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Archiv 2020

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Themen des Jahres 2020


Großes Autorenfoto: Ingo CesaroGisela Gülpen2020/12/25
Großes Autorenfoto: Rudolph BauerTizian Bauer2020/12/22
Liste wahrer Sätze2020/12/21
Kerzen an der GedächtniskircheJenny Schon2020/12/19
tec art carpetart kicksuch2020/12/17
Der Teufel als ExorzistDr. Wulf2020/12/14
Fahrradpfade2020/12/11
Trampoline bluesWolfgang Weber2020/12/08
Das eiserne KreuzHeinrich Zille2020/12/05
»Looping« von Ursula SaxPeter Hahn &
Jürgen Stich
2020/12/02
200. Geburtstag von Friedrich EngelsDr. Pätzold2020/11/28
Alternative NobelpreisträgerInnen 2020Right Livelihood
Foundation
2020/11/26
Obdachlose in Berlin MitteDr. Pätzold2020/11/23
AusgestiegenIngo Cesaro2020/11/20
Blutrot, Mitte der sechziger JahreProf. Dr. Bauer2020/11/17
Eine Esskastanie in CottbusElla Gondek2020/11/14
StrandgutSabine Rahe2020/11/11
Der letzte SchultagMarkus R Seifert2020/11/08
MatroseWladimir J. Tatlin2020/11/05
»Der proletarische Blick«Dr. Pätzold2020/11/02
Corona TagesablaufDr. Pätzold2020/10/29
Rebellion im HimmelDr. Wulf2020/10/26
Victor Klemperer und Heimrad BäckerDr. Krautschick2020/10/23
ParteigeschichteProf. Dr. Bauer2020/10/20
»Eine Hand voll Glück«Ingo Cesaro2020/10/17
Kein Mohr namens GlinkaMarkus R. Seifert2020/10/14
Fotos aus AgraDr. Pätzold2020/10/11
Tagebuch 45: AgraDr. Pätzold2020/10/08
Fotos aus JaipurDr. Pätzold2020/10/05
Tagebuch 44: JaipurDr. Pätzold2020/10/02
Holz Würfel RapWolfgang Weber 2020/09/27
MomentumSabine Rahe2020/09/25
Sonnenuntergang in BerlinDr. Pätzold2020/09/22
Kommentar zum Berliner StadtschlossDr. Pätzold2020/09/19
Wirklich nur Humboldt-Forum?Markus R. Seifert2020/09/16
Untergegangene SätzeIngo Cesaro2020/09/13
»Zur Unzeit, gegeigt«Prof. Dr. Bauer2020/09/10
Sommer mit den Beach BoysWolfgang Weber2020/09/06
Wahlsieg der Unidad Popular in ChileDr. Pätzold2020/09/03
Karl Marx Witz2020/08/30
Zum 250. Geburtstag von HegelDr. Pätzold2020/08/27
Hegel und die deutsche ArbeiterbewegungDr. Wulf2020/08/23
Thomas Münzer, Teil 2Friedrich Engels2020/08/20
Thomas Münzer, Teil 1Friedrich Engels2020/08/17
Eben nochSabine Rahe2020/08/14
BildmontagenProf. Dr. Bauer2020/08/11
Sommertage in AfghanistanIngo Cesaro2020/08/08
Die Korallen-BegonieElla Gondek2020/08/05
Christo gestorbenDr. Pätzold2020/08/02
Rudis 80. GeburtstagPeter Hahn &
Jürgen Stich
2020/07/27
BildmontagenProf. Dr. Bauer2020/07/24
Immer nur Vorfreude?Markus R. Seifert2020/07/21
Stockrosenzeit2020/07/19
Rummelplatz DosenwerfenDr. Pätzold2020/07/18
Ein weiches HerzIngo Cesaro2020/05/15
Wasser ist kostbarDr. Pätzold2020/07/12
Joachim Ringelnatz oder Hans Bötticher?Markus R. Seifert2020/07/09
KakteenblüteElla Gondek2020/07/06
Tagebuch 42: LahoreDr. Pätzold2020/07/04
Tagebuch 41: LahoreDr. Pätzold2020/07/02
Mitteilung des HerausgebersDr. Pätzold2020/07/01
Erste Internationale DADA-Messe2020/06/27
Die Hölle auf Erden im FrühkapitalismusDr. Wulf2020/06/24
Brandenburgisches Konzert Nr. 1J. S. Bach2020/06/21
WattSabine Rahe2020/06/18
Wattwanderung in Wangerooge2020/06/17
RhabarberDr. Pätzold2020/06/15
Wir kämpfenIngo Cesaro2020/06/12
Die Bremer StadtmusikantenGerhard Marcks2020/06/09
Neues aus der Welt der FlacherdlerDr. Wulf2020/06/06
Die RobinieDr. Pätzold2020/06/02
Zitronengelb blühender RhododendronElla Gondek2020/05/27
The Giant's HeadSusan Hill2020/05/24
Ermordung von Hans PaascheDr. Pätzold2020/05/21
Corona BildmontagenProf. Dr. Bauer2020/05/19
Ohne müde zu werdenIngo Cesaro2020/05/16
15 Jahre Holocaust-Mahnmal in BerlinDr. Pätzold2020/05/12
300. Geburtstag des Baron MünchhausenDr. Pätzold2020/05/11
Hans Baluscheck zum 150. GeburtstagBröhan-Museum2020/05/09
75. Jahrestag der Befreiung vom Fachismus2020/05/08
»China, die Welt und wir« von Prof. Dr. BauerDr. Pätzold2020/05/04
Grüße zum 1. Mai2020/05/01
FliederzeitDr. Pätzold2020/04/29
go slow updateWolfgang Weber2020/04/28
Corona und die FolgenMarkus R. Seifert2020/04/25
zum 150. Geburtstag von LeninDr. Pätzold2020/04/22
»Utopie konkret« von Dr. StumbergerDr. Wulf2020/04/18
dada pasticheWolfgang Weber2020/04/15
Die LadenzeitungMarkus R. Seifert2020/04/12
Die SchülerzeitungMarkus R. Seifert2020/04/09
Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE)2020/04/08
Tagebuch 40: LahoreDr. Pätzold2020/04/06
Tagebuch 39: IslamabadDr. Pätzold2020/04/02
März 1920Prof. Dr. Bauer2020/03/29
COVID-192020/03/28
Beton City oder Garden City?Dr. Pätzold2020/03/26
gesternluke sonnenglanz2020/03/23
FrühlingsanfangDr. Pätzold2020/03/20
Hamstereinkauf2020/03/18
Sicherer Wohnraum für Alle!2020/03/17
Besoffen bei LeydickeDr. Pätzold2020/03/14
TodesstrafeIngo Cesaro2020/03/11
Internationaler Frauentag2020/03/08
Deutsche Panzer gegen KurdenProf. Dr. Bauer2020/03/05
Ende GeländeProf. Dr. Bauer2020/03/02
ZwetschenDr. Pätzold2020/02/26
Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips«Dr. Pätzold2020/02/23
Schon mal älter geworden?Markus R. Seifert2020/02/20
Free Julian Assange Now!Prof. Dr. Bauer2020/02/17
Faul: Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft, Teil 2Dr. Wulf2020/02/14
Faul: Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft, Teil 1Dr. Wulf2020/02/11
Erinnerung an Hatun SürücüDr. Pätzold2020/02/07
Hannes Wader, VolkssängerDr. Pätzold2020/02/05
Zentrum für Politische SchönheitDr. Pätzold2020/02/02
Friedrich PollockDr. Später2020/01/28
HolocaustgedenktagManfred Gill2020/01/27
All the world's a stageWilliam Shakespeare2020/01/25
Ausländer nicht erwünschtIngo Cesaro2020/01/22
Häuserluke sonnenglanz2020/01/19
Tagebuch 38: TaxilaDr. Pätzold2020/01/16
Tagebuch 37: Von Peshawar nach RawalpindiDr. Pätzold2020/01/12
Rio ReiserDr. Pätzold2020/01/09
Stillleben mit KaffeekochernDr. Pätzold2020/01/07
Peace for FutureProf. Dr. Bauer2020/01/04
Willkommen in den ereignisreichen 20er JahrenDr. Pätzold2020/01/01

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2020/12/25

Großes Autorenfoto: Ingo Cesaro, Kronach


ingocesaro
Fotografiert von Gisela Gülpen.
Ingo Cesaro in der Werkstatt beim Drucken von Plakatgedichten auf Papier und Stoff.


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2020/12/22

Großes Autorenfoto: Prof. Dr. Rudolph Bauer, Bremen


rudolphbauer
Fotografiert von Tizian Bauer.


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2020/12/21

wahresaetze

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2020/12/19

jennyschon

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2020/12/17

art kicksuch
tec art carpet


artkicksuch01-tec-art-carpet
© Art Kicksuch, Dezember 2020.


Pix aus dem Hause Art Kicksuch, bunte und unbunte Destillate via Textedit (Schreibprogramm von Mac), die final pdf-isiert wurden.


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2020/12/14

Dr. Hans-Albert Wulf
Der Teufel als Exorzist


teufelbusch
Wilhelm Busch: Der heilige Antonius von Padua, 1870.


Nun war es bereits drei Jahre her, seit der Teufel an die Pforte des Benediktinerklosters Rudolfzell geklopft und um Einlass gebeten hatte. Man hatte ihn erst einmal verköstigt und dann dem Abt vorgeführt. Wer er denn sei und woher er komme, wollte dieser wissen. Sein Name sei Martin Gräbner und er sei bei einer gräflichen Herrschaft als Hauslehrer angestellt gewesen und habe dort die Kinder unterrichtet. Nachdem der Graf von einer Reise zurückgekehrt war, bezichtigte er ihn, dass er in seiner Abwesenheit mit der Gräfin ein Techtelmechtel angefangen habe, was natürlich ein barer Unfug war. Und so wurde er denn mit Schimpf und Schande fortgejagt und wanderte seit einigen Wochen durchs Land auf der Suche nach einer neuen Stelle.
Der Abt lehnte sich zurück und fragte den Fremden, wie lange er denn zu bleiben gedenke. Solange man ihn ertragen könne, entgegnete dieser. Und er sei auch gerne bereit, im Kloster anfallende Arbeiten zu übernehmen. Dies sei ja wohl auch Vorschrift in einem Benediktinerkloster. Man solle ihm nur ordentlich Arbeiten auftragen, er wolle sie alle gewissenhaft erledigen.
Der Abt musterte ihn von Kopf bis Fuß und erklärte dem Fremden, dass er für eine körperliche Arbeit im Feld oder im Garten wohl kaum in Frage komme, da er entschieden zu knöchern und zu spirrelig sei. Er wolle aber die Sache zunächst überschlafen. Am nächsten Morgen hatte der Abt einen Entschluss gefasst. Martin solle dem alten Klosterbruder Antonius in der Bibliothek zur Hand gehen. Mit seinem großen Kopf und krummem Rücken sei er für eine geistige Arbeit geradezu prädestiniert. In der Klosterbibliothek gab es allerhand zu tun und der Teufel wurde bald wegen seines Fleißes von den anderen Klosterbrüdern allseits geschätzt und anerkannt. Und so ging denn das klösterliche Leben seinen geruhsamen Gang. Doch dann geschahen eigenartige Dinge, die man mit dem Schmied des Klosters in Verbindung brachte.
Der Schmied war ein unheimlicher hünenhafter Kerl, dessen Haupt von einer veritablen Glatze gekrönt war. Da er abgeschieden von den Mönchen lebte und arbeitete, gab es zu ihm kaum einen Kontakt und dies war der Nährboden für allerhand Gerüchte, die über ihn im Umlauf gebracht wurden. Er war vor einigen Jahren als junger Mann vom Norden her nach Süddeutschland gekommen. Und da er gelernter Schmied war, hatte man ihm hier im Kloster Rudolfzell die Stelle des Hufschmieds angeboten. Seine Aufgaben lagen in allem, was mit den klösterlichen Pferden zu tun hatte.

Seiner Arbeit ging er mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit nach. Aber mit der Religion nahm er es nicht so genau. So blieb er meistens dem sonntäglichen Gottesdienst fern, wodurch sein Außenseitertum im Kloster nicht gerade verringert wurde. Er stammte aus dem Hessischen in der Nähe von Kassel. Und dort herrschte damals eine andere christliche Religion, der Protestantismus oder das Luthertum. Und da man dies bei den katholischen Benediktinern für schlimmes Teufelszeug hielt, wurde bald getuschelt, der Schmied sei mit dem Teufel im Bunde.
Der Schmied war ein cholerischer Kerl. Er fluchte, schimpfte und brüllte. was das Zeug hielt. Man konnte ihn nicht immer genau verstehen, weil er ja von Haus aus einen Dialekt sprach, den die Bayern nicht kannten. Man war sich bald einig, dass seine Herumbrüllereien nichts anderes als gotteslästerliches Zeug sein konnten. Und hierüber kursierten im Kloster die irrsinnigsten Geschichten. Der Schmied habe Gott als einen alten zahnlosen Tattergreis beschimpft. Und unseren Herrn Jesus habe er als herumvagabundierenden Taugenichts verunglimpft.
Aber ganz verrückt war ein Gerücht, das ein paar besonders boshafte Mönche tuschelnd in Umlauf brachten. Man habe den Schmied dabei beobachtet, wie er auf seinem Amboss metallene Kruzifixe mit dem gekreuzigten Jesus zertrümmert und dann im Garten vergraben habe. All diese Geschichten waren natürlich völlig aus der Luft gegriffen und entsprangen der Fantasie und Langeweile der Mönche.
Als diese bizarre Geschichte dem Abt des Klosters zu Ohren kam, war der tief besorgt und rief die Mönche nach dem Mittagsgebet zusammen. Vor allem gehe es darum, die Angelegenheit nicht an die große Glocke zu hängen und damit dem Ruf des Klosters zu schaden. Ganz zweifellos sei der Schmied vom Teufel besessen. Und die einzige Möglichkeit, so der Abt, bestehe darin, den Schmied einem Exorzismus, einer Teufelsaustreibung, zu unterziehen. Die Prozedur müsse sofort und innerhalb der Klostermauern vollzogen werden. Nach den Regeln der katholischen Kirche müsse der Exorzismus von einem vom Bischof bestimmten Priester vorgenommen werden. Aber in der Not könne auch ein Mönch als Exorzist fungieren. Ob denn einer von den anwesenden Mönchen den Mut aufbringe, diese Aufgabe zu übernehmen? Großes Schweigen. Als der Abt die Einzelnen fragte, kam heraus, dass die meisten das Ritual nur vom Hörensagen kannten und sich seine Ausübung überhaupt nicht zutrauten. Andere wiederum gaben unumwunden zu, dass sie eine gehörige Portion Angst hätten, dass der dem Schmied ausgetriebene Teufel von ihnen selbst Besitz ergreifen könnte. Als es keine Lösung des Problems zu geben schien, ergriff der Teufel, der die ganze Zeit in der hintersten Ecke vor sich hin geschwiegen hatte, das Wort. Er verfüge zwar auch über keine Exorzistenausbildung, habe in seinem Leben aber verschiedentlich einem Exorzismus beigewohnt. Außerdem seien ihm bei seiner Bibliotheksarbeit gelegentlich Bücher über diese Prozedur in die Hände gefallen. Insofern traue er sich zu, wenn Not am Mann sei, dem Schmied den Teufel auszutreiben. Nach dieser Rede machte sich allenthalben Erleichterung breit. Bruder Martin gehörte zwar erst wenige Jahre der klösterlichen Gemeinschaft an, hatte sich aber, wie auch hier, immer wieder als ausgesprochen nützlich und hilfreich erwiesen. Und nach dem gemeinsamen Nachtgebet gingen die Mönche guten Mutes schlafen.

