplätze schaffen können, in jedes Hochhaus einen Laden oder ein Cafe integrieren können, man hätte soziale Treffpunkte, Bildungseinrichtungen und ein gesellschaftliches Leben schaffen können, das wäre nicht schwer gewesen. Aber das wollte man nicht. Man wollte die Leute wegsperren und Kontakte untereinander erschweren. Es war eine üble, miese Strategie. In der Urbanistik würde man sagen, die Menschen wurden marginalisiert und depraviert.
So hat man systematisch das heutige Kriminalitätsgetto und die Nazihochburg Gropiusstadt gezüchtet. Der arme Walter Gropius hat es nicht verdient, dass diese Horrorstadt nach ihm benannt ist, denn er hat sich als Gründer des Bauhaus 1919 große Verdienste erworben. Die Kunsthochschule Bauhaus war ein ganz anderes emanzipatives Projekt. Wenn die Gropiusstadt tatsächlich ein historisches Denkmal ist, dann ein Denkmal für 50 Jahre soziales Desaster.
Ähnliche Fehler haben die Funktionäre der DDR mit den Plattenbausiedlungen gemacht, wo es auch kaum Läden, kulturelle Einrichtungen oder soziale Treffpunkte gab, während gleichzeitig der Prenzlauer Berg und viele Altstädte kaputtvernachlässigt wurden. Diese modernen Trabantenstädte waren eben keine richtigen Städte mit einem sozialen Leben, sondern bloße Bettenburgen.
Wenn man weiß, welche Fehler in der Vergangenheit gemacht wurden, dann macht man hoffentlich dieselben Fehler nicht noch einmal in der Zunkunft. Daran zu denken ist gerade heute sehr wichtig, weil jetzt viele neue Wohnungen und ganze Wohnviertel in Berlin gebaut werden.

Zum Tag des Offenen Denkmals 2017 seht bitte auch den Beitrag "Die ADGB-Bundesschule in Bernau" vom 2017/09/05 auf kuhlewampe.net.

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2019/09/03

Wie Opa und Oma ein Paar wurden

Markus Richard Seifert

Bei Ehe und Heirat denken die meisten Menschen an Liebe. Nichts könnte natürlicher sein. Und auch wünschenswerter. Aber es gibt - abgesehen von den arrangierten Ehen der Königskinder, die oft eher politische Gründe haben als die individuelle Liebe zwischen zwei Menschen - auch ganz praktische und viel realistischere Gründe dafür, dass ein Mann und eine Frau den "Bund fürs Leben" schließen. Und davon soll hier die Rede sein.
Mein Großvater Johannes Seifert der Zimmermann zum Beispiel war (wenigstens meines Wissens nach) niemals wirklich verliebt (so wie Romeo und Julia es angeblich gewesen sind). Aber dennoch hat er geheiratet, und zwar am 29. September 1928 (also ganz kurz vor der Weltwirtschaftskrise) in der Freien und Hansestadt Hamburg, um genau zu sein. Und das kam so: Mein Großvater Johannes Seifert der Zimmermann, wie gesagt, wurde im Jahre 1892 auf der seit 1920 dänischen Ostseeinsel Alsen geboren, im Kreise von acht Geschwistern. Er hatte, wie er mir selbst erzählt hat, eine glückliche Kindheit, was zweifelsohne ein seelisches Kapital für ihn bedeutete, von dem er sein Leben lang gezehrt hat. Noch im Rentenalter hing ein großes, gerahmtes Foto seiner Eltern über seinem Sofa und Bett, um seine Verbundenheit mit ihnen viel eindrucksvoller zum Ausdruck zu bringen als Worte das jemals können werden. (Der Satz könnte "kitschig" klingen, wenn er nicht echt wäre).
Mit acht Geschwistern aufgewachsen, die ein Leben lang fest zusammengehalten haben (was nicht unbedingt selbstverständlich ist), war er das Alleinleben eigentlich von zu Hause gar nicht gewohnt - auch als er aus Treue zu Deutschland und dem Lockruf der Weltstadt folgend nach Hamburg zog, rissen seine Familienbindungen keineswegs ab. Seine drei Schwestern, so wird berichtet, führten ihm "umschichtig" und also abwechselnd den Haushalt. Aber das konnte natürlich nicht von Dauer sein. Denn eines Tages hatten diese drei Schwestern mit Namen Margarethe ("Gretchen"?), Ingeborg (später "Tante Inge") und Mathilde eigene Familien und damit auch einen eigenen Haushalt zu versorgen. Und darum kam und geschah das, wovon ich hier nun erzählen werde:

Mein Großvater Johannes Seifert der Zimmermann war in den Fragen des praktischen Haushalts Gott-sei-Dank nicht so hilflos wie manch anderer Mann, denn schließlich hatte er "beim Barras" (also der dreijährigen damaligen Wehrpflicht) nicht nur Marschieren und Schießen, sondern auch Knöpfe annähen und Strümpfe stopfen gelernt (in der so genannten "Putz- und Flickstunde", wofür die Offiziere ihre "Burschen" hatten).
Aber als Vollzeit berufstätiger Mensch mit drei Jobs hatte er in Wirklichkeit weder Zeit noch Kraft dazu, auch noch seinen Haushalt zu machen. Und daher sehen wir ihn eines Tages seine Schritte zu einem Ladenlokal lenken, über dessen Schaufenster ein Schild mit der Aufschrift "Eheanbahnungsinstitut Krogmann & Partner" (oder wenigstens so ähnlich) zu lesen stand. Was er denn wolle, fragte ihn ein kleiner, dicker und kahlköpfiger Herr mit Brille und grauen Ärmelschonern, der hinter einem großen Schreibtisch saß und vielleicht der Inhaber dieser Firma war. Denn eine Firma war es (und heute würde sie vielleicht "parship" geheißen haben). Eine Firma also, und mein Großvater hat dann auch ganz privatwirtschaftlich für ihre Dienste bezahlt. Was er also wolle, wurde er gefragt, obwohl das eigentlich hätte klar sein müssen. "Je nun", erwiderte mein Großvater Johannes Seifert der Zimmermann, als Handarbeiter nicht wirklich daran gewöhnt und darin geübt, seine Wünsche und Gedanken in gebildetem Schrift- und Hochdeutsch auszudrücken, "ick wüll een Fruu!" "Dafür sind wir da", sagte der Büromensch bereitwillig. "Für den Haushalt oder auch gegen die Einsamkeit?" "Beides", antwortete mein Großvater. Womit auch das geklärt war. Woraufhin ihm Akten vorgelegt wurden, darin Lebensläufe mit Fotos von heiratswilligen Frauen und Damen, die offenbar nur darauf warteten, von ebenso heiratswilligen Herren und Männern betrachtet zu werden zum Zwecke der Auswahl. Denn das Kapital dieser Firma war eine Datenbank. Und heute würden wir sie wahrscheinlich mit Excel am PC anlegen. So weit mein Opa.

Zur gleichen Zeit war auch eine junge Frau namens Martha Loose (to loose heißt auf Englisch verlieren), Dienstmädchen in Hamburg und wie damals üblich bei ihrer Dienstherrschaft in demselben Haushalt wohnend bei diesem "Eheanbahnungsinstitut" als Interessentin registriert. Sie war die Tochter des Findelkindes und Fabrikarbeiters August Adolph Theodor Loose und wurde im Jahre 1902 in einer Landgemeinde südlich der Elbe und von Hamburg geboren, war also rund zehn Jahre jünger als mein späterer Opapa. Auch sie wurde natürlich nach ihren Wünschen befragt. "Also zunächst einmal", sagte die temperamentvolle junge Frau, der ein gewisser mädchenhafter Charme nicht abzusprechen war, aber auf burschikose Art, "möchte ich endlich einen eigenen Haushalt haben. Denn wenn man, so wie ich, bei seinem Arbeitgeber in dessen Wohnung wohnt, dann hat man eigentlich gar kein richtiges Privatleben mehr". "Und außerdem - und darum bin ich hier - brauche ich natürlich einen Ehemann", fügte sie noch hinzu, in demselben Ton wie eine Frau, die in einem Kaufmannsladen Waren bestellt ("Ein Ehemann und fünf Pfund Kartoffeln, bitte!"), "denn ich habe schließlich nur Haushalt gelernt". Sie sagte "natürlich", was heutzutage keineswegs mehr natürlich ist. "Am besten einen Beamten!", ergänzte sie noch, "denn die werden doch nie arbeitslos". (Ihr Ehemann sollte also auch ihr Ernährer sein, was damals noch selbstverständlich war).
"Aber gute Frau", bekam sie daraufhin zu hören, "glauben Sie denn allen Ernstes, dass ein Beamter mit höherer Schulbildung oder wenigstens ein Büroangestellter sich auf Dauer für ein Dienstmädchen, das nur die Volksschule besucht hat, begeistern könnte, auch wenn sie noch so’ne fesche Deern ist?" (Man sagte "Deern" statt Mädchen, denn schließlich lebte man in Hamburg - und dort wird bekanntlich Plattdütsch gesprochen - und das auch heute noch). "Aber wir haben hier, sehen Sie mal!" - Geblätter in den Akten, die Datenbank lässt bitten - "wir haben hier einen sehr soliden Handwerker, wenn Sie wollen. Raucht nicht, trinkt nicht, ist offenbar von friedlicher Wesensart - und in ungekündigter Stellung ist er außerdem."
Es klang wie ein Gespräch bei einer Arbeitsvermittlung. Und von Liebe war dabei durchaus nicht die Rede gewesen. Und also kam und geschah es, dass der Vater meines Vaters - Johannes Seifert, der Zimmermann - sozusagen in den "Hafen der Ehe gesegelt" ist. Keine Schmetterlinge im Bauch und keine Rosen vor der Wohnungstür, aber an Stelle dessen eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, bei der sich beide aufeinander verlassen konnten. Denn auf Taten und Vertrauen ist das Bündnis aufgebaut, das wusste schon - ach schiet, was weiß ich denn, wer das außer mir noch gewusst hat?

Aber als die Monate zu Jahren wurden, da war aus dem Neben- ein Miteinander geworden. Und dieses Miteinander führte zu Zärtlichkeiten, die normalerweise Folgen haben können. Oder wie sagte schon Goethe, der Dichter, in seinem »Faust Eins«: "Ich bin zu alt, um nur zu spielen - zu jung um ohne Wunsch zu sein". Folgen also. Und am 10 Juli 1931 (also noch während der Weimarer Republik, von ihren Gegnern allerdings nur verächtlich "Systemzeit" genannt) wurde meinen Großeltern in der Hamburger Carolinenstraße 20 B ("Sankt Pauli Süd!", pflegte mein Vater zu betonen, denn er wollte kein Kind der Reeperbahn sein) ein Sohn geboren, ein Knabe also, der auf den Namen Hans Peter Max Seifert getauft wurde und später nur noch "der lange Hans" genannt ward.
Aber ob der jemals meine Mutter Irmchen Nawrotzki (von der ich doch auch ein Teil bin) geliebt hat, das vermag sein Sohn Markus nicht zu sagen. Wenn ja, dann muss das vor meiner Geburt gewesen sein - also in jener Zeit, wo sie noch nicht zusammen wohnten und sich Briefe schrieben. Denn der Härtetest in einer so genannten "Beziehung" ist die gemeinsame Wohnung - und eine offen gelassene Speisekammertür kann ein echter Scheidungsgrund sein. So ist das alles wirklich gewesen, aber wer will das heute noch lesen ... zum Beispiel beim Bier am Tresen.

© Markus Richard Seifert, September 2019.

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2019/09/02

Zum 50. Todestag von Onkel Ho

Dr. Christian G. Pätzold

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Ho Chi Minh im Jahr 1946. Quelle: Wikimedia Commons.

Ho Chi Minh war nicht sein Geburtsname, sondern nur eines seiner geschätzt 50 Pseudonyme. Er arbeitete oft im Untergrund und wurde von der französischen Sûreté und anderen Geheimdiensten verfolgt, so dass er sich zahlreiche Decknamen zulegen musste. Geboren wurde er als Nguyen Sinh Cung am 19. Mai 1890 im mittleren Vietnam. Schon als Schüler entwickelte er eine Abneigung gegen die französische Kolonialherrschaft in Vietnam. Mit 21 Jahren verließ er Vietnam und hielt sich in den folgenden Jahren viel in Frankreich auf, wo er sich der Sozialistischen Partei anschloss. Er spielte die zentrale Rolle im Kampf gegen die französischen Kolonialherren (Indochinakrieg 1946-1954) und gegen die US-amerikanischen Besatzer (Vietnamkrieg 1955-1975). Von 1945 bis 1969 war er der Präsident der Demokratischen Republik Vietnam. Er starb am 2. September 1969 in Hanoi. In Vietnam wird er liebevoll Onkel Ho genannt, auf Vietnamesisch Bac Ho.
Mit Mao Tse-tung, Fidel Castro und Che Guevara gehörte Ho Chi Minh zu den bekanntesten Revolutionären und Guerillakämpfern des 20. Jahrhunderts. Aber vielen Normalbürgern war er sicher nicht bekannt. Als wir 1968 auf dem Kudamm "Ho-Ho-Ho-Chi-Minh" bei den zahlreichen Anti-Vietnamkrieg-Demos riefen, haben viele westberliner Bürger wahrscheinlich gedacht: "Was für eine afrikanische Buschsprache sprechen die Gammler da?" Dass die Amis in Vietnam Frauen und Kinder mit Napalm verbrannten, war für sie kein Problem. Die Amis waren ja die großen Freunde von Willy und den Westberlinern, die sogar Panzer in der Stadt hatten und natürlich den Vietnamkrieg gewinnen würden. Das stand unumstößlich fest. Aber dem war nicht so. 1975 wurden die Amis vom Vietcong aus Vietnam vertrieben und mussten Hals über Kopf flüchten.
Nach 1975 kamen vietnamesische VertragsarbeiterInnen in die befreundete DDR, denn dort bestand ein großer Mangel an Arbeitskräften. Sie arbeiteten bspw. in der Textilindustrie als Näherinnen und sollten eigentlich nach 5 Jahren wieder nach Vietnam zurückkehren. Gleichzeitig kamen vietnamesische Boatpeople nach Westdeutschland. Und so kam es, dass 1990 insgesamt etwa 100.000 VietnamesInnen in Deutschland lebten. Verglichen mit den TürkInnen war das eine kleinere ausländische Community.
Nach dem Zusammenbruch der DDR 1990 blieben viele Vietnamesen in Deutschland. Nach 1990 verkauften sie oft illegal geschmuggelte Zigaretten in Berlin, um sich über Wasser zu halten. Inzwischen sind 30 Jahre vergangen und viele Vietnamesen sind im Kleingewerbe angekommen. Heute gibt es in Berlin zahlreiche vietnamesische Restaurants, Blumenläden und Nagelstudios. Die Pho-Bo-Suppe ist ein Berlin fast so bekannt und beliebt wie in Hanoi. Fast ein kleines vietnamesisches Dorf ist das Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg.
An Ho Chi Minh erinnert die 8-Millionenstadt Saigon, die heute Ho-Chi-Minh-Stadt heißt.

Seht bitte auch den Beitrag "50. Jahrestag des My Lai Massaker" vom 2018/03/16 auf kuhlewampe.net.

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2019/08/31

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2019/08/28

Dr. Hans-Albert Wulf
Der Tote in Goethes Gartenhaus

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Goethes Gartenhaus in Weimar. Zeichnung von Georg Melchior Kraus (1737-1806), 1777.
Quelle: Wikimedia Commons.

Goethe saß in seinem Weimarer Gartenhaus im Arbeitszimmer und dichtete vor sich hin. Da wurde er von einem lauten Knall aufgeschreckt und direkt danach fiel dumpf ein massiver Gegenstand zu Boden. Goethe stürzte ins angrenzende Altanzimmer und sah zu seinem Entsetzen einen jungen Mann am Boden liegen, der sich gerade eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Sein Gesicht war blutüberströmt und neben ihm lag eine Pistole. Er trug einen blauen Rock, eine gelbe Weste und braune Stulpenstiefel. Inzwischen war auch Goethes Diener hereingekommen und sie nahmen den Toten genauer in Augenschein. Und dabei entdeckten sie in des Toten Rocktasche ein kleines Büchlein. Und dies waren natürlich Goethes »Leiden des jungen Werther«.
Sein Buch hatte sehr viel Wirbel ausgelöst und Goethe mancherlei Kritik eingetragen. Mit seinem Briefroman ermuntere er junge Menschen dazu, Selbstmord zu begehen. Und nun dies: Da war ihm doch tatsächlich ein Selbstmörder mitten ins eigene Haus gepoltert. Goethe kokettierte gelegentlich zwar gern mit der selbstmörderischen Wirkung seines Romans, aber bitte schön doch nicht so brachial im eigenen Haus, ganz zu schweigen von den Blutflecken auf dem Holzfußboden. Der Diener wurde nun geschickt, die Polizei zu holen, die schnell sah, dass es sich um kein Verbrechen, sondern um eine Selbsttötung handelte. Und das Motiv lag offen auf der Hand. Alle Indizien sprachen dafür, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelte. Die typische Wertherkleidung, die Pistole, der Schuss in den Kopf oberhalb des rechten Auges und vor allem der Werther-Roman in der Tasche sprachen Bände.
Als Goethe aus seinem Alptraum erwachte, war er noch stark benommen und vermochte zunächst nicht zu entscheiden, ob diese schreckliche Geschichte sich nun tatsächlich so zugetragen hatte. Erst als er auf dem Fußboden des Altanzimmers keinen Blutfleck mehr sah, fand er ins wirkliche Leben zurück.

Können Bücher töten? Dass sie den Lesern den Verstand rauben können, ist ja seit Don Quijote hinlänglich bekannt. Aber töten? Dies ist bei Goethes »Werther« ganz offensichtlich der Fall gewesen. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass Don Quijote hunderte von Ritterromanen verzehrt hatte, bevor er es zum "Ritter von der traurigen Gestalt" gebracht hatte.
Goethe dagegen benötigt nur einen einzelnen schmalen Briefroman, um Leser in den Selbstmord zu treiben. Nun haben sich ja bekanntlich nicht alle Leser dieses Bestsellers von damals das Leben genommen. Man hat nachgezählt, es waren nur einige wenige, etwa zwölf. Die Mehrheit der Leser*innen identifizierte sich jedoch in einem Maße mit dem Titelhelden, dass man hier getrost von mentalem oder virtuellem Selbstmord sprechen kann.
Nimmt man nur die Handlung des »Werther«, so ist die Geschichte eher trivial. Ein Jüngling verliebt sich in eine junge Frau, die aber bereits einem anderen versprochen ist, und bringt sich aus Liebesschmerz um. O-Ton-Goethe: "Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug nicht mehr, die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste." (Goethe, Hamburger Ausgabe Band 6 S.124).
Der frühere deutsche Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki hatte Goethes »Werther« in seinen Kanon der deutschen Literatur aufgenommen und gefordert, dass jeder gebildete Bürger den Werther gelesen haben sollte. Dies ist jedoch nicht die einhellige Meinung. Gelegentlich wurde der Werther schon mal als "Sozialkitsch" (R. D. Precht) abgetan und auch im Deutschunterricht der Schulen hat er meist nur wenig Begeisterung hervorgerufen.
Ich denke man wird Goethes Werther nur gerecht, wenn man ihn vor dem Hintergrund der damaligen "Sturm und Drang-Periode" betrachtet. Werther ist die Personifizierung eines vor allem bei jungen Menschen verbreiteten neuen Lebensgefühls. Zum einen richtete er sich gegen den dünkelhaften Lebensstil des privilegierten Adels. Bezeichnend ist hier im Roman die Szene, in der Werther als Bürgerlicher aus einer Geselligkeit von Adligen hinauskomplimentiert wird. Zum anderen setzte sich der "Sturm und Drang" gegen die damals aufkommende Aufklärung mit all ihrer Rationalität und den Vorstellungen einer geregelten Lebensführung zur Wehr. Der Begriff "Sturm und Drang" rührt vom Titel eines Theaterstücks (1776) des Dichters Friedrich Maximilian Klinger her. Es war der Begriff für die gesellschaftliche Epoche im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Kritik am etablierten Lebensstil, Empfindsamkeit, Gefühlsüberschwang und Naturseligkeit, dies waren die verbreiteten Merkmale. Im Unterschied zu den revolutionären Bewegungen in Frankreich zur selben Zeit war die deutsche "Sturm und Drang-Bewegung" jedoch nicht unmittelbar politisch orientiert. Sie reduzierte sich auf die literarische Ablehnung der erstarrten und verkrusteten Gesellschaftsordnung mit all ihren steifen und gefühlsarmen Umgangsformen. Vielleicht kann man den "Sturm und Drang" mit der Hippiebewegung vor 60 Jahren in den USA vergleichen.

Woran hat sich Goethe bei seinem Roman nun orientiert? Da waren zum einen seine persönlichen Erlebnisse in der unglücklichen und unerfüllten Liebe zu Charlotte von Buff. Nur hat sich Goethe daraufhin bekanntlich nicht umgebracht, sondern seinen Seelenschmerz im »Werther« literarisch verarbeitet. Vorbild für Werther war zum anderen die tragische Geschichte des Juristen Karl Wilhelm Jerusalem, der sich wegen der unglücklichen Liebe zu einer verheiraten Frau in seiner Wohnung in Wetzlar erschossen hatte. Und Goethe weint Krokodilstränen: "Wie ich mich nun dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen; und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum und dieses Büchlein, was mir so viel genützt hatte, ward als höchst schädlich verrufen." (Goethe, Hamburger Ausgabe Band 9 S. 588).
Die Mehrzahl der Rezensenten reagierte kritisch. Viele zeitgenössische bürgerliche Leser empfanden Werther als Störer des Ehefriedens, als Rebellen und Freigeist, der ihren moralischen und religiösen Wertvorstellungen widersprach. Sie warfen dem Buch außerdem vor, die Jugend zum Selbstmord zu verführen. Es gab aber auch sarkastisch-ironische Kommentare, wie die Geschichte des Berliner Verlegers Friedrich Nicolai mit dem Titel »Die Freuden des jungen Werther«. Werther wird hier von Lottes Verlobtem Albert - also seinem Rivalen - vom Selbstmord abgehalten. Und großmütig überlässt Albert dem liebesschmachtenden Werther die Lotte. Der heiratet nun Lotte und gründet mit ihr eine regelrecht spießbürgerliche Ehe mit sage und schreibe acht Kindern. Im Laufe der Zeit häufen sich die üblichen Ehezwistigkeiten, aber schließlich mündet die Ehegeschichte in ein moderates Familienglück. Als Goethe die Erzählung zu lesen bekam, musste er lachen und bescheinigte dem Autor, dass er mit seiner Geschichte dem armen Werther kräftig aufs Grab "geschissen" habe.
All diese Kritiken und Persiflagen taten Goethes »Werther« jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil: Sie mehrten seinen Ruhm und verbreiteten seinen Roman in ganz Europa. Aber auch in unserer Zeit ist das Werthermotiv aufgegriffen und z. B. von Ulrich Plenzdorf in seinem Roman »Die neuen Leiden des jungen W.« literarisch verarbeitet worden.
Als Napoleon sich auf seiner Deutschlandtour befand, kam auch ein Treffen mit Goethe zustande, bei dem er den Dichter zu dessen »Werther« beglückwünschte und bekannte, er habe den Roman bereits siebenmal gelesen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob man nach der Lektüre von Goethes Selbstmordroman noch Kriege führen und diese sogar gewinnen kann.

Wie stand es nun tatsächlich mit den Wertherselbstmorden? Ich halte mich hier an das lesenswerte Buch von Martin Andree »Wenn Texte töten«. Nach Andree hat es etwa zwölf dokumentierte Selbstmorde gegeben, die mit dem »Werther« in Verbindung gebracht wurden.
Bemerkenswert ist hierbei, dass fast die Hälfte derer, die sich in der Werthernachfolge umbrachten, Frauen waren. Allerdings unterschied sich die Art des Selbstmordes. Während die Männer sich penibel an das Wertherdrehbuch hielten und sich erschossen, bevorzugten die Frauen den Giftbecher oder den Sturz in die Tiefe. In fast allen Fällen lag das aufgeschlagene Wertherbuch in der Nähe der Toten.
Nachahmung gab es aber nicht nur bei den Selbstmorden, sondern ebenso bei der literarischen Weiterverarbeitung der Werthergeschichte. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang der Briefroman »Die Leiden der jungen Fanny. Eine Geschichte unserer Zeit in Briefen« von F.G. von Nesselrode von 1785. Im Unterschied zum Werther ist dies hier ein Briefroman, in dem beide Partner sich gegenseitig Briefe schreiben. Der Ausgangspunkt ist wie bei den meisten anderen Geschichten die unerfüllte Liebe. Die Mutter besteht darauf, Fanny mit einem "alten Landbeamten" zu verheiraten und wenn sie diesem mütterlichen Wunsch sich verweigere, so wolle sie Fanny bis zu ihrem Lebensende in ein Kloster stecken.
Fanny ist aber unsterblich in Franz verliebt und da ihre beiderseitige Liebe durch die Konventionen und Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft hintertrieben wird, sucht sie Trost bei der Lektüre von Goethes »Werther«. "O wie sehr bedaure ich den guten Werther, den ich eben aufgeschlagen vor mir habe, wie sehr gleichet sein Zustand dem meinen! Hoffnungslose Liebe war die Ursache des Endes seiner Tage und seiner Marter." Und so wie Werther sieht Fanny schließlich als einzigen Ausweg den Tod. In dem Nachwort des Briefromans wird Fannys Ende detailliert und geradezu schaurig-grotesk geschildert, wie sie den Turm der Münchener Frauenkirche besteigt und sich hinunterstürzt: "Fanny sprang rasch, wie ein Hirsch, die Treppe hinauf, bis sie in der Höhe war, ehe ihr die Magd nachkommen konnte. Und nun rief sie dem Mädchen zu: 'Lebe wohl, Rose! Grüße meine Mutter!' Und stürzte sich dann aus dem Fenster des Turmes hinunter. Und fiel einem frommen Geistlichen durch das Dach seines Häuschens in sein Wohnzimmer."
Als Goethe auf der Durchreise nach Italien in München Halt machte, ließ er es sich nicht nehmen, den besagten Turm der Frauenkirche zu besteigen. Danach schrieb er an Charlotte von Stein: "Ich stieg auf den Turm von dem sich die Fräulein herabstürzte."

Am Schluss dieses Briefromans folgt ein moralinsaurer Sermon, der nicht etwa die bornierten Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft ins Visier nimmt, sondern seine Leserinnen vor zu viel Empfindsamkeit warnt.
"Weinet Mädchen! Wenn ihr bei ihrem Grabe vorüber gehet, eine Träne des Mitleids. Und schuf die Natur euch mit empfindsamen Herzen, so lasst euch die Geschichte ein schreckendes Beispiel sein. Denkt dass die Liebe die Urheberin alles Guten, aber auch alles Bösen ist, wenn überspannte Leidenschaften die Kräfte der Seele übermannen." Amen!

© Dr. Hans-Albert Wulf, August 2018.

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2019/08/27

Ein Augustmorgen mit Purpurwinde

purpurwinde
Fotografiert von © Sabine Rahe, August 2019.
https://www.die-dorettes.de

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2019/08/25

Wolfgang Weber
zehn / neunundsechzig / drei

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Wolfgang Weber circa 1969


nun kommt ein eiskaltes Kapitel /
die EISING Sequenz /
der Musiklehrer hiess EISING

weil meine Gesangsstimme so tief war / behauptete er / ich wollte seinen Unterricht stören / keineswegs

er komme in der Oberstufe wieder / war seine Drohung

er tat so / als ob er alles über britischen Blues Rock wüsste / das Harmonika Solo sei zu schematisch

ich glaube / er hatte einfach keine Ahnung / wovon er redete / das von einem Mitschüler in den Unterricht gebrachte Stück / hiess übrigens / room to move / Bewegungsfreiheit

EISING öffnet den Plattenschrank / legt eine Schallplatte auf / am Anfang der Platte knackt es ganz gewaltig / ein Staubkorn

es war Musik vom / Modern Jazz Quartet / klassisch strukturiert / logisch im Sinne von J. S. Bach / das Knacken wurde zum Gespött der Klasse / mir gefiel die Musik schon damals sehr

nein / er hat mir die Musik nicht ausgetrieben / das konnte er nicht

EISING war streng / sehr streng sogar / EISING war ungerecht / manche hatten womöglich Angst vor ihm

EISING macht die Tür des Musikschranks wieder zu / das Knacken ist weg

das neue Farbprogramm / in der Bundesrepublik bereits 1967 / wurde eifrig für die neuen Musikformate genutzt

psychedelische Musikprogramme / im Fernsehen / sich drehende Farben / ältere Leute bekamen Kopfschmerzen / Mike Leckebusch lässt grüssen

meine Mutter konnte mitreden / sie schaute mit mir zusammen / Musiksendungen zu später Stunde

der Rockpalast vom WDR / endete manchmal / erst um sechs Uhr morgens am Sonntag / drei oder vier Bands, zwei davon toll / an einem solchen Morgen / mochte ich nicht von der Kirchenglocke geweckt werden

TSCHÖRMENN TELLEWISCHN PRAUTLIH PRISSENTZ

Albrecht Metzger / mit seinem schwäbisch geprägten Englisch / war das Gespött der jungen Leute / später bekannte er sich mit seinem Kabarett Schwabenoffensive zu seinen Wurzeln / richtig so

Peter Handke / damals noch unbekannt / legte junge Musik im NDR Radio auf / Rolling Stones / Quicksilver Messenger Service / Bo Diddley etwa / lange bevor sie in Deutschland grössere Bekanntheit erlangten / dazu parteiische rebellische Kommentare
[ Sommer 2018 nichts dazu im Internet zu finden ]

gleichzeitig Charles Wilps berühmter Slogan für Afri Cola:
sexy - mini - super - flower - pop - op - cola - alles - ist - drin - in - afri - cola
& das in Text Bild Musik / alles gleichzeitig

mein Gott / ich war sechzehn / musste nicht alles wissen / es passierte soviel / dass es für mehrere Jahre locker gereicht hätte

wir mittendrin / ein Kaleidoskop / ein Kessel Buntes / Träume / Hoffnungen / Visionen / auch Befürchtungen / Atom / Krieg / Vietnam

& heute ?

EDEN ist immer noch da
der Fernsehturm ebenfalls
das Sechs Tage Rennen auch
Stones / immer noch gross / immer noch jung
die DDR ist nicht mehr da / aber ein Museum schon

& ich

ich bin wieder da in Berlin
schon über dreißig Jahre

© Wolfgang Weber, August 2019.

Der Text ist zuerst in »Innen Welten - das berliner kunstmagazin«, edition 06 erschienen.

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2019/08/23

Wolfgang Weber
zehn / neunundsechzig / zwei

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Wolfgang Weber circa 1969


Blitzlicht elf
warum nicht im Osten !

es war 1969 / wir waren in West-Berlin / eigentlich stand auch Ost-Berlin auf dem Programm

warum / ist es nicht dazu gekommen ?

Blitzlicht zwölf
Jubiläum

1949 / wurde die DDR am 7. Oktober gegründet / es war also zwanzig jähriges Jubiläum / das wurde uns damals / während der Reise / als Grund genannt / richtig / aber trotzdem falsch

Blitzlicht dreizehn
Fernsehturm

bereits am 3. Oktober 1969 / weihte Walter Ulbricht den Turm ein & startete das zweite Fernsehprogramm der DDR / DFF2 / außerdem begann auch in der DDR / das Farbfernsehen

für die Öffentlichkeit / wurde der Fernsehturm / erst am 7. Oktober 1969 / freigegeben / also am Republikgeburtstag / nein / das wars nicht alleine

Blitzlicht vierzehn
Stones

es war eigentlich ein Scherz in der RIAS-Sendung Treffpunkt / ein Moderator setzte damit ein folgenreiches Gerücht in die Welt

Kern des Gerüchts war die Behauptung / die Rolling Stones würden / oben auf dem Dach des Axel Springer Hauses spielen / zwanzig Stockwerke hoch / unweit von Checkpoint Charlie & Leipziger Strasse

Großalarm bei Stasi & Vopo / der Termin 7.10.69 / wurde als ungeheure Provokation des Klassenfeindes aufgefasst

obwohl die Stasi schnell herausbekam / dass es eine Ente war / wurden Stones Fans von Berlin ferngehalten / manche sogar vorsorglich verhaftet / so nannte man das

viele Fans kamen / dennoch aus der ganzen Republik / der DDR / angereist / in der Hoffnung / etwas zu erleben / in gewisser Hinsicht erlebten sie auch etwas / nämlich Repressionen der Organe der DDR

von den Stones hat uns / die Reiseleitung damals nichts gesagt / vielleicht haben sie zu diesem Zeitpunkt / auch gar nichts gewusst

ich selbst habe es vor kurzem herausgefunden [ = Sommer 2013 ]

Ende der Blitzlichter

was haben wir noch gemacht ? / Mutter fragen / ich habe ihr viel erzählt

ich war sechzehn / es gab neue Musik /
im Radio / in Fernsehen / auf der Bühne / nicht nur Shanties & Volksmusik / nichts oder nicht viel Deutsches hörte ich / Schlager hatte ich satt

ein Füllhorn von Ideen /
neue Technik /
der Mensch fliegt zum Mond / Apollo 11 / ein kleiner Schritt für einen Menschen / ein grosser für die Menschheit

neue Musik /
Rock / Soul / Blues / Jazz / Reggae / Underground so sagte man / Beat beim NDR & woanders auch / Beat Club Bremen / Hitparade

reingequatscht / in den Anfang & den Schluss der Aufnahme / trotzdem mitgeschnitten

Spulentonbandgerät mit 18 cm Durchmesser / nur im Studio gab es grössere Spulen

konnte schon damals / nicht alles hören / wieder hören / was aufgenommen war
habe mich immer hingesetzt / am Anfang jedenfalls / 1967 / habe die Ansagen heraus geschnitten / das Band geklebt / dafür gab es extra Kästchen mit Zubehör / die von BASF waren rot / mit Schneidemesser & Schneideschablone für das Messer / bunten Bändern für Vorspann & Nachspann / weissen & transparenten Bändern / für die Klebestellen &amP noch mehr Zubehör

bei vier Spuren / zwei vor zwei zurück / hatte das natürlich Auswirkungen / auf die anderen drei Spuren

im Jahr 1969 / startet der Fünf Uhr Club beim NDR / für junges Publikum mit jungen Moderatoren / heute noch beim NDR

neu /
1967 / 1969 / 1971
Martha Reeves & The Vandellas /
dancing in the street

Bob Dylan /
all along the watchtower /
the times they are a changing

Beatles /
come together /
let it be /
revolution /
hey Jude

Rolling Stones /
street fighting man /
sympathy for the devil /
paint it black /
can't get no satisfaction

Jimi Hendrix /
voodoo chile /
still raining still dreaming /
hey Joe

James Brown /
sex machine

Chambers Brothers /
time is now / Soul Gospel Folk / zehn Minuten lang / trotzdem im Radio

dutzende / nein hunderte / neue Künstler / alle im Zeitraum 1967 - 69 / viele phänomenal / einige auch katastrophal / Eintagsfliegen / aber auch Künstler / die die Zeit überdauert haben

richtig gut & grottenschlecht / manche haben sich ständig neu erfunden / andere blieben im Grunde wie sie waren / & haben nur einen Song geschrieben / na, sagen wir zwei / einen langsamen & einen schnellen

1969 / war Willy Brandt Wahl / sozialliberale Koalition / 1972 / dann die historische dramatische Willy Wahl

1969 / Aufbruch zu neuen Ufern / auch im Oktober

neue Fächer in der Schule / Wirtschaft / Kunst / Soziologie / Philosophie / Hauswirtschaft / Gemeinschaftskunde

© Wolfgang Weber, August 2019.

Der Text ist zuerst in »Innen Welten - das berliner kunstmagazin«, edition 05 erschienen.

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2019/08/20

Wolfgang Weber
zehn / neunundsechzig / eins

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Wolfgang Weber circa 1969


im Oktober 1969 / war ich weg / wenn auch nur für eine Woche / fünf Tage genau / mit dem Kreisjugendring Herzogtum Lauenburg / nach Berlin

Vorbereitungstreffen war / im Jugendzentrum Schneiderschere / am Stadtrand von Mölln / Till Eulenspiegel / Ihr wisst schon / hat im Zentrum ein Denkmal

Tag der Bundestagswahl / am 28. September 1969 / Rückfahrt vom Treffen / Busse auf dem Land fahren zu selten / besonders am Wochenende

mit mehreren zurückgetrampt / in einem Dorf gestrandet / zu 100 % CDU / ausser den Tieren natürlich / damals kein Wunder

Preis der Reise nach Berlin / neunundsechzig D Mark / im Jahre neunundsechzig / subventioniert vom Ministerium für innerdeutsche Angelegenheiten

Blitzlichter Berlin zehn / neunundsechzig

Dr. Schreber / HAIR / Diskussionen / Big Eden / Kongresshalle / S-Bahn / Sowjetisches Ehrenmal / Sechs Tage Rennen / Pfaueninsel / Stones / Kontrolle / zwanzig Jahre DDR / Fernsehturm

Blitzlicht eins
Grenzkontrolle

werde als einziger / besonders gründlich kontrolliert / mein Geburtsort Zeitz DDR / heute wieder Sachsen-Anhalt

Blitzlichter zwei und drei
Unterkunft

wir wohnen / im Jugendgästehaus / Dr. Schreber / ja der mit den Gärten / Marienfelde / Buckower Damm / in der Nähe der

S-Bahn

es war damals / extrem verpönt / im Westteil Berlins / mit der S-Bahn zu fahren / da vom Osten betrieben / immer noch kalter Krieg

Blitzlicht vier
Diskussionen

da die Reise / subventioniert war / gab es zwei oder drei obligatorische Diskussionen / wo habe ich / vollkommen vergessen / Themen : vermutlich deutschlandpolitisch

Blitzlicht fünf
Kongresshalle

heute Haus der Kulturen der Welt / waren wir wirklich dort ? / mit wem könnte ich darüber sprechen ? / ich kannte vorher keinen der Mitreisenden / Adressen wurden keine ausgetauscht

Blitzlicht sechs
Sowjetisches Ehrenmal

nicht das in Treptow / damals für uns nicht zugänglich / sondern dasjenige unweit des Brandenburger Tors / Strasse des 17. Juni / im Westen

Panzer / Kanonen / Waffengeklirr & all das Zeug / hat mich nicht beeindruckt / eher abgestossen & irritiert

Krieg ist nicht wirklich meine Welt / mein einer Opa ist in Russland gefallen / der andere schwer verwundet / er & auch mein Vater lange in Gefangenschaft

Blitzlicht sieben
Big Eden

Diskothek am Kudamm / laut / sehr laut / zu laut / voll / sehr voll / zu voll / damals schwer in / Chef Rolf Eden / von Beruf Playboy / heute noch aktiv

Blitzlicht acht
Pfaueninsel

nicht nur dort / tragen viele Rollkragenpullover weiss oder schwarz / Existentialisten womöglich / ein Rollkragen bat mich / ihn mit seiner Kamera zu fotografieren

hat der Pfau ein Rad geschlagen ? / ja natürlich / es waren sogar mehrere Pfauen & Räder

Blitzlicht neun
Sechs Tage Rennen

wir waren aber nur fünf Tage in Berlin / in der Deutschlandhalle glaube ich

1969 / gab es zwei Rennen / # 64 & 65 / Sieger waren: Klaus Bugsdal, Dieter Kempe, Wolfgang Schulze, Horst Oldenburg

wir pfeifen den Sportpalast-Walzer /
& uns klingen / noch tagelang / die Ohren vom Lärm / den Begriff Tinnitus / habe ich erst viel später gehört

Blitzlicht zehn
HAIR

the dawning of the age of Aquarius / der Wassermann / let the sunshine in

das Bürgerschreck-Schock-Musical / in deutscher Sprache / genauso erfolgreich / wie am Off-Broadway / völlig neuartig / Nackte auf der Bühne / das Programmheft hatte die Form einer aufklappbaren Blume

wie man später sagte / summer of love / peace / hair-explosion / eine sanfte Explosion

© Wolfgang Weber, August 2019.

Der Text ist zuerst in »Innen Welten - das berliner kunstmagazin«, edition 04 erschienen.

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2019/08/17

Zum 50. Todestag von Ludwig Mies van der Rohe
(Aachen 27.3.1886 - Chicago/Illinois/USA 17.8.1969)

mies
Die Neue Nationalgalerie in Berlin Tiergarten von Ludwig Mies van der Rohe (1967).
Im Vordergrund eine Bronze-Plastik von Henry Moore: The Archer (Der Bogenschütze) von 1964.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2012.

Ludwig Mies van der Rohe war ein berühmter deutscher Architekt der Moderne. Von 1930 bis 1933 war er der letzte Direktor des Bauhaus in Dessau und Berlin. Im Jahr 1937 emigrierte er in die USA und wurde 1944 US-Bürger. Er entwarf Bauten von großer Einfachheit und Klarheit, wobei er besonders Stahl und Glas verwendete. Sein Motto war: "Weniger ist mehr" (Less is more). Zu seinen Bauwerken zählen bspw. das Revolutionsdenkmal (1926), der Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona (1929), Wohnhochhäuser in Chicago (1948) und die Neue Nationalgalerie in Berlin (1967).
Die Neue Nationalgalerie in Berlin Tiergarten ist ein sehr gelungener Bau von Ludwig Mies van der Rohe, der aus Stahl und Glas besteht. Dadurch entstand eine große lichtdurchflutete Ausstellungshalle. Normalerweise werden dort Malerei und Plastik des 20. Jahrhunderts ausgestellt. Im Moment wird der Bau vollständig renoviert und ist daher geschlossen. Die neuen großen Glasfenster wurden von einer Glasfabrik in Peking geliefert, da sie die einzige Glasfabrik der Welt ist, die so große Glasfenster produzieren kann. Es ist zu hoffen, dass die renovierte Nationalgalerie auch die nächsten 50 Jahre gut übersteht.
Die beiden wichtigsten deutschen Architekten des 20. Jahrhunderts sind in den USA gestorben, weil die Nazis sie verjagt hatten. Ludwig Mies van der Rohe starb am 17. August 1969 in Chicago. Sein Vorgänger als Bauhausdirektor, Walter Gropius, war schon am 5. Juli 1969 in Boston gestorben.

Dr. Christian G. Pätzold.

Seht bitte auch das Foto des Revolutionsdenkmals von Ludwig Mies van der Rohe, das am 2018/11/02 auf kuhlewampe.net erschienen ist.

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2019/08/14

Jimi in Woodstock
(50 Jahre Woodstock. Was ist geblieben?)

Dr. Christian G. Pätzold

jimi
Jimi Hendrix Plattencover, Grafik von Karl Ferris.
Zum 50. Jubiläum von Woodstock. Quelle: Wikimedia Commons.

An dem Tag, an dem ich 18 wurde, fand das Woodstock Music Festival mit 500.000 Besuchern statt. Ich muss präzisieren: Das Woodstock Music Festival ist nach dem Ort Woodstock im US-Bundesstaat New York benannt, fand aber genau genommen im benachbarten Ort Bethel statt. Woodstock lag weit weg von Berlin, aber irgendwie müssen die psychedelischen Vibrations auch bei mir angekommen sein. Damals waren es schon eine Weile nicht mehr die Swinging Sixties.
Ich möchte besonders an den historischen Auftritt von Jimi Hendrix im Summer of Woodstock im August 1969 erinnern. Das Woodstock Festival war für drei Tage geplant, von Freitag 15. August 1969 bis Sonntag 17. August 1969. Wegen des Regens und Problemen mit der Organisation verschob sich das Programm immer weiter nach hinten. So kam es, dass Jimi Hendrix erst am Montag, dem 18. August, um halb 9 vormittags anfing zu spielen. Zu diesem Zeitpunkt waren nur noch relativ wenige Besucher anwesend, die diesen galaktischen Augenblick erleben durften. Die Band nannte sich auch nicht mehr »The Jimi Hendrix Experience«, sondern einfach »Band of Gypsys«.
Im Gedächtnis geblieben ist wohl den meisten sein musikalisches Zerfetzen des Star-Spangled Banner mit dem Vibratohebel. Die Bomber von Vietnam lebten für viele plötzlich in der elektrifizierten Gitarre von Jimi Hendrix auf. Das My Lai Massaker vom März 1968 war noch nicht lange her. Die vietnamesischen Kinder, die in den Napalmbomben der USA verbrannten, standen vielen vor Augen. Der Protest der Studenten gegen den Vietnamkrieg wurde immer stärker. Und die Afroamerikaner hatten damals in den Black Panthers eine starke Interessenvertretung. Die Musik von Jimi Hendrix war der definitive Kommentar über Amerika zum Abschluss der 1960er Jahre. Gleichzeitig markierte Woodstock das Ende der Hippie-Ära.
Jimi Hendrix wurde das Gitarrenwunder genannt, der Music Man, der Magier auf der weißen »Fender Stratocaster«. Er spielte Musik, die man noch nie gehört hatte. Er konnte die Gitarre sogar mit seinen Zähnen spielen. In der Geschichte leuchten die Künstler wie Super-Stars, die etwas Neues geschaffen haben, die ihrer Zeit einen künstlerischen Ausdruck geben konnten. Jimi Hendrix hatte eine solche Höhe mit der E-Gitarre erreicht, dass man nach ihm nur noch ganz bescheiden unplugged spielen konnte.

"White collared conservatives flashing down the street,
Pointing their plastic finger at me.
They’re hoping soon my kind will drop and die,
But I’m gonna wave my freak flag high, high."

"Konservative mit weißen Kragen hetzen die Straße herunter,
Zeigen mit ihrem Plastikfinger nach mir.
Sie hoffen, meine Sorte wird bald aussterben,
Aber ich wehe meine Freakfahne hoch, hoch."

Medikamente und Drogen haben ihn dann leider doch schon mit 27 Jahren dahingerafft. Er nahm Pillen, um wach zu bleiben, und Pillen, um einzuschlafen. Irgendwann ist sein Körper zusammengebrochen. Er hätte mal ein Jahr Urlaub gebraucht. Aber das irre Musikgeschäft war unerbittlich. Und so etwas wie eine Work-Life-Balance kannte er anscheinend noch nicht.

Literatur: Klaus Theweleit/Rainer Höltschl: »Jimi Hendrix. Eine Biographie«, Berlin 2008.
Die CD »Jimi Hendrix Live at Woodstock« ist im Handel erhältlich.

Zum 50. Jahrestag von Woodstock kann man noch mal auf die Hippie-Ära zurückblicken. Das Woodstock Music Festival fand im August 1969 im US-Bundesstaat New York statt. Es war nicht irgendein Festival, sondern das Abschlusskonzert auf die Swinging Sixties und die Hippie-Ära. Das müssen wohl auch einige der vielen Besucher gespürt haben. Hier zeigte sich noch einmal das bessere Amerika, das den Krieg in Vietnam ablehnte. Es gab damals das reaktionäre Amerika der Nixons, der Vietnamkrieger und Mondfahrer (wahrscheinlich in Hollywood gefilmt), und das fortschrittliche und freiheitliche Amerika von Woodstock.
Insgesamt traten 32 Bands und Solisten auf, die die Stile des Folk, Rock, Soul und Blues repräsentierten, also eine große Spannweite. Die Musiker und Musikerinnen, die dort spielten, sind in die Geschichtsbücher eingegangen: Joan Baez, Ravi Shankar, Jimi Hendrix, Country Joe McDonald, Arlo Guthrie, Janis Joplin, Joe Cocker, etc. etc. Einige von ihnen sind zu früh gestorben, andere traten noch bis vor kurzem auf.
Wer war eigentlich nicht in Woodstock? Da sind vor allem die Beatles und die Rolling Stones zu nennen, aber das waren britische Musiker, die die Hippiestimmung in den USA nicht so gut darstellten. Und Bob Dylan war auch nicht dabei, obwohl das Festival eigentlich nach Woodstock kam, weil Dylan dort ein Haus hatte. Die Musiker in Woodstock waren so authentisch, dass viele der Meinung sind, damals habe ein Höhepunkt in der Musikgeschichte stattgefunden. Woran lag das? Es war wahrscheinlich der psychedelische Hippiegeist, der die Musik so fantastisch machte. Woodstock war eigentlich eine Fortsetzung des »Summer of Love« von 1967 im kalifornischen San Francisco.
Aber wer waren die Hippies? Die Hippies waren ganz besondere Menschen, die lange Haare mit Blumen (manchmal) und bunte Kleider hatten. Mit Schrecken haben sie auf ihre Eltern geblickt, die damals Napalmbomben und Agent Orange auf die Vietnamesen abgeworfen haben. Heute blicken sie mit Schrecken auf die Generation ihrer Kinder, die aus den USA einen totalitären Überwachungsstaat mit einem Dutzend Geheimdiensten gemacht haben. »Flower Power«, »Make Love Not War« waren damals sehr wichtig. Ich erinnere mich gerne an die Hippiezeit zurück. Damals hatte ich lange rotbraune Haare, einen langen Bart, weiße Jeans und eine orange Cordjacke und war auch fast ein halber Hippie. Die deutschen Altnazis haben die Hippies immer nur als "Gammler" bezeichnet.
Aber die Hippies waren keine kleine Randgruppe. Zum Festival nach Woodstock sind Hunderttausende junger Menschen geströmt. Die Mehrheit der Jugend fühlte sich damals als Hippie. Später sind allerdings nur noch wenige Hippies übrig geblieben. Ich bin heute immer noch fast ein halber Hippie, nur halb, denn die politische Bewegung von 1968 hat mich auch stark beeinflusst.
Ich habe mal wieder meine alte Woodstock-Vinyl-Schallplatte rausgekramt und auf den Plattenteller gelegt. Drei prall gefüllte LPs. Ich finde, es ist immer noch eine ganz gute Musik. Und die Beatles waren doch irgendwie dabei, denn Joe Cocker hat »With A Little Help From My Friends« von John Lennon und Paul McCartney gesungen.
Noch zwei weitere Eindrücke kommen mir in den Sinn, wenn ich an damals denke. Sommer 1966 war ich in Swinging London in der Carnaby Street, im Stadtteil Soho. Dort gab es damals die tollsten Hippie-Klamotten. Und dann war da noch das Hippie-Musical »Hair«, das 1969 auch nach Berlin kam. Die Darsteller waren die bunteste Truppe, die man sich vorstellen kann. »Hair« hatte über 30 Musiktitel, was ungewöhnlich viel war. Songs wie »Let The Sunshine In« sind noch heute vielen im Ohr.
Noch ein interessantes Dokument vom Summer of Sixty-nine: Der Film »Easy Rider« mit Peter Fonda und Dennis Hopper aus 1969 ist ein Biker Road Movie, das auch etwas vom Suchen nach einem freiheitlichen Lebensgefühl zu unserer Jugendzeit widerspiegelt. Die neue Musik war damals sehr wichtig für die Jugend, aber auch Filme und Theater. Heute graben Archäologen auf dem Feld von Woodstock. Die Fundstücke, die von den Besuchern zurückgelassen wurden, werden am Ort in einem Museum ausgestellt. Neben den toten Fundstücken sind der lebendige Hippiegeist und die Music geblieben.

Gleichzeitig mit Woodstock fand in New York City das "Harlem Cultural Festival" statt, zu dem auch Tausende Besucher strömten, hauptsächlich Afroamerikaner. Dieses Musikfestival wurde später "Black Woodstock" genannt. Musik lag überall in der Luft, aber die Stimmung war auch sehr politisiert, besonders nach der Ermordung des Bürgerrechtlers Martin Luther King jr. im Vorjahr. In Harlem traten berühmte schwarze Stars auf wie B. B. King, Nina Simone (sang ihren Song Revolution), Stevie Wonder, Mahalia Jackson, Richie Havens (der auch in Bethel auftrat) und viele weitere.

© Dr. Christian G. Pätzold, August 2019.

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2019/08/11

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2019/08/08

Prof. Dr. Rudolph Bauer
Hunnenrede des Wilhelm Zwo

am 27. Juli 1900


um in china den aufstand
der boxer niederschlagen
zu lassen befahl der kaiser

dem deutschen ostasiatischen
expeditionskorps beim abschied
aus bremerhaven

macht euch einen namen
wie vor tausend jahren die hunnen
unter ihrem könige etzel

kommt ihr an den feind
so wird er mit waffen geschlagen
es gibt kein pardon

verfallen sei euch
wer euch in die hände fällt
gefangene werden nicht gemacht

führt eure waffen so
dass auf tausend jahre hinaus
es niemals ein chinese wird wagen

einen deutschen scheel
anzusehen gottes segen
sei mit euch und für euch meine

besten wünsche für das
glück eurer waffen öffnet
der kultur den weg ein für alle mal schießt

schießt sie nieder
erschießt sie
und schießt und schießt
es gibt kein pardon

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, August 2019.

Wilhelm II. (1859-1941), von 1888-1918 letzter deutscher Kaiser und König von Preußen.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors dem Buch entnommen:
Rudolph Bauer/Thomas Metscher: Aus gegebenem Anlass. Gedichte und Essay. Hamburg 2018. tredition.

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2019/08/05

Paul Klee: Der goldene Fisch, 1925

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Öl und Aquarell auf Papier und Pappe. 49,6 x 69,2 cm.
Zum 100. Jubiläum des Bauhaus. Quelle: Wikimedia Commons.

Der Maler und Bauhausmeister Paul Klee (1879-1940) ist noch heute recht beliebt, weil seine zahlreichen kleinformatigen und farbenfrohen Bilder zu den poetischsten und märchenhaftesten Schöpfungen gehören und gut an der Stubenwand platziert werden können. Von allen Bauhausmalern, die von den Nazis sämtlich als "Entartete Künstler" eingestuft wurden, hat Paul Klee wahrscheinlich bis heute die größte Popularität und Fangemeinde in Deutschland. Paul Klee war eher ein Exot am Bauhaus, das für Schnörkellosigkeit stand, schon der Name "Bauhaus" ist ziemlich schnörkellos. Klees Malerei dagegen ist eher verspielt und fantasievoll.
Im bekannten Bild »Der goldene Fisch« schwimmt ein großer gelb-goldener Fisch in der Mitte eines tiefblauen Gewässers. An den Rändern scheinen 7 kleinere rötliche Fische vor dem großen Fisch zu flüchten. Im Dunkel des Wassers sind außerdem zahlreiche Wasserpflanzen zu erkennen. Der goldene Fisch ist recht eindrucksvoll gestaltet, mit leuchtend gelben Schuppen, rötlichen Stacheln auf dem Rücken und der Brust, Barteln an Maul und Kinn und einem großen, bedrohlich wirkenden Auge. So ist er eine durchaus Furcht einflößende Erscheinung, die zudem nach Rechts schwimmt!.
Das Bild ist rätselhaft, wie so oft bei Klee. Soll der Goldfisch vielleicht eine bestimmte Person symbolisieren? Oder schwimmt dort das deutsche Volk gefährlich nach rechts? Oder ist der goldene Fisch vielleicht nur die Aufnahme einer Kinderzeichnung eines Fisches? Ich weiß es nicht. Man kann aber sein Bild "Fischzauber", ebenfalls von 1925, vergleichen. Zum Glück gibt es das Internet, wo man Bilder auf einfache Art finden und anschauen kann.
Paul Klee war 1919 Mitglied im Aktionsausschuss Revolutionärer Künstler in München. Von 1920 bis 1931 war er Meister am Bauhaus, wo er vor allem Malerei unterrichtete. Von 1931 bis 1933 war er Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie, wo ihn die Nazis kündigten. Er zog in die Schweiz, wo er 1940 starb.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/08/02

Den zahlreichen Wolfsrudeln rund um Berlin gewidmet:

Christian Morgenstern (1871-1914)
Der Werwolf


Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind, und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: Bitte, beuge mich!

Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:

»Der Werwolf«, - sprach der gute Mann,
»des Weswolfs« - Genitiv sodann,
»dem Wemwolf« - Dativ, wie man's nennt,
»den Wenwolf« - damit hat's ein End'.

Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
Indessen, bat er, füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!

Der Dorfschulmeister aber musste
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäb's in großer Schar,
doch "Wer" gäb's nur im Singular.

Der Wolf erhob sich tränenblind -
er hatte ja doch Weib und Kind!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.

Aus: Christian Morgenstern: Galgenlieder. Birkenwerder bei Berlin 1905.

Anmerkung: Die Galgenlieder sind nach dem Galgenberg in Werder an der Havel benannt, wo man früher Menschen aufzuhängen pflegte. Von dort oben hat man einen wunderschönen Blick über die Havel und das Havelland. Christian Morgenstern traf sich dort regelmäßig mit seinen Freunden, um Gedichte vorzutragen.

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2019/07/31

vorschau08

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2019/07/27

Was gibt es Neues in China?
Interview mit Anna Gerstlacher MA, Sinologin in Berlin
Die Fragen stellte Dr. Christian G. Pätzold

china
Die One Belt One Road Initiative. Quelle: Wikimedia Commons.


CGP:
Die Staatsführung der Volksrepublik China hat ein großes Projekt gestartet: Die Neue Seidenstraße, auch One-Belt-One-Road-Initiative genannt. China ist heute die Werkstatt der Welt. Die Beschäftigten in der chinesischen Industrie können heute fast alles von Low-Tech-Produkten bis zu High-Tech-Produkten für sehr günstige Preise herstellen. Da macht es Sinn, dass die chinesische Führung die Absatzgebiete für die chinesische Industrie in Asien, Afrika und Europa erweitern will, um Arbeitsplätze und den Wohlstand in China zu sichern. Hierfür werden internationale Infrastrukturprojekte von China finanziert, wie Straßen, Bahntrassen und Hafenanlagen. Wie schätzt du die Strategie der Neuen Seidenstraße ein?

AG:
Die Neue Seidenstraße geht zurück auf die alten Seidenstraßen mit mehreren Handelsrouten. Die erste Seidenstraße gab es schon in der Han-Zeit vor zirka 2.000 Jahren. In der Tang-Zeit (7. bis 10. Jahrhundert) gab es eine erweiterte Seidenstraße, die von Changan (heute Xian) bis nach Alexandria führte. Die derzeitigen Neuen Seidenstraßen gehören zu den größten Projekten der Geschichte mit einer finanziellen Prognose von über 1 Billion US-Dollar. Die erste umfasst den Landweg von Beijing durch Zentralasien bis Duisburg, mit Verbindungen nach Pakistan oder in den Iran. Die zweite Seidenstraße ist ein Seeweg von China Richtung Sri Lanka (Hafen Hambantota), dann nach Dschibuti auf dem afrikanischen Kontinent und nach Norden Richtung Mittelmeer/Europa. Der zeitliche Rahmen umfasst mehrere Dekaden, 2049 zum 100. Geburtstag der Volksrepublik China soll das Projekt umgesetzt sein! Einerseits soll eine flächendeckende Infrastruktur aufgebaut werden, andererseits will sich China damit neue Absatzmärkte erschließen. Insgesamt soll sich das Projekt auf 60 Länder ausdehnen. Das klingt zunächst verheißungsvoll und zukunftsweisend. Bei der Umsetzung kommt es allerdings für alle Beteiligten darauf an, wie z.B. die bilateralen Verträge und deren Einhaltung aussehen. Eine große Befürchtung in den Empfängerländern besteht in der Abhängigkeit der chinesischen Kredite; so musste z.B. Sri Lanka bereits den Hafen von Hambantota für 99 Jahre an China verpachten, da das Land die Rückzahlung der Kredite nicht leisten konnte.

CGP:
Der Alibaba-Chef Jack Ma propagiert seit einiger Zeit das Arbeitszeitmodell 996 in China. Dabei müssen seine Angestellten von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends 6 Tage in der Woche arbeiten. Das ergibt dann eine 72-Stunden-Arbeitswoche. Dabei bleibt kaum Freizeit für die Arbeitskräfte, um sich zu erholen. Ist das nicht kapitalistische Ausbeutung hoch 2? Mit der Digitalisierung scheint die Arbeit grenzenlos geworden zu sein. Müsste die chinesische Regierung nicht ein vernünftiges Arbeitszeitgesetz verabschieden?

AG:
Die chinesische Regierung hat seit längerem ein Arbeitszeitgesetz, das 40 Stunden pro Woche vorsieht. Jack Ma ist einer der erfolgreichsten Selfmade-Milliardäre in China. Er wurde für seinen Vorschlag von vielen Seiten, auch von der chinesischen Regierung, kritisiert. Deshalb hatte er sich in letzter Zeit dazu nicht mehr öffentlich geäußert. Es ist jedoch bekannt, dass in vielen großen Unternehmen, unter anderem Staatsunternehmen, vor allem in der IT-Branche, 996 nach wie vor Realität ist, allerdings gab es auch Proteste und Arbeitsniederlegungen. Schon aus wirtschaftlichen Gründen ist eine Reduzierung der Arbeitszeit sinnvoll, damit diese gut verdienende Mittelschicht dem gewünschten Konsumbedürfnis nachgehen kann. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis: Wenn man sich den Arbeitszeitanforderungen grundsätzlich widersetzt, bekommt man die Stelle nicht oder wird gekündigt.

CGP:
Über die bedrängte Situation der Uiguren in der Provinz Xinjiang hört man immer wieder in der Presse. Die chinesische Regierung fördert massiv die Ansiedlung von Chinesen in der Provinz, während die einheimischen Uiguren in Umerziehungslager gesteckt werden, um sie zu Chinesen zu erziehen. Widerspricht dieses Vorgehen nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Völker? Ist das nicht eine imperialistische Politik?

AG:
Die jüngere Geschichte der Entwicklung in der westlichen Provinz Xinjiang ist eine besorgniserregende Erfahrung, wie sie in dieser Region in dieser Konsequenz bisher noch nicht vorgekommen ist. Xinjiang ("Neue Grenze" auf Deutsch) wurde vor 100 Jahren von China annektiert, und seither versucht die Turkbevölkerung der Uiguren erfolglos, ihre Unabhängigkeit wieder zu erreichen. Nach der Kulturrevolution (1966-1976) folgte ein großes Ansiedlungsprogramm der Han-chinesischen Mehrheit. Zu Beginn dieses Jahrtausends kam es - u.a. durch die international veränderte Situation der moslimischen Bevölkerung - zu großen Spannungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der ursprünglichen und der zugewanderten Bevölkerung. Erschreckend sind seit einigen Jahren die gewaltsame Unterdrückung der Religionsausübung und der allumfassende Eingriff in das Alltagsleben der ethnischen Minderheiten seitens der chinesischen Regierung. Westliche Medien berichten verstärkt seit einem Jahr von großen Umerziehungslagern, in denen man versucht, zirka 1 Million Gefangene (von insgesamt ca. 9 Millionen UigurInnen) einer Gehirnwäsche zu unterziehen, mit dem Ziel, ihre Kultur auszurotten, um sie zu sinisieren. Dieser Prozess ist in der Nachbarprovinz Tibet in einem jahrzehntelangen Programm der Unterdrückung weitgehend abgeschlossen und findet nun in Xinjiang seine Weiterführung. Während Tibet unter anderem durch die Flucht des Dalai Lama in der Weltöffentlichkeit Beachtung fand, vollzieht sich das Drama in Xinjiang weitgehend ohne internationale Resonanz und Verurteilungen.

CGP:
China gilt zurzeit als interessantestes Land der Welt. Als erfahrene Chinareisende und Reiseleiterin kannst du vielleicht einige Tipps für Menschen geben, die jetzt nach China reisen möchten. Was sollten sich TouristInnen in China unbedingt ansehen?

AG:
In Folge der weitgehend schlechten Reputation der neuerlichen Entwicklungen in China, z.B. mit dem Sozialkreditsystem als totaler Kontrolle der Bevölkerung, sind die Zahlen westlicher Chinareisender eher rückläufig; die vorhandene umfassende Infrastruktur wird aber reibungslos durch den starken innerchinesischen Tourismus ausgelastet. Skeptisch steht man hierzulande auch dem in China sehr weit verbreiteten digitalen Zahlungssystem gegenüber; davon sind aber ausländische Reisende bisher weitgehend ausgenommen: Sie sind weder dem sozialen Punktesystem noch dem bargeldlosen Zahlungsverkehr unterworfen.
China ist nach wie vor eines der interessantesten Reiseländer weltweit. Neben den bekannten Routen im Osten des Landes oder in den Hochgebirgsregionen Tibets sind in letzter Zeit die südlichen Provinzen Yunnan und Guizhou mit ihren ethnisch stark gemischten Bevölkerungen und sensationellen Naturschönheiten stärker in die touristische Landschaft aufgenommen worden.
Die mittlerweile komplexe und teure Visabeantragung sollte Reisende nicht abschrecken. Es handelt sich hierbei um eine Angleichung der Fragen, die seit Beginn der Öffnungspolitik den chinesischen Reisenden von Seiten der deutschen Diplomatie auferlegt werden - ist also eine zeitversetzte Reaktion auf die "Schikanen", die Deutschland seit Jahrzehnten bei der Visavergabe in China praktiziert.

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2019/07/23

Dr. Hans-Albert Wulf
Bibliomania II

arolsen
Das barocke Residenzschloss in Arolsen, Sitz der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek.
Quelle: Wikimedia Commons. Fotografiert von Hubert Berberich, 2018.