Am nächsten Morgen wurde der Schmied in die Klosterkirche hineingeführt. Er war in seiner Wut nur schwer zu bändigen und musste deshalb von zwei kräftigen Brüdern festgehalten werden. Der als Exorzist ausgewählte Bruder Martin, alias der Teufel selbst, waltete nun seines Amtes. Zunächst besprengte er den Schmied mit Weihwasser und schlug drei Kreuze über ihn. Anschließend rezitierte er aus der von der katholischen Kirche hierfür bestimmten Textformel, die er allerdings vom Blatt ablas: "Gott, du Schöpfer und Verteidiger des Menschengeschlechtes, schaue auf diesen deinen Diener, den du nach deinem Bild geformt hast und zur Teilhabe an deiner Herrlichkeit berufst: Der alte Feind quält ihn grausam, er unterdrückt ihn mit roher Gewalt, er verwirrt ihn mit furchtbarem Schrecken. Sende über ihn deinen Heiligen Geist." Und schließlich greift er den Teufel resp. Satan frontal an: "Satan, Betrüger des Menschengeschlechtes, erkenne an den Geist der Wahrheit und der Gnade, der deine Nachstellungen abwehrt und deine Lügen zuschanden macht: Fahr aus von dem Besessenen."
Bei alldem schimpfte und fluchte der Schmied laut vor sich hin und versuchte, sich von den zwei Brüdern, die ihn festhielten, immer wieder loszureißen. Nicht er sei vom Teufel besessen, sondern der Teufel habe sich hier in diesem Kloster, dieser Brutstätte des römischen Katholizismus, eingenistet und man solle sich daranmachen ihn, den Teufel, gemeinsam hier zu suchen. Und dieser so genannte Teufelsaustreiber hier, dieser Bruder Martin, der ihn unablässig quäle, könne hierüber sicherlich genauere Auskunft geben.
Der Teufel erbleichte, las dann aber unverdrossen weitere Teufelsbeschwörungsverse vor. Die Prozedur zog sich jetzt schon über eine Stunde hin. Und es machte sich allseits eine gewisse Ermattung breit. Auch der Teufel selbst zeigte erste Ermüdungserscheinungen bei seinen fortdauernden Gebeten und Rezitationen. Und auch der Schmied hatte genug vom Poltern und Herumbrüllen und gab sich nun geradezu handzahm. Man war sich einig, dass dies nun endlich ein Zeichen gelungener Teufelsaustreibung sei. Man schickte Dankgebete zu Gott und ging allseits wieder zur Tagesordnung über. Für seinen wagemutigen exorzistischen Einsatz dankte der Abt dem Teufel, alias Bruder Martin, und ernannte ihn zum Klosterbevollmächtigten für Glaubensfragen.

Postscriptum

Das Ritual des Exorzismus gibt es in der katholischen Kirche seit 1614. In unserer modernen technisierten Gesellschaft ist es jedoch selten geworden. Aber es gibt sie immer noch, jene spektakulären Fälle gewaltsamer Teufelsaustreibung, in deren Folge Opfer dieses Rituals sogar zu Tode kommen. Dessen ungeachtet betrachtet Papst Franziskus den Einsatz von Exorzisten als unverzichtbar und im Jahre 2014 erkannte er die "Internationale Vereinigung der Exorzisten" an.

Die Beschäftigung mit dem Teufel und der Teufelsaustreibung hat heute noch weitere Formen angenommen. In dem katholischen Informationsdienst "Domradio.de" findet sich ein Interview mit dem Professor für katholische Theologie Thomas Ruster unter dem Titel "Der Diesel, VW und das Böse" und darin fährt der Professor schweres Geschütz auf:
"Für mich ist das Böse etwa in Deutschland in der Firma VW und dem Dieselskandal beheimatet. Denn das finde ich richtig böse, einen Motor herzustellen, der die Umwelt stark belastet und danach noch zu lügen und zu betrügen. Das ist das Böse und das Böse ist vertreten durch die Unternehmensleitung, die mit dem Teufel im Bunde steckt." Und dies, so Ruster, sei eine moderne Form der Besessenheit, "sodass ein Exorzismus bei VW gar nicht schlecht wäre." Ob dies der Beginn einer katholischen Form der Kapitalismuskritik ist, wird sich zeigen.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Dezember 2020.

Dieser Text entstammt dem Buch »Plädoyer für den Teufel. Ein Freispruch auf Erden«.
Das Buch erscheint Ende 2021 im Buchhandel.
Der Klappentext zum Buch lautet:

Ein Viertel aller Deutschen glaubt nach wie vor an einen leibhaftigen Teufel. Und das Oberhaupt der weltweit 1,2 Milliarden Katholiken Papst Franziskus führt einen beharrlichen Kampf gegen den Teufel, dem er mit Teufelsaustreibungen zu Leibe rückt. Durch die Coronapandemie hat der Teufelsglaube weitere Aktualität gewonnen.

In den traditionellen Vorstellungen gilt der Teufel gemeinhin als Verkörperung alles Bösen und als der allmächtige Höllenfürst und universelle Herrscher, der für alles Übel in der Welt verantwortlich ist; für Hungersnöte, Pestilenzen und Kriege. In meiner Geschichte ist der Teufel dagegen der vom Himmel gestürzte Erzengel Luzifer, der nun etwas ratlos durch die Menschenwelt irrt. In meinem Plädoyer werde ich den Teufel auf seinen fiktiven irdischen Wanderungen begleiten und ihn von all dem Elend der Welt freisprechen, das ihm angedichtet wird. Denn es sind ja bekanntlich die Menschen selbst, die all den Horror auf unserem Planeten angerichtet haben. Der Teufel ist da nur eine billige Ausrede.

Auf seinen Wanderungen erlebt unser erdichteter Teufel all die Abstrusitäten christlicher Rituale und Vorstellungen, mit denen er in Schach gehalten werden soll. (Teufelsaustreibung, Hölle, Beichte, Ablass, Literaturindex, Askeseübungen, Alltags- und Menschenteufel u.v.a.m.). Und bei alldem wird deutlich, welch großen Raum die Kleriker dem Teufel bemessen. Auch heute noch dient er als klerikales Druckmittel, mit dem den "sündigen Menschen" schon zu Lebzeiten die Hölle heißgemacht werden soll.


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2020/12/11

Go Slow: Fahrrad statt Flugzeug


fahrradpfade
OpenCycleMap.org von OpenStreetMap, Oktober 2020.
Gestrichelte Fahrradpfade.
Die alten Startbahnen und Landebahnen des Flughafens Tempelhof sind noch deutlich erkennbar.


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2020/12/08

Wolfgang Weber
Trampoline blues


Sturmflut / Hamburg 1962 / Nordsee / Elbe / Weser / Nebenflüsse / 16. und 17. Februar 1962 / ein Orkan löste die zweite Sturmflut / innerhalb von nur fünf Tagen aus

in der Freien und Hansestadt Hamburg / entstand eine hochdramatische Lage

nach teilweise chaotischen Abläufen / ergriff der damalige Innensenator / Helmut Schmidt die Initiative / und forderte Einsatzkräfte an / genauso genommen / überschritt er damit seine Kompetenzen

sein energisches Krisenmanagement / war der Beginn einer beispiellosen politischen Karriere / er wurde im Bundestag / auch als Schmidt Schnauze bekannt / und natürlich als / Abgeordneter / Minister und / Bundeskanzler

damals hatte meine Familie noch kein Fernsehen / das Ereignis / das uns betraf / wäre ohnehin nicht gezeigt worden

damals im Frühjahr 1962 / war ich auf dem Weg / zum Kindersport / Trampolinspringen / zum Beispiel

ich war damals acht Jahre alt / da geschah es / ich hatte grün / und wurde von einem Arzt / aus der Nachbarstadt überfahren / viel zu schnell

er behauptete später / seine Frau sei am Steuer gewesen / wir hielten das für eine Schutzbehauptung

auf jeden Fall musste ich / ins Krankenhaus / Oberschenkelhalsbruch / ein ganzes Vierteljahr war ich dort / damals war es noch üblich / dass es so lange dauerte

als sehr unangenehm empfand ich / die Narkose bei der Operation / die mich sehr benommen machte / auch da hat sich einiges geändert / ich musste wieder laufen lernen

meine Schwester durfte mich nicht besuchen / strenge Vorschriften damals / sie durfte mich nur / durch die Scheibe der Tür sehen / also aus der Ferne / meine Eltern brachten / extra einen Hocker mit / weil sie noch so klein war

das hat uns 1962 beschäftigt / Ihr ahnt / warum ich / nichts mehr mit Sport / am Hut habe

mein Bein wurde genagelt / ich hatte jahrelang Gliederschmerzen / und war wetterfühlig

das waren / meine Naturgewalten

Soundtrack dazu:

Trampoline von der Spencer Davis Group 1966 / aus dem Refrain: please don’t give me your reasons / I’ll never need them / when I’m on my trampoline
sag mir nicht warum / du weißt es / ich springe nie wieder Trampolin

geschrieben von Steve Winwood / wie auch die Rückseite der Single / When I come home / ganze zwei Minuten lang / bei mir hat es ein Vierteljahr gedauert

dieser Text ist Spencer Davis gewidmet, er starb am 19. Oktober 2020 mit 81 Jahren

© Wolfgang Weber, Dezember 2020.


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2020/12/05

Heinrich Zille (1858-1929)
Das eiserne Kreuz, 1916


zille


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2020/12/02

»Looping« von Ursula Sax

von Peter Hahn & Jürgen Stich


looping
Plastik »Looping« von Ursula Sax, 1992, am Messegelände in Berlin Westend.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2020.


Die gelbe Spirale stiehlt dem Berliner Funkturm etwas die Show. 19 Meter ragt die Skulptur aus dem Erdboden heraus und überspannt eine Distanz von 50 Metern. Das Kunstwerk namens Looping besteht aus Stahlrohr mit einem Durchmesser von 40 Zoll, ist 130 Meter lang und hat ein Gewicht von 35 Tonnen. Die Gesamtkosten betrugen rund 1,3 Millionen DM. Am 3. August 1992 war das Kunstwerk endlich vollendet - rechtzeitig zur Umbenennung der bisherigen Ausstellungs-, Messe-, Kongress-GmbH (AMK) zur Messe Berlin GmbH.

Viele Jahre schien es, als würde es zu einer Realisierung gar nicht mehr kommen. Den Entwurf hatte Ursula Sax 1987 für den von der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen ausgeschriebenen Wettbewerb Kunst am Bau eingereicht und gewonnen.
Damals wurde an der Spree in Ost und West 750 Jahre Berlin gefeiert. Im Osten entstand auf mittelalterlichen Grundrissen das Nikolaiviertel mit Pseudo-Bürgerhäusern im Plattenbaustil, im Westen zwischen Breitscheidplatz und Rathenauplatz ein Skulpturenboulevard, von dem bis heute drei Skulpturen an ihrem Standort blieben, »Berlin« von Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff, »Pyramide« von Josef Erben und die »Beton-Cadillacs« von Wolf Vostell. Als Fortsetzung könnte damals auch »Looping« als signifikantes Markenzeichen für den neuen Eingangsbereich des Messegeländes am Funkturm angedacht worden sein.

Die Realisierung verzögerte sich (auch) auf Grund technischer Schwierigkeiten. Die Suche nach einer Firma, die in der Lage war, das komplizierte Modell in eine Statik zu übertragen und das Stahlrohr präzise zu formen, erwies sich als schwierig. Schließlich übernahm die Mannesmann-Seiffert GmbH den Auftrag, was uns wiederum Gelegenheit gibt, vergangene Industriegeschichte zu beleuchten.
Die Firma wurde 1893 in Wedding unter dem Namen Franz Seiffert & Co als Werkstatt für den industriellen Rohrleitungsbau gegründet und um ein Werk in Finow erweitert. 1938 erfolgt die Übernahme durch die Mannesmann-Röhren-Werke. 1948 kommt es im Osten zum VEB Rohrsysteme Finow und in den Westsektoren von Berlin zur Mannesmann Seiffert GmbH, die später unter Salzgitter Mannesmann firmiert. Inzwischen können im Rohrbiegewerk der Salzgitter Mannesmann Grobblech GmbH in Mülheim an der Ruhr nahtlose und geschweißte induktivgebogene Stahlrohre in jedem gewünschten Biege-Radius von 200 mm bis 10.000 mm gefertigt werden. Obwohl es nach dem Fall der Mauer in Berlin erst einmal Wichtigeres zu tun gab, geriet der Auftrag nicht in Vergessenheit. In Mülheim entstanden 27 einzelne Rohrsegmente mit den präzise berechneten Krümmungen (Bögen), die ans Messegelände geliefert und zu drei Hauptteilen zusammengefügt wurden. Am geplanten Aufstellungsort wurde ein Gerüst aufgestellt, von dem aus Looping zusammengeschweißt wurde. Es folgten nach Angaben von Susanne Kähler, Professorin für Museumskunde an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW), "die Glättung der Gesamtfigur per Hand mit Kitt und Spachtel, das Auftragen von Rostschutz und Grundierung und anschließend der Überzug mit gelbem Lack". So kam es, dass Ursula Sax und Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) erst am 30. Juli 1992 die ersten gelben Pinselstriche ausführen konnten. Am 3. August 1992 wurde das "neue Ausrufezeichen für das Messegelände als weiterer Merkposten für die Baukultur in Berlin" eingeweiht.

Als wir herausfanden, dass Ursula Sax von 1960 bis 1965 in der Brünnhildestraße Nr. 8 in Berlin Friedenau gewohnt hatte, wollten wir über die Künstlerin auch auf dieser Webseite berichten. Unsere Bitte beantwortete sie am 24. August 2017 postwendend: Ich habe nichts dagegen. Teilen Sie mir mit, wie Sie sich das vorstellen.

Das war schwieriger als gedacht, da Ursula Sax ihre eigene Webseite www.werksax.de so umfassend und vollkommen gefüllt hatte, dass wir erst einmal keinen Ansatz fanden - und ihr das auch freimütig mitteilten. Wieder ging umgehend ihre Antwort per Mail ein: Ich reiche Sie weiter an meinen Galeristen, Galerie Semjon Contemporary, der mein Archiv beherrscht / besitzt. Es gibt ein hübsches Jugendfoto von mir in der Brünnhildestraße. Ich möchte von meinen Arbeiten den "Raummesser" abgebildet haben und den Rest vereinbaren Sie bitte mit Semjon. Am 27. August half sie uns weiter: Vorneweg: die Brünnhildestraße war keine sehr glückliche Station von mir, dorthin möchte ich nicht gern "zurückkehren", dann war die Wiesbadener Straße schon viel besser. Können Sie diesen ART-Artikel gebrauchen, da sind gleich mehrere Punkte abgedeckt: Die Vielseitigkeit, das Porträt, Biografie, fachkundige Besprechung? Es gibt noch einen Artikel in der Weltkunst: beide sind vor einem Jahr erschienen. Soviel mal für heute. Herzlichen Gruß Ursula Sax.