Bad Arolsen in Nordhessen ist eine typische deutsche Kleinstadt mit allem was dazugehört. Es gibt dort einen "Lärmaktionsplan", aber auch eine Tinnitusklinik, in der man sich von ungewollten Ohrgeräuschen heilen lassen kann. Jeweils im August findet ein sogenannter "Kram- und Viehmarkt" statt, bei dem man jedoch weder Hühner noch Kühe kaufen kann. Aber auch Geschichtliches hat Bad Arolsen vorzuweisen. Unter der Rubrik "Söhne und Töchter von Arolsen" findet sich bei Wikipedia der Eintrag "Fürst Josias zu Waldeck und Pyrmont" (1896-1967).
Der Fürst war ein veritabler Naziverbrecher. Er war u.a. für die Errichtung des Außenlagers des KZs Buchenwald zuständig und wurde 1947 von den Amerikanern zu lebenslanger Haft verurteilt. In den 50er Jahren hat man ihn - wie damals allgemein üblich - "aus gesundheitlichen Gründen" vorzeitig aus der Haft entlassen und er fungierte dann bis zu seinem Tode 1967 als Chef des Waldeck und Pyrmontschen Adelshauses.
Einer der Glanzpunkte von Arolsen ist das weiträumige und repräsentative Barockschloss, in welchem die fürstliche Familie traditionell residierte, bis sie 1918 vom Kasseler Arbeiter- und Soldatenrat abgesetzt wurde. Allerdings behielt die fürstliche Familie das Wohnrecht, das bis heute gültig ist.
Was in diesem wunderschönen Schloss von besonderer Bedeutung ist, das ist die Schlossbibliothek. Genauer: Die 1840 gegründete "Fürstlich Waldecksche Hofbibliothek". Diese Bibliothek ist ein wahres Juwel. Sie umfasst fünf große Räume, in denen etwa 35.000 Bände vorzugsweise aus dem 17. und 18. Jahrhundert versammelt sind. Der Schwerpunkt liegt in den naturwissenschaftlichen Werken aus dieser Zeit. Außerdem findet man dort Bücher aus den Bereichen Geschichte, Literatur und Militaria. Grundstock dieser Bibliothek waren wertvolle Bücher, Handschriften und Drucke des Augustiner-Chorherrenstifts Volkhardinghausen, unweit von Arolsen, das im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert an das fürstliche Haus Waldeck überging.
Heute befindet sich die Bibliothek in kommunaler Trägerschaft und wird von einer angestellten Bibliothekarin betreut und es ist bei einer solch kostbaren Bibliothek selbstverständlich, dass man die Bücher nur vor Ort einsehen und nicht ausleihen darf.
Ein regelmäßiger Nutzer der Bibliothek war Dr. Michael F. Er reiste mit seiner Daimler-Benz- Limousine aus der Landeshauptstadt Wiesbaden an. Offensichtlich mit einem Dienstwagen, denn auf dem Nummernschild war HEL, als Kürzel für "Hessische Landesregierung", eingetragen. Dort war der promovierte Geologe im Wissenschaftsministerium beschäftigt.
"Hervorragende Umgangsformen habe er besessen" und hochintelligent sei er gewesen, bescheinigt Fürst zu Waldeck dem verbeamteten Gast aus dem hessischen Wissenschaftsministerium. Und auch zu humorigen Sprüchen sei er stets aufgelegt gewesen. All dies führte dazu, dass man ihn geradezu lieb gewann und ihm bei der Benutzung der Bibliothek einen Sonderstatus einräumte. Normalerweise wird anhand der Karteikarten der Bibliothekarin das gewünschte Buch mitgeteilt, welches sie dann aus den Regalen in den Lesebereich herausbringt. Bei dem Regierungsrat war es anders. Es war ihm gestattet, selbst in die Welt der Regale vorzudringen und dort die betreffenden Bücher in Augenschein zu nehmen. Und nicht nur das; keiner hatte etwas dagegen, dass er mehrere Gepäckstücke, von der Laptoptasche bis hin zum ausgewachsenen Lederkoffer(!) mit hinein nahm. Und auf diese Weise hat der Herr Regierungsrat F. in knapp zwei Jahren sage und schreibe 180 naturwissenschaftliche und kulturhistorische Bücher im Wert von 150.000 Euro, pro Buch also ca. 800 Euro, mit gehen lassen. Und das hätte noch jahrelang so weiter gehen können, wenn nicht - wie so oft im Leben - der Zufall dem ein Ende bereitet hätte.
Und das kam so: Ein emeritierter Professor hatte die Bibliothek aufgesucht, um ein bestimmtes Werk aus dem 18. Jahrhundert anzusehen. Und zwar die Erstausgabe von Johann Friedrich Blumenbachs »Handbuch der Naturgeschichte«, die im Jahr 1779 in Göttingen erschienen war. Mit Randbemerkungen des Verfassers. Als die Bibliothekarin das Buch aus dem Regal holen wollte, stand es nicht an seinem Platz. Das nahm sie zum Anlass, eine Inventur des betreffenden Regals vorzunehmen und zu ihrem Schrecken musste sie feststellen, dass weitere 23 Bände fehlten. Als der Regierungsrat nach einigen Wochen wieder auftauchte und sich in der Bibliothek vergraben hatte, zählte sie erneut nach und es fehlten weitere neun Bände. Der Verdacht auf den gelehrten Besucher ließ sich nun nicht mehr von der Hand weisen und man verständigte die Polizei. Um sicher zu gehen, installierte man eine versteckte Kamera und so konnte der Bücherdieb in flagranti überführt werden, wie er ein Buch nach dem anderen in seinen Taschen und dem Koffer verstaute. Als er die Bibliothek verlassen wollte, nahm die Polizei ihn fest und stellte seine Beute (teils unter dem Pullover) von nicht weniger als 53 Büchern sicher.
Als die Polizei eine Durchsuchung seines Wohnhauses vornahm, schwindelte es ihnen - Das gesamte Haus war vollgestellt und vollgestopft mit Büchern. Insgesamt soll er seit den 90er Jahren 24.000 Bände aus bis zu 70 Bibliotheken im In- und Ausland gestohlen haben. Der Gesamtwert der gestohlenen Bücher liegt bei 1 Million Euro.
Über den Bibliotheksstempel hatte er ein "ausgeschieden" und dann noch zusätzlich einen Stempel mit einem Krokodilkopf angebracht. Wie sinnreich. Mit einem Kugelschreiber hat F. seinen Namen in den Büchern verewigt. All dies deutet daraufhin, dass es F. nicht am materiellen Verkaufswert gelegen war. Und so fleißig er sich in der Bibliothek mit den Büchern beschäftigte, es ging ihm auch nicht in erster Linie um den Inhalt der Bücher. Allerdings hat er nicht wahllos in den Bibliotheken geräubert. Sein Traum war der Besitz einer eigenen Fachbibliothek. Und so hatte er denn die Signaturen der Waldeckschen Hofbibliothek ausradiert und seinen eigenen großkotzigen Stempel "Bibliothek Michael F. Natur - Theologie - Philosophie" den Büchern inwendig aufgedruckt. Es ging ihm schlicht und ergreifend um die Befriedigung seiner bibliomanen Besitzgier. Für seine Privatbibliothek fehlten ihm allerdings die baulichen Voraussetzungen. F bewohnte in Wiesbaden mit seiner Familie ein schmales Reihenhaus. Und hier hatte er nicht nur in die Regale, sondern in jede noch so kleine Ecke der Wohnung seine Beute gestapelt und gestopft. Keine besonders fachkundige Lagerung, wie man später kommentierte.
Es gibt ja den kompensatorischen Büchersammler, der seine eigenen fehlenden intellektuellen Fähigkeiten durch den Besitz von möglichst vielen Büchern wettmachen möchte. Dies war bei Michael F. nicht der Fall. Immerhin hatte er sich im Fach Geologie einen Doktortitel erworben und war in seiner Arbeitsstelle bei der hessischen Landesregierung mit wissenschaftlichen Aufgaben betraut.
Fs. Motiv konnte aber auch nicht der schlichte Wissensdurst sein. Denn schließlich ist das »Handbuch der Naturgeschichte« von Friedrich Blumenbach seit seinem Ersterscheinen 1779 in einer Vielzahl von Auflagen bis heute neu verlegt worden.
Auch ihm geht es also um die Erstauflage; z.B. um jenes Exemplar mit den handschriftlichen Anmerkungen von Blumenbach selbst. Dass solche handschriftlichen Anmerkungen eine erhebliche Wertsteigerung bedeuten, weiß jeder Bücherliebhaber. Doch um den finanziellen Wert ging es ihm dabei nicht in erster Linie. Es ist die Aura einer vom Autor signierten Erstausgabe, die jeden Bibliophilen in Hochstimmung versetzt.
Es zählt vor allem der Seltenheitswert und je geringer die Auflage der Erstausgabe ist, desto größer ist nicht allein ihr finanzieller, sondern vor allem ihr auratischer Wert. Man versetzt sich damit in eine ideelle Nähe zum Autor. Es muss ja nicht gerade das Unikat eines Buches sein, wie es Don Vicente in rauschhafte Zustände versetzt hat. Als würde man dem Autor zeitlich und wenn er noch lebt auch räumlich näher kommen.
Die Signatur des Autors stiftet gleichsam eine Verbindung zwischen Buchbesitzer und dem Verfasser. Mit seiner Unterschrift hat er das Buch geadelt. Vergleichbar einem Priester, der mit dem versprenkelten Weihwasser die Gläubigen segnet.
All diese bibliophilen Aspekte spielten in dieser Geschichte ganz zweifellos eine Rolle, werden aber durch einen weiteren Aspekt konterkariert: Die Egomanie und Eitelkeit des bibliomanen Regierungsrats. Er will sich die gestohlenen Bücher einverleiben, sie müssen sein Eigentum werden. Als Bücherliebhaber musste es ihm doch klar sein, dass seine eigenen Stempel und schriftlichen Eintragungen den Wert der seltenen Bücher stark mindern. Aber seine eigene Signatur, die er in die geklauten Bücher mit Kugelschreiber hineinschmierte, lag ihm offensichtlich viel mehr am Herzen und wenn es nicht zu übertrieben wäre, so ließe sich hier von einem bibliomanen Orgasmus reden.
F. wurde schließlich wegen schweren Diebstahls angeklagt und darauf stehen Gefängnis zwischen drei Monaten und zehn Jahren. Da er einen guten Leumund hatte und noch nicht vorbestraft war, hat man ihn zu elf Monaten Haft verurteilt, die für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zusätzlich wurde eine Geldauflage von 5.000 Euro verhängt. Ob man ihn zusätzlich dazu verurteilt hat, all die gestohlenen Bücher durchzulesen, ist nicht bekannt.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Juli 2019.

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2019/07/22

Die Yucca-Palmlilie
Eine dekorative Pflanze für den Sommer

yucca

Die Yucca-Palmlilie (Yucca filamentosa L.) hat spektakuläre weiße Blüten.
Sie gehört zur Familie der Spargelgewächse (Asparagaceae) und kommt aus den östlichen USA.
Fotografiert von © Ella Gondek am Standort bei Berlin, Juni 2019.

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2019/07/20

Zur Diskussion um die neue Nationalhymne:

Mein neues (kritisch rekonstruiertes) Deutschlandlied (2014)

Markus Richard Seifert


Deutschland, Deutschland unser Wohnort
mein Zuhause auf der Welt.
Wenn es stets bei Tag und Stunde
mitmenschlich zusammenhält.
Von dem Rhein bis an die Oder
von den Alpen bis nach Kiel:
Deutschland, Deutschland mehr als Wohnort
Du bedeutest uns sehr viel.

Deutsche Dichter, deutsche Denker,
deutsche Sprache, deutscher Sang
seien Ansporn uns und Lenker
unser ganzes Leben lang!
Uns zu edler Tat begeistern -
aus gutem Grund, auch ohne Dank!
Deutsche Dichter, deutsche Denker,
deutsche Sprache, deutscher Sang.

Einigkeit und Recht und Freiheit
für das deutsche Menschenland.
Danach lasst uns alle streben
mitmenschlich mit Herz und Hand.
Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand.
Blüh' im Glanze dieses Glückes,
blühe deutsches Friedensland!

© Markus Richard Seifert, Juli 2019.

Anmerkung:
Die ursprüngliche Fassung des Deutschlandliedes stammt von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der es im August 1841 auf Helgoland dichtete.

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2019/07/17

Wassily Kandinsky: Komposition VIII, 1923

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Öl auf Leinwand. 140 x 201 cm.
Zu sehen im Solomon R. Guggenheim Museum, New York City.
Zum 100. Jubiläum des Bauhaus. Quelle: Wikimedia Commons.

Zu sehen ist eine Ikone des abstrakten Expressionismus, den der russische Maler und Bauhausmeister Wassily Kandinsky (1866-1944) begründete. Das Bild zeigt eine sonnige belebte Berglandschaft in den Alpen, die aber nur bei genauem Hinsehen sichtbar wird. Links oben strahlt die große dominierende Sonne, die dem Ganzen einen freundlichen Schein verleiht. Daneben sind vier Dreiecke sichtbar, die die Bergspitzen andeuten. Vor den Bergen kann man sich Vögel und Wolken vorstellen. Im Vordergrund sind Reihen von Bäumen zu erkennen, die durch Kreise angedeutet werden. Etwas verwirrend sind geometrische Konstruktionen mit Schachbrettmuster, die an Hochhäuser erinnern.
Die Farben spielten für Kandinsky eine große Rolle, er bezeichnete seine Bilder als "Farbsymphonien" in Analogie zur Musik. Über die Farben müsste also Einiges gesagt werden. Zum Beispiel zitiert Kandinsky im Bild die Komplementärfarben Blau und Gelb.
Das Bild ist mit Lineal und Zirkel gearbeitet und nur ausnahmsweise freihändig. Die geometrischen Formen des Bildes entsprachen ganz der Philosophie des Bauhaus. In seinem späten Werk ging Kandinsky allerdings wieder zu belebteren geschwungenen Formen über. Durch die Abstraktion erreichte Kandinsky eine ganz neue Sicht auf die Dinge. Es ist sehr hilfreich, dass Kandinsky seine Kompositionen durchnummeriert hat. So kann man die Entwicklung seiner Abstraktionen über die Jahre hinweg nachvollziehen. Der US-amerikanische Industrielle Solomon R. Guggenheim kaufte das Gemälde 1929 von Kandinsky bei einem Besuch im Bauhaus in Dessau.
Kandinsky begann seine Lehrtätigkeit am Bauhaus 1922 als Meister in der Werkstatt für Wandmalerei. Er lehrte bis zum Schluss 1933 am Bauhaus, als er vor den Nazis nach Frankreich flüchtete. 1937 zeigten die Nazis einige seiner Werke in der Ausstellung "Entartete Kunst". Er starb 1944 in Neuilly-sur-Seine bei Paris.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/07/14

Erich Fried auf der East Side Gallery in Berlin Friedrichshain

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Erich Fried (1921-1988) war ein politischer Dichter, der vor den Nazis aus Wien nach England geflüchtet war und in London lebte. Das Foto habe ich im März 2013 aufgenommen. Wie der Zustand des Mauerbildes heute ist, weiß ich nicht. Ich müsste mal wieder zur East Side Gallery hinfahren.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/07/11

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2019/07/08

Prof. Dr. Rudolph Bauer
Fridays For Future

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2019/07/05

Tagebuch 1973, Teil 34: Kabul

Dr. Christian G. Pätzold

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Blick auf Kabul vom Hotel aus.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, September 1973.

17. September 1973, Kabul, Montag
18. September 1973, Kabul, Dienstag

Die afghanische Armee schien überhaupt hauptsächlich von der Sowjetunion ausgerüstet zu sein. Sowjetische Zigaretten konnte man überall kaufen (Stolitznyje, Rossinskije). Auch in Kabul gab es wenig Industrie, die kleine Coca-Cola-Abfüllfabrik war schon etwas ganz Erstaunliches, siehe Kabul-Times vom 18.9.1973. Jede Botschaft gab hier eigene Nachrichten-Bulletins heraus. Darin habe ich heute (verspätet) gelesen, dass das Militär in Chile den Präsidenten Salvador Allende abgesägt hat (siehe auch das Weltreise-Tagebuch Teil 29). Die Konterrevolutionäre waren doch nicht so lieb, wie er gedacht hatte. Der schöne Traum vom "Friedlichen Übergang zum Sozialismus" war ausgeträumt. Der gute Allende hatte sich so angestrengt, alle drei Armeekommandierenden legal in sein Kabinett geholt, und dann haben sie ihn doch illegal abgesetzt, natürlich mit massiver Hilfe der USA. Das war die Strafe für den Verrat an der Revolution. Der arme Allende musste es mit seinem Leben bezahlen und viele tausende chilenische Sozialisten wurden gefoltert, ermordet oder mussten ins Ausland flüchten.
Ich bin in ein anderes Hotel für billige 30 Afghani gezogen. Mich hatte der Durchfall erwischt und ich fühlte mich schwach, wahrscheinlich verursacht durch Coca Cola "Botteled in Afghanistan". Ich habe Postkarten nach Deutschland abgeschickt (per Luftpost) und war anschließend bei der pakistanischen und der deutschen Botschaft. Dann war ich im Goethe-Institut in Kabul, bei dem viele Afghanen Deutschkurse nahmen. Sie waren hauptsächlich Lehrer oder Schüler der deutschen Schule hier. Ein Schüler sagte, dass jährlich von seiner Schule zwanzig nach Deutschland zum Studium führen. Er sagte auch, dass er Schwierigkeiten mit der afghanischen Uniprüfung habe, weil er alles auf deutsch gelernt habe.
Ich sprach noch mit einem Mann, der in Deutschland Fernmeldetechnik studiert hatte und jetzt in ganz Afghanistan Radioanlagen reparierte. Er wusste schon vorher vom Militärputsch in Afghanistan vor kurzem, in dem der König Mohammed Zahir Schah abgesetzt wurde, weil er sehr viel bei der Polizei zu tun hatte. Der Putsch war vorher genau geplant und es ist sehr wenig Blut geflossen.
Er erzählte auch, dass er einmal im Jahr mit einem Franzosen durch Nuristan wandere, eine malerische Berglandschaft nördlich von Kabul. Dann kletterten sie auf die Berge des Hindukusch. Er schwärmte sehr von dem Volk der Nuristani, das angeblich völlig anders sein sollte und im Matriarchat leben sollte. Dieses Volk sollte erst vor 100 Jahren islamisiert worden sein. Die Frauen machten dort die Schlepparbeit, während die Männer sich um die Hausarbeit kümmerten und auf die Kinder aufpassten. Wenn man in diese Gegend komme, müsse man mit den Frauen sprechen, weil die Männer zu schüchtern seien, sagte er. Die Frauen würden die Männer testen, bevor sie sie ins Haus nähmen, ob sie auch gut kochen könnten. Die Nuristani hätten eine eigene Sprache. Überhaupt war Afghanistan als Durchgangsort für Völker aus allen Himmelsrichtungen von vielen verschiedenen ethnischen Gruppen bewohnt. Die beiden Hauptsprachen in Afghanistan waren Dari (ähnlich dem Persischen) und Paschto. Vielleicht war seine Schilderung der Nuristani etwas übertrieben, wahrscheinlich bedingt durch islamische Fantasien über Frauen. Orientalische Geschichten.

Hier folgt ein Postskriptum, das ich im Jahr 1988 geschrieben habe:

Gerade werden im Radio wieder Kämpfe um die Stadt Kandahar gemeldet, das von Russen besetzt ist und von Mudjahedin angegriffen wird. An Iran und Afghanistan kann man gut erkennen, wie schnell sich die Zeiten ändern können. In Persien ist der Schah von der Islamischen Revolution gestürzt und durch Ajatollah Chomeini ersetzt worden. Der Schah hatte sich zwischen alle Stühle gesetzt, den Konservativen war er ein Dorn im Auge wegen seiner Dekadenz und seiner Anbetung des westlichen Modernismus, die Progressiven hassten ihn, weil er ein orientalischer Despot war. Er ist erstaunlich schnell und sang- und klanglos verschwunden. In Afghanistan war die Regierung schwach wie immer, so dass die Kommunisten und die Sowjetunion gedacht haben, sie könnten den Sozialismus einführen. In Moskau hatte man sich aber sehr verschätzt, denn gegen die feudalistische Stammesstruktur auf dem Land war nicht anzukommen. Gerade sind die sowjetischen Truppen dabei abzuziehen, nach 13.000 toten Sowjetsoldaten und 22.000 Verletzten, bei den Afghanen waren es viel mehr Opfer. Zwanzig Prozent der 100.000 Sowjetsoldaten sollen opium- und heroinsüchtig geworden sein. Die Sowjetunion hat jetzt erkannt, dass der Krieg ein Fehler war, aber es ist ihr noch unklar, wie sie ohne größeren Gesichtsverlust aus Afghanistan herauskommen kann.

Postskriptum Juli 2019:

Als ich das obige Postskriptum 1988 schrieb, hatte ich keine Ahnung davon, dass die Sowjetunion 1989 zusammenbrechen würde. Ich hatte mir nie die Frage gestellt, ob ein so großer Staat wie die Sowjetunion so plötzlich kollabieren könnte. Dieses Beispiel zeigt, dass man sich auch Fragen stellen sollte, die man eigentlich für ganz unwahrscheinlich hält. Vielleicht hatte ja auch der verlustreiche Krieg der Sowjetunion in Afghanistan einen Anteil an ihrem Zusammenbruch. Jedenfalls war damit der Kommunismus in der Sowjetunion und wenig später auch in Afghanistan am Ende. In Afghanistan setzte sich die islamistische Taliban-Herrschaft durch und danach kam die Besetzung Afghanistans durch die Westmächte. Heute wird Afghanistan von den USA und Deutschland besetzt. Vielleicht ist das ja ein Anzeichen dafür, dass nächstes Jahr etwas in den USA und in Deutschland zusammenbrechen wird.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2019.

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2019/07/02

Tagebuch 1973, Teil 33: Herat - Kandahar - Kabul

Dr. Christian G. Pätzold

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Mit dem Minibus unterwegs in Afghanistan.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, September 1973.

Dieses Kapitel meines Weltreise-Tagebuchs widme ich der Erinnerung an Alexander von Humboldt, dessen 250. Geburtstag bald fällig ist, denn er wurde am 14. September 1769 in Berlin geboren. Er war viele Jahre auf Forschungsreisen in Lateinamerika, in Nordamerika, mit der Pferdekutsche unterwegs in Russland und in Sibirien und hat darüber in seinen Büchern viel berichtet, wodurch sich die wissenschaftlichen Kenntnisse über die Welt sehr vergrößert haben. Er wurde "der zweite Kolumbus" genannt. Das Reisen im 18. und 19. Jahrhundert war noch viel beschwerlicher und gefährlicher als im 20. Jahrhundert, zumal Alexander von Humboldt zahlreiche wissenschaftliche Messinstrumente mitgeschleppt hatte. Allerdings ist Alexander von Humboldt nie nach Persien, Afghanistan oder Pakistan gekommen. Bemerkenswert an Alexander von Humboldt: Er war nie verheiratet und wurde 89 Jahre alt, was für das 19. Jahrhundert ein sehr hohes Alter war. Auch bemerkenswert: In seinen hunderten von Buchseiten soll, so sagt man, nicht ein einziges Mal das Wort "Gott" vorkommen.

15. September 1973, Herat-Kandahar, Sonnabend

Meine Reisepartnerin und ich hatten in Herat in einem Hotel in der Nähe des Ladens von Mohammed S. übernachtet, für 25 Afghani. Das Wasser musste ins Haus gebracht werden. Das Hotel war ziemlich leer, wahrscheinlich weil jetzt der Tourismus erschwert wurde. Die Visa würden selten auf drei Monate verlängert, sagte eine Frau in der Touristenorganisation in Kabul.
Vor der Abfahrt nach Kabul sind wir mit dem kranken Baby von Mohammed S. zu einem Kinderarzt gegangen, der in Mainz studiert hatte. Er schrieb ein Rezept für eine Stuhl- und Blutuntersuchung im Krankenhaus aus. Im Krankenhaus erfuhren wir, dass es in Herat Malaria gäbe, heute gerade zwei positive Fälle. Der Arzt im Krankenhauslaboratorium hatte in München studiert. Daher konnte man sich mit Ärzten in Herat bequem auf Deutsch unterhalten. Er hatte erwartet, dass auch wir wegen Hasch nach Afghanistan gekommen wären wie alle anderen Hippies. Im Laboratorium konnte man rauchen, was sehr angenehm war. Allerdings krochen auch die Insekten über den Fußboden. Der Arzt sagte, sein Assistent mache oft Fehldiagnosen, so dass er alles selber machen müsse. Gerade kam ein Fall von Tuberkulose, was er uns unter dem Mikroskop zeigte. Für die Blutuntersuchung hatte er eine kleine Zentrifuge. Er konnte feststellen, dass wenig Hämoglobin beim Baby vorhanden war und viele Leukos, sowie im Stuhl Amöben, was wahrscheinlich am nicht abgekochten Wasser für das Trockenmilchpulver lag. Nachdem die Angelegenheit mit dem Baby geklärt war, verließen wir unseren Freund Mohammed S., den Pelzhändler, dessen Adresse wir schon in Berlin von einem Bekannten erhalten hatten.
Der Minibus nach Kandahar war ziemlich schmutzig und überfüllt. Es gab keine Fabrik unterwegs, keine Stadt, nur Einöde und manchmal diese Bergstämme, die mit ihren Kamelen an den ehemaligen Flussläufen entlang zogen, wo die Kamele unsichtbare Kräuter fraßen. Die Straße war ziemlich glatt auf dem Hochplateau. Unterwegs gab es keine Toiletten, man verrichtete seine Bedürfnisse in die Landschaft, auch an der Bushaltestelle mitten in der Stadt Kandahar. Unterwegs hielt der Bus regelmäßig zum Essen und zum Beten. Im Bus ergab sich ein Gespräch mit einem Polizisten, der auf Haschisch spezialisiert war. Er fand die Sowjetunion besser als die USA und verwies auf die Watergate-Affäre um US-Präsident Richard Nixon. Er kannte alle Leute an der Strecke und betete besonders lange.

16. September 1973, Kandahar-Kabul, Sonntag

Während der Nacht hielt der Minibus in Kandahar, der zweitgrößten Stadt Afghanistans, ich musste daher im Bus schlafen, es war ziemlich kalt. Morgens an der Bushaltestelle beim Teetrinken roch man der Geruch der öffentlichen Toilette, die Bettler sammelten Brot ein.
Auf der Fahrt von Kandahar nach Kabul sah ich mehr Landwirtschaft, vor allem in den Flusstälern. Es gab auch Bäume. Der Busschaffner war sehr unglücklich darüber, dass er keine Frau hatte und dass man hier nicht mit Frauen befreundet sein könne.
In Kabul wurde ich an der Bushaltestelle von einem Hotelvermittler angesprochen. Er sagte, der Hippiestrom habe in den letzten Jahren rapide nachgelassen, viele Hotels mussten schließen. Der Taxifahrer wollte erst 100 Afghani für die Fahrt zur Touristenorganisation, dann nur noch 40 Afghani. Die Frau im Touristenbüro hatte nicht sehr viel Material, einen kleinen Prospekt über Afghanistan und ein kleines Heftchen über Kabul. Sie war unzufrieden darüber, dass die neue Regierung die Touristenvisa nicht mehr häufig auf 3 Monate verlängerte, meist wurden nur noch Transitvisa gegeben. Ich habe die vierseitige englischsprachige Kabul-Times gelesen, die häufig sowjetische Artikel original abdruckte. Im Hotel Metropol für 300 Afghani übernachtet, um mich mal richtig zu waschen.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2019.

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2019/06/30

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2019/06/28

Zum 150. Geburtstag von Emma Goldman

Dr. Christian G. Pätzold

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Emma Goldman, 1911. Quelle: Wikimedia Commons.

Emma Goldman war eine der schillerndsten Frauen des 20. Jahrhunderts. Sie war eine führende Persönlichkeit in der anarchistischen Bewegung, aber auch in der feministischen Bewegung, in der atheistischen Bewegung und in der pazifistischen Bewegung. Geboren wurde sie am 27. Juni 1869 nach dem gregorianischen Kalender in Kowno/Russisches Zarenreich, heute Kaunas in Litauen, wo es eine große jüdische Bevölkerung gab. Das 7. bis 13. Lebensjahr verbrachte sie bei ihrer Großmutter im ostpreußischen Königsberg. Anschließend zog sie mit ihrer Familie nach Sankt Petersburg, wo sie in einer Fabrik arbeitete und in Berührung mit den anarchistischen Ideen der Zeit kam, die sich besonders um politische Attentate drehten. Mit 17 Jahren emigrierte sie dann in die USA.
In den USA wurde Emma Goldman zusätzlich politisiert durch die Haymarket Affäre vom 4. Mai 1886. (Zum Haymarket-Ereignis von Chicago seht bitte auch den Artikel vom 2015/09/10 auf kuhlewampe.net). Aus der Haymarket Affäre entstand später der 1. Mai als Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse. Ein zusätzlicher Einfluss auf Goldman waren die Reden des deutschen Anarchisten Johann Most.
Die Lage der Arbeiter war im 19. Jahrhundert in Europa und in den USA oft erschreckend. Im Deutschen Kaiserreich mussten Hundertausende nach Amerika auswandern, um nicht in Deutschland zu verhungern. Die Oberschicht dagegen lebte in Saus und Braus und tanzte von einem Ball zum nächsten. Aus dieser Atmosphäre entwickelte sich die anarchistische Überzeugung von der Direkten Aktion, die auch Propaganda der Tat genannt wurde. Sie sah Gewalt gegen Personen vor, um einen politischen Wandel zu erreichen. Emma Goldman war vor allem eine sehr talentierte Rednerin, und so trat sie häufiger bei Versammlungen auf.
Emma Goldman landete in den USA öfter im Gefängnis und wurde 1919 von den USA nach Sowjetrussland deportiert, als "eine der gefährlichsten Anarchisten in Amerika". In Russland kam sie mitten in die Wirren der Revolutionszeit, verließ Russland aber wieder nach 2 Jahren, da sie sich mit den Bolschewiki nicht so richtig anfreunden konnte. Sie lebte dann in Frankreich, beteiligte sich am Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Anarchisten, und starb 1940 in Toronto/Kanada. Ihr Grab befindet sich in Chicago.

Literatur: Emma Goldman: Gelebtes Leben. Autobiographie. Hamburg 2014, Edition Nautilus.

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2019/06/26

Jenny Schon
In memoriam Franz Kafka

(geboren 3. Juli 1883 in Prag; gestorben 3. Juni 1924 in Kierling, Österreich)

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© Jenny Schon, Juni 2019.

Anmerkung: Den letzten Winter seines Lebens 1923/1924 verbrachte Kafka mit seiner letzten Geliebten Dora Diamant in Steglitz, dort war die Luft noch einigermaßen gut. Sie waren so arm, dass sie sich keinen Ofen leisten konnten, also brieten sie ihre Spiegeleier auf Haushaltkerzen. Von Berlin aus fuhr Kafka nach Österreich in ein Sanatorium, wo er am 3. Juni 1924 an Tuberkulose starb.

Das Gedicht bekam den 2. Lyrikpreis der Künstlergilde 2015.
Erschienen im Gedichtband: endlich sterblich, Geest Verlag, 2016.

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2019/06/24

Welchen Zweck hat Kunst?

Dr. Christian G. Pätzold

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Als es in Europa noch Nashörner gab: Darstellung von Auerochsen, Pferdeköpfen und Wollnashörnern an den Höhlenwänden der Grotte Chauvet, Département Ardèche, Frankreich. Holzkohle. Etwa 30.000 Jahre alt. Weltkulturerbe der UNESCO.
Quelle: Wikimedia Commons.

Den Satz "Kunst hat keinen Zweck" hört man von Zeit zu Zeit, aber er wird dadurch nicht richtiger. Im Gegenteil, dieser Satz ist falsch. Kunst hat immer einen Zweck, meist sogar mehrere Zwecke gleichzeitig.
Um die Behauptung von der Zweckhaftigkeit der Kunst zu begründen, kann man zur frühesten bekannten Kunst mehrere tausend Jahre zurückgehen. Auf den beeindruckenden Höhlenmalereien dieser alten Zeit sind Tiere und Jagdszenen dargestellt, die wahrscheinlich von den Jägern gezeichnet wurden. Über den Zweck dieser Kunst kann man natürlich nur Vermutungen anstellen. Vielleicht wollten die Zeichner ihre Jagderlebnisse den in der Höhle gebliebenen Mitgliedern der Familie mitteilen, und dann hätte ihre Kunst den Zweck der Information. Vielleicht hatte ihre Kunst auch einen magischen Zweck, indem sie zukünftige Jagderfolge sicherstellen sollte. Vielleicht war es auch schlicht nur die Freude, etwas in gelungener Art darzustellen, und dann wäre der Zweck gewesen, dem Künstler eine Freude und Befriedigung zu verschaffen.
Diese Freude am kreativen Gestalten und am Erschaffen eines Kunstwerkes ist überhaupt der häufigste Zweck der Kunst für den Künstler. Schon bei kleinen Kindern kann man beobachten, wie viel Freude sie am Zeichnen von Menschen und Sachen auf einem Stück Papier haben. Kinder freuen sich einfach daran, dass sie etwas Erlebtes oder Ausgedachtes darstellen können. Und auch viele erwachsene Künstler mit einem künstlerischen Sinn freuen sich daran, wenn sie etwas Gelungenes erschaffen können. Viele Erwachsene andererseits werden von angeblich wohlmeinenden Kunstbanausen demotiviert: "Warum kümmerst du dich um Kunst? Kunst hat doch keinen Zweck! Kunst bringt doch nichts ein!" In diesem Stadium ist der Mensch bereits ästhetisch verkrüppelt.
Über die Freude am Erschaffen hat der US-amerikanische Soziologe Thorstein Bunde Veblen im Jahr 1898 ein ganzes Buch veröffentlicht: »The Instinct of Workmanship«. Wie zu dieser Zeit üblich, nahm Veblen einen Trieb oder Instinkt an, der die Menschen zur Beherrschung ihrer Umwelt und zu kreativer Arbeit antreibe. Mir scheint es jedenfalls plausibel zu sein, dass es in der Psyche der Menschen eine allgemeine Tendenz gibt, gelungene Dinge zu erschaffen. Kaum jemand möchte nur fortlaufend Murks produzieren. Die Tendenz zur künstlerischen Gestaltung kann vielleicht in manchen Menschen verschüttet oder durch ungünstige Umstände unterdrückt sein. Aber potenziell kann man wohl alle Menschen als kreative KünstlerInnen betrachten.
Daher stimmt der bekannte Satz von Joseph Beuys in diesem Sinn: "Jeder Mensch ist ein Künstler". Denn das künstlerische Schaffen ist in jedem Menschen angelegt. Als Professor Beuys 1972 an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf alle Interessenten in seine Klasse aufnahm, wurde er allerdings von der SPD-Regierung aus der Hochschule geworfen. Die damaligen Herrscher hatten den Sinn der Kunst nicht begriffen (und haben es bis heute nicht).
Manchmal wird der Satz "L’art pour l’art", Kunst um der Kunst willen, als Begründung dafür angeführt, dass Kunst keinen Zweck habe. Aber dabei wird vergessen, dass die Kunstproduktion selbst für den Künstler einen psychologischen Zweck der großen Befriedigung hat. In vielen Fällen dient die Kunstproduktion allerdings schlicht dem Gelderwerb: L’art pour l’argent oder Kunst geht nach Brot. Wenn der Zweck der Kunst darin besteht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder möglichst viel Geld zu machen, dann entstehen allerdings häufig recht triste und missratene Kunstwerke, denen man es ansieht, dass sie nicht in erster Linie nach künstlerischen Kriterien erschaffen wurden, sondern für einen Massenmarkt. Diese Kommerzialisierung der Kunst ist heute im Kapitalismus oft anzutreffen, andererseits bildet die Kunst selbst Antikörper, die sich gegen die Kommerzialisierung wehren, weil natürlich die Kunstkenner sofort erkennen, was schlechte Kommerzkunst ist.
Ein größeres Teilgebiet der Kunst ist die politische Kunst oder Agitprop. Hier besteht der Zweck darin, die Mitmenschen zu informieren, aufzurütteln und für eine bestimmte Sache zu begeistern, bspw. durch Plakate, Kampflieder oder Theaterstücke. Der politische Zweck der Beeinflussung oder Manipulation spielt bei vielen Kunstproduktionen eine Rolle. Selbst trashige Fernsehserien oder Telenovelas können den politischen Zweck haben, die Bevölkerung einzulullen.
Ein weiterer wichtiger Zweck der Kunst ist die Therapie verschiedener psychischer Probleme. Durch Schreibtherapie, Maltherapie, Musiktherapie, Tanztherapie etc. können psychische Spannungen und Belastungen gelöst werden. Dadurch wird den Menschen ein besseres Leben ermöglicht.
Die wichtigsten Gedanken über den Zweck der Kunst hat sich wohl Friedrich Schiller gemacht, in seinen berühmten Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« aus dem Jahr 1795. Bei Schiller findet sich bereits das Ideal des allseitig entwickelten Individuums, das seine Fähigkeiten und Möglichkeiten voll entfalten kann. Die ästhetische Bildung führe den Menschen zur Freiheit. Kunst bezeichnete er als eine "Tochter der Freiheit". Er schrieb:
"Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet." (Siebenundzwanzigster Brief).
Der wichtigste Zweck der Kunst ist wahrscheinlich, die Menschen auf dem langen Weg zur Freiheit zu begleiten und zu unterstützen.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2019.

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2019/06/21

Besuch in Georgien

Ella Gondek

georgien
Ein blühender Kanadischer Judasbaum (Cercis canadensis L.) in Kvareli/Georgien.
Fotografiert von © Ella Gondek, April 2019.

Leider war die ganze Woche in Tiflis (im April) nur Regenwetter bei 5 bis 6 Grad, so dass ich mir gar nicht viel von Tiflis anschauen konnte, was ich sehr schade fand, weil es eine ganz tolle Stadt ist. Wir machten mal eine 3-stündige Tour durch ein Weinanbaugebiet nach Kvareli in der Provinz Kachetien. Auf diesem Weingut war auch ein riesiger, wunderschöner Park, da war es mal nicht am Regnen. Da sind mir diese riesigen Bäume aufgefallen mit den tollen Blüten. Nach Recherche im Internet wusste ich, dass es sich um Kanadische Judasbäume handelt. Ich war fasziniert von dieser Pracht.
Bei Wikipedia ist zu lesen: "Kachetien im Kaukasus, und besonders das Alasanital, ist die größte Weinbauregion Georgiens und gilt als die Wiege des Weinbaues überhaupt. Von dort aus, so sagt die Legende, habe sich der Wein in die gesamte Welt verbreitet. Tatsächlich sind die Hauptattraktionen der Region, neben den zahlreichen alten Kirchen, auch die hunderte kleine und größere, moderne und altmodische Weingüter, die teilweise im Familienbetrieb geführt werden."

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2019/06/18

Dr. Hans-Albert Wulf
Bibliomania I

spitzweg
Carl Spitzweg (1808-1885): Der Bücherwurm, um 1850.
49,5 x 26,8 cm. Öl auf Leinwand.
Quelle: Wikimedia Commons.

Bücher nisten gern in der staubtrockenen Welt der Forscher und Gelehrten. Spitzweg hat dies mit dem Bild des Geistesmenschen auf der Bibliotheksleiter eindrucksvoll illustriert. Es sind oftmals jene verträumten Wissensschaufler, denen der Alltag restlos abhanden gekommen ist. Die sich nur um das fortwährende Nachschaufeln in ihre Wissensspeicher kümmern. Die an die Tür ihrer Studierstube Warnschilder anbringen. "Bitte nicht stören" oder "Eintritt verboten". Ein berühmter Gelehrter hatte ein Holzbein. Und wenn er von seiner Familie nicht behelligt werden wollte, schnallte er kurzerhand seine Prothese ab und stellte sie draußen vor die Tür. Seine Frau und seine Kinder wussten dann Bescheid.
Meist sind Gelehrte friedfertige Menschen, sie können sich aber auch ausgesprochen übellaunig und kratzbürstig aufführen, wenn sie z.B. in ihrer Bibliothek ein bestimmtes Buch nicht finden und so ihre geistige Nahrungsaufnahme gestört wird. Da können sich tausend andere wohlschmeckende Bände zum Verzehr anbieten. Aber nein, es muss ausgerechnet jenes Buch sein, das sich tückisch versteckt hat und nicht finden lassen will.