Es kam der 27. Juli 2020 - der 85. Geburtstag von Ursula Sax. Berlin hüllte sich in Schweigen. Der betuliche Tagesspiegel ohnehin, vom schläfrigen rbb war sowieso nichts zu erwarten und die SPD-Bürgermeister von Schöneberg (Angelika Schöttler) und Wilmersdorf (Reinhard Naumann), in deren Bezirken die äußerst vielseitige und doch weithin "Unbekannte" lebte und lebt, waren wohl mehr mit Kühnert & Müller beschäftigt.

Auf das hübsche Jugendfoto von mir in der Brünnhildestraße haben wir verzichtet. Wie schon so oft, wenn wir mit Künstlerfotos in Nöten waren, baten wir den Fotografen und Verleger Dietmar Bührer aus der Odenwaldstraße um Hilfe. Ihm ist 2015 ein Foto von Ursula Sax gelungen, das neben ihrer Kunst auch eine starke und selbstbewusste Persönlichkeit zeigt. Bedacht mit Dietmar Bührers selbstverständlich und sonnigen Grüßen bedanken wir uns für die Erlaubnis.

Ursula Sax wurde 1935 in Backnang geboren, studierte Bildhauerei an der Stuttgarter Akademie und an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin. Nach Professuren in Berlin und Braunschweig nahm die "Künstlerin aus dem Westen" 1993 den Ruf an die Hochschule für Bildende Künste Dresden an, die "bis zu ihrem Eintreten ein Hort der organisch ponderierten Figuration in Plastik und Skulptur gewesen ist". Eine schwierige Aufgabe, für die der 1953 im vorpommerschen Demmin geborene heutige Hochschulrektor Matthias Flügge klare Worte findet: Die Dresdner Kunstakademie dankt Ursula Sax einen prägenden Beitrag zu ihrer Neuausrichtung in den 1990er Jahren.

Mit der Emeritierung im Jahr 2000 begann Ursula Sax in ihrem Radebeuler Domizil Altkötzschenbroda wieder freischaffend zu arbeiten. Nach über einem Jahrzehnt in Radebeul kehrte sie 2013 im Alter von 78 Jahren nach Berlin zurück. Dem Ort hinterließ sie sechs Plastiken und ein großformatiges Kunstobjekt im Bürgerpark neben den Landesbühnen. Der Berlinischen Galerie hat sie eine umfangreiche Schenkung mit Stein- und Holzskulpturen, Metall- und Tonplastiken, Performancekleidern und -masken gemacht, die einen Einblick in ein beeindruckend vielgestaltiges Œuvre vermitteln. Nach Brünnhildestraße, Wiesbadener Straße, Potsdamer Straße, Königstraße und Hindenburgdamm lebt sie nun in der Bundesallee.

Ausführliche Bild- und Textdokumente finden Sie unter www.werksax.de.

© Peter Hahn & Jürgen Stich, Dezember 2020.
Der Artikel ist mit freundlicher Erlaubnis der Autoren übernommen von www.friedenau-aktuell.de.


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Ursula Sax, 2015. Fotografiert von Dietmar Bührer.


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2020/11/30

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2020/11/28

Zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels

von Dr. Christian G. Pätzold


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Friedrich Engels, 2. von links, in einer kommunistischen Ahnenreihe.


Friedrich Engels (1820-1895) gehört zu den wenigen Menschen, die es zu einem weltweiten Personenkult gebracht haben. Das hat er auch in gewisser Weise verdient, denn er war einer der Begründer des modernen Internationalen Sozialismus und Kommunismus. Nicht nur hat er wichtige Bücher geschrieben, angefangen mit der »Lage der arbeitenden Klasse in England« von 1845, ein Pionierwerk der empirischen Soziologie. Er war auch der beste Freund und finanzieller Förderer von Karl Marx. Weitere bekannte Werke von Friedrich Engels sind das epochale »Kommunistische Manifest« von 1848, das er zusammen mit Marx verfasste, sowie »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« (1884) oder »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« (1880) und zahlreiche weitere Bücher. Nach dem Tod von Marx im Jahr 1883 gab er den zweiten und dritten Band des »Kapital« heraus. Die Bücher und Briefe von Friedrich Engels sind in den 44 Bänden der Marx-Engels-Werke (MEW) veröffentlicht (Karl Dietz Verlag Berlin) und können noch heute im Buchhandel gekauft werden.

Heute ist also der 200. Geburtstag von Friedrich Engels, denn er wurde am 28. November 1820 in Barmen, heute ein Stadtteil von Wuppertal, geboren. In China wird Friedrich Engels so sehr verehrt, dass die Volksrepublik China der Stadt Wuppertal ein überlebensgroßes Bronzestandbild von Engels geschenkt hat, das vor dem Engels-Haus steht. Die chinesische Begründung lautet: Ein großer Philosoph braucht ein großes Denkmal. Das hört sich irgendwie logisch an. Die Friedrich-Engels-Statue in Wuppertal ist das Pendant zum überlebensgroßen Karl Marx, den die chinesische Kommunistische Partei in Trier aufgestellt hat. In Wuppertal sollte zum 200. Jubiläum am 28. November 2020 das Engels-Haus wiedereröffnet werden, was aber wegen der Corona-Virus-Pandemie ins Wasser fällt und später nachgeholt werden soll.

Engels leistete von September 1841 bis Oktober 1842 als Einjährig-Freiwilliger seine Militärzeit in der preußischen Hauptstadt Berlin. In dieser Zeit besuchte er auch Vorlesungen an der Berliner Universität und schloss sich den Linkshegelianern an. In Berlin ist er noch nicht Karl Marx begegnet, denn Marx hatte schon Anfang 1841 Berlin verlassen. Erst im November 1842 lernte er Karl Marx in Köln in der Redaktion der »Rheinischen Zeitung« persönlich kennen. Seit dieser Zeit arbeiteten Marx und Engels eng zusammen. Friedrich Engels war nur noch ein zweites Mal in Berlin gegen Ende seines Lebens 1893 während einer Europa-Tour. Das war schon ein anderes Berlin, das kaiserzeitliche Berlin mit dem einsetzenden Bauboom und der Entwicklung der Stadt zur Millionenmetropole. In Berlin ist heute eine Straße im Bezirk Pankow nach Friedrich Engels benannt.

Friedrich Engels durfte nach dem Willen seines Vaters nicht das Abitur machen. Daher hat er auch nie ein komplettes Studium absolviert, er hat sich sein großes Wissen autodidaktisch beigebracht. Sein Vater wollte, dass er Kaufmann und Unternehmer würde wie er selber. Daher schickte er seinen Sohn in eine kaufmännische Lehre nach Bremen.

In der Revolution 1848/49 beteiligte sich Engels als Freiheitskämpfer an den bewaffneten Kämpfen, musste aber nach der Niederlage der Revolution nach England flüchten. Engels übernahm dann später die Leitung der Garn-Fabrik seines Vaters in Manchester. So ist Friedrich Engels ein wohlhabender Unternehmer geworden, aber er war trotzdem auch ein Intellektueller, der theoretische Bücher veröffentlichte. Er hat allerdings neidlos anerkannt, dass Karl Marx der brillantere Kopf war. Außerdem war er in der Leitung der internationalen Kommunistischen Bewegung tätig.

Friedrich Engels starb im August 1895 in London. Die Urne mit seiner Asche wurde im September 1895 fünf Seemeilen vor der Küste bei Beachy Head/East Sussex/England im Meer versenkt.


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Plastiken von Karl Marx und Friedrich Engels auf dem Marx-Engels-Forum in Berlin Mitte.
Die Plastiken gestaltete Ludwig Engelhardt, 1985.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2020.


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2020/11/26

Alternative NobelpreisträgerInnen 2020


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Am 1. Oktober 2020 hat die Right Livelihood Foundation in Stockholm die neuen Alternativen Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger bekannt gegeben.
Es wurden 2 Anwältinnen aus dem Iran und aus Nicaragua sowie 2 Anwälte aus den USA und aus Belarus ausgezeichnet, die sich unermüdlich und tapfer für die Rechte von gefährdeten Menschen eingesetzt haben.
Die Right Livelihood Foundation schreibt über die PreisträgerInnen:

"Nasrin Sotudeh ist eine iranische Rechtsanwältin, die sich unter dem repressiven iranischen Regime für Rechtsstaatlichkeit und die Rechte von politischen Gefangenen, oppositionellen Aktivistinnen und Aktivisten, Frauen und Kindern einsetzt. Derzeit verbüßt sie für ihren Widerstand gegen das drakonische Rechtssystem des Landes eine lange Haftstrafe. Trotz ihrer Inhaftierung und ständiger Drohungen gegen ihre Familie bleibt Sotudeh eine unbeugsame Verfechterin der Rechtsstaatlichkeit.
Unter der drakonischen iranischen Führung werden Menschenrechte und politische Opposition stark eingeschränkt. Besonders Frauen leiden wegen der strengen Auslegung des islamischen Gesetzes unter massiver Unterdrückung und Einschränkungen. Trotz pro-demokratischer Proteste in den letzten Jahren und heftiger internationaler Kritik an der Menschenrechtslage bleibt der Iran eines der repressivsten Regimes der Welt.
Sotudeh erlangte erstmals 2009 in Folge der Proteste gegen die Regierung nach den Präsidentschaftswahlen, der so genannten "Grünen Revolution", größere Bekanntheit. Sie verteidigte vor Gericht mehrere Aktivistinnen und Aktivisten, die während des aggressiven Vorgehens der Regierung gegen die Demonstrationen verhaftet worden waren, darunter Heshmat Tabarzadi, den Anführer der verbotenen Oppositionsgruppe Demokratische Front Iran. Sotudeh vertrat auch die iranische Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi. Als Mitglied der Organisation "Schritt für Schritt gegen die Todesstrafe" (LEGAM) kämpfte Sotudeh für die Abschaffung der Todesstrafe im Iran. Jüngst verteidigte sie einige Frauen, die 2018 auf der Straße ihre Kopftücher abgenommen hatten, um gegen das rigide iranische Gesetz zu protestieren, das das Tragen eines Hijabs verlangt. Auch hat sich Sotudeh gegen die Todesstrafe für minderjährige Straftäter engagiert.
Ihr unermüdlicher Einsatz für die Gerechtigkeit hat Sotudeh seit 2010 mehrfach ins Gefängnis gebracht, auch in Einzelhaft. Im März 2019 wurde sie unter erfundenen Anschuldigungen, unter anderem "Schüren von Korruption und Prostitution", zu 38 Jahren Haft und 148 Peitschenhieben verurteilt. Während der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 trat Sotudeh mehrfach in Hungerstreik, um gegen die andauernde willkürliche Inhaftierung politischer Gefangener unter katastrophalen Bedingungen in iranischen Gefängnissen zu protestieren.
Sotudehs Beharren auf Rechtsstaatlichkeit und ihr unnachgiebiger Kampf gegen Unterdrückung haben sie zu einem Symbol des Kampfes für Gerechtigkeit im Iran gemacht.

Bryan Stevenson ist ein führender US-amerikanischer Bürgerrechtsanwalt. Sein Ziel ist die Reform des Strafrechtssystems zur Gewährleistung gleicher Rechte für alle. Da die Ungerechtigkeit des Systems People of Color überproportional stark betrifft, hat Stevenson sein Leben dem Streben nach Gleichberechtigung der Ethnien und der Anfechtung des historischen Erbes des institutionellen Rassismus in den USA gewidmet. Stevensons jahrzehntelanger Kampf für die Marginalisierten, darunter auch Menschen im Todestrakt, hat den Weg für eine gerechtere Gesellschaft geebnet.
Stevensons Engagement wurzelt in der Erkenntnis, dass die Gesellschaft und das Justizsystem aufgrund der unbewältigten Geschichte der Sklaverei und der Ideologie der White Supremacy in den USA von systemischem Rassismus durchdrungen sind. Das zeigt sich auch darin, dass die USA die höchste Inhaftierungsrate der Welt haben, wobei People of Color und arme Menschen überdurchschnittlich häufig betroffen sind.
Im Jahr 1989 gründete Stevenson die Organisation, die sich heute Equal Justice Initiative (EJI) nennt und sich seit Jahrzehnten für Menschen in der Todeszelle einsetzt. Jedes Jahr vertreten sie Hunderte von Menschen im Strafrechtssystem und haben für mehr als 140 unrechtmäßig zum Tode Verurteilte eine Entlassung, Hafterleichterung oder Urteilsrevision erwirkt. Stevenson ist ein lautstarker Gegner der Todesstrafe. Vor dem Obersten Gerichtshof der USA hat er Prozesse geführt und gewonnen, welche die Rechte von Menschen mit psychischen Krankheiten im Strafrechtssystem und die Rechte Minderjähriger, die strafrechtlich als Erwachsene verfolgt wurden, gestärkt haben. Ein weiterer wichtiger Teil seiner Arbeit waren Kampagnen gegen übermäßig hohe Strafen, die unverhältnismäßig oft gegen arme Menschen und People of Color verhängt werden.
Stevenson und die EJI haben sich stark in der Dokumentation der Geschichte der Sklaverei, der Lynchmorde und der Rassentrennung in den USA engagiert und sowohl ein Museum als auch ein Denkmal in Montgomery (Alabama) eröffnet. Durch seine Forderung nach einem gesamtgesellschaftlichen Prozess der Aufarbeitung der Sklaverei und der Ideologie der White Supremacy in den USA bereitet Stevenson den Boden für die strukturellen Veränderungen, die für einen gesellschaftlichen Prozess der Heilung von der langen und gewalttätigen Geschichte der Ungerechtigkeit gebraucht werden.
Stevensons leidenschaftlicher Einsatz für die von der Gesellschaft Verurteilten und an den Rand Gedrängten wirft ein Licht auf den inneren Wert eines jeden Menschen. Wie er in seinen 2014 erschienenen Memoiren mit dem Titel Just Mercy schrieb: "Jeder und jede von uns ist mehr als das Schlimmste, was wir je getan haben."

Lottie Cunningham Wren ist eine Rechtsanwältin aus der Volksgruppe der Miskito und verteidigt die Rechte indigener Völker in Nicaragua auf ihr Land und ihre Ressourcen. Sie hat entscheidend zu ihrem rechtlichen Schutz beigetragen, so etwa durch die Einleitung eines Prozesses zur Festlegung von Grundstücksgrenzen und der Vergabe von Eigentumsurkunden für indigenes Land in Nicaragua. Auch hat sich Cunningham für die Wahrung der Menschenrechte indigener Völker und afro-nicaraguanischer Bevölkerungsgruppen, ihren Schutz und den Schutz ihrer Existenzgrundlagen vor bewaffneten Siedlern eingesetzt.
Weltweit - aber insbesondere in Lateinamerika - haben indigene Gemeinschaften mit einer Vielzahl existenzbedrohender Gefahren zu kämpfen, angefangen von Landgrabbing und Ausbeutung ihrer natürlichen Ressourcen bis hin zu Gewalt. In Nicaragua hat die Mehrheit der indigenen und afro-nicaraguanischen Gemeinschaften unter bewaffneten Siedlern zu leiden, die auf indigenem Land Vieh weiden lassen oder Holz schlagen und gleichzeitig die Gemeinschaften von ihrem Ackerland und aus ihren Dörfern verdrängen. In Folge der staatlichen Förderung der Rohstoffindustrie werden lebenswichtige natürliche Ressourcen, wie zum Beispiel saubere Wasserquellen, häufig zerstört.
Indem sie sich auf nationale und internationale Gesetze berief, gelang es Cunningham, Landrechte für indigenen Boden in Nicaragua durchzusetzen. Damit leistete sie Pionierarbeit für juristische Strategien, die seither von indigenen Gemeinschaften auf der ganzen Welt erfolgreich zur Demarkation ihrer Gebiete eingesetzt werden. Auch hat Cunningham gezeigt, dass der Schutz indigenen Landes eine wesentliche Bedeutung für den Schutz der lokalen Ökosysteme hat. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung gegen den geplanten "Großen Interozeanischen Kanal" in Nicaragua, ein chinesisch finanziertes Regierungsprojekt zur Verbindung des Atlantischen und des Pazifischen Ozeans. Der Kanal soll indigene Gebiete durchschneiden, würde ihre Bewohner zu Umsiedlungen zwingen und lebenswichtige Ökosysteme zerstören.
Als leidenschaftliche Anwältin ihres Volkes hat sich Cunningham auch für die Stärkung der Rechte indigener Frauen engagiert, Programme gegen häusliche Gewalt ins Leben gerufen und dafür gesorgt, dass Frauen in Entscheidungsgremien vertreten sind. Auch widmet sie sich der Aufgabe, Jugendlichen zu vermitteln, wie sie die Achtung ihrer Menschenrechte einfordern und Menschenrechtsverletzungen bekannt machen können.
Trotz Drohungen und Einschüchterung engagiert sich Cunningham unbeirrt für die Stärkung und den Schutz indigener Gemeinschaften vor all den Kräften, die deren Land ausbeuten wollen.