Was sind Bibliophile, was sind Bibliomane?

Um dies zu beantworten, muss man zunächst klären, welchen Wert bzw. welche Bedeutung Bücher haben können.

1. Da ist zunächst einmal ganz prosaisch der materielle Wert, also der Tauschwert von Büchern. Dieses Motiv treibt all jene, die früh morgens unter den Büchertischen der Trödelmärkte mit iPad, Laptop oder Smartphone hocken und vor dem Kauf den Wert von Büchern herausfinden möchten. Andere kaufen spontan und stürzen dann nach Hause, weil sie hoffen, ein so genanntes Schnäppchen gemacht zu haben. Es geht hier also in erster Linie ums Geld. Es trifft aber auch auf all jene zu, die sich eine Art Privatbibliothek als Kapitalanlage zusammenkaufen. Und ums Geld geht es auch bei einer zweiten Spezies. Gemeint sind hier solche, die nur nach Geldscheinen suchen, die gelegentlich in den Büchern zwischen den Seiten zu finden sind. Ich selbst habe einmal im fünfbändigen Brockhaus sage und schreibe 460 Euro gefunden Und das hat mich dann in eine Art Geldbuchfieber versetzt und ich habe daraufhin alle Bücher vom Trödelmarkt nach Geldscheinen durchgeblättert. Gerade Lexika scheinen für die Geldaufbewahrung besonders beliebt zu sein. Und in der Tat, nach stundenlangem Blättern habe ich dann noch mal einen früheren Hundertmarkschein gefunden, den ich bei der Bank eintauschen konnte.

2. Ganz im Mittelpunkt der Bücherliebe von Forschern dürfte jedoch der intellektuelle Gebrauchswert von Büchern stehen. Mithilfe von Büchern werden die individuellen Wissensspeicher aufgefüllt und neu geordnet. Und wenn man sich genügend anstrengt, gelingt es auch gelegentlich, den im Hirn gespeicherten Informationswust in die geordnet-lineare Form eines Buches zu fädeln.

3. Bücher können aber auch jenseits ihres unmittelbaren Nutzens der Persönlichkeitspflege und der Außendarstellung dienen. Ich kannte einen, der hatte in seiner BMW-Limousine gut sichtbar hinten am Rückfenster, dort wo sonst die kleinen mit dem Kopf wackelnden Hunde sitzen, ein Exemplar des »Ulysses« von James Joyce liegen. Aber auch sonst werden gerne Bücher gekauft in der Hoffnung, dass die in ihnen enthaltende Klugheit und Weisheit in den Kopf ihrer Besitzer gleichsam hinüberschwappt. Menschen von Rang, die sich in der Öffentlichkeit einen gewissen Namen gemacht haben, lassen sich gerne mit einer Bücherwand im Rücken ablichten. Und Politiker beschäftigen bekanntlich gerne Ghostwriter, um ein Buch mit ihren maßgeblichen Erinnerungen und Ansichten auf den Buchmarkt zu schwämmen.
Bei alldem haben die Bücherwand oder gar die Bibliothek eine doppelte Funktion: Sie gleicht einerseits einer intellektuellen Rüstung, und andererseits fungiert sie als Organverlängerung oder gar Organersatz des Kopfes.

4. Nicht zu unterschätzen ist die Aura von Büchern: Bereits mit einer Erstausgabe gerät man in die erhabene Sphäre eines berühmten Autors und wenn das betreffende Exemplar obendrein vom Autor signiert oder gar mit einer Widmung geadelt ist, so bildet sich bei jedem Bibliophilen oder Bibliomanen eine Gänsehaut.

Aber welches genau sind die Motive der Bibliophilen und der Bibliomanen? Sie könnten ja auch Briefmarken sammeln. Aber warum denn in Gottes Namen Bücher! Briefmarken erfordern doch eine viel einfachere Lagerhaltung. Und der Wert einer besonderen Briefmarke kann es mit einer Erstausgabe durchaus aufnehmen. Wer z.B. die berühmte "Blaue Mauritius" besitzt, kann sie (fast) gegen die Erstausgabe der Gutenbergbibel von 1454 eintauschen.
Eines haben Briefmarken und Bücher allerdings gemeinsam: zur Anbahnung amouröser Liebschaften eignen sie sich beide nicht - weder Bücher noch Briefmarken. Ich spreche aus Erfahrung. Als ich einmal mit dem zweibändigen Standardwerk über den »Bösen Blick« von Siegfried Seligmann Eindruck schinden wollte, hat sie mich nur scheel angesehen und ist dann wortlos gegangen - für immer.
Wer ist nun bibliophil und wer ist biblioman? Eine eindeutige Zuordnung ist nicht möglich. Es sind fließende Übergänge, wobei die Wandlung eines Bibliophilen zu einem Bibliomanen häufiger vorkommen dürfte als der umgekehrte Weg.
Der idealtypische Bibliophile, das ist der wohl situierte Studienrat, der seine Neuerwerbung genüsslich abends bei einem Glas Rotwein zelebriert. Wenn möglich sollte es eine gebundene Ausgabe sein, für die er gerne etwas mehr bezahlt. Ansonsten ist ihm die äußere Form nicht so wichtig. Er sammelt beispielsweise die Ausgabe der Werke von Walter Mehring und es fehlt ihm noch die »Chronik der Lustbarkeiten«, die er nach längerem Suchen in einem Antiquariat gefunden hat.
Der Bibliomane achtet vor allem darauf, ob das begehrte Buch wertvoll und kostbar ist. Handelt es sich möglicherweise um eine Erstausgabe? Wie ist der Einband beschaffen? Am besten ist wohl Saffianleder. Der Bibliomane sammelt, aber was ihn vom Bibliophilen unterscheidet, das ist seine Maßlosigkeit. Er ist ein "Buchtrinker". Da er es längst aufgegeben hat, die erworbenen Bücher zu lesen, kauft er nun auf "Teufelkommraus". Wie wäre es denn mit der Erstausgabe von Musils »Mann ohne Eigenschaften«? Sehr selten und entsprechend teuer. Oder mit einer Erstausgabe der Schriften des Barockpredigers Abraham a Sancta Clara? Reichen hierfür 1.200 Euro? Bücher zu kaufen, ist ja heute denkbar einfach. Man braucht nicht mehr mühevoll auf klapprigen Leitern durch die Regale von staubigen Antiquariaten zu stöbern. Man bestellt heute ganz einfach und bequem online z.B. beim Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher (ZVAB) oder - wenn man keine Skrupel hat - direkt bei Amazon. (kleiner Wermutstropfen: Auch ZVAB ist inzwischen von der Krake Amazon verschluckt worden.)
Ähnlich wie beim Alkoholiker gerät das Leben des Bibliomanen peu à peu aus den Fugen. Denn weder Alkoholkonsum noch die Büchersucht kennen Grenzen. Der Inhalt der Bücher ist dabei völlig gleichgültig. Und dies führt so manchen Bibliomanen auf die schiefe Bahn. Er verschuldet sich und beginnt Bücher zu stehlen und im Extremfall versteigt er sich gar zu Morden, um mit dem geraubten Geld seinem Bücherwahn neue Nahrung zu geben. Mit gut situierter Bücherlust hat all dies nichts mehr zu tun, sondern man blickt in schwindelnde Abgründe.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Juni 2019.

Zum Anfang

2019/06/15

cesaro1

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2019/06/13

Verlängerte Frühlingsblüte von SKWB

skwb
Social Knit Work Berlin hat ein neues Kunstwerk erschaffen,
auf dem Schillerplatz in Berlin Friedenau.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, April 2019.

Seht bitte auch die Fotos:
Baumschmuck vom 2016/01/10 und
Public Chair vom 2016/11/05 auf kuhlewampe.net.

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2019/06/12

Im Herzen des Multikulti
Blick auf den und vom Kreuzberg in Berlin
(66 Meter über dem Meeresspiegel)

Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, April 2019.

kreuzberg1
Das Denkmal für die Befreiungskriege (1821) von Baumeister Schinkel und weiterer Künstler
auf dem Kreuzberg.

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Ziemlich zugewachsener Blick vom Kreuzberg Richtung Norden auf Berlin Mitte.

kreuzberg3
Meinungsäußerungen auf dem Kreuzberg (in schlechtem Englisch).

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2019/06/09

Zum Ergebnis der Europawahl am 26. Mai 2019

Dr. Christian G. Pätzold

Eigentlich war die Europawahl am 26. Mai 2019 nicht ganz so wichtig, denn das Europäische Parlament darf nur ziemlich wenig entscheiden und ist mehr ein Debattierclub. Die wichtigen Entscheidungen in Europa werden im Ministerrat der EU getroffen, unterstützt von tausenden LobbyistInnen. Die Bedeutung der Wahl lag mehr in dem Einblick, den man in die politische Stimmung bei den europäischen WählerInnen bekommen konnte. Das Ergebnis der Wahl war, dass sich das Europaparlament zu einem politischen Flickenteppich entwickelt hat, der deutlich rechter orientiert ist.
Dass das Europaparlament kein so großes politisches Gewicht hat, machte es für die WählerInnen möglich, mehr nach persönlichem Geschmack zu wählen und nicht so sehr nach taktischen Überlegungen für das kleinere Übel zu stimmen. Da es außerdem bei der Europawahl keine 5-Prozent-Hürde gibt, hatten auch kleine Parteien eine Chance auf einen Sitz im Europaparlament. So erreichten in Deutschland 7 kleine Parteien insgesamt 9 Sitze. In Deutschland standen immerhin 40 Parteien auf dem Wahlzettel, so dass für fast jeden Geschmack etwas dabei war. Daher kann man das Ergebnis der Europawahl als ehrlicher betrachten als die Wahlergebnisse üblicher Wahlen, da die WählerInnen mehr nach ihren wirklichen Einstellungen abstimmen konnten.
Im Vorfeld der Europawahl war vor allem ein Rechtsruck bei den WählerInnen befürchtet worden. Zu den Rechtspopulisten und Rechtsextremen werden solche Parteien gerechnet wie: AfD, Lega, 5 Stelle, FPÖ, Rassemblement National, Brexit Party, etc. Im alten Europaparlament hatten die Rechtspopulisten und Rechtsextremen 80 Sitze von 751 Sitzen, das waren 10,7 %. Im neuen Europaparlament haben die Rechtspopulisten und Rechtsextremen 112 Sitze von 751 Sitzen erreicht, das sind 14,9 %. Der Rechtsruck ist also nicht so stark ausgefallen, wie man gedacht hatte. In einzelnen Ländern und Regionen ist die Entwicklung allerdings düster. Die Rechten haben vor allem in Italien, Frankreich und England gewonnen, außerdem in den östlichen Teilen Polens und Deutschlands. In Brandenburg und Sachsen wurde die AfD zur stärksten Partei.
Die Konstellation im neuen Europaparlament ist von 5 größeren Blöcken geprägt: Konservative, Sozialdemokraten, Rechte, Liberale und Grüne. Das Machtkartell aus Konservativen und Sozialdemokraten aus dem alten Europaparlament ist gebrochen worden. Dort hatten sie zusammen noch die absolute Mehrheit und konnten alles unter sich auskungeln. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Dadurch entsteht insgesamt ein kontroverseres Bild. Auch bei den deutschen Wählern haben CDU/CSU und SPD ihre absolute Mehrheit verloren. Die SPD-Parteivorsitzende ist bereits Anfang Juni zurückgetreten.
Die Linke spielt im neuen Europaparlament so gut wie keine Rolle mehr und hat auch Abgeordnete verloren. Europa findet ohne die Linke statt. Oder anders gesagt: Europa ist nicht links. Dabei hatte sich die Linke so sehr für die Europäische Union eingesetzt. Aber ihr Wahlkampf für ein "soziales Europa" war den WählerInnen vielleicht zu sehr wischiwaschi. Was die Linke konkret wollte, hat man nicht so richtig verstanden.
Dann habe ich mir die Frage gestellt: Wie viele Diäten bekommt eigentlich ein deutscher Europaabgeordneter? Es sind etwa 10.000 Euro im Monat. Dazu kommen aber noch tausende von Euro für sonstige Nebenkosten. Bei 751 Abgeordneten kommt da eine hübsche Summe zusammen, die die europäischen Steuerzahler berappen müssen.

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2019/06/05

Oskar Schlemmer: Die Bauhaustreppe in Dessau, 1932

bauhaus2schlemmer
Öl auf Leinwand. 162,3 x 114,3 cm.
Zum 100. Jubiläum des Bauhaus. Quelle: Wikimedia Commons.

Zu sehen ist die berühmte Treppe im Hauptgebäude des Bauhaus in Dessau, von Walter Gropius entworfen. Im Hintergrund ist die große Glasfassade des Gebäudes sichtbar. Die jungen Studentinnen mit manierierten Taillen und modernen Bauhausfrisuren der 1920er Jahre scheinen sich tänzelnd auf der Treppe zu bewegen. Die Person oben links steht sogar auf der Zehenspitze. Ja, am Bauhaus gab es auch Studentinnen. Die Lehrkräfte waren allerdings fast nur Männer. Bei den Farben des Bildes überwiegen Blau und Weiß, mit einem großen Ausrufezeichen in Rot in der Bildmitte, was kein Zufall ist. Der Bauhausmeister Oskar Schlemmer (1888-1943) ist besonders durch sein originelles Triadisches Ballett von 1922 bekannt, das noch in neuerer Zeit aufgeführt wurde.
Schlemmers Hauptwerk von 1932 versprüht einen Hauch von Neuer Sachlichkeit, auch wenn das Bild zur Klassischen Moderne gezählt wird. Oskar Schlemmer war von 1920 bis 1929 Meister am Bauhaus. Das Bild stammt aus einer Zeit, als das Bauhaus schon vor den Nazis aus Dessau flüchten musste, und ist eine Erinnerung an schöne Tage. Jugendliches Aufstreben ist der überwiegende Eindruck des Bildes. Das Bild gehört seit 1933 dem Museum of Modern Art in New York City. Für die Nazis war Oskar Schlemmer ein "Entarteter Künstler", seine Werke wurden von ihnen gezielt vernichtet. Da war es ein Glücksfall, dass es das Bild ins Exil nach New York geschafft hat.
Das Bild »Bauhaustreppe« von Oskar Schlemmer wirft einige Fragen auf. Die Darstellung der Bauhaustreppe entspricht nicht der tatsächlichen Treppe im Bauhaus. (Seht bitte die Fotos der Bauhaustreppe auf kuhlewampe.net vom 2019/04/15). Hat Schlemmer die Treppe aus dem Gedächtnis "falsch" gemalt oder mit Absicht anders dargestellt? Auf dem Bild sind 9 Personen vorhanden, teilweise nur mit einzelnen Körperteilen. Auf der linken Bildseite befinden sich 5 Personen in einem Halbkreis. Auf der rechten Seite 4 Personen. Dadurch gibt das Bild einen sehr belebten Eindruck eines lebendigen Hochschulbetriebes. Keine der Personen ist mit dem vollständigen Körper dargestellt. In der Bildmitte rechts außen ist eine Person vor der Glasfassade zu erkennen. Das kann nicht sein, da sich dort der Luftraum vor dem Gebäude befindet. Auch bin ich mir nicht sicher, ob man auf Zehenspitzen gesund und munter die Treppe herunter kommt.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/06/02

Haikus von Rudolph Bauer:
Politikerschelte

parteien werben
wir sollen zur urne gehn
blindes vertrauen

dass wir vergessen
was sie versprachen denken
abgeordnete

bereit zum beschluss
von freihandelsverträgen
die sie nicht kennen

steuerschlupflöcher
gibt es für die konzerne
für arbeiter nicht

der dieselskandal
der asthmatiker krank macht
wird ausgesessen

lasst waffen sprechen
das morden nimmt kein ende
jetzt auch die bienen

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, Juni 2019.

Die Haikus sind mit Erlaubnis des Autors dem Buch entnommen:
Rudolph Bauer/Thomas Metscher: Aus gegebenem Anlass. Gedichte und Essay. Hamburg 2018. tredition.

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2019/05/31

vorschau06

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2019/05/28

14 thesen zur politischen lyrik

dr. christian g. pätzold


1 politische lyrik ist ein kleines literarisches spezialgebiet.

2 politische lyrik, die niemanden beißt, ist keine politische lyrik.

3 heinrich heine und bertolt brecht waren die größten politischen lyriker in deutschland. in anderen ländern gab es auch wichtige politische dichter.

4 politische lyrik braucht sich nicht zu reimen.

5 satirische politische lyrik ist die beste politische lyrik.

6 liebeslyrik, naturlyrik, sprachspiellyrik und konkrete poesie haben auch ihre berechtigung, aber die politische lyrik ist doch meist von größerer wichtigkeit.

7 politische lyrik wird heute meist mit kleinen buchstaben geschrieben.

8 die wichtigsten themen der politischen lyrik sind krieg und frieden, unterdrückung und freiheit, ausbeutung und gerechtigkeit sowie kapitalismuskritik.

9 es gibt nicht nur progressive politische lyrik, sondern leider auch reaktionäre politische lyrik.

10 aphorismen sind nahe verwandte der politischen lyrik.

11 haikus sind wegen ihrer kürze und konkretheit eine besonders ansprechende form der poesie.

12 politische dichter sind gleichzeitig meist denker.

13 die welt darf nicht nur beschrieben werden, sondern sie muss verändert werden.

14 keine lyrik ist auch keine lösung.

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2019/05/24

»Aus gegebenem Anlass« von Rudolph Bauer

Dr. Christian G. Pätzold

bauer


In den zurückliegenden dreißig Jahren hatte es die politische Lyrik in Deutschland nicht leicht. Nachdem Erich Fried 1988 gestorben war, verfiel die politische Lyrik in Westdeutschland in ein Schlummerdasein. Das wurde noch vertieft durch das Aus der DDR 1990, denn dort gab es immerhin noch politische Lyrik. Sie war sogar angesehen und in den Volkseigenen Betrieben gab es Zirkel Schreibender ArbeiterInnen. Dann wurde die Industrie in Ostdeutschland entsorgt und mit ihr die politische Lyrik. In den 90er und Nuller Jahren grassierte der neoliberale Wahn und an fortschrittliche Lyrik war kaum zu denken. Angesichts dieser Vorgeschichte ist es erfreulich zu sehen, dass jetzt wieder politische Lyrik aufblüht, zum Beispiel mit dem schön gestalteten Buch »Aus gegebenem Anlass« von Rudolph Bauer.
Rudolph Bauer ist Politikwissenschaftler. Er war Professor an der Universität Bremen. Gleichzeitig ist er ein erfahrener Lyriker, der schon mehrere Gedichtbände veröffentlicht hat. Daher kann man einiges von ihm lernen. Zum Beispiel über den spielerischen Einsatz verschiedener Gedichtformen. Der Autor verwendet Haikus, Aphorismen, Distichen und Sonette. Auch Sprachspielerisches bis zum Poetry Slam. Auch der Rückblick in die Geschichte kommt häufig vor. Dabei muss man bedenken, dass sich politische Lyrik grundsätzlich von politischer Essayistik unterscheidet. Lyrik ist verknappt und kondensiert, während die Essayistik alle Aspekte eines Themas in Sätzen und Absätzen ausführlich ausleuchtet. Bei der Lyrik müssen die LeserInnen noch intensiver mitdenken, haben aber auch mehr Freiheit zu assoziieren.
Speziell politische Lyrik ist ein schwieriges Gebiet der Lyrik, weil der Autor bzw. die Autorin Stellung beziehen und damit automatisch ins Schussfeld der politischen Auseinandersetzung geraten. Daher sind die meisten LyrikerInnen viel zu ängstlich für politische Lyrik, besonders für linke politische Lyrik. Heute fragt man sich wieder, wann die Nazis in Deutschland die Wahlen gewinnen und an die Macht kommen, und wann man als Dichter wieder ins KZ gesperrt und gefoltert wird. Ein politischer Dichter zu sein ist in Deutschland bekanntlich lebensgefährlich. Politische Lyrik ist nur was für Mutige. Die Angsthasen schreiben lieber Naturlyrik oder Liebeslyrik. Wem es in der Küche zu heiß ist, sollte nicht Koch werden. Das gilt übrigens noch mehr für VerlegerInnen. Die haben die German Angst und Selbstzensur schon so verinnerlicht, dass sie politische Lyrik meiden wie der Teufel das Weihwasser.
Bei Rudolph Bauer trifft man auf echte politische Lyrik, die nicht weichgespült ist. Thematisch ist das Buch sehr vielfältig, geht aber immer vom Denken der Friedensbewegung aus. Das Schwergewicht liegt auf Gedichten gegen den Krieg und gegen die Rüstung und Waffenexporte. Dem Buch voran gestellt ist ein Zitat von Bert Brecht aus der "Rede für den Frieden" von 1952:
"Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden."
In diesen Worten von Brecht kann man schon den scheinbaren Widerspruch erkennen: Man muss unfriedlich sein, um den Frieden zu erreichen.
Mehr am Rande werden weitere heiße Eisen wie die Geflüchteten, der Verfassungsschutz, Europa, Israel und der Islam angesprochen. Aber diese Themen haben letztlich auch etwas mit Krieg und Frieden zu tun. Etwas aus dem Rahmen fällt das Gedicht über den indischen Elefantengott Ganesha, bei dem man an die friedlichen Dickhäuter denken muss, die leider vom Aussterben bedroht sind, weil sie wegen ihres Elfenbeins abgeschossen werden. Eine weitere Gruppe bilden Gedichte auf Dichtergenossen.
Der Autor ist Kriegsgegner. Bundeswehrwerbung in Schulen ist ihm ein Graus. Gegen Ende das Buches findet sich noch ein Aufruf von Rudolph Bauer:

"schriftsteller/innen versagt nicht
steht auf und rebelliert
gegen die nazis verzagt nicht
schreibt an gegen sie unbeirrt"

Den Abschluss des Buches bildet ein literaturgeschichtlicher Essay von Thomas Metscher über politische Lyrik. Summa Summarum: Ein interessantes Buch mit vielen Anregungen, vielleicht sogar ein Meilenstein der friedensbewegten Dichtung.

Der Autor liest aus dem Buch in folgenden Youtube-Videos:
https://www.youtube.com/watch?v=WR-TSB6-dlg (Dauer: 9'18'').
https://youtu.be/Fnd0ijizOCw (7'18'').

Rudolph Bauer/Thomas Metscher: Aus gegebenem Anlass. Gedichte und Essay. Hamburg 2018. tredition. 194 Seiten.
ISBN 978-3-7469-7155-1.

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2019/05/22

Song for Brexiteers and Profiteers

Wolfgang Weber

E: exit / yes / exit / no
D: exit / ja / exit / nein
E: brexit / yes / brexit / no
D: brexit / ja / brexit / nein
E: flexit / yes / flexit / no
D: flexit / ja / flexit / nein
E: brexit / yes / brexit / no
D: brexit / ja / brexit / nein

E: should I stay / Theresa or May / should I go
D: wollt Ihr bleiben / Theresa oder May / wollt Ihr raus
THE CLASH

E: way in / way out
D: herein / heraus

E: no way out
D: kein ausweg

E: deal / no deal / ideal
D: abkommen / kein abkommen / ideal
E: no big deal
D: kein großes ding

E: brexit / grexit
D: brexit / grexit
E: EU-exit / no brexit
D: EU verlassen / kein brexit

E: don’t go away / in the month of / Theresa May
D: geht nicht weg / im monat der / Theresa May

E: how does it feel / with a heart / like railroad steel
D: was für ein gefühl ist das / mit einem herzen / aus stahl wie eine bahntrasse

E: BRRRRR-exit / no BRRRRR-exit
D: BRRRRR-exit / austritt / kein BRRRRR-exit

E: deal / no (i)deal
D: abkommen / kein abkommen / nicht ideal

E: everybody now / trying to make it real / compared to what
D: und nun alle / versucht es Euch vorzustellen / bringt es zusammen
E: everybody now / trying to make it real / compared to what

© Wolfgang Weber, Mai 2019.

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2019/05/21

freiheit

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2019/05/18

Rettet die Insekten:
Der Marienkäfer

Ella Gondek

marienkaefer
Fotografiert von © Ella Gondek.

Auf meine Hand kam angeflogen
ein süßes, kleines Käferlein,
mit wunderschönen roten Flügeln
und darauf sieben Pünktelein.

Es krabbelte auf meiner Hand
bis an der Finger höchste Spitzen
und blieb dort ganz vertraut und brav
für kurze Zeit auch ruhig sitzen.

Ich sah es an sehr liebevoll
und fühlt’ mich hin zu ihm gezogen.
Doch plötzlich, wie von Geisterhand,
ist es schnell davon geflogen.

Es flog weiter in die große Welt,
um andern Menschen Freud’ zu bringen.
Für mich war es Glückseligkeit,
sich zu erfreu’n an kleinen Dingen.

Copyright by Eleonore Gondek, Mai 2019.

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2019/05/15

Dieser arme Homosaxone

Peter Hahn & Jürgen Stich

kurthiller
Kurt Hiller, gezeichnet von Emil Stumpp, 1924.
Quelle: Wikimedia Commons.

Inhaltsleerer konnte die Gedenktafel an der Hähnelstraße Nr. 9 (in Berlin Friedenau) nicht formuliert werden:
"Hier wohnte von 1921-1934 Kurt Hiller. 17.8.1885-1.10.1972. Der expressionistische Schriftsteller emigrierte 1934 nach erlittener KZ-Haft. Er kehrte 1955 nach Deutschland zurück. Von 1969 bis zu seinem Tod war er Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg."
Hiller war ein wortmächtiger, streitbarer und nach allem, was aus seiner Biografie und seinem literarischen Werk herauszulesen ist, ein einsamer Mensch. Nach dem Motto "Der ist der stärkste Mann der Welt, der ganz allein steht!" focht er lebenslang für eine gerechte Gesellschaft, überraschte immer wieder mit undogmatischen Analysen und Urteilen. Damit machte er sich viele Feinde. "Der humanitäre Aktivismus, so Thomas Mann, den Hiller aus den Wurzeln seiner Sexualität zieht, ist mir fremd, oft widerwärtig." Kurt Hiller hatte seine Homosexualität nicht bloß bedacht und beschrieben, sondern auch gelebt.
Bereits 1908 vertrat er in »Das Recht über sich selbst« die Ansicht, dass gleichgeschlechtliche Liebe zu Unrecht strafrechtlich verfolgt werde. Mit »§ 175: Die Schmach des Jahrhunderts!«, 1922 erschienen, meint er, wie Hiller 1969 in seine Autobiografie »Leben gegen die Zeit« mitteilt, nicht nur die Sache: Ich meinte mich und die Sache.
"Je ferner mir leibliche Berührung des Jünglings, den ich liebte, lag, desto wilder brodelte in mir ein an keine bestimmte Person geknüpftes animalisches Begehren. Nicht, dass ich mit Bedacht mich zwang, beides auseinanderzuhalten; nein, ein Etwas oberhalb meiner Willensvorgänge zwang mich ohne mein Zutun dazu und fast außerhalb meiner Beobachtung und Selbsterkenntnis. Ich erlegte mir kein Gesetz auf, sondern ich gehorchte einem Gesetz in mir ohne das Gefühl eines Gehorchens. Als ich begonnen hatte, zu ahnen, was mit mir los sei, erfuhr ich (durch wen oder was, habe ich vergessen), dass gewisse Stellen im Tiergarten an seinem Rande sich nachts als zwar stockdunkel, aber bevölkert erweisen, bevölkert von Menschen, unter denen mit einiger Vorsicht mal Ausschau zu halten (doch Ausschau ging wegen der Dunkelheit kaum!) mir reizvoll schien. Eines Tages im Oktober unternahm ichs. Im Tiergartenstück zwischen Lennéstraße und Brandenburger Tor. Da teils vom Nachthimmel teils von den Laternen der angrenzenden beiden Straßen her ein paar Lichtstrahlen ins Düster der Büsche gelangten, vermochte man die Umrisse und Antlitze der dort Wandelnden oder auf Bänken Wartenden halbwegs zu erkennen. Auf einer Bank setzte ich mich neben einen Mann, der, ein bis zwei Jahrfünfte älter als ich, schnittig und drahtig wirkte und in dessen Gesicht kein Zug mich abstieß. Ein Gespräch entwickelte sich; ich fragte ihn vor allem, ob er Muskeln hätte. Statt zu antworten, hielt er mir seinen Oberarm hin. Ich prüfte; der Bizeps war geräumig, gewölbt und wie aus Stahl. Wohin nun? Er bot seine Wohnung an. Weiß nicht mehr, wo sie lag. Sie war sehr klein und sehr sauber. Als er sich entkleidete, kam ein toll trainierter Körper zum Vorschein, bedeckt mit Tätowierungen. Die mochte ich nicht, doch die Skulptur seines Rumpfs und seiner Gliedmaßen erzeugte in mir unerhört viel mehr Lust als die Tätowierung Unlust. Wechselseitige Masturbation stand weder damals noch später je auf meinem Programm. So wenig wie Analsachen, Oralsachen. Wir legten uns ins Bett und umarmten einander; und kaum hatte ich meinen zu weichen Körper an seinen prachtvoll harten gepresst, als 'es geschehen war'. Ob oder wann bei ihm, entglitt meinem Gedächtnis. Als wir uns wieder angezogen hatten, verlangte er höflich einen geringen Preis. Ich zahlte ihn, und wir sahen uns niemals wieder."
Menschlich, allzumenschlich. Der kluge Kopf hätte wissen müssen, dass solcherart Bekenntnisse eine Frage des Geschmacks und nicht jedermanns Sache sind.
Selbst Siegfried Jacobsohn, der Herausgeber der unabhängigen politischen Wochenschrift »Die Weltbühne«, klagte in einem Brief an Kurt Tucholsky vom 8. März 1926:
"Ich fürchte, dass es mit mir und Kurtchen Hiller nicht mehr lange währen wird. Es ist nicht zu sagen, was dieser arme Homosaxone sich an Hysterie, Verfolgungswahn, Eitelkeit, Empfindlichkeit, Anmaßung und Geschmacklosigkeit brieflich leistet. Mir ist kein Redakteur bekannt, der sich das so lange gefallen ließe wie ich Engel an Sanftmut und Geduld. Aber eines Tages wird sie wohl auch mir reißen. Bet für mich!"
Kurt Hiller war von 1915 bis 1918 und von 1924 bis 1933 regelmäßiger Mitarbeiter der »Weltbühne«. Insgesamt schrieb er in all den Jahren 167 Beiträge. Jacobsohn schätzte seine Texte. Auseinandersetzungen gab es immer wieder. Nahm es Jacobsohn im November 1917 locker hin, dass Hiller ihn zum Feuilletonistenpack zählte, das sämtliche Amüsierpremieren würdigt, weil sie gesellschaftliche Begebenheiten sind, so kam es im Dezember 1918 vollends zum Zerwürfnis, als Jacobsohn in der Rubrik Antworten seinen Austritt aus Hillers Aktivisten-Verein Rat geistiger Arbeiter begründete und zu dem Schluss kam: "Eine Arbeitsgemeinschaft ist unmöglich."
Im März 1924 druckte Jacobsohn erstmals wieder einen Text von Hiller. Das der erneuten Mitarbeit vorausgegangene Gespräch charakterisierte Hiller 1969 im Rückblick:
"Gegen Ende Februar fand die Begegnung in seiner Redaktion statt. Wir unterhielten uns etwa drei Stunden lang. Über das meiste, was er mir sagte, war ich platt. Seine Polemik gegen mich aus 1918 erwähnte weder er noch ich; und er ließ mich auf eine verhaltene, mich ehrende Art wissen, dass er über die Wiederaufnahme meiner Mitarbeit froh sei. Mindestens so froh war ich. Mich zu identifizieren mit der Weltbühne vermochte ich indessen nie."

© Peter Hahn & Jürgen Stich, Mai 2019.

Der Artikel ist mit Erlaubnis der Autoren dem Buch entnommen:
Peter Hahn & Jürgen Stich: Friedenau. Geschichte & Geschichten. Oase Verlag Badenweiler 2015.
ISBN 978-3-88922-107-0.

Die Webseite von Peter Hahn & Jürgen Stich ist: www.friedenau-aktuell.de.

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2019/05/12

Rudolph Bauer
Novemberrevolution 1918

die matrosen in kiel wilhelmshaven stade und emden
weigerten sich auszulaufen
mit den kriegsschiffen in den nassen den sicheren tod

die soldaten im feld an der front in schützengräben
weigerten sich zu fallen
in glitschigem matsch aus blut urin und gedärmen

die arbeiter in den fabriken fleißig am fließband
weigerten sich herzustellen
waffen und kriegsgeräte statt töpfe und pfannen

die arbeiter auf den werften und an der drehbank
weigerten sich schiffe
zu bauen und kanonen zu bohren aus kruppstahl

ihre schuftenden hungrigen frauen hinter der front
weigerten sich zu gebären
neue soldaten und neue mädchen für neue soldaten

in den dörfern die bauern auf äckern feldern und wiesen
verweigerten abzuliefern
die ernte die rinder und schweine die knechte fürs heer

matrosen soldaten arbeiter frauen die bauern das volk
statt fortzusetzen befohlenes
morden jubelten laut lang lebe der frieden die freiheit

matrosen soldaten arbeiter frauen die bauern das volk
verjagten den deutschen kaiser könig von preußen
verschonten sträflich jedoch generale richter und chefs

matrosen soldaten arbeiter frauen die bauern das volk
vertrauten den noskes
die die revolte begrüßten um sie dann niederzumetzeln

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, Mai 2019.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors und des Verlages dem Buch entnommen:
Schlafende Hunde VI - Politische Lyrik. Herausgegeben von Thomas Bachmann, verlag am park in der edition ost, Berlin 2019.

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2019/05/09

László Moholy-Nagy: Komposition Z VIII, 1924

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Zum 100. Jubiläum des Bauhaus. Quelle: Wikimedia Commons.

Zu sehen ist eine geometrische Komposition im Stil des sowjetischen Konstruktivismus. Man kann auch die suprematistischen Kompositionen vergleichen, die Kasimir Malewitsch 10 Jahre früher gemalt hat. Das Bild besteht ausschließlich aus verschieden farbigen Rechtecken und Kreisen, die eine Architekturlandschaft darzustellen scheinen. Moholy-Nagy (1895-1946) war ein wichtiger Bauhausmeister in den Jahren von 1923 bis 1928 und seine Komposition entspricht ganz der geometrischen Philosophie des Bauhaus. Bei den Farben überwiegen Schwarz und verschiedene Rottöne.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/05/06

Ingo Cesaro
Da kommt Bewegung auf

in einer bayerischen Landesbehörde
zwischen einzelnen Abteilungen
kommt Bewegung auf
ein interner Wettbewerb
um das wertvollste Kreuz
um Eindruck zu schinden
ganz nach oben

einer der Abteilungsleiter
fragte unerwartet
beim berühmten Bildhauer an
im Vordergrund steht
vorausgesetzt
eine außergewöhnliche Ausführung
Material und Preis nebensächlich

deutet gleichzeitig an
dass Folgeaufträge
nicht ausgeschlossen
würden sich
auch andere Abteilungsleiter
beim Landesherrn
ja was wohl

und andere Behörden
müssten dann ebenfalls
in den sauren Apfel beißen
wohl oder übel nachziehen
um Nachteile
vor allem für sich
auszuschließen.

© Ingo Cesaro, Mai 2019.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors und des Verlages dem Buch entnommen:
Schlafende Hunde VI - Politische Lyrik. Herausgegeben von Thomas Bachmann, verlag am park in der edition ost, Berlin 2019.

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2019/05/03

Zum 100. Geburtstag von Pete Seeger

Dr. Christian G. Pätzold

peteseeger
Pete Seeger mit seinem Banjo, Auftritt in New York 2011 im Alter von 92 Jahren.
Quelle: Wikimedia Commons.

Pete Seeger (1919-2014) war ein sozialistischer Protestsänger in den USA, der in den 1960er Jahren international berühmt wurde. Er wurde am 3. Mai 1919 in New York City geboren. Sein Vater und seine Mutter waren Musiker, so dass er von klein auf mit Musik aufwuchs. Schon mit 22 Jahren sang er vor großem Publikum und mit 92 Jahren immer noch. Er gehörte zu den erstaunlichen Menschen, die 70 Jahre lang dasselbe mit Erfolg gemacht haben, ohne Exkursion in einen anderen Beruf oder in ein anderes Betätigungsfeld. In einem früheren Artikel auf kuhlewampe.net habe ich über Rosa von Praunheim geschrieben, der auch in seinem ganzen Leben nur Dokumentarfilme gedreht hat, und das mit Erfolg. Vielleicht kann man solche Menschen lineare Menschen nennen, denn sie machen von frühester Jugend bis ins späte Alter nur eine bestimmte Sache. Ich bin dagegen eher ein Zick-Zack-Mensch, der mal das eine und mal das andere gemacht hat, aus Gründen der bunten Abwechslung, und alles mit wenig bis keinem Erfolg. Daher faszinieren mich solche linearen Menschen bis zu einem bestimmten Punkt.
Pete Seeger brauchte nur seine Stimme und sein Banjo oder seine Gitarre. Er hat so viele bekannte politische Songs und Gewerkschaftslieder geschrieben und gesungen, darunter bspw. »Where Have All the Flowers Gone« als Anti-Kriegslied, »We Shall Overcome« für die Bürgerrechtsbewegung der Afro-Amerikaner, »If I Had a Hammer«, »Turn! Turn! Turn!«, »This Land is Your Land«, »Joe Hill«, »Kumbaya«, »Guantanamera«, »Down by the Riverside«, »We Shall Not Be Moved«. Er sang auch Lieder seines Freundes Woody Guthrie, mit dem er als Hobo durch die USA getrampt war, um die heimische Folk Music kennen zu lernen. Seine Lieder wiederum wurden von solchen Größen wie Bob Dylan oder Joan Baez übernommen.
Wegen seiner Nähe zur Kommunistischen Partei der USA wurde er seit den 1950er Jahren von der US-Regierung stark verfolgt. Während der Hexenjagd auf Linke in der McCarthy-Ära wurde er 1955 vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe gezerrt, ins Gefängnis gesperrt und auf die Schwarze Liste gesetzt. Die US-Medien boykottierten ihn über 15 Jahre lang. Die US-Regierung hatte mächtig Angst vor seinen Liedern.
Während des Kalten Krieges ist er mehrmals in der Sowjetunion aufgetreten und auch in Ost-Berlin, DDR, in den Jahren 1967 und 1986. Reisen in den Ostblock haben sich damals nur wenige US-Amerikaner getraut. Die Arbeiterbewegung, die Bürgerrechtsbewegung, die Friedensbewegung, die Umweltbewegung haben ihm viel zu verdanken. Heute noch kann man ihn bei Youtube singen hören.

© Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2019.

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2019/05/01

Beste Grüße zum 1. Mai von kuhlewampe.net !

Vor 100 Jahren wurde der 1. Mai gesetzlicher Feiertag in Deutschland.

erstermai
Giuseppe Pellizza da Volpedo (1868-1907): Il Quarto Stato (Der Vierte Stand),
Ausschnitt, 1901. Quelle: Wikimedia Commons.

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2019/04/30

vorschau05

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2019/04/27

pazifik

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2019/04/24

Dr. Hans Albert Wulf
Die Buchmenschen

truffaut

Wir überqueren am südlichen Stadtrand mit dem Boot einen kleinen Fluss und folgen dann den Gleisen einer stillgelegten Eisenbahn hinein in einen Birkenwald. Dort stoßen wir auf eine kleine Siedlung aus Bauwagen, Holzhütten und alten Eisenbahnwaggons und es eröffnet sich uns hier ein eigenartiges Bild. Wir sehen Menschen im Wald auf- und abgehen, mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand. Und jeder von ihnen ist vertieft und liest in seinem Buch oder deklamiert daraus. Haben wir es hier mit einem Wochenendkurs zur Übung im schnellen und rationellen Lesen zu tun? Oder sind es Schauspieler, die in ruhiger Abgeschiedenheit ihre Theaterrollen auswendig lernen wollen? Nichts dergleichen. Es handelt sich hier um eine Szene aus einem Science-Fiction-Film, in den wir hineingesprungen sind. Wir fassen uns ein Herz und fragen einen der umherwandelnden Rezitatoren nach dem tieferen Sinn dieses Bücherwandelns. Und der antwortet uns in freundlichem Ton, dass sich jeder dieser eigentümlichen Menschen einem bestimmten Werk der Weltliteratur verschrieben habe. Der eine widmet sich dem »Don Quijote« des spanischen Dichters Cervantes, ein anderer hat sich die Dramen von Shakespeare vorgenommen. Dahinten, dort wo die Eichen stehen, deklamiert eine ältere Dame aus dem »Prozess« von Franz Kafka. Aber auch neuere Literatur ist hier vertreten, z.B. »Zazie in der Metro« von Raymond Queneau oder Jean Paul Sartres »Das Sein und das Nichts«. Jeder und jede von diesen Waldwandlern liest nicht nur das betreffende Buch, sondern lernt es auswendig und stellt so gleichsam die Verkörperung dieses Buches dar. Man nennt sie deshalb auch die "Buchmenschen". Wenn wir einen von ihnen nach seinem Namen fragen, so antwortet er: "Ich bin der Staat von Platon", oder eine andere: "Ich bin die Odyssee von Homer". Und wenn einer von den Buchmenschen im Sterben liegt, wie dieser alte Mann da drüben in dem Lehnstuhl vor der Hütte, so spricht er seinem Neffen oder Enkel das Buch vor, damit der es auswendig lernt und es so für die Nachwelt bewahrt wird.
Diese Geschichte stammt aus dem Film »Fahrenheit 451« von François Truffaut und führt uns in eine Gesellschaft, in welcher der Besitz und die Verbreitung von Büchern generell verboten sind. Und deshalb müssen sie verbrannt werden. Und dies gilt auch hier draußen in der Abgeschiedenheit des Waldes bei den Buchmenschen. So befiehlt es das Gesetz einer bücherfeindlichen totalitären Gesellschaft. Eine Horrorvorstellung für jeden Buchliebhaber und Büchersammler, die an grauenvolle Episoden unserer eigenen Geschichte erinnert.
Fahrenheit 451 ist offensichtlich die Temperatur, bei welcher Papier brennt. Daher der Filmtitel. Der Film von 1966 beruht auf einem Roman des amerikanischen Schriftstellers Ray Bradbury von 1953.
Er beginnt dramatisch: Ein junger Mann erhält einen Anruf, stürmt Hals über Kopf aus dem Haus und sucht das Weite. Und dies war keine Sekunde zu früh; denn vor seiner Haustür ist bereits ein futuristisch gestylter Feuerwehrwagen mit zehnköpfiger Besatzung vorgefahren. Die Feuerwehr hat in dieser Gesellschaft allerdings nicht die Aufgabe, Brände zu löschen. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, Bücher aufzuspüren und sie zu verbrennen. Die Nazis verbrannten 1933 ja bekanntlich Bücher, die Ihnen politisch zu links, liberal oder jüdisch waren. In dem Film von Truffaut werden dagegen ausnahmslos alle Bücher, derer die Feuerwehr habhaft werden kann, verbrannt. Bücher gelten in dieser Gesellschaft als Bedrohung. Zum einen schadeten sie dem seelischen Gleichgewicht der Menschen, sie könnten unkontrollierbare Emotionen wecken. Derartige Warnungen vor zu schweren Romanen habe ich mir selbst gelegentlich von einer früheren Freundin anhören müssen. Ich solle sie besser meiden, da sie ja nur Depressionen verursachen würden.
Und zum zweiten, so heißt es, gefährdeten Bücher die gesellschaftliche Gleichheit. Glücklich könne man in dieser Gesellschaft nur sein, wenn alle gleich sind. Keiner soll sich über den anderen erheben können, und sei es auch nur durch eine elitäre Buchlektüre. Immer bestehe die Gefahr, dass einer, der beispielsweise die »Nikomachische Ethik« von Aristoteles gelesen hat, sich für klüger als andere hält. Bücher beunruhigten die Menschen und machten sie asozial. Generell können Bücher, so heißt es, widerständig sein und subversive Gedanken nähren. Und dies ist zweifellos zu allen Zeiten der Hauptgrund für all diese Bücherverbote und Bücherverbrennungsaktionen.
Die Besatzung des Feuerwehrautos ist ein eingespieltes Team. Nachdem sie sich zu der Wohnung Zutritt verschafft haben, machen sie sich auf die Suche nach versteckten Büchern und sie wissen, wo sie zu suchen haben. In Lampenschirmen, im Fernseher oder auch im Toaströster. Die Bücher werden nach draußen geschafft und dann mit einem Flammenwerfer in Brand gesetzt und eingeäschert. Unter den Feuerwehrleuten ist derjenige privilegiert, der diesen Vorgang ausführen darf. Und dies ist hier der Feuerwehrmann Guy Montag, mitreißend gespielt von Oskar Werner. Montag soll befördert werden. Er ist einer, auf den man sich verlassen kann und der seine Arbeit gerne erledigt und mit seinem Leben zufrieden ist. Zu Hause, in seinem Einfamilienflachdachhäuschen erwartet ihn seine Ehefrau Linda (Julie Christie), die mit ihrem Leben vor der interaktiven Bildwand und den Tranquilizern, die sie pausenlos in sich hineinschluckt, vielleicht noch zufriedener ist als ihr Ehemann. Als Truffaut den Film im Jahr 1966 gedreht hat, gab es in Deutschland noch nicht einmal das Farbfernsehen. Von einer Fernsehbildwand ganz zu schweigen. Seit einigen Jahren kann man sie aber zu einem erschwinglichen Preis kaufen und sie sind gelegentlich fast so groß wie eine Wohnzimmerwand. Interaktiv sind sie heute zwar noch nicht, aber das kommt demnächst.
In der Schwebebahn, mit der er zur Arbeit fährt, trifft Montag auf eine junge Lehrerin, (ebenfalls gespielt von Julie Christie), die ihn nach seinem Beruf, nach all den Gründen für die staatlich verordneten Bücherverbrennungsaktionen interviewt und ihn schließlich fragt, ob er denn glücklich sei. Sie selbst sei, so berichtet sie, vom Schuldienst suspendiert worden, weil sie in all ihrem Alltagsverhalten und ihren Ansichten als Outcast und subversives Element gilt. Montag gerät nach solchen wiederkehrenden Treffen in der Schwebebahn mit der suspendierten Lehrerin, die aus einer anderen Welt zu stammen scheint, ins Grübeln und wird neugierig. Heimlich steckt er bei einem Feuerwehreinsatz ein Buch in seine Tasche. Es folgen weitere Bücher, die er in seiner Wohnung versteckt. Und peu à peu wird er zu einem Dissidenten, der unbeachtet von seiner Frau nachts ein Buch nach dem anderen verschlingt.
Als die Feuerwehr einen Brandeinsatz in der umfangreichen Privatbibliothek einer älteren Frau durchführt, erfährt Montag sein Damaskus. Die Frau steht würdevoll und selbstbewusst inmitten tausender Bücher. Der Captain fordert sie mehrfach auf und befiehlt ihr, das Haus zu verlassen, da es mitsamt all den Büchern niedergebrannt werden solle. Die Besitzerin der Bibliothek weigert sich zu gehen und es endet damit, dass sie schließlich mit all ihren Büchern verbrennt. Was soll man auch in einer Gesellschaft leben, in der es keine Bücher mehr gibt?
Wäre ein Bücherverbot bei uns denkbar? Ich glaube eher nicht. Es könnte aber sein, dass die Bücher irgendwann auf friedlichem Wege peu à peu aussterben. Dann, wenn keiner mehr Bücher lesen mag und nur noch auf sein Smartphone oder den Fernseher starrt.
Im Jahre 1993 war "Multimedia" das Wort des Jahres und Jahr für Jahr wird pünktlich zur Frankfurter Buchmesse in kulturpessimistischer Attitüde der Untergang der Gutenberggalaxis prophezeit. Doch hiervon kann einstweilen noch keine Rede sein. Nach wie vor prägen Bücher unsere Kulturlandschaft. Gelegentlich treffe ich allerdings auch alte Bekannte, die sich rühmen, dass es ihnen gelungen sei, ihre Wohnung komplett bücherfrei zu halten. Stattdessen favorisieren sie nun E-Books. Allerdings ist deren Verbreitung, wie man neuerdings hört, bei uns ins Stocken geraten. Ein Argument gegen sie lautet, dass sie zu technisch und zu steril seien. So muss man bei ihnen z.B. auf den oftmals betörenden Geruch von Büchern verzichten. Ihre Apologeten dagegen rühmen an ihnen, dass man auf ihnen tausend Bücher im Volltext speichern und überall mit hinnehmen könne. Aber wer benötigt schon tausend Bücher auf Reisen?
Als Montag nachmittags nach Hause kommt, sitzen da im Wohnzimmer seine Frau Linda und ihre Freundinnen, die mal wieder eine jener interaktiven Fun Shows auf der Bildwand ansehen. Es kommt zum Eklat: Montag stürmt mit einem Buch in der Hand hinein und liest den Frauen ganz gegen deren Willen daraus vor. Damit hat er sich ganz offen als ein Dissident aus der verbotenen Bücherwelt enttarnt. Seine Frau Linda verlässt ihn daraufhin und denunziert ihn bei der Polizei.
Als Montag kurz darauf beim Captain seine Kündigung einreicht, befiehlt der ihm, noch zu einem allerletzten Einsatz mitzufahren. Und, wie könnte es anders sein, das Feuerwehrauto fährt in sein Wohngebiet und hält direkt vor seinem Haus. Drinnen finden die Feuerwehrleute sehr rasch all die von Montag versteckten Bücher und werfen sie auf einen Haufen. Montag wird die "Ehre" zuteil, die Verbrennungsaktion seiner Bücher selbst durchzuführen. Zum Entsetzen der Umstehenden richtet er aber den Flammenwerfer auf die Wohnungseinrichtung und dann auf den Captain, der in den Flammen verbrennt.
Montag flieht und auf abenteuerliche Weise entkommt er den fliegenden Suchkommandos, die auf ihn angesetzt sind. Schließlich gelingt es ihm, mit einem kleinen Boot den Fluss zu überqueren und zu den Buchmenschen zu gelangen. Dort wird er mit offenen Armen empfangen. Er hat sich vor seiner Flucht ein Buch eingesteckt und bald sieht man ihn durch den Wald schreiten und es auswendig lernen. Es sind die Erzählungen von Edgar Allan Poe und daraus rezitiert er gerade den Satz: "Ich werde von einer Geschichte berichten, die voller Grauen ist."

© Dr. Hans Albert Wulf, April 2019.

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2019/04/21

Tagebuch 1973, Teil 32: Herat (Afghanistan)

Dr. Christian G. Pätzold

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Beim Obsthändler in Herat
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, September 1973.

14. September 1973, Herat, Feitag

Vormittags haben wir die Familie von Mohammed S. besucht und dort gegessen. Der Vater ließ ein Haus bauen und die Arbeiter verdienten 500 Afghani im Monat, Kost und Logis frei. Wahrscheinlich waren sie nicht verheiratet, da das sehr teuer war, viele Leute konnten es sich nicht leisten. Sie hatten außerdem einen verwilderten Wachhund, der von keinem Essen annahm und jeden anfiel, außer den Vater von Mohammed S. Sie vertrauten dem Hund mehr als den Soldaten, die jetzt immer nach dem Umsturz in den Straßen Patrouille liefen.
Im Haus lebten zirka 15 Menschen in zirka 10 Räumen, also ein richtiger Großfamilienhaushalt. Mohammed S. sagte, dass ständig Probleme mit irgendjemandem auftreten und dass man keine vernünftige Unterhaltung führen könne. Oft gäbe es Zank und Streit, aber man dürfe sich nicht zurückziehen, sonst wären sie beleidigt. Da er das nicht aushalten könne, bleibe sein Laden immer bis 11 Uhr abends geöffnet, obwohl gar keine Kunden mehr kämen. Er hielt viele Kinder für "crazy, always fighting". Viele Familien lebten mit fünf bis zehn Kindern in einem Raum. Sein Baby, es soll das einzige bleiben, war krank. Vielleicht war das Baby mit Pulvermilch gefüttert worden, und das Wasser zum Anrühren war nicht richtig abgekocht worden, was hier häufiger vorkam. Mohammed S. war schon mit dem Baby beim Arzt, aber es wurde nicht wesentlich besser. Wir wollten morgen mit ihm zu einem anderen Arzt gehen. Mohammed S. waren die Kräuter des Manns aus den Bergen und die Medizin der afghanischen Ärzte gleich dubios, womit er wahrscheinlich recht hatte.
Dann haben wir das Busticket für morgen von Herat nach Kabul für 180 Afghani bei einer ziemlich klapprigen Busgesellschaft gekauft. Die Quaderi-Busgesellschaft wollte 240 Afghani.
Mohammed S. hatte für seine Frau zirka 50.000 Afghani bezahlt, für die Feier, für Haushaltsgegenstände und Kleider. Sie kannten sich schon seit ihrer Kindheit und wurden wohl von den Eltern füreinander bestimmt. Die Frauen in Afghanistan waren übrigens auf der Straße voll verschleiert, das heißt sie hatten nur ein kleines Stoffgitter vor den Augen, um etwas sehen zu können. Das war ein deutlicher Unterschied zum Iran. Im Iran hatten viele Frauen einen Chador, aber das Gesicht war oft frei. Afghanistan schien deutlich islamistischer und traditioneller zu sein als der Iran.
Mohammed S. sprach Englisch, das hatte er von den Touristen und Hippies, seinen Hauptkunden gelernt. Man sah bei ihm ganz deutlich, dass die alten feudalen Familienstrukturen dem jungen Bürger nicht mehr so richtig passten. Das Bürgertum war aber nur eine sehr kleine Schicht, hauptsächlich in der handwerklichen Produktion mit wenigen Abeitern. Seine Familie hatte zwei Wasserquellen, den Hausbrunnen mit schmutzigem Wasser und einen öffentlichen Wasserhahn außerhalb des Hauses. Reiche Leute gingen zwei bis dreimal in der Woche ins Badehaus. Die Medikamente waren überwiegend aus Deutschland und der Schweiz, die Ärzte waren alle im Ausland ausgebildet. Mohammed S. sagte, die Leute gingen nur zum Arzt, wenn sie sterbenskrank seien. Rezepte kosteten eine Menge Geld. Vor drei Jahren bei der Choleraepidemie waren viele Leute gestorben, danach gab es eine Impfkampagne. Alle Leute in Herat hätten Flöhe im Haus.

Rückblick April 2019:

Damals in den 1970er Jahren wurden die Länder der Erde oft nach dem Wohlstandsniveau in 1. Welt, 2. Welt und 3. Welt eingeteilt. Das war eine recht grobe Einteilung, die aber eine ungefähre Einschätzung ermöglichte. Mit Afghanistan hatte ich zum ersten Mal ein Land betreten, das eindeutig zur 3. Welt gehörte. Vorher war ich in der Sowjetunion gewesen und die erschien mir eindeutig modern zu sein und zur 1. Welt zu gehören. Danach war ich im Iran, den ich damals zur 2. Welt gerechnet hätte. Im Iran gab es zwar einen kleinen Kreis von Menschen, die modern und im Wohlstand lebten, aber die große Masse der Bevölkerung lebte noch sehr traditionell und in relativer Armut. In Afghanistan war mein überwiegender Eindruck, dass die moderne Welt des 20. Jahrhunderts in diesem Land noch nicht angekommen war. Die Bevölkerung war überwiegend sehr arm, hatte oft Hunger, wurde oft von Krankheiten und Epidemien geplagt und es war kaum wirksame Hilfe in Aussicht. Das Land erschien mir wüst und ausgetrocknet, in dem fast nur Mohn zur Opiumproduktion wuchs. Was sollte man in so einem Land machen? Als Logischstes wäre mir erschienen, so schnell wie möglich aus diesem Land zu flüchten. Aber die Bevölkerung war zu arm, zu schwach und zu ungebildet, um zu flüchten. Wenigstens damals.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2019.

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2019/04/18

Tagebuch 1973, Teil 31: Herat (Afghanistan)

Dr. Christian G. Pätzold

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Blick aus dem Hotelfenster in Herat.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, September 1973.

13. September 1973, Herat, Donnerstag

Am Morgen sind wir mit vielen anderen Wartenden zuerst zur afghanischen Zollkontrolle gegangen, wo alles durcheinander ging. Es lagen Formulare aus. Da kein Beamter anwesend war, wollten wir Touristen, die ja an ordentliches Formularausfüllen gewöhnt waren, die Prozedur etwas beschleunigen. Wir füllten also die Papiere aus, vier Stück pro Person sagte das Gerücht. Plötzlich tauchte ein Beamter auf, sah die ausgefüllten Formulare und flippte völlig aus. Erstens hätten nur die ein Formular auszufüllen, die einreisten, und zweitens seien schon Formulare nummeriert, die der Reihe nach ausgefüllt werden müssten. Er schrie und tobte, drohte, uns alle noch einen Tag hier mitten in der afghanischen Wüste sitzen zu lassen, und schmiss uns dann erstmal aus seinem Büro raus.
Jetzt kam uns allerdings unsere halb angefangene Busfahrt von gestern Abend zu Hilfe. Unser Fahrer stand schon startbereit und wartete auf seine Fahrgäste. Das half und brachte den Zollbeamten auf Trapp. Jetzt hatten wir nur noch den Passbeamten zu überwinden. Dieser war wie alle anderen Beamten in ziemlich abgewetzte Kleider gekleidet, und wenn man jetzt an die strengen Bedingungen dachte, die an die Erlangung eines Visums für Afghanistan von der Botschaft geknüpft wurden, dann hätte wahrscheinlich keiner der Beamten diese Bedingungen erfüllt. Der Passbeamte musterte kritisch meinen Haarschnitt, aber die Länge meiner Haare war dann doch noch irgendwie für die neue Republik Afghanistan passabel. Zu guter Letzt musste auch noch ein Gesundheitsbeamter seinen Stempel auf das Impfzeugnis machen. Alles ging durcheinander, die Beamten argumentierten wild mit den Hippies, die doch bloß über Afghanistan nach Indien und Nepal wollten. Es war nichts für schwache Nerven.
Derselbe Bus von gestern fuhr uns von der Grenze zur Stadt Herat. Unterwegs hatten wir eine Reifenpanne. Alle Leute tranken aus einer alten Ölbüchse Wasser aus einem etwas schmutzig aussehenden Fluss, was für uns sehr gefährlich gewesen wäre. In Herat angekommen brachte uns der Busfahrer gleich ins nächste Hotel, wo wieder die meisten Hippies und auch ich und meine Reisepartnerin hängen blieben. Das Bett kostete 30 Afghani im Zwei-Bett-Zimmer mit öffentlicher Duschbenutzung. Der Wechselkurs war 1 DM zu 21 ½ Afghani. Eine Melone von zirka 2 Kilo kostete 5 Afghani. Herat soll von Alexander dem Großen auf den Überresten einer älteren Siedlung gegründet worden sein. Später soll die Stadt von den Truppen Dschingis-Khans und Tamerlans verwüstet worden sein.
Wir gingen auf der Hauptstraße Herats spazieren, in der sich viele kleine Läden befanden. In der Mitte des Hauptplatzes stand ein Polizist, der bemüht mit seiner Hand in die Richtung wackelte, in die das Auto fahren wollte, wenn überhaupt mal eins vorbei kam. Ich sah einen alten Bus mit der Aufschrift "Spare bei der Kreissparkasse Schleswig", eine Aufforderung, der ich leider im Moment nicht nachkommen konnte. In einem Laden habe ich Geld gewechselt.
Wir gingen dann zu der Adresse eines Pelzladens, die wir von einem Freund hatten. Diese Anlaufadresse war sehr gut. Überhaupt ist es auf Reisen von großem Vorteil, wenn man Anlaufadressen in den Städten hat, die man besuchen möchte. Dadurch lernt man Menschen kennen und man kann Hilfe bekommen. Daher hatte ich auf meiner Weltreise zahlreiche Adressen von Freunden in verschiedenen Städten in einem besonderen Adressbuch gesammelt. Der Chef des Pelzladens in Herat hieß Mohammed S., war in seinen Zwanzigern, sehr nett und in der Blüte seiner Jahre. Wir haben uns mit ihm angefreundet. Mit 30, sagte er, sei man hier alt, mit 50 sei man hier bereits sehr alt. Er und seine Mitarbeiter fertigten im Laden mit Werkstatt die langen Schaffell-Ledermäntel, die bei westlichen Hippies sehr beliebt waren. Außerdem stellten sie Taschen und alle möglichen Dinge aus Leder her. Daher hatte er Erfahrung mit westlichen Kunden und kannte deren Lebensstil.
Seine Pelze (Luchs, Fuchs, Wolf, Katze, Schafe) bekam er von den Leuten in den Bergen, die die Tiere schossen und von Zeit zu Zeit zur Stadt zogen und dann etwas außerhalb in Zelten wohnten. Mohammed S. sagte, sie benutzten überwiegend russische Gewehre und Pistolen. Ein Fuchsfell verkaufte er für 500 Afghani. Er sagte, die Tiere würden immer weniger, weil so viel geschossen würde. Vor zwei Jahren hätte es in Afghanistan noch 15 Millionen Schafe gegeben, jetzt nur noch 2 Millionen, weil alle in den Iran geschmuggelt würden. Dort gäbe es einen höheren Fleischpreis, weil Fleischknappheit herrschte. Die Regierung habe nicht genug Soldaten für die Grenzkontrolle. Vor zwei Jahren seien hier viele Leute im Winter in den Straßen verhungert und erfroren, die Leute aus den Bergen seien sehr arm. Es sei gleichzeitig die Cholera ausgebrochen und Menschen und Tiere seien wie die Fliegen gestorben.
Während wir im Laden saßen und uns unterhielten kam ein Mann von den Bergstämmen herein und bot Kräuter und Wurzeln für den Magen mit seltsamen Namen zum Kauf an. Er sah wild und Furcht einflößend aus, aber unser Freund, der quasi auf einer höheren sozialen Ebene und Kulturstufe lebte, machte sich über ihn lustig wie über ein kleines Kind, aber nicht auf die böse Art, sondern mit Humor. Ständig kamen Bettler in den Laden und sie bekamen auch kleine Münzen. Die Unterstützung der Armen durch die Bessergestellten ist eine Pflicht im Islam, und ein Mann würde sofort in einen schlechten Ruf kommen, wenn er den Bettlern nichts geben würde. Es kam auch eine Zwergin in den Laden und wollte Geld. Sie haben mit ihr gescherzt.
Die jüngeren Brüder vom Chef arbeiteten im Laden und fertigten Taschen oder Mäntel. Eine Nähmaschine stand im Laden, außerdem ein Telefon, ein Wecker, Stühle, Tisch, 3 Glühbirnen, die nur abends Strom bekamen. Die Brüder saßen auf dem Boden und hatten graue Kleidung an, der Chef saß auf dem Stuhl und hatte weiße Kleidung an. Sie aßen billiges mitgebrachtes, er teures Essen, das von nebenan in den Laden gebracht wurde.
Abends gingen wir ins "Theater Herat". Es gab zwei Theater und ein Kino, in dem ein Hindufilm gezeigt wurde. Mohammed S. ging öfter ins Kino als ins Theater, da das Kino abwechslungsreicher und raffinierter sei. Ins Theater gehe er zirka einmal im Monat. Das Theater ist mehr Volksbelustigung und Tingeltangel, eine Art Vaudeville, wie es auch in Europa und Nordamerika vor einigen Jahrzehnten beliebt war. Als Zuschauer waren nur Männer anwesend, etwa 100, die manchmal an einem Tag nichts essen sollen und die 50 Afghani fürs Theater ausgeben, da sie alle in eine der Schauspielmädchen verliebt seien. Da die Leute dafür ihr ganzes Geld ausgeben und eigentlich so ein Theater gegen die Religion sei, habe die neue Regierung das Theater in Kabul geschlossen, sagte unser Freund.
Das Theater-Ensemble bestand aus vier Frauen und vier Männern. Die Frauen sollten angeblich für die Liebe käuflich sein, und zwar für 2.000 Afghani pro Nacht, wie ich ohne Probleme herausbekam. Man könne die Schauspielerinnen auch, wenn man reich sei, zum Tanzen bei den zahlreichen Festen und Familienfeiern quasi mieten. Mohammed S. sagte, dass ein Freund ihm die Hübsche angeboten habe, der Freund wollte bezahlen. Mohammed S. war nämlich sehr angesehen und der Freund wollte ihm eine Freude machen, aber er habe geantwortet: "We don’t need, we have wife", in stolzem Ton, denn es war hier ziemlich teuer, sich zu verheiraten und eine Familie zu ernähren. Er kicherte über die Verliebtheit der anderen Männer im Theater und überhaupt amüsierten sich alle köstlich. Er sagte, dass arme Mädchen lieber betteln gingen als im Theater aufzutreten, wegen die Identifizierung Schauspielerin - Prostituierte.
Die Show war für westliche Verhältnisse unglaublich. Die Mädchen standen linkisch und steif auf der Bühne in zerdrückten Kleidern, fingerten sich an den Händen herum und kicherten. Zuerst haben sie getanzt und gehüpft. Die Beliebteste war sich ihrer Beliebtheit genau bewusst, tat aber trotzdem sehr schüchtern. Dann haben sie ein Stück mit dem Titel "Love and Buy" in drei Akten gespielt, wobei Vater und Sohn sich auf dieselbe Frau versteift hatten. Das war ein großes Problem in dieser Gegend: Statt den Sohn zu verheiraten, heiratete der Vater noch mal eine viel jüngere Frau. Der Vater schoss den Sohn an, kam aber durch diese Tat zur Besinnung. Die Starschauspielerin sagte auf der Bühne zu dem alten Mann: "Liebe kann man nicht für Geld kaufen", woraufhin der ganze Saal laut klatschte. Nach diesem Ausgang haben die Schauspielerinnen noch in ein pfeifendes Mikrofon gesungen. Mohammed S. sagte, die eine Frau sei noch gefährlicher als die anderen, obwohl sie so harmlos wirke, sie habe schon mehrere Männer auf dem Gewissen, die nicht nett genug zu ihr waren.
Wir sind dann mit dem Pferdekutschetaxi zum Hotel gefahren für 10 Afghani. Mohammed S. hat für uns das beste Pferd ausgesucht, er war ein Kenner. Im Hotel war ein Schild aufgehängt: "Haschisch rauchen strengstens verboten", aber wenn irgendeine Tür aufging, roch man es sofort. Im Laden vor dem Hotel bot mir ein Händler Haschisch und Opium zum Kauf an.
Und das war mein erster Tag in Afghanistan.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2019.

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2019/04/15

Impressionen aus dem Bauhaus in Dessau

Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, Mai 1995.

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2019/04/12

100 Jahre Bauhaus

Dr. Christian G. Pätzold

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Bauhaus-Logo von Oskar Schlemmer, 1922.

Das Staatliche Bauhaus in Weimar wurde am 12. April 1919 gegründet. Direktor wurde der Architekt Walter Gropius (1883-1969), der der Schule den Namen gab. Vorläufer des Bauhauses war die Großherzoglich-sächsische Hochschule für Bildende Kunst, die von Henry van de Velde geleitet wurde. Weimar ist ein kleines thüringisches Städtchen, das vor allem für die Zeit der Klassik mit Goethe und Schiller bekannt ist, die dort lebten. Im Zentrum des Bauhauses stand die Architektenausbildung. Aber das Bauhaus war nicht nur eine Architektenschule, sondern strahlte aufgrund ihrer herausragenden Künstler auf alle Künste aus.
Das Bauhaus musste 1925 von Weimar nach Dessau umziehen, und 1932 von Dessau nach Berlin. Das Bauhaus war ständig auf der Flucht vor den Nazis, erst aus Weimar vertrieben, dann aus Dessau, und schließlich auch aus Berlin. Volle Unterstützung hatte das Bauhaus nur von Seiten der KPD.
Alle 3 Städte, Weimar, Dessau und Berlin, bekommen in der nächsten Zeit ein neues Bauhaus-Museum, denn man hat die große Bedeutung des Bauhauses erkannt. Das Bauhaus bestand nur 14 Jahre zwischen 1919 und 1933, als es von den Nazis vernichtet wurde. Aber in dieser kurzen Zeit wurde das Bauhaus zur wichtigsten Hochschule für Architektur, Kunst und Design im 20. Jahrhundert weltweit und entwickelte die Ästhetik der klassischen Moderne, das heißt unserer Zeit. Die Nazis verscheuchten die Bauhauslehrer ins Exil, denn das Bauhaus war eine den Kommunisten nahe stehende Hochschule. Mit den emigrierten Bauhauslehrern breitete sich das Bauhaus auf der ganzen Welt aus. Daher wurde der Bauhausstil auch der Internationale Stil genannt.
Das Bauhaus wurde von den Architekten Walter Gropius (1919-1928), Hannes Meyer (1928-1930) und Ludwig Mies van der Rohe (1930-1933) geleitet. Alle drei waren großartige Baumeister, die großartige Bauwerke entworfen und realisiert haben. Ich war in Bauwerken von allen dreien und habe mich dort sehr wohl gefühlt. Das wollte ich nur in aller Kürze anmerken, obwohl man zu Bauwerken dieser drei Baumeister in Wirklichkeit viel mehr sagen müsste.
Der berühmte Bauhausstil besteht zu 30 % aus Deutschem Werkbund (Ornamentlosigkeit und Schlichtheit der Formen), zu 30 % aus niederländischem De Stijl (Kubik und Reduktion auf die Grundfarben) und zu 30 % aus sowjetischem Konstruktivismus (Geometrie und Gegenstandslosigkeit). Wenn man etwas sieht, weiß man sofort, ob es Bauhaus ist oder nicht. Natürlich, man kann auch überleben, ohne zu wissen, was Bauhaus und was Ästhetik ist. Aber umgekehrt ist das Leben so viel interessanter.
Grundsätze des Bauhauses waren die Zusammenführung von Kunst und Handwerk sowie die radikale Vereinfachung, am deutlichsten sichtbar an der Abschaffung des Ornaments. Häuser wurden auf einen einfachen Kubus reduziert, mit dem charakteristischen Flachdach. Wahrscheinlich war diese revolutionäre Vereinfachung nur möglich, weil die alte verschnörkelte Welt des 19. Jahrhunderts 1918 krachend zusammengebrochen war. Ornamente und Verzierungen wurden im Bauhaus abgelehnt, alles musste einfach sein. Die 2 Hauptgrundsätze waren: Less is more (Weniger ist mehr) und Form follows function (Die Form folgt der Funktion). Diese beiden Grundsätze haben die Ästhetik der Moderne auf der ganzen Welt geprägt. In allen Städten der Welt trifft man heute auf moderne Häuser, die auf die Grundsätze des Bauhauses zurückzuführen sind. Manche Bauten sind gut gelungen, andere Bauwerke sind dagegen eher hässliche Klötze.
Über das Bauhaus sind so viele Bücher geschrieben worden und auf dem Markt zu haben, dass ich nur empfehlen kann, sich das eine oder andere Buch anzuschaffen, um mehr Details über das Bauhaus zu erfahren. Es ist auch spannend, sich mit den Bauhauslehrern näher zu beschäftigen, denn sie waren alle erstklassige Künstler. Einige Namen: Walter Gropius, Lyonel Feininger, Josef Albers, László Moholy-Nagy, Georg Muche, Oskar Schlemmer, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Hannes Meyer, Ludwig Mies van der Rohe.
In den 1980er und 1990er Jahren schien es für eine Weile so, als würde die Bauhaus-Moderne von der Post-Moderne verdrängt werden. Die neuen Bauten wurden immer bewegter, schräger und verzierter. Aber das scheint eine vorübergehende Mode gewesen zu sein. Heute sind die meisten Bauwerke wieder deutlich dem Bauhaus verpflichtet, so dass man das Bauhaus immer noch als die vorherrschende Ästhetik unserer Zeit bezeichnen kann. Auch in Berlin gibt es eine ganze Menge interessanter Bauwerke, die in der direkten Tradition des Bauhauses stehen. Es lohnt sich, sie genau anzuschauen. Mehr brauche ich nicht zu sagen, nur noch: Ein erfolgreiches Jubiläum für alle, die im Geist des Bauhaus weitermachen, und Less is more!
Noch eine kleine Anmerkung: Bitte das Bauhaus nicht verwechseln mit der Baumarktkette "Bauhaus".