Ales Bjaljazki ist ein Menschenrechtsaktivist in Belarus, der seit fast 30 Jahren für Demokratie und Freiheit kämpft. Im Jahr 1996 gründete er zur Unterstützung politischer Gefangener das Menschenrechtszentrum "Wjasna" in Minsk. Inzwischen ist dieses zur führenden Nichtregierungsorganisation des Landes geworden und trägt durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und die Beobachtung von Wahlen zur Entwicklung der Zivilgesellschaft in Belarus bei.
Das von Präsident Alexander Lukaschenko regierte Belarus wird häufig als "letzte Diktatur Europas" bezeichnet. Dieser Titel geht auf Lukaschenkos autoritäre Herrschaft zurück, unter der Wahlen gefälscht, oppositionelle Stimmen zum Schweigen gebracht und die Zivilgesellschaft durch staatliche Institutionen, die faktisch direkt an die sowjetische Vergangenheit des Landes anknüpfen, stark eingeschränkt wird. Auch ist Belarus das einzige Land auf diesem Kontinent, das immer noch an der Todesstrafe festhält.
Seit Mitte der 1980er Jahre führt Bjaljazki eine gewaltlose und überparteiliche Kampagne zur Verwirklichung demokratischer Freiheiten und der Schaffung einer lebendigen Zivilgesellschaft in Belarus. Ein Teil seiner Arbeit war der Einsatz für die Abschaffung der Todesstrafe. Als aktives Mitglied der nationalen Menschenrechtsbewegung wurde Bjaljazki verhaftet und verbrachte aufgrund erfundener Anschuldigungen mehrere Jahre im Gefängnis - ein Versuch der belarussischen Behörden, seine Aktivitäten zu unterbinden. Ebenso hat die Regierung wiederholt "Wjasna" und seine Mitglieder ins Visier genommen.
Trotzdem sind Bjaljazki und "Wjasna" durch ihre beharrlichen und langjährigen Bemühungen, die Menschen in Belarus zum Widerstand zu befähigen und ihre demokratischen Rechte zu gewährleisten, eine unaufhaltbare Kraft für die Freiheit geworden. Während der pro-demokratischen Proteste und auch der jüngsten Großdemonstrationen im Nachgang der manipulierten Präsidentschaftswahlen 2020 engagierte sich "Wjasna" als wichtiger Akteur für die Forderungen nach Versammlungsfreiheit, die Verteidigung der Rechte derjenigen, die wegen der Proteste verhaftet wurden, und die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen. Bjaljazki ist Mitglied des im April 2020 von Opposition und Zivilgesellschaft gegründeten Koordinierungsrates, welcher das Ziel eines friedlichen Machtübergangs im Land verfolgt.
Bjaljazki und "Wjasna" stehen für die Vielzahl mutiger Menschen, die unter hohem persönlichem Risiko gegen Lukaschenkos diktatorisches Regime protestieren. Mit ihrem langjährigen Einsatz für Demokratie und Freiheit haben Bjaljazki und "Wjasna" einen wesentlichen Grundstein für eine friedliche und demokratische Gesellschaft in Belarus gelegt."


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2020/11/23

Obdachlose in Berlin Mitte

Es gibt nicht nur eine Corona-Virus-Krise


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Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2020.


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2020/11/20

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2020/11/17

Rudolph Bauer
Blutrot, Mitte der sechziger Jahre


mitte der sechziger jahre
vor mehr als einem halben jahrhundert
im zwanzigsten
brachten wir unsere eigene welt mit
im koffer

leerten ihn an der schwelle
zur schweiz in konstanz am bodensee
wo das konzil gehurt
kauften grenzüber ein ohne zoll
bei migros

unsere aufstände damals
gegen kiesingers pickelhaubenstaat
die notstandsgesetze
die aufgenötigte kirchenmoral wir
rebellen

unter den blutroten fahnen
für eine gerechte gesellschaft und glück
blutrot in leidenschaft
um das autoritäre system das harte
versteinert

zum tanzen zu bringen wir
aufrechten gangs auf dem rücken beladen
mit einem tornister
aus schuld scham und der feigheit
der eltern

unser blutroter widerstand
gezimmert aus orientalischem weihrauch
den kreuzen der buße
ob der beispiellosen mörderorgien
der wehrmacht

*

wir verspeisten die eier
der hühner vom see mit dem fischmehl
gefüttert tranken den
badischen wein verlachten die bullen
auf streife

welche die sperrstunden
des nachts kontrollierten den gastlichen
wirten strafe androhten
blutsüße kirschen verschlangen
wir gierig

die landschaft am see
war unser neues zuhause der himmel
war unser zelt wir
kosteten lippen heimlich die droge
LSD

flogen über die landschaft
leichthin mit schwingenden flügeln
mövengleich überzeugt
dass uns der hegelsche weltgeist
begleitet

dessen gewiss hatten wir
mitgebracht unsere schäbigen welten
die der kindheit der jugend
was wir gelesen und kannten
zum beispiel

theodor w. adorno an dem wir
dahrendorf messen konnten und andere
lehrer des neu gepflanzten
campus am schnittpunkt gelegen
der länder

*

jener nachbarländer österreich
schweiz des großen kantons der überschattet
von laboren für rüstung
in der idylle am plätschernden see
kriegstauglich

wir erkennen im spiegel dass
ein nach hinten zu blicken die sicht uns
verstellt auf das was da
kommt mit rußschwarzen schrecken
von heute

wir nico pasero seine frau ulla
ein spross aus dem hause kuby mit freund
jochen aus frankreich
wir genossen von überall her
im aufbruch

blutrot damals die sechziger jahre
das forschwilde aufbegehren unserer jugend
die kraft von rebellen
die proletarische revolution chinas
mao zedong

noch in der gegenwart glimmt sie
die hoffnung die glut heiß unter der asche
die uns damals erhitzte
das blutlicht der morgenröte richtung
neue zeit

blutrot die sonne die aufgeht
frischer orkansturm tobt her aus dem osten
weist kindern den saumpfad
jener verheißung von glück zielfrei am
horizont

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, November 2020.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors dem Buch entnommen:
Rudolph Bauer: Zur Unzeit, gegeigt. Politische Lyrik und Bildmontagen.
Hamburg 2020. tredition. ISBN 978-3-347-06297-9.

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2020/11/14

Eine schöne Esskastanie in Cottbus

von Ella Gondek


esskastanie


Fotografiert von © Ella Gondek, Anfang September 2020.
Vorigen Sonntag war ich mit Henri in Cottbus beim großen Töpfermarkt. Auf dem Weg dorthin kam mir diese wunderschöne Esskastanie vor die Linse, im Park vor der Staatsoper in Cottbus. Wir sind mit der Bahn gefahren, da es an den September-Wochenenden tolle Vergünstigungen gab. Dementsprechend waren die Züge auch überfüllt, was nicht sehr schön war. Auf dem Töpfermarkt in Cottbus habe ich nichts gekauft, es gab zwar sehr schöne Sachen, aber ich habe so viel an Nippes usw. rum zu stehen, dass kein Platz dafür wäre.

Seht bitte auch den Artikel über die Esskastanien vom 2018/08/08 auf kuhlewampe.net.

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2020/11/11

Sabine Rahe
Strandgut


Treibholz auf dem Sand des Strandes
- verblichen und geschliffen.
Ist so weit gereist.
Kennt das Meer und seine Klippen.

Harmonisch liegt es Ton in Ton
an der hellen, sandigen Küste
deren Saum mit trockenen,
schwarzen Algen dekoriert ist.

Mit den Jahren gleichen
wir dem knorrigen Holz,
das ausgewaschen von der Flut
durch die Gezeiten weit gereist ist.

Befreit von Rinde
liegt blank
der Kern
im Sand
angelandet
bis zum nächsten Sturm
ruhig an einer Küste.

© Sabine Rahe, November 2020.
www.die-dorettes.de

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2020/11/08

Markus Richard Seifert
Der letzte Schultag (Ein Traum)


Als er den Brief bekam, hielt er ihn zuerst einmal für einen Scherz. Oder für einen Irrtum, was aber in diesem Falle wohl dasselbe war. Der Absender nämlich war der Stempel seiner zweiten Berliner Grundschule, die er in den 1970er Jahren besucht hatte. Genauer gesagt von 1976 bis 1979 in den Klassenstufen vier bis sechs. Allerdings nicht sehr gerne, denn in der 6. Klasse war er (und daran erinnerte er sich noch ganz genau) der "Prügelknabe" seiner Klasse gewesen. Und nun also dieser Brief. Was mochte er bedeuten? Man schrieb immerhin schon das Jahr 2020, das Corona-Jahr, wie erinnerlich sein dürfte. Was hatte das also zu bedeuten? Ratlos betrachtete er den Absende-Stempel. Fläming-Grundschule stand da, Illstraße 4 - 6 ... und so weiter. Aber was hatte das zu bedeuten? Nun, er würde diesen Brief eben aufmachen müssen, das würde dieses Rätsel hoffentlich lösen! Er öffnete also den Brief - und staunte nun wirklich. Das Sekretariat der Fläming-Grundschule, der heutigen selbstverständlich, teilte ihm mit, dass wegen eines damaligen Formfehlers die Schülerinnen und Schüler der Klasse 6 dora (also der 6d) offenbar in damaliger Zeit einen ganzen Schultag versäumt hätten (warum ließ sich nicht mehr feststellen). Und der müsse nun nachgeholt werden, dieser Schultag! Denn damals seien sie ja SCHULPFLICHTIG gewesen. Im Weigerungsfalle wäre ein Bußgeld zu zahlen, und zwar in Höhe von fünfhundert €uro.

So weit gekommen ließ er den Brief sinken und blickte, sichtlich verwirrt, zum Fenster hinaus. Dann schaltete er das Radio ein, das in Griffnähe auf seinem Schreibtisch stand. Musik ertönte. Und eine Männerstimme sang den bekannten Schlagertext DAS ALLES IST DEUTSCHLAND, DAS ALLES SIND WIR. Noch immer blickte er aus dem Fenster, aber ohne wirklich etwas zu sehen. Denn was er sah vor seinem geistigen Auge, das war seine damalige Schulzeit: Die Prügel in der Pause, die endlosen Turnstunden, die dauernd herum-schreiende Klassenlehrerin und die Tritte seiner Mitschüler unter dem Tisch (denn sie saßen an Gruppentischen). Seine Klassenlehrerin Frau R. Mann zum Beispiel, mit der er fast jeden Morgen in demselben Omnibus zur Schule fuhr: Sie saß ihm meist gegenüber und blickte ihn böse an. Warum? Weil sie von ihm erwartete, dass er sie grüßte. Aber er grüßte sie nicht, denn außerhalb der Schule fühlte er sich als "nicht im Dienst" - was sie ihm "natürlich" sehr übel nahm, dieses Nicht-Grüßen.

Ja, er erinnerte sich noch sehr genau an diese Zeit! Und es war keine gute Zeit für ihn gewesen, so viel stand fest. So weit gekommen las er natürlich diesen merkwürdigen Brief nunmehr zu Ende. Dieser damals versäumte Schultag, so stand es da, sei nunmehr nachzuholen. Und zwar am Samstag, den 20. September 2020 von 8:00 bis 14:00 Uhr. War das wahr? Konnte das wahr sein?? Aber das war doch unglaublich! Aber dennoch stand es da, mit schwarzer PC-Schrift auf weißem Papier. Und auf dem Umschlag, der auch weiß war, prangte der blaue Schulstempel, der vermutlich immer noch derselbe war wie damals. Was sollte er tun? Was tut "man" überhaupt in einer solchen Situation? Er musste zugeben, dass er das nicht wusste.

Nun, für dieses Mal kam er nicht mehr dazu, darüber nachzudenken. Denn sein Wecker auf dem Nachtisch klingelte und damit war dieser Traum aus und vorbei. Übrigens spielte das Radio wirklich DAS ALLES IST DEUTSCHLAND, DAS ALLES SIND WIR. Er hatte es wohl vor dem Einschlafen nicht mehr ausgeschaltet. Fortsetzung folgt? Hoffentlich nicht!

© Markus Richard Seifert, November 2020.


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2020/11/05

Wladimir Jewgrafowitsch TATLIN (1885-1953)
Matrose (Selbstbildnis), 1911

Russisches Museum, Sankt Petersburg


tatlin
Quelle: Wikimedia Commons.


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2020/11/02

Ausstellung: »Der proletarische Blick«
Arbeiterfotografie der 1920er Jahre von
Kurt Pfannschmidt, Ernst Thormann und Richard Woike

Bröhan-Museum, Berlin Charlottenburg, 1. Oktober 2020 bis 24. Januar 2021


proletarischeblick1
Richard Woike: Städtische Volksspeisung Heringsschüssel.
Um 1930. Ernst Thormann Archiv. Bröhan-Museum Berlin.


Der Berliner Senat hat entschieden, dass die Museen im November geschlossen bleiben, da sich die Corona-Virus-Epidemie stark ausbreitet. Trotzdem möchte ich hier den Besuch einer tollen Ausstellung im Bröhan-Museum empfehlen, in der Hoffnung, dass die Museen im Dezember oder Januar wieder öffnen können.

Es geht um eine äußerst sehenswerte kleine aber feine Fotografie-Ausstellung. Es werden 80 Fotografien von Arbeiter-Fotografen aus der Weimarer Zeit gezeigt in 4 Räumen, die Hängung der Fotos ist sehr gelungen. Außerdem werden historische Kameras und Fotozubehör gezeigt, ebenfalls aus dem Ernst-Thormann-Archiv. Zusätzlich werden der Dokumentarfilm »Arbeiterfotograf« von Peter Badel (1979) sowie der Film »Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?« von Bert Brecht, Slatan Dudow und Hanns Eisler (1932) gezeigt. Der Film »Kuhle Wampe« bietet einen authentischen proletarischen Blick auf die Weimarer Zeit in Berlin und ist ein erstklassiges Dokument der avantgardistischen Fotografie und Kameraführung der Zeit.