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2019.

Zum Bauhaus seht bitte auch:
"100 Jahre De Stijl" vom 2017/06/16 auf kuhlewampe.net.
"Die ADGB-Bundesschule in Bernau" vom 2017/09/05 auf kuhlewampe.net.
"Von Arts and Crafts zum Bauhaus" vom 2019/03/22 auf kuhlewampe.net.

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2019/04/10

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Zum 100. Todestag von Emiliano Zapata

Dr. Christian G. Pätzold

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Emiliano Zapata. Quelle: Wikimedia Commons.

Emiliano Zapata Salazar (1879-1919) war der Anführer der Armee des Südens während der Mexikanischen Revolution von 1910 bis 1920. Sein Mitkämpfer als Anführer der Armee des Nordens war Pancho Villa. Gemeinsam eroberten sie die Hauptstadt Mexiko und stürzten 1911 den Diktator Porfirio Diaz, der nach Paris flüchtete. Die armen Bauern Mexikos hatten sich erhoben, weil die Großgrundbesitzer ihnen ihr Land weggenommen hatten, so dass für sie keine Lebensmöglichkeit mehr bestand. Emiliano Zapata war zwar ein erfolgreicher Revolutionär im Guerillakrieg, aber er hatte kein Talent darin, Mexiko als Präsident zu führen. Daher kehrte er in seinen Heimatstaat Morelos zurück. Das war seine große Tragik. Am 10. April 1919 wurde er in Chinameca, Morelos in einen Hinterhalt gelockt und von feindlichen Militärs erschossen. Die Lage während der Mexikanischen Revolution war insgesamt sehr unübersichtlich mit zahlreichen militärischen Machthabern auf lokaler Ebene.
Von Zapata sind zahlreiche Aussprüche überliefert, bspw. "¡Tierra y Libertad!" (Land und Freiheit!) oder "¡Es mejor morir de pie que vivir toda una vida de rodillas!" (Besser aufrecht sterben als ein Leben lang auf den Knien leben!). Die Zapatisten waren die eigentlichen Sozialrevolutionäre während der Mexikanischen Revolution. Sie hatten anarchistische Ideen, vertraten einen indigenen Kollektivismus und libertären Sozialismus.
In Europa wurde Zapata besonders durch den Film »Viva Zapata!« von 1952 mit Marlon Brando als Emiliano Zapata in der Hauptrolle bekannt. Den Film kann man kostenlos im Internet bei YouTube anschauen. (Noch, denn wenn demnächst Upload-Filter eingesetzt werden, dann könnte es mit dem kostenlosen Kulturgut im Internet ein Ende haben). Den Bruder von Emiliano Zapata spielte Anthony Quinn. Das Drehbuch zum Film schrieb der berühmte Schriftsteller John Steinbeck. Die Regie führte Elia Kazan. »Viva Zapata!« ist ein großartiger Film und ein echter Hollywood-Klassiker der Filmgeschichte.
Im Jahr 1994 erfuhr man auch in Deutschland durch die Medien vom Aufstand der indigenen Zapatistischen Befreiungsfront (Ejército Zapatista de Liberación Nacional, EZLN, Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung), die im Süden Mexikos, im Bundesstaat Chiapas aktiv wurde. Das war eine Überraschung, denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks hatte man nicht mit einer neuen sozialistischen Bewegung gerechnet. Heute gibt es die Zapatisten in Chiapas immer noch. Sie setzen sich für bäuerliche Selbstverwaltung und für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein. Eine ihrer Losungen ist: "Zapata vive, la lucha sigue!" (Zapata lebt, der Kampf geht weiter!)

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2019.

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2019/04/07

Vor 100 Jahren: Die Räterepublik in München
Gustav Landauer als Volkskommissar

von Dr. Rudolf Stumberger, München

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Gustav Landauer. Quelle: Wikimedia Commons.

In der Nacht zum 7. April 1919 fällt im Wittelsbacher Palais durch den Zentralrat die Entscheidung, die Räterepublik auszurufen. Diese "erste Räterepublik" wird sechs Tage Bestand haben, bis am 13: April nach einem Putschversuch der auf Seiten der Regierung Hoffmann stehenden Republikanischen Garde die "zweite Räterepublik" unter spartakistischer Herrschaft beginnt. In diesen sechs Tagen wird der Schriftsteller Ernst Toller zum Vorsitzenden des "Rats der Volksbeauftragten" bestimmt, Gustav Landauer wird zum "Volksbeauftragten für Volksaufklärung", übernimmt also das Ressort des Kultusministers. "Läßt man mir ein paar Wochen Zeit, so hoffe ich, etwas zu leisten; aber leicht möglich, daß es nur ein paar Tage sind, und dann war es ein Traum", schreibt er an seinen Weggefährten Fritz Mauthner. (1) Am 7. April weht über der Münchner Universität eine rote Fahne, ein Revolutionäre Hochschulrat übernimmt die Geschäfte. Zusammen mit dem Kultusministerium unter Landauer soll die Universität umgewandelt und der dort herrschende Geist vertrieben werden. Denn die Professoren und Studenten gelten eher als reaktionär denn als revolutionär. Der Revolutionäre Hochschulrat will die Universitätsverfassung aufheben, einen "Revolutionären Senat" bilden und die Professorenstellen neu besetzen. Landauer stellt dafür als Volksbeauftragter eine Vollmacht aus: "Der revolutionäre Hochschulrat hat bis auf weiteres das alleinige Recht, in Sachen der Universität und Technischen Hochschule alle Maßnahmen zur Verwaltung und Umgestaltung zu treffen. Gezeichnet: Vollzugsrat der Arbeiterräte Bayerns, Wittelsbacher Palais, Briennerstr. 50 I, T. 24375." (2)
In der für den 8. April angesetzten Vollversammlung der Studierenden werden diese Vorschläge aber abgelehnt, die Räteanhänger niedergeschrien und Flugblätter der Hoffmann-Regierung verteilt. Schließlich verfügt Landauer am 9. April, die Universität am 13. April zu schließen und das Semester zu beenden.
Für die Schulbildung will Landauer grundlegende Veränderungen. Vom 7. bis zum 13. Lebensjahr soll es eine Einheitsschule geben, die Prügelstrafe verboten und das Zölibat für Lehrerinnen aufgehoben werden. Die Schule soll von einer Disziplinierungsanstalt zu einer Einrichtung werden, in der ein freier Geist herrschen soll. Kunst und Kultur sollen auch dem Proletariat zugänglich gemacht werden, neue Museen werden geplant. Innerhalb der Räteregierung spricht er sich gegen Maßnahmen zur Bekämpfung der Konterrevolution aus. Die bürgerliche Presse hingegen stilisiert ihn zu einem Schreckensgespenst: Er wolle auch die Frauen "vergemeinschaften". So heißt es im Berliner Tagblatt vom 13. April (etwas verfrüht, da der "Palmsonntagsputsch" der hoffmanntreuen Truppen niedergeschlagen wird): "Zu ihrem Sturz hat die Münchener Räteregierung durch ihre Verfügungen und ihre innere Spaltung selbst das meiste beigetragen. Noch in der dem Sturz vorangehenden Nacht hatte eine kommunistische Versammlung nach einem Referat Dr. Landauers die Enteignung aller Wohnungen und die Kommunalisierung der Frauen, einschließlich der Ehefrauen, zum Beschluß erhoben." (3) In einem Brief vom 27. Februar 1919 thematisiert Landauer diese Hetze: "Antworten kann ich Ihnen nicht eigentlich. Ich lese nämlich in, zwischen Ihren Zeilen, daß Sie zu einem unangenehmen Mischprodukt reden; einmal zu dem wirklichen Landauer, der ich bin und als den Sie mich kennen, und dann zu dem Zeitungslandauer, der wirklich ein ekelhafter Kerl ist und den ich nicht mit der Feuerzange anrühren möchte. Ich kann Sie nur bitten, die Trennung vorzunehmen, am besten durch mein Mittel: Zeitungen nicht zu lesen." (4) Landauer wird nach dem Einmarsch der Weißen Truppen auch aufgrund dieser Hetze umgebracht.
Am 12. April spricht Landauer zum letzten Mal auf der Sitzung des Revolutionären Zentralrates als Volksbeauftragter und gibt dort seiner Hoffnung Ausdruck, dass seine Maßnahmen bleibende Spuren im Lande hinterlassen mögen. Als nach dem Palmsonntagsputsch am 13. April die Spartakisten die Macht übernehmen, bietet er noch einmal seine weitere Mitarbeit an, doch man legt keinen Wert darauf. Landauer zieht sich aus der Politik zurück nach Großhadern in das Haus der Witwe Eisners. Am 14. April schreibt Landauer aus Großhadern nach Krumbach: "Ich bin weiter in guter Sicherheit und Freiheit, von der ich Euch gestern schrieb. Gestern soll in München gekämpft worden sein, die Räterepublik scheint die Oberhand behalten zu haben." (5) Landauer meint die Kämpfe am Palmsonntag, als die hoffmanntreue Republikanische Schutztruppe von bewaffneten Arbeitern und Soldaten zurückgeschlagen wurde. Der Brief endet: "Und nun küsse ich Euch, liebe Landauer- und Eisnerkinder." Am 15. April sendet Landauer sein letztes Telegramm an seine Töchter, unterschrieben mit "Papa".

Der Mord in Stadelheim

Warum Landauer nach dem Ende der Ersten Räterepublik weiter in München blieb und sich nicht in Sicherheit brachte, ist unklar. Zu dieser Zeit wohnte er im Hause der Witwe Kurt Eisners in Großhadern und hatte sich aus der Politik zurückgezogen. Beim Einmarsch der württembergischen Freikorps im Westen von München wurde er am 1. Mai 1919 von einem Denunzianten verraten, am Schreibtisch verhaftet und zunächst in das Gefängnis Starnberg gebracht. Am nächsten Tag wurde er nach Stadelheim überführt, dort erwartete ihn die auch durch die Propaganda der Hoffmann-Regierung aufgeputschte Soldateska. Er wurde zu Boden geschlagen, von mehreren Kugeln durchsiebt und schließlich zu Tode getreten. Niemand musste sich später für diesen grausamen Mord vor Gericht verantworten.

Fußnoten:
(1) Martin Buber: Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1929, S. 414.
(2) Vgl. Ulrich Linse: Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918/19. Berlin 1974, S. 223.
(3) Vgl. ebenda, S. 249.
(4) Martin Buber: Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1929, S. 385 f.
(5) Ebenda, S. 417 f.

© Dr. Rudolf Stumberger, April 2019.

Der Artikel ist mit freundlicher Genehmigung des Autors dem Buch entnommen:
Rudolf Stumberger: Das Raubtier und der rote Matrose. Fake-News, Orte und Ideologien der Revolution und Räterepublik in München 1918/19. Aschaffenburg 2018. Alibri Verlag.
ISBN 978-3-86569-289-4.

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2019/04/04

Online Schmökern: Zum 101. Geburtstag der »Weltbühne«
In Memoriam Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky

Dr. Christian G. Pätzold

weltbuehne
Quelle: Wikimedia Commons.

Das war ein schönes, kritisches, ironisches, investigatives Wochenblatt damals. Roter Umschlag, DIN A5, keine Bilder, nur Texte, deren Länge den heutigen Twitterlesern enorm vorkommen muss. Am 4. April 1918 erschien die »Die Weltbühne« zum ersten Mal in Berlin. Ihr Vorläufer hieß »Schaubühne« und erschien schon seit 1905, zu Beginn als reine Theaterzeitschrift. Der Herausgeber der "Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft", wie es im Untertitel hieß, war Siegfried Jacobsohn (1881-1926). Nach dem plötzlichen Tod von Jacobsohn führte Carl von Ossietzky (1889-1938) das Magazin weiter, bis im März 1933 die Nazis die Weltbühne in Deutschland verboten. Danach erschien sie noch bis 1939 in Wien, Prag und zuletzt in Paris. Umtriebigster Autor der Weltbühne war Kurt Tucholsky, der dort bekanntlich gleich unter 5 Namen veröffentlichte: Kurt Tucholsky, Ignaz Wrobel, Theobald Tiger, Peter Panter und Kaspar Hauser. Noch heute ist besonders sein Satz "Satire darf Alles!" ein Fels für kritische Geister.
Auch weitere bekannte Intellektuelle der Weimarer Zeit gehörten zu den Autoren: Erich Mühsam, Erich Kästner, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Ernst Toller, Kurt Hiller und viele weitere. Daher war die Weltbühne die liebste Lektüre der linken undogmatischen Intellektuellen während der Weimarer Republik. Die Weltbühne war damals recht einflussreich in der linken Intelligentsia und ist heute eine Legende. Aber die Weltbühne war sicher nicht so einflussreich, dass sie mit ihrer Kritik die Weimarer Republik zu Fall gebracht hat, wie einige behauptet haben. Die Weimarer Republik wurde von den rechten deutschen Wählern zu Fall gebracht, die Adolf Hitler und die Nazis gewählt haben.
Ossietzky wurde im Februar 1933 auf Betreiben der Nazis verhaftet und im KZ gefoltert. 1936 erhielt er den Friedensnobelpreis für seinen Einsatz als Pazifist. Er starb 1938 an den Folgen der Misshandlungen. Schon in der Weimarer Republik war Ossietzky als Herausgeber der Weltbühne mit Prozessen überzogen und ins Gefängnis gesperrt worden, etwa wegen Tucholskys berühmtem Satz aus dem Jahr 1931: "Soldaten sind Mörder". Man denkt dabei bspw. an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919 durch rechte Soldaten. Jetzt schreiben wir das Jahr 2019 und Soldaten dürfen noch immer Werbung für das Militär an Berliner Schulen machen, um Deutschland am Hindukusch zu verteidigen. In Wirklichkeit reicht Deutschland aber nur bis zur wesentlich kleineren Zugspitze, wie man mit einem Blick auf die Landkarte leicht feststellen kann.
Heute kann man die Weltbühne der Weimarer Zeit online kostenlos im Internet lesen, ins Netz gestellt vom "Internet Archive". Das ist doch ein schöner Fortschritt, den das Internet gebracht hat. Wie schwierig und zeitaufwändig war es früher, in den Bibliotheken an Texte zu kommen! Dabei sind viele Beiträge der Weltbühne auch heute noch durchaus aktuell. Die Bundesrepublik Deutschland ist ja in Vielem ein zweiter Aufguss der Weimarer Republik. Dadurch ergeben sich viele Parallelen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien »Die Weltbühne« ab 1946 wieder in Ost-Berlin (später DDR), bis 1993. Nachfolger ab 1997 waren die Zeitschriften »Ossietzky« und »Das Blättchen«, auch im DIN-A5-Format mit rotem Umschlag und ohne Bilder gestaltet. Die Zweiwochenschrift »Ossietzky« wurde 1997 von Eckart Spoo gegründet und erscheint immer noch mit der Redaktion in Berlin. Die Zweiwochenschrift »Das Blättchen« mit gleicher Aufmachung erschien ebenfalls in Berlin, bis September 2009 gedruckt, seitdem nur noch online, als PDF oder E-Book.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2019.

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2019/04/03

Rudolph Bauer
Aufstehen

die welt gerät aus den fugen im streit
liegen die herrscher europas banken
konzernchefs und bürokraten
geben den gellenden ton an

von deutschem boden gehen erneut
kriege aus weltweit medien
politik und gesellschaft
driften nach rechts

öffentlich schreiend die not und die grätze
in den vorstädten verkommen schulen
altenpflege brücken infrastruktur
krank ist die gesundheit

wohnungsnot und das elend der kinder
herrschen verrohung ängste die furcht
vor fremden fressen die seelen
gleichgültig und hartz IV

zum konsummoloch wird die gesellschaft
untermalt und bunt übertüncht
sind ungleich und tödlich
zuständ wie jene in rom

sieh da den verstörenden teppich aus jux
desinformation entertainment
terror facebook und lügen
propaganda und fußball

die privatisierung kennt keine grenzen
zur ware wird nunmehr alles selbst
wissenschaft kunst und kultur
geplündert wie der planet

aus jeder lebensfaser werden profite
gepresst und geschlagen immer
noch reicher werden die reichen
überheblich und kalt

im luxus maßlos und ohne verpflichtung
fürs ganze das volk ihre stiftungen
dienen der pflege des image retten
gewinne vor steuern

reiten den staat fest im karminroten sattel
scheren sich einen dreck die zügel
gestrafft geben sie sporen dem volk
lassen es tanzen

© Prof Dr. Rudolph Bauer, April 2019.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors und des Verlages dem Buch entnommen:
Schlafende Hunde VI - Politische Lyrik. Herausgegeben von Thomas Bachmann, verlag am park in der edition ost, Berlin 2019.

Prof. Dr. Rudolph Bauer, geboren 1939 in Amberg, lebt in Bremen. Politikwissenschaftler, Schriftsteller, Bildender Künstler.
Zuletzt erschienen: Beiträge in »Unsere Antwort. Die AfD und wir. Schriftsteller*innen und der Rechtspopulismus«, hrsgg. Von Klaus Farin, Berlin 2018.
»Aus gegebenem Anlass«, Politische Gedichte mit einem literaturwissenschaftlichen Essay von Thomas Metscher, Hamburg 2018.

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2019/04/01

Ingo Cesaro
Beifang

wir können nicht mehr
mit unseren Schleppnetzen fischen
erklärte der alte Seemann
auf dem Fischdampfer
gerade in den Hafen eingelaufen
sehen sie
vier tote Geflüchtete im Netz
bei dieser Ausfahrt
sehen sie dort
wo sonst der Fang auf Eis

und anschließend
die Bürokratie
sogar Vernehmungen
wenn wir es verkraftet hätten
wäre es klüger gewesen
sie als Beifang
wie den anderen Beifang auch
wieder zurück ins Meer zu werfen
aber keiner von uns
hat es übers Herz gebracht.

© Ingo Cesaro, April 2019.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors und des Verlages dem Buch entnommen:
Schlafende Hunde VI - Politische Lyrik. Herausgegeben von Thomas Bachmann, verlag am park in der edition ost, Berlin 2019.

Ingo Cesaro, geboren 1941 in Kronach, lebt dort seit 1975 als Schriftsteller, Herausgeber, Handpressendrucker und Galerist, über 200 Einzelveröffentlichungen, Mitarbeit an über 500 Anthologien und Herausgeber von über 150 bibliophilen Editionen, teilweise mit Originalgrafik. Betreibt die NEUE CRANACH PRESSE KRONACH. Zusammenarbeit mit Malern, Grafikern, Komponisten und Musikern, organisiert Kunst- und Literaturprojekte.

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2019/03/31

vorschau04

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2019/03/28

bauhaus imaginista im Haus der Kulturen der Welt (HKW)
Die globale Rezeption einer Kunstschule bis heute
Große Ausstellung bis 10. Juni 2019

Kuratoren: Dr. Marion von Osten und Dr. Grant Watson
Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin Tiergarten
Täglich (außer Di) 11-19h, Montags Eintritt frei
hkw.de/imaginista

bauhaushkw
University of Ife in Ile-Ife, Osun, Nigeria. Späte 1960er Jahre.
Architekten: Arieh Sharon, Eldar Sharon und Harlod Rubin.
© Arieh Sharon Digital Archive.

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2019/03/25

Für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) von 1.200 Euro im Monat für Alle !
(Stand 2019)

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2019/03/22

Von Arts and Crafts zum Bauhaus
Von William Morris zu Walter Gropius
Ausstellung im Bröhan Museum Berlin bis 5. Mai 2019

Dr. Christian G. Pätzold

broehan1moholy
László Moholy-Nagy: Zwischen Himmel und Erde, 1923, Collage.
Zu sehen in der Ausstellung im Bröhan Museum.

Das 100. Gründungsjubiläum des Bauhauses naht. Das Bauhaus war eine Kunsthochschule, die für die Geschichte der Kunst, der Architektur und des Designs im 20. Jahrhundert weltweit von größter Bedeutung war. Die Nazis haben das Bauhaus 1933 in Berlin vernichtet. Da ist es schön zu sehen, dass das Bröhan Museum in Berlin Charlottenburg eine wissenschaftlich auf hohem Niveau stehende Ausstellung realisieren kann, die von Dr. Tobias Hoffmann und Dr. Anna Grosskopf kuratiert wurde. Es muss viel Mühe und Begeisterung darin stecken, eine so große Ausstellung zustande zu bringen.
Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf den Vorläufern des Bauhauses, während für das Bauhaus selbst 3 Ausstellungsräume zur Verfügung stehen. Die betrachtete Zeitspanne ist 1851 (Weltausstellung in London) bis 1933 (Zerstörung des Bauhauses durch die Nazis, denn das Bauhaus war eine mehr oder weniger kommunistische Hochschule, von den Nazis als "Kirche des Marxismus" bezeichnet), ein Zeitraum von 82 Jahren, in denen viel passiert ist: Japonismus, Glasgow School, Jugendstil (Art Nouveau), Wiener Werkstätte, Deutscher Werkbund, De Stijl, Expressionismus, Kubismus, DaDa. Die ganze Entwicklung fokussierte sich im Bauhaus. Das Bauhaus hat die Ästhetik unserer Zeit geschaffen, der Moderne, die jetzt schon 100 Jahre anhält.
So etwas wie eine Blaupause für die Ausstellung im Bröhan Museum ist das Buch von Nikolaus Pevsner: »Pioneers of Modern Design. From William Morris to Walter Gropius«, das 1949 in New York erschien. Das Buch ist ein Klassiker der Kunstgeschichtsschreibung und daher ist die Entwicklung vom Arts and Crafts Movement zum Bauhaus den KunsthistorikerInnen auch gut bekannt. Das Bröhan Museum hat da nichts großartig Neues entdeckt. Das große Verdienst der Ausstellung im Bröhan Museum liegt darin, dass die Entwicklung der ästhetischen Theorie und Praxis im 20 Jahrhundert auch einer jungen Generation vermittelt wird (hoffentlich kommen auch Jugendliche und Schulklassen ins Museum, denn hier können sie wirklich das Sehen lernen) und dass wirklich tolle Ausstellungsstücke die künstlerischen Positionen greifbar machen.
Der eigentliche Kern der Entwicklung liegt zwischen 1861, als William Morris seine Kunsthandwerksfirma Morris & Co. gründete, und 1919, als Walter Gropius das Bauhaus in Weimar eröffnete. Das war eine chronologisch relativ kurze Spanne, in der aber gesellschaftlich und ästhetisch viel passiert ist. Auf den ersten Blick ist der Zusammenhang zwischen den Blümchentapeten von William Morris und den geometrischen Kuben von Walter Gropius nicht erkennbar. Man muss bedenken, dass Morris im Viktorianischen Zeitalter des Britischen Empire lebte, während Gropius das Bauhaus nach dem Ersten Weltkrieg eröffnete, als die alte Monarchie in Deutschland krachend zusammengebrochen war. Das waren ganz unterschiedliche gesellschaftliche Bedingungen.
Gemeinsam war Morris und Gropius die Denkweise und Philosophie. Sie waren beide kommunistische Künstler, Morris war ein Begründer des Sozialismus in England, Gropius engagierte sich in der Novemberrevolution. Sie wollten das Handwerk und die Kunst vereinigen, wie der Name Arts and Crafts (Künste und Handwerke) schon sagt. Diese Kommunistische Denke durchzog ihr ganzes Werk. Der bürgerliche Künstler dagegen wollte sich so weit wie möglich elitär vom "primitiven" Handwerker abheben.
Wenn man die Philosophie von Morris und Gropius auf die Ästhetik beschränkt, greift man daher viel zu kurz (was eine Gefahr bei reinen Kunstausstellungen ist, die die gesellschaftlichen und ökonomischen Implikationen ausblenden). Morris war nicht nur ein ästhetischer Denker, sondern ein Kapitalismuskritiker, ein Umweltschützer und ökologischer Denker, ein Kunsthandwerker und Erfinder einer kommunistischen Utopie (in seinem Buch »News from Nowhere« von 1890). Als ich vor etwas über 30 Jahren die ästhetischen Essays von William Morris ins Deutsche übersetzte und herausgab (William Morris: Kunst und die Schönheit der Erde, Stattbuch Verlag Berlin 1986), wurde mir klar, dass seine Gedanken hoch aktuell sind. Über 100 Jahre später ruiniert der Kapitalismus immer noch die Erde. Nur mit dem Unterschied, dass es jetzt allmählich so richtig gefährlich wird.
William Morris war ein Befürworter des Handwerks und ein scharfer Kritiker der Industrie, die seiner Ansicht nach mit ihrer Naturzerstörung und Umweltverschmutzung die Schönheit Englands ruinierte. Diese Position ist noch heute nachvollziehbar, wenn man bspw. an die heutige Kritik der industrialisierten Landwirtschaft denkt, durch die die ländlichen Gebiete schwer geschädigt werden. Im Bauhaus dagegen entwickelte sich eine etwas geänderte Einstellung zur Industrie. Es wäre spannend, den Diskurs über die Industrie genauer zu untersuchen. Es war das Dilemma von Morris, dass er für den Luxusbedarf statt für den Volksbedarf produziert hat, was er selbst verfluchte.
Das moderne Bauen, das im Bauhaus entwickelt wurde, breitete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die ganze Welt aus. Und nur wenige Jahre nach der Schließung des Bauhauses wurden die Ideen von der industriellen Möbelfertigung von dem Schweden Ingvar Kamprad von IKEA umgesetzt, der damit Milliarden verdient hat. Heute werden in Weimar, Dessau und Berlin große Bauhaus-Museen neu gebaut. Daher wird man wohl auch in den kommenden Jahren einiges vom Bauhaus hören. Kuhle-Wampe-LeserInnen brauchen nicht so lange zu warten: Schon im nächsten Monat wird es Weiteres über die Philosophie des Bauhauses zu lesen geben.

Von Arts and Crafts zum Bauhaus. Kunst und Design - eine neue Einheit!
Ausstellung bis 5. Mai 2019.
Bröhan-Museum. Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, Berlin
Schloßstraße 1a, 14059 Berlin Charlottenburg
Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr
Am 1. Mittwoch im Monat Freier Eintritt
Zur Ausstellung im Bröhan Museum ist ein umfangreicher Katalog im Wienand Verlag, Köln erschienen.

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2019/03/20

Der Frühling beginnt heute !

fruehlingsanfang
Frühlings-Krokusse (Crocus vernus),
fotografiert von © Ella Gondek am 15. Februar 2019.

Der Frühlingsanfang fällt auf der Nordhalbkugel der Erde auf den 19., 20. oder 21. März. Das ist der astronomische Frühlingsanfang, der auch Tag- und Nacht-Gleiche (Äquinoktium) genannt wird, weil an diesem Datum der Tag und die Nacht gleich lang sind. Das hängt mit der Konstellation im Sonnensystem zusammen, ist aber schwierig zu erklären. Danach werden die Tage länger und die Nächte kürzer bis zum Mittsommer, das ist das Datum, an dem der Tag am längsten ist und die Nacht am kürzesten. Der Mittsommer oder die Sommersonnenwende am 20., 21. oder 22. Juni sind in vielen Ländern ein Anlass für Feste und Feiern. An diesem Tag erreicht die Sonne ihren höchsten Stand über dem Horizont.
Der meteorologische Frühlingsanfang ist aus Gründen der Statistik bereits am 1. März, so dass sich die 3 Frühlingsmonate März, April und Mai ergeben.
Der phänologische Frühlingsanfang, der sich an der Blüte der Schneeglöckchen orientiert, liegt noch früher im Februar. Durch die Überhitzung der Erdatmosphäre könnten allerdings die Schneeglöckchen in den nächsten Jahren noch früher blühen. In diesem Winter gab es in Berlin so gut wie keinen Schnee. Das ist der erste Winter ohne Schnee seit ich denken kann, und das ist schon eine sehr lange Zeit. Ich kenne Gärtner, die in Berlin schon Feigenbäume und Palmen anpflanzen. Ich vermute, dass das ein deutliches Zeichen für den gefährlichen Klimawandel ist.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/03/17

Dr. Hans-Albert Wulf
Rosa Luxemburg und die Stasi

rosaplastik
Rosa Luxemburg, Kopf eines unbekannten Plastikers.
Fotografiert von © Dr. Hans-Albert Wulf, Februar 2019.

Vor ein paar Jahren bin ich in Berlin-Kreuzberg in einen Trödelladen geraten, um mal wieder ein bisschen herumzustöbern und herumzukramen. Als ich in das hintere Zimmer des Ladens trat, bot sich mir ein faszinierender Anblick. Auf einem Schrank standen die Gipsbüsten fast der gesamten sozialistischen und kommunistischen Ahnengalerie. Marx und Engels mehrfach, Lenin und auch die späteren wie z.B. Wilhelm Pieck und Ernst Thälmann. Und es fehlte natürlich auch nicht Rosa Luxemburg, in die ich im sozialistischen Sinne immer schon etwas verliebt war und die ich immer schon aufs höchste sozialistische Podest gestellt hatte. Eine Marxbüste hatte ich schon unmittelbar nach der Annexion der DDR 1989 gekauft.
Mit dem Trödelhändler wurde ich nach einigem Feilschen über den Preis der Rosa Luxemburg-Büste handelseinig. Er wollte 60 DM haben. Ich bezahlte schließlich aber nur 50 DM, weil die Büste etwas beschädigt war. Ein Teil von Rosas Nasenspitze war abgeschlagen und fehlte. Der Händler bot mir an, bei der Ausbesserung dieser Blessur zu helfen. Und so rückte ich am nächsten Tag mit Gips und Farbe an, um Rosas Nase zu reparieren.
Ich war mit dem Fahrrad gekommen und so stellte sich das Problem, wie ich Rosa nach Hause transportieren könne. Die Büste ist immerhin mehr als 50 cm hoch und mächtig schwer. Versuche, sie auf den Gepäckträger meines Fahrrads zu klemmen, misslangen gründlich. Aber der Trödelhändler hatte eine Lösung. Er könne mir für den Rosatransport eine große Ledertasche verkaufen, die er hervorkramte. Eine in der Tat sehr voluminöse Tasche und gar nicht zu vergleichen mit unseren gewöhnlichen Aktentaschen. Zudem wunderte ich mich zunächst über die vielen Schlösser. Der Trödelhändler belehrte mich, dass es sich um eine Stasitasche handele, für die er nochmal 50 DM haben wolle, und die ich nach einigem Murren denn auch zahlte. Und so habe ich doch tatsächlich die Rosa in einer Stasitasche nach Hause transportiert. Jahre später wurde bei mir eingebrochen und die Stasitasche wurde zum Abtransport der Beute mitgeklaut. Die Rosa haben sie aber gottseidank stehengelassen.

© Dr. Hans-Albert Wulf, März 2019.

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2019/03/15

Egon Erwin Kisch
Wat koofe ick mir for een Groschen?

kisch
Volksspeisehalle, Neue Schönhauser Straße, Berlin Mitte.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, September 2014.

In der Volksspeisehalle in der Schönhauser Allee trank ich eine Tasse Kaffee um zehn Pfennig und aß dazu einen Napfkuchen um den gleichen Preis. Drüben an der Wand, mit Kreide auf ein schwarzes Brett geschrieben, war die Speisekarte; aus ihr ersah ich, daß man für eine Tasse Milch, Kakao, Apfelwein oder Brühe, für eine Flasche Selterswasser, für zwei Zehntel Malz- oder Lagerbier, für eine mit Butter oder Schmalz gestrichene Stulle, für vier gewöhnliche Schrippen, für einen Blech- oder einen Napfkuchen nicht mehr und nicht weniger als zehn Pfennig zu zahlen hat. Noch reicher sehen die Genüsse aus, die sich einer vergönnen kann, der über zwei Groschen verfügt: eine Schale Weißbier, eine Pulle Brauselimonade, eine belegte Stulle, einen sauren Hering, einen marinierten Fisch, eine Portion Kartoffelsalat, ein Paar Würstchen oder ein Stück Wurst.
Um zu erfahren, ob man auch andere als alimentäre Werte um zehn Pfennig erwerben könne, rief ich eines der spielenden Gören zu mir, gab ihm einen Groschen und wollte ... der Kleine war schon mit der Schnelligkeit eines Rodelschlittens davongerast, bevor ich ihn etwas fragen konnte. Ich sprach einen anderen Jungen an und stellte ihm, das Geldstück in der Hand behaltend, die Gewissensfrage: "Was tust du mit diesen zehn Pfennig, wenn ich sie dir gebe?" - Der Knirps machte eine abwehrende Geste. "Nee, so doof bin ick nich - dann jehm Se mir den Jroschen doch nich!" - Ich gab mein Ehrenwort. - "Ick jehe in Kintopp." Auf meinen Wunsch zeigte er mir sogleich des Kino, wo der Eintritt zehn Pfennig kostet, der teuerste Platz fünfzig Pfennig. Mein kleiner Führer verschwand mit dem Groschen in der Eingangstüre, auf der eine große Tafel besagte: Jugendlichen unter sechzehn Jahren ist der Eintritt verboten!
Ein kleines Mädchen, das ich fragte, machte mir die Mitteilung, daß sie für meinen Groschen - auch ins Kino gehen wolle. Da mir die statistische Feststellung, wie viel Kinder Berlins eine Münze zum Besuch des Films anlegen würden, doch etwas zu kostspielig schien, stellte ich den Versuch ein, mir auf dem Wege einer Umfrage das Material zur Verwendungsmöglichkeit von zehn Pfennig zu verschaffen.
Ich war in einer Gegend, in der der Geschäftsbetrieb viel mehr von den Finanzverhältnissen des Käufers abhängig ist als von dessen Bedarf. Diesem Umstande ist durch die Preisangabe in den mit tausenderlei Dingen vollgepfropften Schaufenstern Rechnung getragen. In den Papierwarenhandlungen sind keine Schreibhefte, Stahlfedern, Bleistifte oder dergleichen ausgestellt. Luxusdinge des täglichen Gebrauchs werden angepriesen: die entzückenden Künstlerkarten, welche keifende Schwiegermütter, wimmernde Pantoffelhelden und zahnlose alte Jungfern zeigen, kosten nur zehn Pfennig; der anonyme Absender braucht nur - mit verstellter Handschrift - die Adresse daraufzuschreiben ... Um den gleichen Preis ist auch die hundertsechzehnte Lieferung des für unsere Jugend bestimmten Werkes "Huronen und Delawaren oder Das Zweite Gesicht oder Die Verfolgung rund um die Erde" zu haben, unter dessen vierfarbigem Titelbild die edlen Worte stehen: "Als Wilhelm Mut aus dem Blockhause heraustrat, sah er zehn Indianer in feindseliger Haltung vor sich stehen." Für zehn Pfennig habe ich das Heft einer Pfadfinder-Bücherei erstanden, verlockt durch die bunte Umschlagzeichnung, deren Text lautete: "Durch das Krachen des Donners, das Brüllen der Wogen, das Heulen des Sturmes tönte Horst Krafts gellender Ruf: Pfadfinder, zu mir! Wir werden zusammen sterben, wenn wir sterben müssen!" Dieses Büchlein habe ich gelesen und kann sagen: Wenn Büchern wirklich ein erzieherischer Wert zukommt, dann ist dieses Werk vortrefflich geeignet, Knaben zu Idioten zu erziehen.
Auf billige Art können sich Mädchen der Peripherie mit aller raffinierten Eleganz umgeben: eine Madeira-Hemdpasse, eine Büchse wohlriechenden Cachous, eine Phiole!!! Allerfeinstes Pariser Ideal-Parfum!!! (die sechs Ausrufungszeichen sind Original) und ein Gummiabsatz kosten je einen Groschen. Schwerer ist es, ein Gentleman zu sein. Zwar kosten ein Stehkragen, drei Hemdknöpfe oder einmal Schnurrbartstutzen denselben Betrag, aber schon für ein Paar Manschetten, ein Stück Prima Mandelseife mit zwei Ausrufungszeichen, eine Nagelfeile, eine Pomadenstange oder einmal Rasieren muß man die doppelte Taxe entrichten, für Haarschneiden und Bartausziehen sogar fünfundzwanzig, Kräuseln der Haare dreißig Pfennig.
Die Lust zum Heiraten wird gewiß dadurch wachgerufen oder wenigstens verstärkt werden, daß man um zehn Pfennig einen vergoldeten Ehering beziehen kann, eine Säuglingsklapper von der gleichen Wohlfeilheit, zwei Zinnsoldaten oder ein Schilderhäuschen. Mit einer Autohupe für Kinder oder fünf Knallerbsen kann man Krach machen, der mit einem Groschen gewiß nicht überbezahlt ist. Weiter: ein (etwas verbogener) Alpakalöffel, der Band einer verschrotteten Leihbibliothek "nach Eugen Sue bearbeitet von Wilhelm Eichelkogel", eine garantiert echte Haarlemer Hyazinthenzwiebel, ein achtel Pfund Kieler Sprotten, ein Stück Bruchschokolade, ein Umschlag mit Puderpapier, zwei Harzer Käse, Vanilleplätzchen und ein Kartoffelpuffer, alles bloß für zehn Pfennig.
Im Bagno-Museum auf dem Rummelplatz Ecke Lietzmannstraße-Neue Königstraße ist sogar ein Lustmord für einen Groschen zu sehen. In die Geldstücköffnung des Automaten wirft man zwei Sechser ein und dreht die Kurbel. Erstes Bild: Eine schlafende Dame. - Zweites Bild: Ein Mörder nähert sich mit gezücktem Messer. (Mörder nähern sich nämlich immer mit gezücktem Messer.) - Drittes Bild: Der Mörder nähert sich noch näher mit noch gezückterem Messer. - Viertes Bild: Der Mörder sticht der entsetzt erwachenden Dame das gezückte Messer in das Herz. - Fünftes Bild: Die Dame liegt tot neben zwei roten Tintenklecksen auf dem Boden, und der Mörder entfernt sich mit gezücktem, blutigrotem Messer. (Mörder entfernen sich nämlich immer mit gezücktem, blutigrotem Messer.)
Das alles koofe ick mir for een Groschen.

Die Reportage stammt aus dem Buch:
Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter, Berlin 1924.

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2019/03/12

30 Jahre World Wide Web (WWW)

Dr. Christian G. Pätzold

www
Das World Wide Web. Quelle: Wikimedia Commons.

Das World Wide Web wurde vor genau 30 Jahren, am 12. März 1989, gestartet. Damals wurde das Konzept des weltweiten Austauschs von wissenschaftlichen Dokumenten von dem britischen Physiker Tim Berners-Lee am Forschungszentrum CERN nahe Genf/Schweiz vorgestellt. Durch den Austausch der wissenschaftlichen Dokumente sollten die Informationen quasi verflochten werden, so dass sich der Name Web oder auf Deutsch Netz ergab.
Das WWW besteht heute aus sehr vielen Webseiten, die über das Internet als technischer Struktur weltweit abrufbar sind. WWW und Internet sind also nicht dasselbe, werden aber meist synonym verwendet. Wenn man sich im weltweiten Netz der Webseiten umsieht, wird das auch Surfen im Internet genannt. Das WWW kann von jedem mit Informationen gefüllt werden und jeder kann dort Informationen abrufen. Potenziell ist dadurch jeder Mensch mit jedem Menschen verbunden, also ist das WWW eine die Menschheit verbindende Einrichtung.
Zum Beispiel ist www.kuhlewampe.net eine Webseite im WWW, die von Menschen gefüllt werden kann und von Menschen weltweit gelesen werden kann. Das ist doch eine schöne Sache. Dabei können nicht nur Texte verschickt werden, sondern auch Bilder, Töne (Musik) und Videos (Filme), wodurch die Information noch anschaulicher wird. Insgesamt besteht das WWW also inzwischen nach 30 Jahren aus einer riesigen Menge von Dokumenten in hunderten von Sprachen, die jeder nutzen kann. Man kann dort so viele Bücher lesen, die gar nicht alle in einen privaten Bücherschrank passen würden. Daher braucht man heute nicht mehr so viele Bücher zu kaufen wie vor 30 Jahren, was erhebliche Kosten spart. Ich schaffe mir nur noch dann Bücher an, wenn ich in den Büchern etwas anstreichen möchte oder Notizen machen möchte. Zum Nachsehen von Informationen ist das WWW, und dort zum Beispiel die Webseiten von Wikipedia, sehr ergiebig. Das Gutenberg-Zeitalter ist vorbei. Wir leben heute weitgehend im Cyberspace.
Im WWW kann man vieles erfahren. Das reicht vom aktuellen Wetterbericht, den aktuellen Nachrichten bis zum Ansehen alter Filme. Und das alles kostenlos.
Wie bei allen guten Sachen kommen auch bald schlechte Menschen angeschlichen, die kommerziell profitieren wollen oder kriminell veranlagt sind oder die Fake News verbreiten oder die Freude daran haben, Spammails zu verschicken, oder die einfach nur eine Klatsche haben. Für diese Typen war das World Wide Web nicht gedacht. Sie sind wie gefräßige Motten, die zum Licht flattern. Wenn man das WWW nutzt, muss man daher leider heute auch berücksichtigen, dass es haufenweise bösartige Individuen gibt. Man kommt nicht darum herum, sich immer bei jeder Webseite zu fragen, wer dahinter steckt, und ob man etwas mit diesem Individuum zu tun haben möchte.
Wenn alles gut läuft und sich die Menschheit nicht mit Atomraketen und durch die Klimakatastrophe vernichtet hat, dann könnte in 30 weiteren Jahren das gesamte Wissen der Menschheit im WWW für jeden zugänglich sein. Das wäre schon echt cool.

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2019/03/10

Fridays For Future und Schulstreik
Greta Thunberg und die Rettung des Klimas unterstützen !

gretathunberg
Greta Thunberg. Quelle: Wikimedia Commons.

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2019/03/08

Der Internationale Frauentag ist Feiertag

frauentag
Vorkämpferinnen der Frauenbewegung: Clara Zetkin (links) mit Rosa Luxemburg, 1910.
Quelle: Wikimedia Commons.

Gerade wurde 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland gleichberechtigterweise gefeiert. Und nun ist seit diesem Jahr der 8. März, der Internationale Frauentag, der 10. Feiertag in Berlin. Berlin wollte einen 10. Feiertag, weil es im Vergleich mit den anderen Bundesländern die wenigsten Feiertage hatte. SPD, die Grünen und Die Linke waren sich bald einig, dass der Weltfrauentag ein guter Feiertag wäre, um die Gleichstellung zu fördern. Und so ist Berlin bisher das einzige deutsche Bundesland, in dem der Weltfrauentag ein Feiertag ist. Daran merkt man, dass Berlin doch etwas anders tickt als der Rest von Deutschland. Vietnam, Kuba, Russland und 23 weitere Länder sind als leuchtende Beispiele vorangegangen und hatten schon den Frauentag als Feiertag.
Zum Glück wurde der 10. Feiertag nicht noch ein weiterer religiöser Tag. Die Kirchen wollten natürlich einen religiösen Feiertag, haben ihn aber nicht bekommen, was auch seltsam gewesen wäre, da die Mehrheit der Bevölkerung in Berlin nicht religiös ist. Die Ekklesiastiker schäumten vor Wut. Am meisten wurmt sie, dass sie nicht wissen, was sie am Internationalen Frauentag mit ihren Gläubigen feiern sollen. Für die katholischen Kleriker ist die Frau an sich nicht gleichberechtigt, sondern eher in dienenden Funktionen in der Kirche tätig. Die Protestanten andererseits lehnen von jeher die Madonnenanbetung ab. Daher können die Kirchen mit dem Frauentag überhaupt nichts anfangen und stehen vor einem Rätsel.
Aber der 8. Mai, das Ende des Faschismus, hätte mir auch als Feiertag gefallen, weil dann das Wetter besser ist. Immerhin ist der 8. Mai im nächsten Jahr einmalig ein Feiertag in Berlin, zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus.
Die Idee des Internationalen Frauenkampftages wurde 1910 auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen von Clara Zetkin auf die Tagesordnung gesetzt. Clara Zetkin war damals noch Mitglied der SPD, später der KPD. Die Hauptforderungen der Frauen waren das Frauenwahlrecht, die Gleichberechtigung, die Emanzipation der Arbeiterinnen und nach 1914 während des Ersten Weltkriegs die Forderung nach einem Ende des Krieges. Der Weltfrauentag ist also ein vollständig sozialistischer Kampftag. Der 8. März als festes Datum entstand aber erst 1921 in Moskau.
Bei Wikipedia heißt es zum Datum 8. März:

"1917 war aber auch aus einem anderen Grund ein entscheidendes Jahr. Am 8. März 1917 - nach dem damals in Russland verwendeten julianischen Kalender der 23. Februar - streikten in Petrograd die Bewohnerinnen der armen Stadtviertel auf der Wyborger Seite. Arbeiterinnen, die Ehefrauen von Soldaten und erstmals auch Bäuerinnen gingen gemeinsam auf die Straße und lösten so die Februarrevolution aus. Zu Ehren der Rolle der Frauen in der Revolution wurde auf der Zweiten Internationalen Konferenz kommunistischer Frauen 1921 in Moskau auf Vorschlag der bulgarischen Delegation der 8. März als internationaler Gedenktag eingeführt. Nach anderer Darstellung war es nach Aufforderung von Alexandra Kollontai und anderen Vorkämpferinnen Lenin, der in diesem Jahr, 1921, den 8. März zum "Internationalen Frauentag" erklärte. Über den Ursprung des Internationalen Frauentages am 8. März gibt es verschiedene Theorien und Deutungen."

Heutzutage haben allerdings viele Frauen wenig zum Feiern am 8. März, angesichts der verbreiteten Armut und der prekären Lebensverhältnisse besonders bei Frauen. Für sie dürfte der 8. März eher ein Protesttag als ein Feiertag sein. Die Linke hat schon eine Demo angekündigt. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass auch ein Männertag und ein Kindertag als zusätzliche Feiertage eingeführt werden sollten, möglicherweise alternativ als Ersatz für Ostern oder Weihnachten.
Dr. Christian G. Pätzold.

Jenny Schon feiert am 8. März den Frauentag mit Gedichten über Frauen im Terzo Mondo, 20 Uhr, Grolmanstraße 28, in Berlin Charlottenburg. Engagierte Lyrik für Menschenrechte, Gedichte für politische und literarische Frauen: Else Lasker Schüler, Janis Joplin, Annette Droste-Hülshoff, Karoline von Günderode, Juliette Greco. Dazu ein Text zu Mete Fontane (Fontane-Jahr).

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2019/03/05

art kicksuch

ueberschreitendes

© art kicksuch, märz 2019.

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2019/03/02

Kurt Tucholsky
Das Lied vom Kompromiß, März 1919

Manche tanzen manchmal wohl ein Tänzchen
immer um den heißen Brei herum,
kleine Schweine mit dem Ringelschwänzchen,
Bullen mit erschrecklichem Gebrumm.
Freundlich schaun die Schwarzen und die Roten,
die sich früher feindlich oft bedrohten.
Jeder wartet, wer zuerst es wagt,
bis der eine zu dem andern sagt:
»Schließen wir nen kleinen Kompromiß!
Davon hat man keine Kümmernis.
Einerseits - und andrerseits -
so ein Ding hat manchen Reiz ...
Sein Erfolg in Deutschland ist gewiß:
Schließen wir nen kleinen Kompromiß!«

Seit November klingt nun dies Gavottchen.
Früher tanzte man die Carmagnole.
Doch Germania, das Erzkokottchen,
wünscht, dass diesen Tanz der Teufel hol.
Rechts wird ganz wie früher lang gefackelt,
links kommt Papa Ebert angewackelt.
Wasch den Pelz, doch mache mich nicht naß!
Und man sagt: »Du, Ebert, weißt du was:
Schließen wir nen kleinen Kompromiß!
Davon hat man keine Kümmernis.
Einerseits - und andrerseits -
so ein Ding hat manchen Reiz ...
Sein Erfolg in Deutschland ist gewiß:
Schließen wir nen kleinen Kompromiß!«

Seit November tanzt man Menuettchen,
wo man schlagen, brennen, stürzen sollt.
Heiter liegt der Bürger in dem Bettchen,
die Regierung säuselt gar zu hold.
Sind die alten Herrn auch rot bebändert,
deshalb hat sich nichts bei uns geändert.
Kommts, dass Ebert hin nach Holland geht,
spricht er dort zu einer Majestät:
»Schließen wir nen kleinen Kompromiß!
Davon hat man keine Kümmernis.
Einerseits - und andrerseits -
So ein Ding hat manchen Reiz ...«

Und durch Deutschland geht ein tiefer Riß.
Dafür gibt es keinen Kompromiß!

Kaspar Hauser in: Die Weltbühne, 13.03.1919, Nr. 12, S. 297.

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2019/02/28

vorschau03

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2019/02/26

Eine Neuheit bei kuhlewampe.net: Links

Bei Kuhle Wampe gibt es jetzt Links zu einigen Webseiten der MitschreiberInnen.
Sie sind über die Schaltfläche "Links" im Kopf dieser Seite erreichbar.
Dadurch braucht ihr nicht mehr die Namen der MitschreiberInnen bei Google einzugeben.
Ein kleiner Klick genügt und schon seid ihr auf der gewünschten Webseite.
Bequemer geht es wirklich nicht.

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2019/02/23

Dr. Hans-Albert Wulf
Don Quijote oder die Tragikomik des Lesens

donquijote
Honoré Daumier (1808-1879): Don Quijote und Sancho Pansa.
Quelle: Wikimedia Commons.

Don Quijote ist der Dreh- und Angelpunkt all der folgenden Geschichten und Episoden über Büchernarren, Stubengelehrte und Wortakrobaten. Er ist der erste, der sich strikt geweigert hat, zwischen der schnöden Alltagswelt und der Bücherwelt einen Unterschied zu machen. In der traditionellen Literatur wird ja bekanntlich meist geschildert, was sich an bemerkenswerten Dingen in der realen Welt so alles zugetragen hat. Bei Don Quijote ist es umgekehrt. Er trägt die Begebnisse all der Romane, die er in sich hineingefressen hat, ins reale Leben hinaus. Und so wird die Realität genötigt, sich nach all den Romanen zu richten, die er gelesen hat.
Der Roman des Miguel de Cervantes aus dem Ende des 16. Jahrhunderts ist eine Persiflage auf die damals grassierende Flut von Abenteurer- und Ritterromanen. Er stellt eine frühe Form der Medienkritik dar, wie sie sich dann im 18. Jahrhundert als Kritik an der Lesesucht artikulieren sollte und in der gegenwärtigen Diskussion über virtuelle Welten und das Verschwinden der Wirklichkeit einen Höhepunkt findet. Ein berühmter Beitrag hierzu ist der Film "Willkommen Mr. Chance" mit Peter Sellers, in dem der Titelheld die Realität mit dem Fernsehen verwechselt und mit der TV-Fernsteuerung in der Hand durch die Welt irrt.
Don Quijote gilt als einer der prominentesten Büchernarren der Literaturgeschichte. Zunächst ist nicht viel Bemerkenswertes über ihn zu berichten. Er war ein etwa 50jähriger spanischer Landedelmann, der auf seinem bescheidenen Gut ein ereignisloses Leben führte, so wie viele andere auch. Indes er frönte einer Leidenschaft, die seinem Leben die Würze gab: Er hatte ein Faible für Ritter- und Abenteurerromane, für die er sein ganzes Geld ausgab, und die er mit allergrößter Gier und Inbrunst verschlang. Da wird von den kühnen Taten heldenhafter und unbesiegbarer Ritter berichtet wie z.B. von Amadis von Gallien oder Roland dem Rasenden. Und mächtige und unbezwingbare Riesen, Drachen und andere Ungeheuer treiben ihr Unwesen. Aber auch die Liebe hat hier ihren Platz und sie ist die Triebfeder für all den ritterlichen Heldenmut. Das Muster ist immer das Gleiche. Der Ritter verehrt und vergöttert ein schönes und liebreizendes Burgfräulein oder eine Prinzessin, derenthalben er all seine Großtaten vollbringt. Nur so kann er ihre Gunst erringen. Und so begeistert sich Don Quijote an Sätzen wie: "Der Sinn des Widersinns, den Ihr meinen Sinnen antut, schwächt meinen Sinn dergestalt, dass ein richtiger Sinn darin liegt, wenn ich über Eure Schönheit Klage führe." Und ebenso, wenn er las: "...die hohen Himmel Eurer Göttlichkeit, die Euch in göttlicher Weise bei den Sternen festigen und Euch zur Verdienerin des Verdienstes machen, das Eure hohe Würde verdient." Man sieht, auch er war schon ein Freund wortakrobatischer Verrücktheiten.
Nachdem Don Quijote durch solch irrwitzige Lektüre das Gehirn vertrocknet war, fasst er einen kühnen Entschluss. Er will selbst hinausziehen und das Leben eines fahrenden Ritters führen. Begleitet wird er von seinem Diener Sancho Pansa, einem Bauern von nebenan. Die beiden sind in jeder Hinsicht das Gegenteil voneinander. Don Quijote lang und dürr und Sancho Pansa klein und dick. Don Quijote der vom Bücherwahn infizierte Phantast und auf der anderen Seite der pragmatische und bodenständige Sancho, der, wie man so sagt, mit beiden Beinen im Leben steht. Warum lässt er sich aber von Don Quijote beschwatzen, bei all dessen Abenteuern mitzumachen? Manche meinen, er sei als Diener seines Herrn mit Geld bezahlt worden. Das kann jedoch nicht richtig sein: Denn Sancho war ja kein Diener, sondern der Knappe des Ritters von der traurigen Gestalt und Knappen erhalten für ihre Dienste ja grundsätzlich kein Geld. Warum hat sich Sancho dann auf diese irrwitzigen Abenteuer eingelassen. Ganz zweifellos will er sich aus seinem faden und mühseligen Dasein als armer Ackermann und Familienvater auf und davon stehlen. Mit Ritter- und Abenteurerromanen hat er im Unterschied zu seinem neuen Herrn allerdings nichts, aber auch gar nichts im Sinn.
Heimlich ziehen die beiden ohne Abschied von ihren Angehörigen nachts auf und davon. Sancho lässt seine Kinder Kinder sein und um gar nicht erst ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Familie aufkommen zu lassen, glaubt er geschwind den Versprechungen Don Quijotes, dass er dereinst nach gloriosen Siegen über allerhand Feinde zum Statthalter oder gar König einer Insel befördert werde. Und dann würden ja seine holde Ehefrau, die er gerade schmählich verlassen hat, zur Königin und seine Kinder zu Prinzen gekürt. Glaubt Sancho diese Versprechen Don Quijotes nun eigentlich wirklich? Einerseits hat er einen klaren Alltagsblick. Windmühlen sind für ihn Windmühlen und keine Riesen, auf der anderen Seite baut er sich gerne ein alltagsflüchtiges Wolkenkuckucksheim. Und dies lässt ihn seinem Herrn in die verrücktesten Abenteuer folgen.
Doch hören wir, wie der fahrende Ritter seinen Knappen Sancho Pansa belehrt: "Wie ist möglich, dass du während der ganzen Zeit, seit du an meiner Seite bist, nicht begriffen hast, dass alles, was mit fahrenden Rittern vorgeht, wie Hirngespinste, Albernheit und Unsinn aussieht und in allem stets verkehrt ist? Und nicht etwa, weil es wirklich so ist, sondern weil mit unsereinem beständig ein Schwarm von Zauberern umherzieht, die alles, was uns betrifft, verwechseln und vertauschen und nach ihrem Belieben umwandeln, je nachdem sie Lust haben, uns zu begünstigen oder uns zugrunde zu richten. So kommt es, dass, was dir wie eine Barbierschüssel aussieht, mir als der Helm Mambrins erscheint, und einem anderen wird es wieder als was andres erscheinen."
Don Quijote reitet mit Sancho Pansa durch die Sierra Nevada und in dieser felsigen Einöde verkündet er, dass er in Bälde eines seiner allergrößten Bravourstücke zu vollbringen gedenke. Was hatte er nicht schon alles an ruhmreichen Heldentaten gemeistert. Der Kampf mit den Riesen, von dem Spötter später behauptet hatten, es seien nicht Riesen sondern schnöde Windmühlen gewesen, mit denen sich Don Quijote da eingelassen hatte. Oder die Geschichte von dem anstürmenden feindlichen Heer, das sich arglistigerweise als Schafherde getarnt hatte und in dem er ein Blutbad angerichtet hatte. All diese Großtaten und noch einige mehr vollführte der Ritter mit dem Ziel, den Ungerechtigkeiten der Welt mutig entgegenzutreten, Waisen zu beschützen, Jungfrauen aus der Gefangenschaft von Unholden zu erlösen und zu Unrecht gefangene Menschen von ihren Fesseln zu befreien. Doch bei alldem ging es um das übergeordnete Ziel, von seiner abgöttisch Geliebten einen Fingerzeig der Gunst zu erhaschen.
Sie ritten eine Weile weiter und als die beiden zu einem Hain kamen, machte Don Quijote halt, stieg ab und richtete an seinen Schildknappen sinngemäß folgende Rede: "Hier Freund Sancho will ich rasten, um mich ganz meinem Schmerz hinzugeben, der Schmerz darüber, dass mich meine Herrin, die huldselige und schöne Dulcinea von Toboso, nicht erhört und schnöde meine Liebe missachtet." Beim Liebesschmerz allein solle es hierbei aber nicht bleiben. Nein, er habe etwas viel größeres vor, nämlich über der Untreue seiner Gebieterin verrückt zu werden und seinen Verstand zu verlieren. Sancho gibt seinem Herrn zu bedenken, dass er doch überhaupt keinen Hinweis darauf habe, dass Dulcinea mit irgendeinem Mohren ein gemeinsames Mittagsschläfchen gehalten habe. In der Tat, da habe er recht, entgegnet Don Quijote seinem Knappen. Aber gerade dies, dass er ja von gar keiner Untreue Dulcineas wisse, mache seine Unternehmung umso pikanter. "Denn die rechte Probe ist, ohne Anlass wahnsinnig zu sein, damit meine Geliebte denken muss: wenn das am grünen Holze geschieht, was soll’s erst am dürren werden!"
Und hierbei kommen nun die Früchte seiner Ritter- und Abenteurerlektüre voll zur Geltung. Don Quijote hat zwei große Vorbilder, denen er auf seinen Ritterabenteuerfahrten nachfolgt: Roland den Rasenden und Amadis von Gallien. Es stellte sich für ihn die Frage, welchen er denn nachahmen solle. Orlando furioso ist, wie der Name schon sagt, die wilde Lesart. Als dieser erfuhr, dass seine Geliebte Angelika "mit Medor Schändliches begangen hatte", wurde er darüber toll und in seinem Liebesschmerz entwurzelte er Bäume, trübte Quellen und erschlug Hirten. Er metzelte ganze Schafherden nieder, setzte Hütten in Brand, riss Häuser nieder "und tausend andere und unerhörte Streiche, die ewigen Gedächtnisses und Ruhmes würdig sind". Er seinerseits, fuhr Don Quijote fort, betrachte all diese Taten des rasenden Rolands zwar mit größtem Respekt, wolle sie jedoch hier nicht umsetzen. Grundsätzlich ziehe er aber die Variante des Amadis von Gallien vor, der nur "tränenreiche und empfindsame" Dinge tat. Don Quijote verzichtet auf die umweltzerstörenden Eskapaden des Orlando und legt lieber an sich selbst Hand an. Dies beginnt damit, dass er zum Leidwesen seines Knappen Sancho sich bis aufs Hemd auszieht, Purzelbäume schlägt, dann gegen die härtesten Felsen rennt und sich selbst überbietet in all seinen Verrücktheiten.
Was auch immer er tat, und was von Cervantes in seinem 1.200seitigen Roman berichtet wird: In alldem befolgte Don Quijote gewissenhaft die Regieanweisungen der von ihm durchgeschmökerten Ritterromane.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Februar 2019.

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2019/02/20

Georg Herwegh
Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, 1863

You are many, they are few.
(Eurer sind viele, ihrer sind wenige.)

Bet und arbeit! ruft die Welt,
Bete kurz! denn Zeit ist Geld.
An die Türe pocht die Not -
Bete kurz! denn Zeit ist Brot.

Und du ackerst, und du säst,
Und du nietest, und du nähst,
Und du hämmerst, und du spinnst -
Sag, o Volk, was du gewinnst!

Wirkst am Webstuhl Tag und Nacht,
Schürfst im Erz- und Kohlenschacht,
Füllst des Überflusses Horn,
Füllst es hoch mit Wein und Korn.

Doch wo ist dein Mahl bereit?
Doch wo ist dein Feierkleid?
Doch wo ist dein warmer Herd?
Doch wo ist dein scharfes Schwert?

Alles ist dein Werk! o sprich,
Alles, aber nichts für dich!
Und von allem nur allein,
Die du schmiedst, die Kette, dein?

Kette, die den Leib umstrickt,
Die dem Geist die Flügel knickt,
Die am Fuß des Kindes schon
Klirrt - o Volk, das ist dein Lohn.

Was ihr hebt ans Sonnenlicht,
Schätze sind es für den Wicht,
Was ihr webt, es ist der Fluch
Für euch selbst - ins bunte Tuch.

Was ihr baut, kein schützend Dach
Hat's für euch und kein Gemach;
Was ihr kleidet und beschuht,
Tritt auf euch voll Übermut.

Menschenbienen, die Natur,
Gab sie euch den Honig nur?
Seht die Drohnen um euch her!
Habt ihr keinen Stachel mehr?

Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.

Deiner Dränger Schar erblaßt,
Wenn du, müde deiner Last,
In die Ecke lehnst den Pflug,
Wenn du rufst: Es ist genug!

Brecht das Doppeljoch entzwei!
Brecht die Not der Sklaverei!
Brecht die Sklaverei der Not!
Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!

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2019/02/17

Freier Eintritt in Staatliche Museen

Dr. Christian G. Pätzold

Der linke Kultursenator von Berlin äußerte vor kurzem eine scheinbar revolutionäre Idee: Ein Tag im Monat kostenloser Eintritt in alle staatlichen Museen. Das hört sich erstmal gut an, hat aber schon so einen langen Bart und ist uralt. Schon seit ewigen Zeiten gibt es Museen, die einen Tag mit kostenlosem Eintritt anbieten. Gegenwärtig hat bspw. das Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg einen kostenlosen Tag im Monat. Das ist auch nur gerecht, denn die Bevölkerung hat schon Unsummen für den Bau, die Sammlungen und den Unterhalt der Museen bezahlt.
In Wirklichkeit ist nur ein kostenloser Tag im Monat recht mickrig und wenig großzügig. Warum nicht 1 kostenloser Tag pro Woche? Das ist doch wohl das kulturelle Minimum. Aber dass es nach über 2 Jahren linker Kulturpolitik noch immer keinen einzigen kostenlosen Tag in vielen staatlichen Museen gibt, zeigt doch, dass in der Berliner Kulturpolitik vieles schief läuft. Das bedeutet, dass die ärmere Bevölkerung de facto seit Jahren von den Museen ausgeschlossen wurde, denn die Eintrittspreise sind happig. Und dieses Aussperren der ärmeren Bevölkerung aus der Kultur ist unmoralisch, sehr schade und verstößt gegen die Menschenwürde.
Gleichzeitig werden Millionensummen von der Berliner Kulturverwaltung fehlgeleitet, wie in dem Beitrag vom 2018/12/11 auf kuhlewampe.net nachgewiesen wurde.

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2019/02/14

Der Mensch und seine Arbeit

Markus Richard Seifert

Von dem Menschen und seiner Arbeit soll hier die Rede sein. Doch da ich in diesem Zusammenhang nur Deutschland kenne, schränke ich den Titel auch schon ein und schreibe "Die Menschen in Deutschland und ihre Arbeit". Was also hat "der Deutsche" für ein Verhältnis zu seiner Arbeit? Der Deutsche, und das ist hierzulande leider schon Tradition, hat meiner Beobachtung nach ein eher verkrampftes Verhältnis zu seiner Arbeit oder zu der Arbeit an sich. Denn schon ein altes deutsches Sprichwort sagt uns: "Müßiggang ist aller Laster Anfang". Soll heißen: Wer zu viel Freizeit hat, der oder die kommt eher auf so genannte "dumme Gedanken", jedenfalls eher als jemand, der viel ZU TUN hat.
Das bringt uns zu der Frage, was denn eigentlich Arbeit ist und wie dieser Begriff definiert werden kann oder sollte? Was also ist ARBEIT? Muss es unbedingt eine BEZAHLTE Tätigkeit sein, die uns unseren Lebensunterhalt sichert? Oder gibt es auch eine Arbeit, die nicht nur einen so genannten MARKTWERT, sondern auch einen GESELLSCHAFTLICHEN oder MORALISCHEN oder KULTURELLEN Wert für sich beanspruchen kann? Und darf ARBEIT eigentlich SPASS machen oder wäre das dann "nicht erwachsen"? Und was ist zum Beispiel die Arbeit eines Schriftstellers wert? Oder anders gefragt: Ist sie nur dann etwas wert, wenn er mit seinen Büchern Geld verdient - genug Geld, um sich davon zu ernähren?
Und was ist mit der unbezahlten, aber gesellschaftlich oder auch moralisch wertvollen Arbeit - Mütter, die Kinder erziehen ohne berufstätig zu sein oder Kinder, die ihre Mütter pflegen auch ohne berufstätig sein zu können? Ist das etwa KEINE Arbeit? Früher war HAUSFRAU und MUTTER ein anerkannter Beruf - heute etwa nicht mehr? Oder die PFLEGE von Angehörigen: Fünf Jahre blieb ich zu Hause, um nacheinander zu Hause meine kranken Eltern zu betreuen, stand in dieser Zeit dem so genannten oder auch Ersten Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung - war das vielleicht ein Fehler? Geld vom Staat haben wir in dieser Zeit KEINES bekommen, so viel steht fest.
Und das Ehrenamt, dessen Tätigkeiten auch jenseits des Ersten Arbeitsmarktes stattfinden? Oder ein Mensch, der oder die in einer Sozialen Bücherstube arbeitet, wo naturgemäß KEIN Geld verdient werden kann - ARBEITET DER ETWA NICHT, nur weil er dadurch KEIN Geld verdient? Kurzum: Der Begriff der Arbeit ist sehr relativ, wenn wir ihn nicht mit den unzureichenden Maßstäben des Arbeitsamtes messen wollen. Aber immer noch hinterfragen viel zu wenige Menschen diese einseitige Definition!
Mit einem Wort: Das kapitalistische System, das eigentlich schon seit der und durch die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 widerlegt worden ist, ist vergleichbar mit dem alten Kinderspiel "Reise nach Jerusalem", wo bekanntlich immer EIN STUHL ZUWENIG da ist, was aber offensichtlich die MIT STUHL NICHT ZU STÖREN SCHEINT, die da glauben, daß die OHNE daran SELBER SCHULD sind.
Aber inzwischen kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: Die AUTOMATISIERUNG und/oder DIGITALISIERUNG: Dann nämlich, wenn immer mehr ROBOTER unsere Arbeit übernehmen, wird es auch für fleißige und arbeitswillige Menschen nicht mehr ganz selbstverständlich sein, ARBEIT zu haben und Arbeit zu finden. Und dann wird das BEDINGUNGSLOSE GRUNDEINKOMMEN eingeführt werden müssen, ob wir es nun wollen oder nicht. Aber viele unserer PUHLITIKER haben ganz offensichtlich Angst vor einem Bedingungslosen Grundeinkommen, denn ein Volk ohne den Druck des so genannten Arbeitsmarktes ist wie eine Schulklasse, die KEINE ANGST mehr vor schlechten Noten haben muss, weil die Noten nämlich abgeschafft worden sind, "man" kann so ein Volk viel weniger zum Gehorsam bringen.

© Markus Richard Seifert, Februar 2019.

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2019/02/11

Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin, Teil 5
Will Lammert: Jüdische Opfer des Faschismus, 1956

juedischeopfer
Will Lammert: Jüdische Opfer des Faschismus, 1956.
Vor dem Alten Jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße in Berlin Mitte.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Dezember 2018.