Einige Fotos der Ausstellung waren bereits 2018 in der großen Ausstellung »Berliner Realismus. Von Käthe Kollwitz bis Otto Dix« zu sehen. Es freut den Betrachter, dass die AusstellungsmacherInnen im Bröhan-Museum wichtige Themen der Kunstgeschichte hartnäckig weiter vertiefen. Das Bröhan-Museum ist nicht nur ein Kunstgewerbe-Museum und Design-Museum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, sondern auch ein Fotografie-Museum.

Das Bröhan-Museum schreibt in der Pressemitteilung über die Fotografien der Ausstellung:

"Aufmerksam beobachtete Szenen, in Eile und meist heimlich fotografiert, technisch nicht immer makellos, jedoch inhaltlich hoch brisant - das sind die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Kurt Pfannschmidt (1900-1987), Ernst Thormann (1905-1984) und Richard Woike (1901-1976). Auf ausgiebigen Foto-Streifzügen dokumentierten die aus der Arbeiterschaft stammenden Amateurfotografen ihre prekäre Lebenswelt. Ihr Anliegen war es, die Arbeiterbewegung durch aussagekräftiges Bildmaterial für die Berichterstattung zu unterstützen. Begeistert von der Technik der Fotografie und dem gemeinsamen Kampf für die Rechte und die Sichtbarkeit der Benachteiligten investieren sie und eine Reihe weiterer Arbeiterfotografen in kostspielige Fotoausrüstung und begeben sich auf ausgiebige Foto-Streifzüge. Dabei entstehen einmalige historische Aufnahmen: Ernst Thormann zeigt die Straßen von Berlin-Neukölln und den jüdischen Alltag im historischen Scheunenviertel in Berlin-Mitte, Richard Woike fotografiert Bilder der Armut und Kurt Pfannschmidts Aufnahmen präsentieren sein Umfeld als Arbeitersportler und KPD-Mitglied in Leipzig. Damit sind sie drei von rund 3.000 Mitgliedern der Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands (VdAFD), die sich von 1926 bis 1933 in etwa 130 Ortsgruppen organisieren."

Die Kuratorin der Ausstellung, Julia Hartenstein M.A., schreibt im Vorwort des Katalogs:

"Für die Ortsgruppen (der Arbeiter-Fotografen) gibt es jedoch einige Hürden. Einblicke vermittelt Ernst Thormann, der der Ortsgruppe Neukölln angehört. Diese hat im Schnitt 25 Mitglieder, darunter auch Richard Woike und Thormanns spätere Ehefrau Frieda Schneider - eine von drei Frauen in der Gruppe.

"In der ersten Zeit hatten wir noch keinen eigenen Versammlungsraum, geschweige denn eine Dunkelkammer. Da war das Vereinszimmer einer Kneipe die einzige Möglichkeit zusammenzukommen. Miete mußten wir nicht bezahlen, aber es wurde zumindest Getränkeumsatz erwartet. Ein Bier sozusagen als Eintrittskarte war das mindeste, und das war damals für manche von uns schon zuviel, vor allem für die Arbeitslosen unter uns. Auch waren für die praktische Arbeit die dortigen Bedingungen für uns alles andere als ideal. Da wir für die Entwicklung der Platten den Raum verdunkeln mußten, kam es schon öfters vor, daß ein Bierglas umgekippt wurde oder daß uns Angetrunkene vom Schankraum störten."

Eine weitere große Herausforderung war, dass die meisten Arbeiter durch die geringe Freizeit nur an Sonntagen zum Fotografieren kamen. In "Der Arbeiter-Fotograf" beklagt Walter Nettelbeck, an Sonntagen sei es "verdammt schwer, seine mißratene Welt zu fotografieren". Es passiere nichts und die Arbeiter trügen "allzu oft das Sonntagskleid der Kleinbürgerlichkeit". Thormann erläutert die Problematik, die sich hieraus für die Organisation fotografischer Einsätze ergibt:

"Ich kann mich an einen erinnern, der gehörte zu den Besten und traute sich auch etwas. Er hat ganz schwierige Sachen gemacht. Nur - er hatte Arbeit, war Angestellter, und konnte deshalb wochentags nicht über seine Zeit verfügen. Wichtiges passierte aber meist unter der Woche. So haben wir zum Beispiel erfahren, daß sich in der Nähe von Berlin auf einem Gut die Nazis etablierten und Waffenübungen durchführten.... Es ging jetzt darum, in dieses Nest hineinzuleuchten. Für so etwas war unser Mann am besten geeignet,... Er war auch bereit dazu, doch wie sollte er von der Arbeit wegkommen? Wir beratschlagten und riefen schließlich in seinem Betrieb an, bei ihm zu Hause sei ein Wasserrohrbruch. Der Betrieb gab ihm frei, Er reiste sofort ab und fotografierte auf dem Gut."

Die arbeitslosen Gruppenmitglieder - 1931 sind es mehr als die Hälfte des VdAFD (Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands) - haben zwar Zeit, aber selten Geld für die kostspielige Fotoausrüstung. Die Unkosten einer Reportage betragen ca. 10 Mark. Die in Aussicht gestellte Bezahlung für ein Einzelbild liegt bei 5 und für eine Reportage bei 50 Mark. Nicht einberechnet sind die Anschaffungskosten für eine Kamera, die oft das Zehnfache des Wochenlohnes eines Arbeiters kostet. Während der hohen Massenarbeitslosigkeit 1932 beträgt dieser durchschnittlich 40,50 Mark und liegt damit 7,15 Mark unter dem Existenzminimum.

Um Materialien einzusparen, gehen die Ortsgruppen ab 1930 zunehmend zum Arbeiten in Kollektiven über. Die einzelnen Schritte - Blitzen, Aufnehmen, Sichern des Negativs, Transport zum Fotolabor, Entwickeln und Transport zu Zeitungsredaktionen - werden auf mehrere Personen verteilt. Nach Bedarf, zum Beispiel bei Demonstrationen, werden sie durch Personen ergänzt, die Ausschau halten und den Fotografen schützen. Erforderlich wird der zusätzliche Schutz wegen steigender Gewaltbereitschaft seitens der Nationalsozialisten und der Polizei. Letztere ist besonders aktiv: Sie verstärkt die Überwachung von Demonstrationen, erteilt willkürliche Verbote, konfisziert und zerstört Kameras und geht mit brutaler Gewalt gegen Fotografen vor. Zur Verfolgung der Arbeiterfotografen werden sogar Polizisten in Zivil mit winzigen Detektivkameras ausgesandt und Autoren von "Der Arbeiter-Fotograf" mit KPD-Mitgliedslisten verglichen."

Schon Heinrich Zille (1858-1929) hatte um 1900 dokumentarische Fotos vom Leben der Arbeiter in Berlin aufgenommen. Diese Fotos hatte Zille aber zu seinen Lebzeiten nie veröffentlicht. Jedes Foto der Ausstellung ist ein eigenständiges Kunstwerk, das eine besondere Geschichte über das Leben vor 100 Jahren erzählt. Es würde hier zu weit führen, einzelne Bilder im Detail zu beschreiben. Aber der Katalog enthält fast alle Fotos der Ausstellung, so dass man einen kleinen Fundus an historischen Arbeiterfotografien mit nach Hause nehmen kann (ISBN 978-3-941588-15-8). Heute gibt es immer noch organisierte Arbeiter-Fotografen in Deutschland, die sich in der Tradition der Arbeiter-Fotografie von vor 100 Jahren sehen.

Die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (A-I-Z), in der die Fotos zahlreicher Arbeiterfotografen erschienen, hat im nächsten Jahr ihr 100. Gründungsjubiläum. Die A-I-Z war eine große Sache, denn ihre Auflage lag zeitweise bei 500.000 Exemplaren pro Woche. John Heartfield arbeitete für seine Fotomontagen teilweise mit Arbeiterfotografen zusammen.
Ein interessantes Buch zur Geschichte der Arbeiterfotografie in Deutschland in den 1920er Jahren und in den 1970er Jahren ist:
Verband Arbeiterfotografie (Herausgeber): Arbeiterfotografie. Berlin (West) 1979. Elefanten Press Verlag:
Außerdem:
László Moholy-Nagy: Malerei, Photographie, Film. Bauhausbücher Band 8, 1925.

Seht bitte auch die Artikel über die Fortschrittlichen Arbeiter-Fotografen Berlin vom 2017/04/28, über Berliner Realismus vom 2018/05/14 und über die Bauhaus-Fotografie von László Moholy-Nagy vom 2019/09/14 auf kuhlewampe.net.

Dr. Christian G. Pätzold.


proletarischeblick2
Eugen Heilig/Ernst Thormann: "Jeder kann fotografieren!".
Vorlage für den Titel der 2. Sondernummer der Zeitschrift "Der Arbeiter-Fotograf"
(Jg. 6, Nr. 6) 1932. Ernst Thormann Archiv. Bröhan-Museum Berlin.


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2020/10/31

vorschau11

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2020/10/29

dr. christian g. pätzold
corona tagesablauf


aufstehen
kontakte vermeiden
aha-regeln beachten
die kaffeemaschine schnorchelt vor sich hin
körperpflege
frühstücken
im internet surfen
virus todeszahlen im radio hören
offizieller name ist covid 19
corona virus disease 2019
reichsbürger stürmen die reichstagstreppe mit reichskriegsflaggen
klatschen und singen auf den balkonen
"wenn ich ein vöglein wär und auch zwei flüglein hätt, flög ich zu dir"
prof. christian drosten erklärt die aktuelle entwicklung
theater, museen, bordelle und gaststätten bleiben im november geschlossen
der zahnarzt meldet sich
die parodontologie muss erstmal warten
griechisches wort mit 4 os
coooroona hat mindestens 5 os
leckere orientalische pasta sauer scharf kochen
über das leben in kwarantene nachdenken
siesta
lesen
emails schreiben
atemschutzmaske aufsetzen
post aus dem briefkasten holen
aerosole sind überall
abendessen
das leben ist ruhiger geworden mit corona
alles wird langsamer für den moment
10.000 menschen sind schon in deutschland gestorben
zähne putzen
schlafen
das war die seuchen routine im shutdown 2020.


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2020/10/26

Dr. Hans-Albert Wulf
Rebellion im Himmel


luzifer
Gustave Doré: Luzifer im Rat der Engel.


Woher stammt der Teufel? War Gott sein Vater? Hatte er eine Mutter? Wahrscheinlich, denn schließlich hatte er ja auch eine Großmutter. Jedenfalls wenn man dem Volksmund glaubt. Wenn er ein Geschöpf Gottes war, wieso hat Gott mit dem Teufel denn das Böse in die Welt gesetzt. Eine schwierige Frage, die schon damals ganze Heerscharen biblischer Exegeten auf den Plan gerufen hat. Wenn Gott der Schöpfer des Teufels sein soll, dann wäre ja Gott der Urheber des Bösen. Er, und kein anderer wäre verantwortlich für das gesamte Elend auf der Erde, von Auschwitz bis Hiroshima. Aber das kann man natürlich so nicht stehen lassen. Die Lösung: Gott hat den Teufel, den Engel Luzifer mit einem eigenen Willen ausgestattet. Und vermöge dieses Willens bringt er das Böse in die Welt. Und somit hat man auf elegante Weise dem Teufel den schwarzen Peter zugeschoben.

So wichtig der Teufel für die christliche Religion ist, so dürftig sind in der Bibel die Belege für sein Wirken. Sieht man einmal von der grauslichen Geschichte im Buch Hiob ab, in der Gott allen Ernstes mit dem Teufel um Hiob eine Wette eingeht, so sind es fast durchweg nur kleine Puzzleteile verstreut auf fast 2.000 Seiten Bibel. Etwas ergiebiger sind die so genannten Apokryphen, die verborgenen (und auch verbotenen) Bücher, die zwischen 200 v.Chr. und 400 n.Chr. verfasst worden sind, aber nicht in den offiziellen Corpus der Bibel aufgenommen wurden.

Der Teufel war ursprünglich nicht drunten in der Hölle, sondern weit oben in den himmlischen Gefilden. Er war ein Engel mit dem Namen Luzifer. Und er war nicht irgendeiner, sondern der Schönste von allen und Anführer eines Engelschors. Wodurch aber kam er zuschanden und stürzte in die Tiefen der Hölle?
Hierüber gibt es in den biblischen Schriften unterschiedliche Erklärungen.
Die verbreitetste Version, die sich im Alten Testament findet, sieht die Gründe im Hochmut und Größenwahnsinn Luzifers. Hochmut bzw. Hybris ist ein Motiv, das sich durch die gesamte Mythologie des Altertums zieht. Am berühmtesten ist hier wohl Prometheus, der entgegen dem Befehl von Zeus den Menschen das Feuer gebracht hat. Und für diesen Frevel wird er bitter bestraft und im Kaukasus an einen Felsen geschmiedet. Und dorthin fliegt jeden Tag ein Adler und frisst ihm die Leber aus dem Leib.

Und ähnlich erging es Luzifer. Er konnte sich nicht damit abfinden, unter Gottes Fuchtel zu stehen bzw. ein Geschöpf Gottes zu sein. So die offizielle Lesart. Er besteht darauf, dass er seine Existenz aus eigener Urheberschaft und Autonomie gewonnen hat, sich also selbst verdankt, nicht aber von Gottes Gnaden.
"Ich will in den Himmel steigen und meinen Stuhl über die Sterne Gottes erhöhen; ich will mich setzen auf den Berg der Versammlung in der fernsten Mitternacht; ich will über die hohen Wolken fahren und gleich sein dem Allerhöchsten" (Jesaja 14, 13f.)
So ist es im alten Testament zu lesen.

Er will gottgleich sein. Zwar hat er die Freiheit sich neben Gott zu stellen. Tut er dies aber, so begeht er einen verbotenen und folgenschweren Akt der Gotteslästerung. Damit es erst gar nicht so weit kommt, wird Luzifer mit all den Kameraden seines Engelschors in die Hölle gestürzt. Und um die Selbstgefälligkeit Luzifers zu strafen, der ja der Schönste von allen war, wird ihm ein scheußliches, runzeliges Aussehen verpasst. Mit Klumpfuß und Hörnern.

Dies ist die übliche Variante des Engelssturzes, wie sie im Buch Jesaja aus dem Alten Testament erzählt wird. Die Schuld liegt hier eindeutig bei Luzifer. Er wollte, so die offizielle Lesart, aus Eitelkeit das Gefüge der Welt durcheinander bringen, indem er sich über Gott stellen wollte.

Möglicherweise hat es sich jedoch auch ganz anders zugetragen. Darauf deuten jedenfalls Texte aus den so genannten Apokryphen hin. Auch hier geht es zunächst um den Beginn der Schöpfungsgeschichte.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, Wasser, Luft und Licht und gleich am ersten Schöpfungstag auch die Engel und Erzengel. In der angestammten Weltordnung gab es mithin nur zwei Akteure: Den allmächtigen Gott und die Engel, die in neun Chören zusammengefasst waren. Welche Funktionen hatten nun die Engel in der himmlischen Weltordnung? Sie sind die Boten Gottes. Sie verehren und preisen Gott und ihre Chöre erfüllen das Universum mit einer göttlichen Musik. Dieses harmonische Zusammenspiel zwischen Gott und den Engeln wurde allerdings jäh ins Wanken gebracht, als sich Gott am 6. Schöpfungstag entschloss, mit Adam den ersten Menschen aus einem Staubkorn zu schaffen. Soweit, so gut.