Die Figurengruppe »Jüdische Opfer des Faschismus« wurde 1956 von Will Lammert für das Konzentrationslager Ravensbrück in Fürstenberg/Havel im Norden des Bundeslandes Brandenburg geschaffen. Im Konzentrationslager Ravensbrück waren vor allem Frauen mit ihren Kindern eingesperrt. Daher sind in der Bronzegruppe Frauen und Kinder dargestellt. Die Gruppe wurde aber erst 1985 vor dem Alten Jüdischen Friedhof im Scheunenviertel in Berlin Mitte, in der Großen Hamburger Straße, aufgestellt, das heißt im damaligen Ost-Berlin in der DDR. Sie war das erste Denkmal für die jüdischen Opfer des Faschismus, das in Berlin bestand.
Dieser alte Friedhof nahe beim Hackeschen Markt ist ein sehr alter Begräbnisplatz der jüdischen Gemeinde aus dem 18. Jahrhundert, der von den Nazis verwüstet wurde. Daher ist dort heute auf dem Friedhof fast nichts mehr zu sehen außer Efeu. Es ist noch der rekonstruierte Grabstein des Berliner Aufklärers Moses Mendelssohn (1729-1786) aufgestellt. Jüdische Begräbnisstätten werden aus religiösen Gründen grundsätzlich nicht überbaut, im Gegensatz zu christlichen Friedhöfen. Daher existiert der Alte Jüdische Friedhof noch heute.
Die Bronzegruppe der jüdischen Opfer vor dem Eingang zum Friedhof besteht aus 13 Personen mit kahl geschorenen Köpfen und ausgemergelten Körpern, was besonders auffällt. Wenn man das Denkmal mit dem großen Holocaust Mahnmal von Peter Eisenman am Brandenburger Tor vergleicht, das 2005 eröffnet wurde, dann ist das kleine Denkmal von Will Lammert doch viel eindrücklicher und menschlicher.
Will Lammert (1892-1957) überlebte den Ersten Weltkrieg verwundet und war in den Weimarer Jahren ein viel beschäftigter Bildhauer. 1932 trat er in die KPD ein. 1933 musste er mit seiner jüdischen Frau aus Deutschland flüchten und überlebte den Zweiten Weltkrieg im Exil in der Sowjetunion. Die Nazis hatten inzwischen fast alle seine bildhauerischen Werke in Deutschland zerstört, denn für sie war er ein entarteter jüdisch versippter Kunstbolschewist. 1951 konnte er aus der Sowjetunion in die DDR übersiedeln.

Dr. Christian G. Pätzold.

Teil 1 von »Sozialistischer Realismus in Ost-Berlin« erschien am 2018/03/25 auf kuhlewampe.net.
Teil 2 erschien am 2018/06/12.
Teil 3 erschien am 2018/08/14.
Teil 4 erschien am 2018/10/17.

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2019/02/08

Der Liebesperlenstrauch

liebesperlenstrauch
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Dezember 2018.

Der Liebesperlenstrauch (Callicarpa giraldii) hat tolle purpurne Früchte, die für Menschen leider giftig sind. Der Strauch wird auch Chinesische Schönfrucht genannt und kommt aus dem mittleren China, wächst aber auch in Deutschland sehr gut. Er gehört zur Familie der Lippenblütler (Lamiaceae). Seine Früchte sind im Winter sehr auffällig, denn Purpur ist eine Farbe, die in der Pflanzenwelt nicht so häufig vorkommt.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/02/05

art kicksuch

werspricht1
werspricht2

© art kicksuch, februar 2019.

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2019/02/02

Beim Pecha Kucha im Haus für Poesie

Dr. Christian G. Pätzold

Ende November, es ist kalt, Nieselregen. Um 5 ist es schon stockdunkel. Die U-Bahn zur Eberswalder Straße ist proppenvoll von Einheimischen und Touristen, die am Freitagabend in der Stadt unterwegs sind. Die Blumenhändlerin hat schöne große Mistelkugeln vor ihrem Laden aufgehängt. In der Kulturbrauerei ist der Weihnachtsmarkt mit Glühwein schon voll im Gange. Am Ständer mit den Flyern informiere ich mich über das Berliner Kulturangebot. Der Veranstaltungsraum des Hauses für Poesie ist eine helle, weiß gestrichene Fabriketage im Erdgeschoss, die glücklicherweise geheizt ist. Die Bar hat ein kleines Sortiment an kalten Getränken. Die 50 Stühle für die Besucher sind schon aufgestellt.
Heute gibt es einen Pecha-Kucha-Abend im Haus für Poesie in Berlin Prenzlauer Berg. Hä? Einige werden sich vielleicht fragen, was das ist? Pecha Kucha, gesprochen "petscha kutscha", ist ein Vortragsformat von 20 mal 20 Sekunden, so dass die Vortragenden jeweils insgesamt 6 Minuten und 40 Sekunden sprechen. Während des Vortrags werden nacheinander 20 Bilder auf eine Leinwand geworfen. Dadurch hat man nicht nur etwas zum Zuhören, sondern auch etwas zum Anschauen, was die Vorträge sehr lebendig und informativ macht. Insgesamt ergibt sich beim Pecha Kucha eine kurzweilige Präsentation von Themen.
Pecha Kucha ist ein lautmalendes Wort und kommt aus Japan. Es bedeutet Stimmengewirr oder wirres Geplauder. Die Vortragstechnik wurde erstmals 2003 in Tokio verwendet. Bei einer Pecha Kucha Night gibt es mehrere Vorträge hintereinander, meist um die 10. Für ein Pecha Kucha braucht man ein zusätzliches technisches Equipment: Einen Laptop, einen Beamer und eine Leinwand, auf die die 20 Bilder geworfen werden. Auf der Leinwand läuft auch ein Sekundenzeiger, der anzeigt, wie viel Zeit noch verbleibt.
Mein Pecha-Kucha-Abend hatte den Titel "Kritik der Kritik". 10 PoesiekritikerInnen haben ihre Kritik verschiedener LyrikerInnen vorgetragen. Ich wusste gar nicht, dass es so viele junge LyrikkritikerInnen in Berlin gibt. Das ganze war sehr abwechslungsreich. Ich habe aber festgestellt, dass auch das Vortragen eine Kunst ist, die sich vom reinen Kritisieren unterscheidet. Die Kritik der KritikerInnen war sehr gelungen, aber ihr Vortrag war noch nicht so spannend, wie ich ihn bspw. bei professionellen Poetry SlammerInnen gesehen habe. Das Pecha-Kucha-Format eignet sich jedenfalls sehr gut als Einstieg in eine anschließende Diskussion.

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2019/01/31

vorschau02

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2019/01/28

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK
JOHAN HUIZINGA, TEIL 2
»HOMO LUDENS. VOM URSPRUNG DER KULTUR IM SPIEL« (1938)

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Daniel Chodowiecki: Vergnügungen der Kinder. Quelle: Wikimedia Commons.

Es sind jene Regeln, die j e d e s Spiel kennzeichnen und auf die der holländische Historiker und Philosoph Johan Huizinga bereits 1938 in seiner Abhandlung, dem Klassiker »Homo Ludens«, lateinisch für "Der spielende Mensch", explizit verwies, als er das Spiel als ein grundlegendes Element unserer Kultur verstand. Dieses einflussreiche Buch ist uns auch heute noch wohl bekannt, nicht allein wegen seines beeindruckenden programmatischen Titels. Folgende Grundparameter werden impliziert, wenn Huizinga das Spiel als "freie Handlung" bezeichnet: Abgeschlossenheit, Begrenztheit, ohne Notwendigkeit und Nutzen, Spannungselement, Wiederholbarkeit und die Spielregeln als Grundvoraussetzung - in einen grundlegend unveränderlichen Rahmen gesetzt, innerhalb dessen ein neuer Entfaltungsraum, jedoch keineswegs ein uneingeschränkter, sondern im Gegenteil ein bereits definierter Handlungsspielraum, festgelegt wird.
So wird Spiel von ihm definiert und mit diesem Kompass macht er sich auf den Weg in die Kulturgeschichte, in der er sich, wie wir bereits seit Teil 1 wissen, sehr gut auskennt. Das von ihm gesichtete reichhaltige Quellenmaterial erbrachte den "Beweis", "daß alle Kultur im Spiel ihren Ursprung hat. Seine Ausführungen legen es nahe, sich einmal Gedanken zu machen über die verschiedenen Formen des Spiels, ihre Bedeutung und ihre geschichtliche Entwicklung." (1)
"Spielender Wetteifer, älter als die Kultur selbst, erfüllte von jeher das Leben und brachte die Formen der archaischen Kultur wie Hefe zum Wachsen. Der Kult entfaltete sich in heiligem Spiel... Kultur in ihren ursprünglichen Phasen wird gespielt. Sie entspringt nicht aus Spiel, wie eine lebende Frucht sich von ihrem Mutterleibe löst, sie entfaltet sich in Spiel und als Spiel." (2)
Verhandelt wird, inwieweit bestimmte Kulturerscheinungen wie das Rechtswesen, Krieg, Wetteifer, Wissen, Philosophie oder Kunst diesen Spielcharakter aufweisen und für welchen Bereich dieser nicht mehr gilt, z. B. macht er bei Kriegen wesentliche Abstriche, auch wenn dieser im Agonalen, einem Kennzeichen des Spielhaften, wurzelt.
Enorm aufschlussreich sind die Kapitel über Dichtung und das poetische Spiel/en. (3)
Alles in allem ein Plädoyer für das Spiel und dessen Implikationen, besonders angesichts der Nazi-Okkupation in Holland, die Huizinga am eigenen Leib zu spüren bekommt, denn er muss 1942 als 70-Jähriger sogar einige Zeit ins KZ wegen angeblich nazifeindlicher Schriften. Gegen Ende seines Lebens eher ernüchtert über diese Auswüchse, konnte er trotzdem auf ein beachtliches Werk zurückblicken. "Huizinga gilt heute unbestritten als einer der größten Kulturhistoriker der Neuzeit, als geistiger Nachfahre Jacob Burckhardts... An Burckhardt erinnert auch die starke künstlerische Komponente in seinem Wesen,... die sich in seinem Werk in einer geglückten Synthese von Kultur- und Kunstgeschichte ausgeprägt hat." (4)
Mit dem Gefühl, dem "eigentlichen" Leben zu entfliehen, wird man Huizingas Spielbegriff nicht gerecht, eher damit, sich in diesen Handlungsrahmen zu begeben, in einen Kunstraum, dieser ist jedoch stets in Relation von Ästhetik und Komplexität zu dem selbst anberaumten Zeitkontinuum zu setzen. (5)
In Teil 3 wird es explizit um Huizingas Untersuchungen zur Dichtung und Poesie gehen und im 4. und letzten Teil werde ich mich mit seiner Schrift »Erasmus und Luther. Europäischer Humanismus und Reformation« beschäftigen, auf die ich selber schon gespannt bin.

Fußnoten:
(1) Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, Rowohlt, S. 205, Nachwort.
(2) Ebenda S.166/167 weiter: "Die Dichtkunst wurde im Spiel geboren und erhielt immerfort aus Spielformen ihre beste Nahrung. Musik und Tanz waren reines Spiel. Weisheit und Wissen fanden ihren Ausdruck im Wort in geweihten Wettspielen. Das Recht ging aus den Gepflogenheiten eines sozialen Spiels hervor. Die Regulierung des Streits mit den Waffen, die Konventionen des adligen Lebens waren auf Spielformen aufgebaut."
(3) Auf das Kapitel 7 "Spiel und Dichtung" werde ich in Teil 3 der Serie zu Johan Huizinga eingehen.
(4) Ebenda S. 208, Nachwort.
(5) Eben jene Dialektik von Einschränkung und Offenheit ist es auch, die das Spiel für die zeitgenössische Kunst interessant zu machen scheint. Entscheidend wird die Festlegung des Handlungsfeldes. Wie beim Anagramm z.B. sind die Grundregeln simpel, aber effektiv angelegt.

© Dr. Karin Krautschick, Januar 2019.

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2019/01/26

"Kunst kommt von können, nicht von wollen, sonst müsste es ja Wunst heißen."

Karl Valentin

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2019/01/23

»Von der Dicken Berta zur Roten Rosa«
Ein wenig bekanntes Rosa-Luxemburg-Denkmal auf dem Spichernplatz

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Igael Tumarkin: Von der Dicken Berta zur Roten Rosa, 1984.
Auf dem Spichernplatz in Berlin Wilmersdorf.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, November 2018.

Auf dem Spichernplatz in Berlin Wilmersdorf steht seit 1984 das Rosa-Luxemburg-Denkmal des israelischen politischen Plastikers Igael Tumarkin, der 1933 in Dresden geboren wurde. Der Titel des Denkmals lautet »Von der Dicken Berta zur Roten Rosa«. Das Denkmal wird leicht übersehen, denn es ist nicht besonders groß, steht nicht auf einem Sockel, und wird auch noch halb von der Vegetation der Mittelinsel verdeckt. Daher ist dieses Denkmal wirklich ein Geheimtipp für Eingeweihte.
Das Denkmal besteht aus 2 Teilen aus Stahl: Einem Gefährt auf Gleisen, das nur entfernt an die tatsächliche Dicke Berta des 1. Weltkriegs erinnert, und aus dem Profilkopf von Rosa Luxemburg. Die Dicke Bertha oder Dicke Berta war der Spitzname eines bekannten deutschen Geschützes im 1. Weltkrieg, das vom Rüstungskonzern Krupp gebaut wurde. Sie war ein Mörser, auch Minenwerfer oder Granatwerfer genannt, und konnte mehrere Kilometer weit schießen. Der Ursprung des Namens Dicke Bertha ist nicht bekannt, aber Bertha war vor 100 Jahren ein beliebter weiblicher Vorname.
Der 1. Weltkrieg und das Schicksal Rosa Luxemburgs waren eng miteinander verbunden. Die sozialistische Revolutionärin Rosa Luxemburg hat sich immer gegen Nationalismus, Militarismus und den imperialistischen Krieg ausgesprochen. Dafür wurde sie von der kaiserlichen Justiz ins Gefängnis gesperrt. Das Denkmal macht diesen Zusammenhang sichtbar, indem der Kopf von Rosa Luxemburg quasi als Barriere vor das Geschütz gestellt ist. Übrigens hat auch der Name des Spichernplatzes in Berlin Wilmersdorf einen militaristischen Hintergrund. Die Schlacht bei Spichern in Lothringen ereignete sich am 6. August 1870 während des Deutsch-Französischen Krieges.
Aber warum steht ein Denkmal für Rosa Luxemburg im bürgerlichen Wilmersdorf, wo man es nicht erwartet? Zum einen wurde Rosa Luxemburg in Wilmersdorf gefangen genommen, kurz bevor sie am 15. Januar 1919 ermordet wurde. Zum anderen hatte Wilmersdorf für Jahrzehnte eine engagierte Kommunale Galerie, die sich sehr für Plastiken im öffentlichen Raum einsetzte. Das sind so meine Vermutungen. Zum 100. Todestag von Rosa wurde das Denkmal renoviert und neu angestrichen. Rosa kommt sehr schön in altrosa Farbe zur Geltung. Aber etwas stört mich: Das Denkmal scheint irgendwie im Erdboden zu versinken. Meiner Meinung nach müsste das ganze Denkmal auf einen Sockel gestellt werden, der etwa 1 Meter hoch sein müsste.
Dr. Christian G. Pätzold.

Zu Rosa Luxemburgs Haltung zum Ersten Weltkrieg seht bitte auch den Artikel "100 Jahre Junius-Broschüre von Dr. Rosa Luxemburg", der am 2016/06/21 auf kuhlewampe.net erschienen ist.

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2019/01/20

art kicksuch

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© art kicksuch, januar 2019.

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2019/01/17

Das Personenregister ist aktualisiert !

Das Personenregister ist auf den neuesten Stand gebracht und umfasst jetzt die Jahre 2015 bis 2018.
Es ist über die Schaltfläche "Personen" im Kopf dieser Seite erreichbar.
Dadurch könnt ihr jetzt noch mehr Artikel von und über Personen leichter finden.
Die Artikel sind über die Schaltfläche "Archive" im Kopf dieser Seite einsehbar.
Viel Spaß beim Suchen und Finden!

Vor einem Jahr wurde das Kommentarfeld auf kuhlewampe.net eingerichtet, das über die Schaltfläche "Kommentare" im Kopf dieser Seite erreichbar ist.
Es sind zwar einige Kommentare eingetrudelt, aber es könnten noch mehr sein, um den Blog noch lebendiger zu machen.
Eure Kommentare sind daher weiterhin sehr willkommen!
Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/01/14

Die Ermordung von Rosa und Karl vor 100 Jahren

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Käthe Kollwitz: Gedenkblatt für Karl Liebknecht, 1920, Holzschnitt.

Während des Spartakusaufstandes im Januar 1919 in Berlin wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Gründer der KPD, von Soldaten unter dem Oberbefehl des SPDlers Gustav Noske ermordet. An jenem 15. Januar 1919 befanden sich Rosa und Karl im Versteck der Wohnung des Kaufmanns Marcusson in der Mannheimer Straße 43, heute 27, in Wilmersdorf, nahe des Fehrbelliner Platzes. Dort wurden sie aufgespürt, verhaftet und im Auto zum Hotel Eden in der Budapester Straße gebracht. Das Hotel Eden befand sich gegenüber dem Zoo-Aquarium.
Im Hotel Eden wurden Rosa und Karl von den Soldaten misshandelt und gefoltert. Karl Liebknecht wurde anschließend zum Neuen See im Tiergarten gebracht und dort erschossen. Rosa Luxemburg wurde in den Landwehrkanal geworfen. An beiden Orten gibt es heute Denkmäler, die zu ihrem Todestag von Demonstranten besucht werden.
Heute sind Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Friedhof Berlin Friedrichsfelde begraben. An jedem zweiten Sonntag im Januar findet seit Jahren die große Liebknecht-Luxemburg-Demonstration zur Gedenkstätte der Sozialisten statt, in diesem Jahr war das der 13. Januar 2019. Zum 100. Jahrestag fiel die Demonstration trotz Regens besonders groß und beeindruckend aus, es waren tausende Teilnehmende, jung und alt, mit roten Nelken auf der Straße, um an Rosa und Karl zu erinnern. Am Todestag, dem 15. Januar 2019, findet eine weitere Liebknecht-Luxemburg-Demo vom Olof-Palme-Platz zu den Gedenkorten im Berliner Tiergarten statt.
Dr. Christian G. Pätzold.

Seht bitte auch den Artikel "Die Demo zu den Gräbern von Rosa und Karl" vom 2017/01/20 auf kuhlewampe.net.

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2019/01/10

Das Rathaus der Freien und Hansestadt Hamburg

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Das Rathaus der Freien und Hansestadt Hamburg, Detail.
Fotografiert von © Dr. Christian G. Pätzold, April 2018.

Nachdem auf Kuhle Wampe bereits die Rathäuser von Rostock, Kursk, Breslau, Kassel und Bernau gezeigt wurden, folgt nun für Architekturliebhaber das Rathaus der Freien und Hansestadt Hamburg, das der Sitz von Bürgerschaft (Parlament) und Senat (Landesregierung) ist. Das Rathaus ist ein prachtvoller Bau im Stil der Neo-Renaissance, der zwischen 1886 und 1897 errichtet wurde. Der Turm ist 112 Meter hoch, weswegen er auf das Foto oben nicht ganz gepasst hat. Das Rathaus ist 111 Meter breit. Es wurde zu großen Teilen aus dem Sandstein des Elbsandsteingebirges in Sachsen gebaut.
Als freie Bürger wollten sich die Hamburger an den Republiken der Renaissance orientieren, und nicht an den Stilen der Gotik oder des Barock. Denn die Hamburger Bürger des 19. Jahrhunderts waren noch von deutschen feudalistischen Monarchien umgeben. Zur Zeit der Renaissance im 16. Jahrhundert erlebte das Bürgertum in Deutschland einen gesellschaftlichen Aufstieg, so dass seine Stellung gegenüber dem Adel verbessert wurde. Hamburg war seit alten Zeiten eine Freie Reichsstadt.
Dr. Christian G. Pätzold.

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2019/01/07

Tagebuch 1973, Teil 30: Zur afghanischen Grenze

Dr. Christian G. Pätzold

mashad
Heiliges Mausoleum von Hazrat Imam Reza in Mashad.
Im Jahr 817 wurde Imam Reza, ein Nachkomme Mohammeds, in Mashad vergiftet. Seine Grabmoschee ist seitdem, wie die ganze Stadt, ein schiitisches Heiligtum.
Quelle: Wikimedia Commons. Foto von 2005. Die schwarz umhüllten Menschen sind Frauen.
Das war auch schon zu Schahzeiten so.

12. September 1973, Fahrt zur afghanischen Grenze, Mittwoch

Mashad ist die Hauptstadt der persischen Provinz Khorasan. Ganz nahe liegen die Turkmenische Sozialistische Sowjetrepublik sowie Afghanistan. Viele schiitische Pilger kamen zum heiligen Schrein von Emam Reza im Zentrum von Mashad.
Wir sind am Morgen zum Türkishändler gegangen, der angeboten hatte, eine Moscheebesichtigung zu organisieren. Wir gingen zur Moschee und unser Führer knöpfte jemandem einen Chador ab. Mit dem Chador verhüllt konnte meine Reisepartnerin in die Moschee. Ich durfte als Ungläubiger nicht rein, da man mich nicht unter einem Chador verhüllen konnte. Ich fand des etwas unlogisch, denn meine Reisepartnerin war ja auch eine Ungläubige. Aber Logik und Religion haben nicht unbedingt etwas miteinander zu tun. Unter dem Chador soll es übrigens entsetzlich heiß gewesen sein.
Anschließend habe ich ein Päckchen nach Deutschland für 50 Rial per Einschreiben abgeschickt. Der Zoll war gleich im Postamt, vermutlich wegen der Edelsteine, aber es gab nur unsere Stadtpläne anzukucken (die übrigens angekommen sind und die ich immer noch habe). Neben den Moscheebesichtigungen und dem Türkisverkauf gab es in Mashad noch den Teppichverkauf als dritten Wirtschaftszweig.
Um 14 Uhr sind wir mit dem Bus zur Grenze abgefahren. Er war bis jetzt der schmutzigste und engste Bus auf meiner Reise. In dieser Gegend gab es viele Menschen mit mongolischen Gesichtszügen, wahrscheinlich Turkmenen oder Usbeken. Um 19 Uhr abends kamen wir an der iranischen Grenze an. Alle Reisenden wurden ohne Schwierigkeiten beim iranischen Zoll abgefertigt. Aber auf der afghanischen Seite erlebten wir einige Überraschungen. Erstens waren in unserem Bus zwei Schweden, denen man nicht gesagt hatte, dass sie ein afghanisches Visum brauchen, die aber schon aus dem Iran herausgestempelt waren. Sie standen jetzt praktisch im Niemandsland der Wüste und ich weiß nicht, was mit ihnen passiert ist. Dann standen wir auf der afghanischen Seite mitten in der Wüste. Ein Reisender sagte, hoffentlich kommt ein Auto, er hätte schon stundenlang vergeblich auf ein Fahrzeug gewartet. Aber dann erschien doch ein Minibus, um uns, wie wir meinten, nach Herat zu bringen. Der übliche Fahrpreis war uns bekannt, aber der Fahrer verlangte das Doppelte. Wir sagten, wir hätten kein afghanisches Geld, da hielt er mit dem Bus mitten in der Wüste und drohte damit, uns rauszuschmeißen. Wir einigten uns schließlich darauf, dass wir bei nächster Gelegenheit Geld wechseln und ihn bezahlen würden. Nach kurzer Fahrt hielt der Bus aber schon wieder.
Hier war also die afghanische Grenze. Wie sich aber herausstellte, war sie schon geschlossen, denn es war schon nach sieben Uhr abends. Wir waren leicht sauer aber es blieb uns nichts anderes übrig, als die Dienste eines so genannten Hotels in Anspruch zu nehmen, das sich der armen Gestrandeten erbarmte, aber in Wirklichkeit wohl eher abfing und abschröpfte. Die Zustände an der afghanischen Grenze waren schon recht abenteuerlich und korrupt.
Auf einer lausigen Terrasse saßen noch andere Reisende und stopften irgendwelches Essen in sich hinein. Man erzählte, dass kurz hinter der Grenze ein Mercedes stehe, dessen Besitzer wegen Rauschgiftschmuggels im Gefängnis sitze. Ich habe Geld in einer Bankstelle gewechselt, die abenteuerlichste Wechselstelle, die ich bis dahin gesehen hatte. Immerhin hing ein Foto vom neuen Präsidenten an der Wand. Mit Kugelschreiber geschrieben hing ein Zettel am Tresor: "Welcome to Republic of Afghanistan". Afghanistan war jetzt eine Republik. Der Wechselkurs war natürlich getürkt: 1 DM zu 20 Afghani. Das Bett im 4-Bett-Zimmer kostete 20 Afghani nach Verhandeln. Zum Abendessen hatte ich Reis mit Bulette für 15 Afghani, die Teekanne mit drei Gläsern kostete 3 Afghani. Wir haben grünen Tee getrunken, gemäß der Maxime: "Abwarten und Tee trinken".
Ein Afghane, der Geld mit dem Autohandel nach Afghanistan machte, sagte, dass der neue Präsident, Mohammed Daoud Khan, ein Vetter von dem alten König sei, und dass er die Macht übernommen habe, als der König zur Kur in Italien weilte. Er habe den Putsch mit vierzig Mann durchgeführt. Er sagte, der Präsident wolle etwas verbessern, Korruption und Kriminalität bekämpfen. Man könne jetzt keinen mehr gegen Geld aus dem Gefängnis holen. Der alte König habe das ganze Geld eingesackt und wahrscheinlich ins Ausland geschafft.
Ich fürchtete nachts, dass Ratten oder ähnlich angenehme Wüstenbewohner im Zimmer herumkrauchen würden, in dem es kein elektrisches Licht gab. Um 11 Uhr abends ging an der Grenze das Licht aus. Es ist nichts passiert.

Ausgaben im Iran pro Person für 16 Tage (28. August bis 12. September 1973):
40,- DM Fahrtkosten, 60,- DM Übernachtung, 100,- DM Essen und Sonstiges = 200,- DM.

Rückblick Januar 2019:

Ich hatte jetzt also das Kaiserreich Persien verlassen, ein Land mit vielen freundlichen Menschen, mit köstlichen Pistazienkernen und Granatäpfeln, mit wunderschönen und geheimnisvollen Perserteppichen. Am meisten bewundert habe ich in Persien die bunten Basare, die Teppichknüpfkunst und die persische Architektur in Isfahan. Der Gegensatz und der Widerspruch zwischen islamistischer Tradition der Massen einerseits und bemühter Modernität der Staatsführung andererseits waren sehr groß. Die Perserkatze kommt übrigens nicht aus Persien, sondern stammt von der russischen Hauskatze ab. Nachdem die Ayatollahs 1979 die Macht in Persien übernommen hatten, war ein Reisen in Persien kaum noch möglich. Jetzt im Jahr 2019 herrschen die Ayatollahs zwar immer noch, aber man hört immer öfter, dass wieder westliche Touristen durch Persien reisen.
Hier noch eine orientalische Schauergeschichte aus einem Reiseführer: Im Jahre 1794 kam Aga Mohammad Qajar nach Kerman und ließ dort die Augen von 20.000 Einwohnern herausreißen, weil diese Städter seinem Widersacher Schutz geboten hatten. Außerdem ließ er weitere 20.000 in die Sklaverei verkaufen. Die Augen, also 40.000, soll dieser Potentat übrigens eigenhändig gezählt haben, was mir allerdings, wegen der damit verbundenen Mühe, wenig wahrscheinlich vorkommt.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2019.

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jubilaeum500

2019/01/05

Tagebuch 1973, Teil 29: Mashad

Dr. Christian G. Pätzold

11. September 1973, Mashad, Dienstag

Am Morgen, bei Sonnenaufgang, hielt unser Reisebus an einem Gewässer (wir sind über Nacht gefahren). Die persischen Mitreisenden haben sich im Fluss gewaschen, haben ihre Gebetsteppiche in den Straßenstaub gelegt und in Richtung Mecca gebetet. Ich war froh, dass ich als Ungläubiger nicht 5 Mal am Tag beten musste. Wahrscheinlich waren auch Pilger nach Mashad im Bus, denn Mashad ist eine heilige Stadt, manche waren aus Kermanshah.
Um 9 Uhr vormittags sind wir in Mashad angekommen. Ein Student, der wie Cliff Richard aussah, hat uns zum Seraye Golshan Mosque Circle gefahren. Dort haben ich Geld getauscht. Wir wurden von einem Verkäufer einer "Türkisfabrik" angesprochen, der uns in seinen Laden abgeschleppt hat. Es gab hellblaue und hellgrüne Türkise, die hier in der Gegend gewonnen wurden. In Afghanistan sollte es dann billiges Silber zum Fassen geben. Der Türkisverkäufer war ein hundertprozentiger Händler, er kaufte und verkaufte auch Gold. Auf meiner Reise um die Welt wurden mir an verschiedenen Orten verschiedene Edelsteine angeboten. Ich habe aber nie Edelsteine gekauft, weder Türkise in Mashad, noch Rubine in Agra in Indien, noch Amethyste oder Topase in Ouro Preto in Brasilien. Teilweise war es mir dubios, denn ich hatte damals keine Ahnung von Edelsteinen und wäre daher auf Fälschungen reingefallen. Und andererseits war es mir einfach zu umständlich, auf der Reise auch noch auf Edelsteine aufpassen zu müssen.
Wir sind zur Khavartour-Bus-Gesellschaft gefahren, der Bus kostete 70 Rial nach Taybad und 100 Rial bis zur afghanischen Grenze. Wir haben einen Platz im Camping für 30 R bekommen, Laken kostete 10 R mehr, Vierbettzelt.

Rückblick Januar 2019: Der 11. September 1973: Der Tod von Salvador Allende in Santiago de Chile.

Der 11. September 1973 brachte mit dem Tod von Salvador Allende ein welthistorisches Ereignis. Von dem Militärputsch in Chile habe ich einige Tage später durch die Presse in Afghanistan erfahren. Anführer des Putsches war General Augusto Pinochet. Salvador Allende befand sich im Präsidentenpalast La Moneda in Santiago de Chile. Während des Ansturmes der Putschisten soll er sich dort selbst getötet haben (laut Wikipedia), was aber immer wieder bezweifelt wurde und was auch ich für sehr unwahrscheinlich halte. Wahrscheinlicher ist, dass Salvador Allende von den Putschisten erschossen wurde. Mit dem Tod von Salvador Allende endeten die Regierung der Unidad Popular und der Sozialismus in Chile. General Augusto Pinochet blieb von 1973 bis 1990 in Chile an der Macht.
Der Militärputsch in Chile war von den USA massiv unterstützt worden, denn Allende war ein Marxist und Freund der Sowjetunion. Die USA sahen durch ihn ihren Einfluss in Süd-Amerika schwinden. Als ich von dem Putsch hörte, hatte ich diesen Ausgang schon irgendwie befürchtet. Ich hatte schon den Eindruck gehabt, dass die Regierung in Chile zu schwach war. Außerdem schien sie sich zu weigern, die Arbeiter zu bewaffnen als Gegengewicht zum Militär, so dass sie schließlich unter dem Druck des Militärs stürzen musste.
Viele Chilenen wurden damals vom Militär ermordet und viele mussten ins Ausland fliehen. In den späten 1970er Jahren und in den 1980er Jahren hatte ich chilenische Freunde, die in West-Berlin lebten. Sie waren über Rumänien nach West-Berlin geflüchtet.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2019.

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2019/01/03

kuhlewampe1
Film »Kuhle Wampe« mit Ernst Busch und Hertha Thiele,
Berlin 1932.

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2019/01/01

Willkommen zum 5. Jahrgang!

Dr. Christian G. Pätzold

Dank der Kreativität der AutorInnen von kuhlewampe.net gab es im vergangenen Jahr 2018 noch mehr Text zum Lesen als in 2017. Gleichzeitig ist auch die Anzahl der Besuche bei Kuhle Wampe erheblich gestiegen. In 2018 registrierte Kuhle Wampe insgesamt 70.541 Besuche (Visits). Das ist doch schon eine schöne Anzahl, wenn man bedenkt, dass sich Kuhle Wampe über Mundpropaganda verbreitet hat. Na ja, Teenagerinnen, die Make-Up-Videos auf YouTube posten, haben manchmal 73.000 Follower. Man muss bescheiden sein. Seht bitte auch den Artikel "Was ist ein Blog?", der am 2018/11/12 auf Kuhle Wampe erschienen ist.
Das abgelaufene Jahr stand sehr im Zeichen wichtiger Gedenktage: 200. Geburtstag von Karl Marx im Mai, 120. Geburtstag von Bertolt Brecht, 100. Jahrestag der Novemberrevolution, und 50 Jahre 1968. Viele Beteiligte an 68 sind inzwischen gestorben. Im letzten Mai sind Elmar Altvater und Dieter Kunzelmann gestorben und Kuhle Wampe hat an sie erinnert. In 10 Jahren zum 60. Jubiläum werden wohl nur noch sehr wenige Zeitzeugen vorhanden sein. Die Beiträge des vergangenen Jahres sind über die Schaltfläche "Archive" im Kopf dieser Seite erreichbar.
Im letzten Jahr gab es auch als eine Neuheit auf Kuhle Wampe das Kommentarfeld, das über die Schaltfläche "Kommentare" im Kopf dieser Seite erreichbar ist. Es trafen zwar ein paar Kommentare ein, aber als Autor wünscht man sich ja meist etwas mehr Resonanz. Daher würde ich mich freuen, wenn ihr als LeserInnen auch mal einen Kommentar im Kommentarfeld abschicken würdet. Dann schläft die Kommentarseite hoffentlich nicht ein.
In diesem Jahr ist schon als wichtiges Thema das 100. Jubiläum des Bauhauses im April absehbar. Dann wird es um Designgeschichte, Architekturgeschichte und ästhetisch-politische Fragen gehen. Auch die Umstürze im November vor 30 Jahren in der DDR und in der Sowjetunion werden berücksichtigt werden. Und auch das World Wide Web gibt es seit 30 Jahren, eine schöne Erfindung, durch die kuhlewampe.net auf der ganzen Welt gelesen werden kann.
Ein Tipp für Alle, die den Film Kuhle Wampe von 1932 noch nicht gesehen haben: Ihr könnt ihn bequem bei YouTube im Internet anschauen. Einfach im Suchfeld "Kuhle Wampe" eingeben! Der Film dauert 1 Stunde und 8 Minuten. Aufgrund der Zensurmaßnahmen des damaligen Staates sind allerdings leider einige Szenen verloren gegangen.
Ihr habt wahrscheinlich schon gemerkt, dass das Hintergrundbild verändert ist. An der Stelle des tropischen Baumfarns vom letzten Jahr befindet sich jetzt eine orange blühende Azalee, die ich im Mai im Botanischen Garten Berlin Dahlem fotografiert habe. Die Azaleen halten auch das deutsche Klima aus und können im Freiland überleben. Azaleen und Rhododendren gehören zur Familie der Heidekrautgewächse (Ericaceae), sie sind auch als Alpenrosen bekannt. Die Azaleen verlieren im Winter ihre Blätter, die Rhododendren nicht. Sie lieben einen feuchten Boden. Azaleen und Rhododendren sind als Gartenpflanzen sehr beliebt, da sie wunderschöne Blüten in vielen Farben haben, gelb, orange, rot, blau, weiß etc. Teilweise haben sie auch attraktive Blätter.
Ich freue mich, wieder allen danken zu können, die im vergangenen Jahr einen lebendigen Blog pro bono publico möglich gemacht haben:
art kicksuch, Dr. Karin Krautschick, Ferry van Dongen, Dr. Wolfgang Endler, Dr. Hans-Albert Wulf, Georg Lutz, Manfred Gill, Anna Gerstlacher, Jenny Schon, Peter Hahn, Jürgen Stich, Ella Gondek, Kathrin von Loh, Yini Tao, Dr. Jörg Später, Karl Martin Hölzer/Carlos, Cornelia Becker und Dr. Rudolf Stumberger. Ich wünsche allen ein erfolgreiches 2019!

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