Doch diese neue Spezies Mensch, die ja die Krone der Schöpfung sein sollte, war von Anfang an etwas missraten und beileibe kein Meisterstück in Gottes Schöpfungsprojekt. Bereits in der zweiten Generation (Kain und Abel) gab es Mord und Totschlag und dies hat sich ja bekanntlich bis in unsere Gegenwart fortgesetzt und immer monströsere Formen angenommen. Um diesen Fehler wieder gut zu machen, hatte Gott mit Hilfe der Sintflut alles, was ihm als schlecht vorkam auf der Erde fortgespült und weggeschwemmt. Aber auch dies bekanntlich ohne nachhaltigen Erfolg. Im göttlichen Menschheitsprojekt steckte mithin von Anfang an der Wurm. Und jetzt hatte Gott mit der Erschaffung des Menschen das angestammte Gefüge der Welt durcheinander gebracht. Und dies war der eigentliche Sündenfall, den Gott begangen hat. Er war derart begeistert von seinem neuen Schöpfungswerk, Mensch, dass er sein Augenmerk nun von den himmlischen auf die irdischen Gefilde richtete. Und das ging so weit, dass er Adam allen Ernstes als gottgleiches Geschöpf inthronisierte. Deshalb gab Gott den Befehl aus, dass alle Engel den Adam als einen Gott verehren sollten. Und dies schlug bei den Engeln wie eine Bombe ein und sorgte für heftige Diskussionen. Wie die Geschichte weiterging wird in einer apokryphen Schrift mit dem anheimelnden Titel "Syrische Schatzhöhle" berichtet:

"Und Adam zog das Gewand des Königtums an, und es wurde ihm von Gott die Krone der Herrlichkeit aufs Haupt gesetzt. Und er zum König, Priester und Propheten ernannt.
Und Gott gab ihm die Herrschaft über alle Geschöpfe. Und da versammelten sich alle wilden Tiere, das Vieh und die Vögel und erschienen vor Adam;
da gab er ihnen Namen und sie beugten ihr Haupt vor ihm.
Und alle ihre Naturen verehrten ihn und dienten ihm.
Und die Engel hörten die Stimme Gottes, der zu ihm sprach:
"Adam! Ich mache dich jetzt zum König, Priester und Propheten sowie zum Herrn, Haupt und Führer aller geschaffenen Wesen und Geschöpfe. Dir dienen sie alle und sollen dein eigen sein; ich gab dir die Herrschaft über alles, was ich geschaffen habe."

Die Mehrheit der Engel hörte andächtig zu und unterwarf sich ohne Zaudern Gottes Gebot und sie fielen vor Adam auf die Knie und verehrten ihn.
Als aber die Engelsminderheit, die traditionell in der proletarischen Ostkurve des himmlischen Stadions stand, sah, welche Größe dem Adam gegeben worden war, waren sie mit ihrer eigenen faktischen Entmachtung keinesfalls einverstanden. Die Minderheit unter der Anleitung Luzifers wagte die Machtprobe mit Gott, rebellierte und weigerte sich, Adam als gottgleiches Geschöpf anzuerkennen. Und Luzifer sprach zu seinem Gefolge: "Verehrt ihn nicht und preist ihn nicht wie die anderen Engel!" Und er drehte den Spieß kurzerhand um. "Ihm, Adam, ziemt es, mich zu verehren, mich, der ich Feuer und Geist bin, und ich will nicht den Staub Adams verehren, der aus einem Staubkörnchen gebildet ist."

Gott ließ solche Auflehnung natürlich nicht ungestraft. Er mobilisierte die ihm getreue Engelsmehrheit unter der Anführung des Erzengels Michael für den Kampf gegen die rebellische Minderheit unter dem Befehl Luzifers.

Der englische Dichter John Milton hat in seinem Poem »Das verlorene Paradies« den Kampf der Engel mit drastischen Worten beschrieben. Zunächst geriet Luzifer, hier Satan genannt, unter den Schwerthieben seines Widersachers Michael arg ins Hintertreffen. "Zum erstenmal empfand jetzt Satan Schmerz. Er krümmte sich: So grimmig klaffte die vom scharfen Schwert geschlagene Wunde." Doch seine Engel trugen ihn an einen sicheren Ort. "Hier lag knirschend er vor Schmerz und Wut und Scham." Doch er und seine Engelstruppen erholten sich und kehrten auf das Schlachtfeld zurück. Diesmal verstärkt durch eine Maschine, die Luzifer ersonnen hatte und die sich unschwer als Kanone identifizieren lässt. Mit deren Hilfe wendet sich das Blatt und Luzifer und die Seinen bekommen wieder Oberwasser. "Doch kurz war ihr Triumph. Die Gottesstreiter erholten sich vom ersten jähen Schreck." Und die Schlacht nähert sich ihrem Höhepunkt. "Der Himmel bebte; unerschüttert blieb nur Gottes Thron. Gedankenschnell war er in ihrer Mitte. Mit der rechten Hand warf er zehntausend Donner unter sie, die schmerzhaft sich in ihre Seelen bohrten. Hin war im Nu ihr Mut zum Widerstand, und kraftlos senkten sie die eitlen Waffen,"

Der Kampf dauerte drei Tage. Und am Ende dieser Schlacht "stürzten sich Luzifers Engel häuptlings selber hinab vom Himmelsrand." "Neun Tage fielen sie, das Chaos ward bei ihrem Fall durch Gottes verworrenes Reich zehnfach verwirrt, beschwert und überhäuft mit Schutt und Graus. Die Hölle nahm zuletzt sie gähnend auf und schloss sich über ihnen" Und Gott frohlockte. Hatte er doch seinen gefährlichsten Gegenspieler aus dem Himmel vertrieben und so seine Alleinherrschaft auf Dauer gesichert.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Oktober 2020.

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2020/10/23

IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT
von Dr. Karin Krautschick

Victor Klemperer und Heimrad Bäcker, ein Vergleich


Victor Klemperer und Heimrad Bäcker, beide Schriftsteller haben sich zeit ihres Lebens mit Sprache auseinandergesetzt. Sie haben die Sprache des Faschismus zu ihrem Gegenstand gemacht und untersucht, besonders auf ihren ideologischen Gehalt hin.

Leider sind beide zu Unrecht heute so gut wie vergessen.

Jeder analysierte auf seine Art das Uhrwerk dieser Sprache im Dritten Reich, das so perfekt funktionierte; ein Rädchen griff ins andere - deutsche Wertarbeit gewissermaßen.

Victor Klemperer untersucht die Sprache des Alltags und wie sich die Realität mittels der von der braunen Ideologie infizierten Sprache veränderte - zu ungunsten der Juden, denn er selbst kann als Jude nur dank seiner arischen Ehefrau überleben.

Heimrad Bäcker seziert diese ideologieverseuchte Sprache und stellt sie dadurch bloß, dass er sie einfach ausstellt wie einen Werbespruch beispielsweise, doch viel subtiler und sich selbst zurücknehmender als Victor Klemperer.
Wie unterschiedlich beider Wege sind, zeigt sich auch an dem ganz unterschiedlich akzentuierten Fokus, den sie jeweils setzen.

Bei Heimrad Bäcker ist das ganz wörtlich gemeint, denn er fotografiert das Grauen, im Nachhinein liefert er uns Zeugnisse des KZs Mauthausen und verschafft uns, als Nachgeborenen, einen Eindruck der Dinge, wie sie geschehen sind und auch geschehen konnten.

Das fotografische Dokument spricht für sich, braucht daher keine Erklärung. Ebensolches vollzieht sich auf der Ebene der sprachlichen Zeugnisse und Dokumente, die er aus dieser Zeit gesammelt und archiviert bzw. veröffentlicht hat. (siehe: »nachschrift« 1 + 2)

Durch Heimrad Bäckers Arbeiten wird klar, dass das Verbrechen in der Sprache selbst lag. Das trifft es im Kern.

Genau hinzuschauen, das lehrt uns Heimrad Bäcker, den Blick mitten hinein in den Abgrund, aus dem das Ungeheuer schaut und uns verschlingen will.
Durch den Blick des Künstlers bzw. den Blick des Philologen, wie bei Victor Klemperer, erleben wir eine sehr tiefe und sehr kritische Schau auf den Umgang mit einer derart instrumentalisierten und schlimm verhunzten Sprache, dass einem schlecht wird.

Der Rahmen ist gesetzt, da beide ihren Untersuchungsgegenstand immer als solchen gegenwärtig halten und nie abschweifen; beide sind sehr disziplinierte Arbeiter, die ihre Sache nie aus den Augen verlieren. Durch sie wird ein Fenster in die Vergangenheit geöffnet, durch das wir Heutige schauen können und somit unser Bild von uns als Erdbewohnern vervollständigen.

Bei Victor Klemperers weltbekannter »LTI« handelt es sich um eine selektive Zusammenschau der Gespräche, wie sie im Dritten Reich stattgefunden haben. Er sammelte Alles, was ihm vor die Nase kam und untersuchte es wie ein Maulwurf, der sich durchgräbt durch diesen Irrsinn der Beschneidung der freien Rede.
Er untersucht die Verwendung von sprachlichen Versatzstücken, wie sie in die Umgangs- aber auch in die Bürokraten-Sprache als "Nazisprech" Eingang gefunden haben.
Durch Klemperers »LTI« hätte auch die Wissenschaft die Möglichkeit, hier anzuknüpfen, denn Victor Klemperer arbeitet sehr genau. Als geschulter Geist lenkt er den Blick auf die Unheimlichkeit dieser unmerklichen Sprachveränderungen und was sie in den Köpfen der Sprecher anrichtete. Auch er beobachtet genau und hat ja seine Umgebung immer im Visier bezüglich seiner eigenen Sprachzensur, die er innerlich vornimmt, natürlich unter umgekehrten Vorzeichen.
Durch diesen Durchblick bewahrt sich Victor Klemperer seine Menschenwürde, denn er steht damit gewissermaßen über den Dingen. Mit diesem Metablick schafft er es, eine Distanz zu schaffen, die ihn davor bewahrt, diesen gelebten Schwachsinn zu tolerieren, EBEN WEIL ER DIE SPRACHE LIEBT. Als Gelehrter wendet er sich mit seiner Schrift an die Nachwelt, denn die Mitwelt hätte ihn dafür vernichtet.

Dieser Aufschreibewahn bewahrt ihn vor Schlimmerem, er überlebte dank ihm.
Nicht weil er es will, sondern weil er es muss, sonst wäre er kein Schriftsteller. Der Schriftsteller hat keine Wahl, er muss die Dinge aufschreiben. Das ist seine Berufung.

Fazit:
Die Sprache wird dort zur Täterin, wo sie für Täterzwecke missbraucht wird. Mit wissenschaftlichem bzw. künstlerischem Sachverstand haben sich beide Autoren an dieses Thema gewagt, um bei sich selbst und auch bei uns Lesern dieses Verständnis anzuregen.
Damit haben sie durch ihre Werke die Nachwelt sehr bereichert.
Durch ihre Schriften können und müssen wir verstehen, wie ein totalitäres System, vor allem in den Köpfen, existieren konnte und wie es die Massen ergriff, wie es sich des alltäglichen Denkens bemächtigte und aus den Menschen Bestien machte oder Mitläufer, die "nur" zugesehen haben.
Durch die Brillanz ihrer Arbeit ist uns etwas geschenkt worden, dass wir wertschätzen sollten, indem wir es wahrnehmen, uns damit beschäftigen und es an unsere Mitmenschen und auch unsere Kinder weiter geben. Ich sehe in ihrer Arbeit auch eine Kontinuität des Zeugnisablegens durch große Geister, wie wir es in der Literatur-, Kunstgeschichte, aber ebenso in der Wissenschaft haben.
Diese Kontinuität schreibt sich fort und deshalb plädiere ich für den Mut, sich der Vergangenheit zu stellen und Wertvolles für alle daraus zutage zu fördern. Ein immerwährender Weckruf.

Ausblick, wir Heutigen
Betrachtet man diese beiden Exponenten einer Bewegung des Widerstands und der Aufarbeitung, fällt auf, dass sie so gut wie nicht bekannt sind. Weder stehen sie in der Schule auf dem Lehrplan noch findet man sie im öffentlichen Diskurs, im Unterschied zu Predigern wie Adorno und anderen einschlägigen Sprechern aus der Predigerecke.
Warum ist das so ?
Hemmschwellen entstehen. Aus Angst anzuecken oder politisch nicht korrekt zu sein, wird geschwiegen und erneut eine Atmosphäre des Wegsehens und Nicht-darüber-Nachdenkens erzeugt.
Wir haben immer noch mit den Auswirkungen dieser Zeit zu tun. Das Thema ist zu wichtig, als es mit neuen Ideologien wieder zuzudecken. Es wird abgetan, in eine Schublade gesteckt, statt sich immer wieder neu, unter immer wieder neuen Voraussetzungen damit zu beschäftigen.
Wenn wir den Menschen in seiner Ganzheit erkennen und erfassen wollen, dürfen wir diesen Teil der menschlichen Natur nicht aussparen und einzelne Tyrannen an den Pranger stellen, das verkennt die Situation.
Diese Auswüchse sind Teil der menschlichen Natur und wir müssen uns ihnen stellen, sie dadurch bannen bzw. eindämmen im Sinne des Verbots.
Das Naziregime ist etwas, das erklärt werden kann, analysiert und damit in seine Schranken gewiesen, wenigstens auf der Reflexionsebene. Dass dieses "Pandaemonium linguae" nicht wieder ausbricht, dafür sind wir alle verantwortlich. Nicht nur die, die Schaden dadurch erlitten haben. Nichts ist für immer in Stein gemeißelt - in dieser Hinsicht haben uns diese beiden Meister ihres Fachs den Weg gewiesen, indem sie ihren Verstand benutzt und ideologische Grundannahmen überprüft haben.

Impliziert werden Fragen wie: Warum wir so und nicht anders denken sollen. Wem nutzen diese Scheuklappen im Denken ?
Was lernen wir daraus ? Für die Gegenwart und auch für die Zukunft.

© Dr. Karin Krautschick, Oktober 2020.

Zu Victor Klemperer seht bitte auch die Artikel vom 2018/04/27, 2018/05/28 und 2018/06/27 auf kuhlewampe.net, zu Heimrad Bäcker vom 2018/10/28.

Bibliografische Angaben:
Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1987. Reclam.
Heimrad Bäcker: nachschrift. edition neue texte. Literaturverlag Droschl. Graz - Wien. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Friedrich Achleitner. 3. Auflage 2018.


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2020/10/20

Rudolph Bauer
Parteigeschichte


das kriegsrüstungserbe
der partei
dienst am vaterland
auf französische
genossen geschossen
keine versöhnung
kein verzeihn

das antirevolutionäre erbe
der partei
staatsordnung hergestellt
arbeiter abgeknallt
genossen erschossen
keine träne war
keine scham

das weimarer republikerbe
der partei
betriebsräte statt räterepublik
kameraden verraten
hitler unterschätzt
keine einsicht war
keine furcht

das westzonenerbe
der partei
arbeiter angeführt
genossen den bossen
gegen die roten
klassenkampf war nicht
nur verrat

das DDR-erbe
der partei
zur SED vereinigt
marxismus als dogma
elend gescheitert
zusammen gehörendes
kommt zusammen

das rot-grüne erbe
der partei
scharpings humanitärer
schlag mit bomben auf belgrad
anno neunzig-neun
keine sühne war
kein kniefall

das schrödersche erbe
der partei
tony blair's new labour
wer kündigt der sündigt
fordern statt fördern
kein bewusstsein von schuld
nicht reuig

das merkelliberale koalitionserbe
der partei
grauen statt vertrauen
abwandernde wähler
zu den retrofaschisten
kein profil keine vision
null zukunft

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, Oktober 2020.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors dem Buch entnommen:
Rudolph Bauer: Zur Unzeit, gegeigt. Politische Lyrik und Bildmontagen.
Hamburg 2020. tredition. ISBN 978-3-347-06297-9.


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2020/10/17

Buchtipp: »Eine Hand voll Glück«
Eine Internationale Haiku-Anthologie aus Kronach
Herausgegeben von Ingo Cesaro

von Dr. Christian G. Pätzold


haiku-anthologie1


Ein schönes Künstlerbuch ist zu empfehlen: »Eine Hand voll Glück« aus der Neuen Cranach Presse Kronach. Das Thema des Buches ist natürlich Glück, das wir alle dringend brauchen. Ingo Cesaro veröffentlicht seit Jahren zahlreiche Bücher mit Lyrik in Kronach in Oberfranken. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Internationale Haiku-Anthologie, die 2019 erschienen ist. Wobei International bedeutet, dass DichterInnen aus verschiedenen Ländern mit Haikus vertreten sind. Die Haikus selbst sind alle original in deutscher Sprache oder in die deutsche Sprache übersetzt worden.

Haikus sind Kurzgedichte, ursprünglich aus Japan, tatsächlich die kürzeste Gedichtform der Welt, die sich aber auch in Deutschland und in vielen anderen Ländern seit einigen Jahrzehnten großer Beliebtheit erfreuen. Ein Haiku besteht aus 3 Zeilen mit dem Silbenrhythmus 5 : 7 : 5. Haikus erinnern manchmal an kurze Aphorismen, die in Deutschland seit Jahrhunderten bekannt sind. Über die Eigenschaften eines japanischen Haiku heißt es bei Wikipedia:
"Ein Haiku ist konkret. Gegenstand des Haiku ist ein Naturgegenstand außerhalb der menschlichen Natur. Abgebildet wird eine einmalige Situation oder ein einmaliges Ereignis. Diese Situation oder dieses Ereignis wird als gegenwärtig dargestellt. Im Haiku findet sich ein Bezug zu den Jahreszeiten. Dem Bezug auf die Jahreszeit dienen Kigo, spezielle Wörter oder Phrasen, die in Japan allgemein mit einer bestimmten Jahreszeit in Verbindung gebracht werden."

Die Haikus des Buches wurden aufwändig im Handsatz gesetzt und im Buchdruck auf Werkdruckpapier im Japanblock gedruckt. Alles wurde in Narbenkarton mit Durchstichbindung gebunden. Die nummerierte und signierte Auflage liegt bei 400 Exemplaren. Die Bücher können unter folgender Adresse bestellt werden:
NEUE CRANACH PRESSE KRONACH, Joseph-Haydn-Straße 4, D 96317 Kronach.
Mail: ingocesaro@gmx.de.

Das Buch enthält insgesamt 348 Haikus. Hier nur einige Haikus zum Thema Glück als Kostprobe aus dem Buch:

Deine Punkte sind
Meine einzige Hoffnung -
Marienkäfer.

Karina Lotz, Frankfurt (Main)


Glücks-Cent gefunden
Ob er hält, was er verspricht?
ich hoffe es sehr.

Claudia Cloos, Ebsdorfergrund


Das Glück kommt vorbei.
Überraschenderweise
bin ich nicht zu Haus.

Edith Schulze, Schwerin


Drei letzte Worte
Ich hole Zigaretten
So begann ihr Glück

Ellen Eckhardt, Griesheim


Tropfen auf Tropfen
des Frühlingsregens auf dem
glücklichen Gesicht

Dejan Bogojevic, Valjevo, Serbien
Deutsche Fassung Dragan J. Ristic


Die Äpfel im Gras
lange vor dem Erntemond
Nachtmahl für Igel

Bettina Haubold, Berlin


Heikel ist das Glück
und ebenso zerbrechlich
Pech ist dauerhaft

Marc Mandel, Griesheim


Glücksschwein quiekt mich an.
Dann Schornsteinfeger berührt.
Trotzdem umgeknickt.

Gisela Gülpen, Kronach


Für Schopenhauer
Ist Glück das zufällige
Fehlen von Unglück

Horst Leopold Konopatzky, Berlin

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2020/10/14

Markus Richard Seifert
Kein Mohr namens Glinka
"Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen!"


umohrenstrasse
U-Bahnhof Mohrenstraße in Berlin Mitte, August 2020.


"Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen!" Dieser Satz aus der klassischen Literatur, der allgemein dem deutschen Dichter Friedrich von Schiller zugeschrieben wird, könnte auch auf die Berliner "Mohrenstraße" bald seine Anwendung finden, deren Umbenennung nun schon seit Jahren heftig diskutiert wird. Mohren, vom spanischen Wort "los moros", was zu Deutsch "die Mauren" bedeutet, ist - verallgemeinert gesprochen - ein Wort für dunkelhäutige Menschen aus Afrika, was heute als diskriminierend empfunden wird. Daher ist inzwischen auch das Wort "Mohrenköpfe" verpönt. Ebenso wie die "Negerküsse", die inzwischen - politisch korrekt - "Schaumküsse" genannt werden sollen.

Aber zurück zur Mohrenstraße in Berlin-Mitte. Da die Berliner Bezirkspolitik es nicht schafft, diesen Straßennamen aus dem Berliner Stadtplan zu entfernen (warum auch immer), wollen wenigstens die Berliner Verkehrsbetriebe (kurz BVG genannt) den dortigen U-Bahnhof umbenennen. Neuer Name, wohl eher eine Verlegenheitslösung, soll nun Glinkastraße sein, der Name einer Querstraße ganz in der Nähe. Aber schon gibt es Proteste dagegen. Denn Michail Iwanowitsch Glinka (1804-1857), ein Musiker, so wird behauptet, soll ein "Antisemit" gewesen sein. Bekannt wurde er durch den außerordentlich demokratischen Ausspruch "Es ist das Volk, das die Musik schafft. Wir Musiker arrangieren sie nur!" Außerdem gilt er als der Schöpfer der Zarenhymne, aus seiner Oper »Ein Leben für den Zaren« von 1836, aber das nur nebenbei bemerkt.

Kurz gesagt: Die Diskussion bleibt also spannend, zumal die U-Bahn-Station "Mohrenstraße" wohl eine der am häufigsten umbenannten im Berliner Stadtgebiet sein dürfte. Zuerst hieß sie "Kaiserhof", nach einem nahe gelegenen Hotel gleichen Namens, in dem Adolf Hitler 1933 auf seine Ernennung zum deutschen Reichskanzler gewartet hat. Später, als der Ost-Berliner Teil der "Wilhelmstraße" in "Otto-Grotewohl-Straße" (nach dem ersten Ministerpräsidenten der DDR) umbenannt wurde, hieß der dortige "Wilhelmplatz" nunmehr "Thälmannplatz", nach dem Bau der Berliner Mauer einer der beiden Endbahnhöfe der heutigen U-Bahnlinie U2. Und als sich nach dem Mauerfall 1989 die Diskussion über die Rückbenennung der Ost-Berliner "Otto-Grunzewohl-Straße" (so hieß sie ja im Volksmund) in "Wilhelmstraße" hinzog (in Berlin dauern solche Debatten oft länger als nötig), da gebar die Berliner BVG ihre erste Verlegenheitslösung und sie nannte den dortigen U-Bahnhof in "Mohrenstraße" um. Denn die Umbenennung der "Otto-Grotewohl-Straße" in "Toleranzstraße" war in den Tagen der "Wende" leider nicht durchsetzbar gewesen.

U-Bahnhof Glinkastraße also. Doch ob diese Namensgebung von Dauer ist, darf angesichts der kontroversen Diskussion, mit der sie begrüßt wurde, mehr als bezweifelt werden. Übrigens soll die Berliner "Mohrenstraße" nach einigen Leib-Mohren benannt worden sein, die der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I (1688-1740) "besessen" hat. (Auch Zar Peter der Große hatte einen so genannten "Leib-Mohren" namens Hannibal, Urgroßvater des berühmten russischen Dichters Alexander Puschkin).

Bleibt noch anzumerken, dass einige Straßen in Berlin gar nicht so heißen, wie sie zu heißen scheinen: So zum Beispiel die "Koenigsallee" im Ortsteil Grunewald, die rein gar nichts mit der preußischen Monarchie zu tun hat, sondern nach dem Berliner Bankier Felix Koenigs (1846-1900) benannt ist. Und auch der "Hagenplatz" und die "Hagenstraße" dortselbst sind keineswegs nach der Sagenfigur Hagen von Tronege (oder auch von Tronje) aus dem "Nibelungen-Liede" benannt worden, sondern nach dem "biederen" Forstmeister des Grunewaldes Otto von Hagen (1817-1880). Aber das ist eine andere Geschichte.

Inzwischen ist ein "neues Bild" entstanden: Denn die zuständige Bezirksverordneten-Versammlung (BVV) von Berlin Mitte hat im August beschlossen, die umstrittene "Mohrenstraße" nach einem gewissen Anton Wilhelm Amo aus dem 18. Jahrhundert zu benennen, dem ersten Gelehrten aus Afrika an einer deutschen Universität. Ein Beschluss, mit dem sich leben lässt.

© Markus Richard Seifert, Oktober 2020.

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2020/10/11

Fotos aus Agra


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Das Taj Mahal in Agra, spiegelt sich im Wasserbecken.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 1973.


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Kamel auf der Straße in Agra.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 1973.


wr013-agra
Rhesusaffen in der Nähe des Taj Mahal in Agra
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 1973.


wr014-agra
Das Taj Mahal in Agra in der Ferne vom Fort aus gesehen, am Fluss Yamuna.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 1973.


Postskriptum zum Taj Mahal, Oktober 2020:

Indien hat heute eine Hindu-nationalistische Regierung. Die Hindu-Nationalisten bekämpfen alle anderen Religionen und wollen einen reinen hinduistischen Staat. Natürlich sind ihnen alle moslemischen Bauwerke ein Dorn im Auge. Sie würden am liebsten alle Moscheen einreißen. Auch das Taj Mahal mit seinen Minaretten ist offensichtlich ein moslemisches Mausoleum, das von den Hindu-Nationalisten nicht gern gesehen wird. Es erinnert sie an die Fremdherrschaft der islamischen Moguln in Indien. Insofern steht das Taj Mahal heute auf wackligen Füßen, obwohl es das berühmteste Bauwerk Indiens ist.

Damals 1973, als ich in Agra war, war die Stimmung in Indien noch anders. Indira Gandhi war Premierministerin und die Congress Party die herrschende Partei. Sie verfolgten eine weltliche Politik, in der keine Religion besonders bevorzugt wurde. Die Menschen hatten die multikulturelle Zusammensetzung der indischen Bevölkerung eher akzeptiert und toleriert. Es gab auch starke sozialistische und kommunistische Strömungen in Indien. Heute ist die Stimmung leider sehr in Richtung eines rechten religiösen Hindu-Nationalismus gekippt.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2020/10/08

Tagebuch 1973, Teil 45: Agra (Uttar Pradesh)

Dr. Christian G. Pätzold


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Das Taj Mahal in Agra.
Quelle: Wikimedia Commons. Foto von Yann Forget.


10. Oktober 1973, Agra, Mittwoch

Am Morgen in Agra angekommen war es eine kleine Tortur, ein Hotelzimmer zu finden, schließlich sind wir im "Taj Hotel" untergekommen. Morgen ist der Tag der "Main Reflection of the Moon" (Der Voll-Mond spiegelt sich dann besonders schön in den Edelsteinen der Fassade des Taj Mahal) und die meisten Hotelzimmer waren von Indern, die von überall herkamen, besetzt.
Im Restaurant haben wir einen Moslem getroffen, der als indischer UNO-Transportoffizier im Gazastreifen war. Er betonte besonders, dass Deutsche und Inder Arier seien und dadurch die gleichen Gefühle hätten. (Ich habe dazu zwar nichts gesagt, aber innerlich habe ich bezweifelt, dass es so etwas wie "deutsche Gefühle" gibt. Meiner Meinung nach gab es in Deutschland sehr unterschiedliche Gefühle bei verschiedenen Personen.) Hitler würde von vielen bewundert. "Er hat leider ein paar Fehler gemacht, sonst würden die Deutschen die ganze Welt regieren." Das Swastika-Hakenkreuz-Zeichen war in Indien häufig zu sehen, auch als Halsumhang.
Der Hotelchef sagte abends, dass "die Armen noch ärmer werden und die Reichen noch reicher." Er klagte darüber, dass die Preise stiegen, und sagte, dass der Manager 200 Rupees (entspricht 50 DM) im Monat verdiene, der Koch 130 Rupees, andere Kräfte wie Brotbäcker etc. 70 Rupees. Ein Rikschafahrer mache durchschnittlich 3 Rupees (etwa 1 DM) am Tag. Die Leute seien alle unterernährt, die Rationierung von Brot pro Tag sinke ständig.

Natürlich haben wir noch das Taj Mahal besucht, das einen einzigartigen Eindruck hinterlassen hat. Abends wenn es weniger voll ist und das Mondlicht auf den weißen Marmor scheint, kommt die Magie des Taj Mahal besonders stark zum Ausdruck.
Taj Mahal bedeutet übersetzt Krone des Palastes. Der Kern des Taj Mahal besteht aus gebrannten Ziegelsteinen, ist aber außen und innen vollständig mit weißen Marmorplatten verkleidet, so dass der Eindruck eines riesigen Marmorgebäudes erscheint. In den weißen Marmor sind als Intarsien Blütenmotive aus 28 verschiedenen bunten Edelsteinen und Halbedelsteinen eingearbeitet. Zu den verarbeiteten Edelsteinen gehörten: Jaspis, Karneole, Achat, Kristall, Lapislazuli, Saphire, Korallen, Granate, Diamanten, Onyx, Heliotrop und Türkise.

Im Taj Mahal befinden sich nur die Gräber von Großmogul Shah Jahan und seiner großen Liebe Mumtaz Mahal, die 1631 gestorben war. Es handelt sich also um ein riesiges Mausoleum, das in den Jahren 1631 bis 1648 erbaut wurde und ursprünglich nur für Mumtaz Mahal vorgesehen war. Direkt hinter dem Taj Mahal fließt der Fluss Yamuna. Das Taj Mahal gilt, nach weit verbreiteter Ansicht, als das schönste Bauwerk der Welt. Nachdem ich viele Bauwerke auf der ganzen Welt gesehen habe, bin ich eigentlich auch der Meinung, dass das Taj Mahal das schönste Bauwerk ist.

Beim Taj Mahal ist alles auf architektonische Verspieltheit ausgelegt und nicht auf Funktionalität. Für einen einzelnen Sarg hätte eine kleine rechteckige Hütte ausgereicht. Am Taj Mahal ist eigentlich alles überflüssig: Die Größe des Monuments, der oktogonale Grundriss, die Kuppeln, der weiße Marmor mit den eingelegten Edelsteinen, die 4 Minarette. Das ganze Bauwerk sollte nur die Schönheit der Liebe demonstrieren. Das war vielleicht etwas zu viel Romantik. Shah Jahan wurde von seinem Sohn Aurangzeb gestürzt und für den Rest seines Lebens eingesperrt.

11. Oktober 1973, Agra, Donnerstag

Wir haben heute eine Fahrrad-Rikscha für den ganzen Tag für 5 Rupees gemietet, der Fahrer hat uns in der ganzen Stadt herumgefahren. Der Rikschafahrer sagte, er bekomme pro Tourist, den er zu einem Geschäft fahre, 25 Paisas vom Geschäftsinhaber und wenn sie was kaufen 5 % vom Umsatz. Die Rikscha unseres Rikschafahrers war eine Art Anhänger, in dem wir saßen, und er, der leichter war als einer von uns, saß auf seinem vorgespannten Fahrrad und musste in die Pedalen treten. Seine Wadenmuskeln waren sehr stark ausgebildet. Busse gab es nicht in Agra und obwohl es uns widerstrebte, in einer Rikscha gefahren zu werden, würde der Mann, der Vater von 3 Kindern war, sonst vielleicht gar nichts verdienen, denn es gab ein Überangebot an Rikschas.
Auf unserer Fahrt sahen wir etwas typisch Indisches. Wir liefen einen Hügel hinauf, weil unser Fahrer uns nicht hochkriegte, und sahen plötzlich auf einer Mauer lauter Affen sitzen, Rhesusaffen um genau zu sein. Sie waren überhaupt nicht scheu. Die Affen waren kräftig und schlau, konnten überall hochklettern und springen. Es war schon etwas Besonderes für mich, dass hier Affen so frei herumliefen, was mir noch nie begegnet war. Andererseits war in Indien sehr vieles wundersam.
Dahinter auf einem großen Rasenplatz bot sich ein interessantes Schauspiel: Zwei Wasserbüffel, die von einem Mann geführt wurden, zogen einen Rasenmäher hinter sich her, auf dem ein Mann stand, um ihn zu beschweren. Hinter dieser sonderbaren Kolonne ging ein weiterer Mann und harkte das geschnittene Gras zusammen. Arbeitslosigkeit, moderne und mittelalterliche Technik reichten sich auf dem Nachlass der Engländer, dem englischen Rasen, die Hand.
Wir haben uns die Studentenermäßigung für die Bahnfahrt nach Varanasi besorgt, was wieder ewig dauerte. Das Studententicket für die Bahnfahrt Agra - Varanasi (Benares) kostete 3. Klasse 10 Rupees, 1. Klasse 30 Rupees. Wir haben das Rote Fort besichtigt, das ich beeindruckend fand, mit Elefantenaufgang, Palästen.

Abends sind wir wieder zum Taj Mahal gegangen, das wegen der Reflektion des Mondes ziemlich überfüllt war. Ich habe das Glimmen der Edelsteine im Mondschein gesehen, fand die Reflektion des Mondes aber nicht so überwältigend. Deswegen waren die anwesenden Inder auch wohl mehr mit dem Betrachten der ausländischen Touristen beschäftigt als mit der Widerspiegelung des Mondes in den Edelsteinen.

Der Verkaufsschlager für die Touristen in Agra waren Star Rubys (Stern-Rubine), die etwa 10 bis 15 Rupees das Karat (= 0,2 Gramm) kosteten. Sie waren als Cabochon geschliffen und hatten als Lichtreflexion auf der Spitze eine 6-strahligen Stern (Asterismus), eine reine rote warme Farbe und keine Flecken. Ich habe keine Rubine gekauft, da ich erstens kein Edelsteinexperte war und keine Fälschungen angedreht bekommen wollte. Zweitens hatte ich keine Lust, Edelsteine auf der Reise mitzuschleppen und auf sie aufzupassen. Als weiteres Touristensouvenir gab es weißen, harten Marmor mit Halbedelsteinen ausgelegt, Blumenmuster auf Platten, Aschenbechern, Zigarrenkisten und Schachbrettern. Die Muster waren den Ornamenten auf dem Taj Mahal nachgeahmt und wunderschön. Außerdem gab es Sitars zu kaufen für einen Preis von 200 bis 500 Rupees, aus Teak und Mangoholz.
Ich habe englischsprachige Zeitungen gelesen: "Times of India", "Hindustan Times", "Weekly Blitz". Die Auflage der englischsprachigen Zeitungen war höher als die der anderen Zeitungen. Die englische Sprache war aufgrund der englischen Kolonialherrschaft in Indien noch weit verbreitet und diente als Verständigungsmittel zwischen den indischen Ethnien und mit Ausländern.

Exkurs: Indien und die Tierwelt

Tiere hatten in Indien einen viel größeren Stellenwert als in Deutschland. 1973 konnte man häufig beobachten, dass Kühe, Wasserbüffel, Schweine, Hunde, Ziegen oder Schafe in den indischen Städten mitten im Autoverkehr auf den Straßen frei herumliefen. Ein halber Zoo auf der Straße. Die Autofahrer verhielten sich relativ rücksichtsvoll und umrundeten die Tiere, so dass ihnen meist nichts passierte. Die Tiere waren normale Stadtbewohner, wobei mir unklar war, ob sie jemandem gehörten oder nicht. Man muss dabei auch wissen, dass die vielen Kühe für die Hindus heilig waren und nicht geschlachtet und gegessen werden durften. Wahrscheinlich ernährten sie sich von allerhand Abfällen und wurden vielleicht auch von Gläubigen mit Futter versorgt. Das hatte vielleicht auch etwas mit der Reinkarnation zu tun, mit dem Glauben der Hindus an die Wiedergeburt des Menschen zum Beispiel als Tier.
An einigen touristischen Orten gab es Schlangenbeschwörer, die mit ihren Kobras Vorführungen veranstalteten. Dabei bliesen sie eine Melodie auf einer Tröte, worauf die Schlange aus ihrem Körbchen erschien und sich nach der Musik bewegte.

Es gab auch zahlreiche Affen in den Städten, die Affen waren für die Hindus auch heilige Tiere. In Europa gibt es nur im kleinen Gibraltar an der Südspitze Spaniens wild lebende Affen. Als Europäer muss man sich erst an die Affen in Indien gewöhnen. Sie können einem das Frühstück vom Teller klauen, wenn man nicht aufpasst. Auf dem Land sieht man in Indien häufig Pfauen, in Deutschland dagegen Spatzen. Spatzen und Pfauen, das ist in etwa der Unterschied in der Exotik zwischen Deutschland und Indien.
Ansonsten gab es in Indien natürlich noch spektakuläre Tiere, von denen man in Deutschland nur träumen konnte, wie wilde Elefanten, Tiger, Löwen und Panzernashörner. Aber diesen Tieren bin ich nicht live begegnet. Sie lebten in speziellen Schutzgebieten.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2020.


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Portrait von Shah Jahan, Mitte 17. Jahrhundert. Quelle: Wikimedia Commons.
Ein Bild von Mumtaz Mahal kann man bei Wikipedia anschauen.

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2020/10/05

Fotos aus Jaipur


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Schlangenbeschwörer, als Touristen-Attraktion vor dem City Palace in Jaipur.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 1973


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Schlangenbeschwörer. Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 1973


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Eingang zum City Palace in Jaipur.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 1973


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2020/10/02

Tagebuch 1973, Teil 44: Jaipur (Rajasthan)

Dr. Christian G. Pätzold


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Der Palast der Winde (Hawa Mahal) in Jaipur. Von den Fenstern aus konnten
die Frauen des Palastes das Treiben auf der Straße beobachten.
Quelle: Wikimedia Commons. Foto von A. Savin 2016.


8. Oktober 1973, Jaipur, Montag

Wir sind nachts mit dem Reisebus nach Jaipur gefahren. Im vollen Bus zu schlafen war kaum möglich, ständig wurde das Licht angeknipst, der Bus hielt alle 2 Stunden irgendwo auf dem Land. Der Himmel in der dunklen Nacht auf dem Land in Indien hatte tausende Sterne, die blinkten. Der Anblick war fantastisch. Ich hatte noch nie so viele Sterne am Himmel gesehen. Besonders sind mir 3 wunderschöne Sterne aufgefallen, die besonders stark leuchteten. Leider hatte ich keine astronomischen Kenntnisse, um die zahlreichen Sternbilder zu identifizieren. Am Berliner Nachthimmel konnte man nie so viele Sterne mit bloßem Auge sehen, wegen der Lichtverschmutzung in der Stadt. Auch tagsüber hatten wir Glück. Es war immer schönes Wetter und Sonnenschein in Indien, in diesem Oktober und November 1973.

Morgens um 5 Uhr sind wir in Jaipur angekommen. Ich war jetzt in Rajasthan, die Sprache hier ist Hindi, Rajasthan bedeutet wörtlich übersetzt Land der Könige, weil es hier früher so viele Herrscher (Maharajas) und Königreiche gab. Jaipur ist die Hauptstadt von Rajasthan.
Nach der Ankunft sind wir erstmal mit einer Motorrikscha durch die halbe Stadt gefahren worden, um ein passendes Hotelzimmer zu finden. Der viel gepriesene Tourist Bungalow war angeblich voll und der Pförtner hat uns ziemlich angemotzt, 2 andere Hotels haben uns nicht gefallen und schließlich sind wir dann im Hotel Imperial für 25 Rupees das Zimmer abgestiegen. Natürlich mussten wir uns mit dem Rikschafahrer lang und breit über den Fahrpreis streiten. Wir haben uns erstmal von der Reise erholt. Abends sind wir in der Stadt spazieren gegangen.

Der Wechselkurs in Indien war etwa 1 DM zu 3,6 Rupees, oder abgerundet 4 Rupees für 1 Mark. Eine indische Rupie war unterteilt in 100 Paisas, so dass 40 Paisas etwa 10 Pfennig entsprachen.
Einige typische Preise in den Städten im Oktober 1973:
Flasche Coca/Fanta 60-70 Paisas. 1 Brot (Chapati) 20 Paisas, im Restaurant 50 Paisas. 1 kleiner Topf Gemüse 1-2 Rupees. 1 Tasse Tee (Chai) 20-30 Paisas. 1 Halsband aus Jasminblüten 30-50 Paisas. 1 Kilogramm Fisch 10 Rupees. 1 Kilo Fleisch 6-8 Rupees. 1 Glas Milch 50 Paisas bis 1 Rupee, wegen Milchknappheit. 1 Paar Wasserbüffelsandalen 8-15 Rupees. 1 Krepphemd mit langen Ärmeln 15 Rupees.
(Heute im Oktober 2020 ist der Wechselkurs übrigens: 90 Rupees für 1 Euro.)

9. Oktober 1973, Jaipur - Agra, Dienstag

Morgens haben wir den wunderschönen Maharaja-Palast (City Palace) von Jaipur besichtigt, der aus mehreren einzelnen Palastgebäuden besteht und auch ein astronomisches Observatorium beinhaltet, das schon einige Jahrhunderte alt ist. Das Pfauentor im City Palace ist sehenswert. Vor dem Observatorium saß ein Schlangenbeschwörer mit Kobras in Körbchen. Er blies auf einer Tröte, worauf sich die Kobras nach der Melodie bewegten. In Indien sah man öfter auf der Straße verschiedene Künstler mit Darbietungen, auch Fakire.

Abends haben wir den Bus nach Agra genommen, das 223 Kilometer von Jaipur entfernt ist. Im Bus haben wir einen Mann getroffen, der sich über die Korruption und die Verwandtenwirtschaft im öffentlichen Dienst in Indien beschwert hat. Er beklagte sich auch über die steigenden Preise und über Leute, die Getreide und andere Güter horteten, um die Preise zu steigern. Er sagte, es sei hier keine Seltenheit, dass Regierungsbeamte Feste feierten, während die Bevölkerung rundherum verhungerte.
Wir haben noch mit einer Frau im Bus geredet, die gerade die Prüfung für die Aufnahme in den Regierungsdienst machte, dort sei die Zahl der Frauen verschwindend gering. Sie war die Tochter eines wohlhabenden Vaters und sprach über die Fortschrittlichkeit der Regierung, obwohl es ihrer Familie im Augenblick unheimlich schlecht ging. Ihr Vater hatte Pocken, ihr Bruder Typhus und ein Kind in der Familie war gerade gestorben. Ich war froh, dass ich gegen alle möglichen Krankheiten schon vor der Reise geimpft wurde. Aber später wurde ich in Indien doch noch ziemlich krank. Man muss bei unseren Gesprächen in Indien immer bedenken, dass wir mit gebildeten Menschen der oberen Schichten gesprochen haben, die Englisch sprechen konnten. Indien erschien mir widersprüchlich. Einerseits war Indien teilweise unglaublich schön und bunt. Andererseits war Indien aber auch eines der kränkesten und verseuchtesten Länder der Erde.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2020.

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2020/09/30

vorschau10

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2020/09/27

Wolfgang Weber
holz würfel rap


Textetisch Juni 2020. Thema: Notwendigkeit & Zufall
Jacques Monod, Biochemiker, Molekularbiologe, 1965 Nobelpreis für Physiologie oder Medizin
1970 Zufall & Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie


1

zufall & notwendigkeit
notfall & zu-wendigkeit
notwendig oder zugefallen

rappt mit mir
den öko holz würfel rap
rappt ihn mit mir

dies ist ein notfall
dieser text braucht zu-wendung
immer noch nicht geschrieben

rappt den öko
zündet das holz
würfelt den rap

ist dieser text überhaupt notwendig
er handelt nicht vom
öko holz würfel

weder von biologie chemie medizin
noch von jacques monod biochemiker & molekularbiologe
hasard partout sans necessite zufall allüberall ohne notwendigkeit

rappt den würfel
das holz & blech
zündet öko grill & kamin

2

le hasard et la necessite. essai sur
la philosophie naturelle de la biologie moderne
dix-neuf cent soixante-dix 1970

übersetzt als: zufall & notwendigkeit
philosophische fragen
der modernen biologie

my name is jack
I live in the back
of the greta garbo home

ich heisse jack
& lebe am ende des
greta garbo heims

rappt den öko
zündet den rap
grillt das holz

our names are jack fred
superman carl tom & ma
we live in the back

wir heissen jack fred
superman karl tom & mama
& leben am ende des heims

3

den nobelpreis erwarte ich
nicht für diesen text
nicht so schnell

würfelt den rap
rappt das holz
rappt den jakob hein

my name is jack
manfred mann group
nineteensixtyeight 1968

prix nobel pour jacques monod
francois jacob et andre lwoff
soixante-dix neuf cent soixante cinq 1965

nobelpreis für physiologie oder biologie an
jacques monod francois jacob & andre lwoff
1965

4

je rappe l’eco et l’euro
l’ecologie et l’economie
je rappe le ‘ip et le ‘op le ‘ip’ op
oui je rappe l’old school.

ich rappe öko & euro
ökologie & ökonomie
ich rappe den hip & den
hop ja den hip hop old school

je rappe le barbecue
et le four backofen
je rappe au carrefour an der kreuzung
je rappe toujours

ich rappe grill backofen herd & pfanne
ich rappe an der kreuzung & an der ampel
ich rappe & bleibe jung

je suis jacques
je suis francois et andre
nous sommes monod lwoff & jack

ich bin jacques
& auch francois & andre
wir sind monod lwoff & jacob

die drei vom nobelpreis für entdeckungen
auf dem gebiet der genetischen kontrolle
der synthese von enzymen und viren

prix nobel pour decouvrir
le controle de la synthese
des enzymes & des virales

war es wirklich notwendig
diesen text zu schreiben
nur wegen der deadline
bald ist schluss

rappt mit mir den T E R M I N
würfelt mit mir
grill kamin ofen feuerstein

warum nur schreibe ich
erst jetzt diesen text
es ist wie verhext

5

my name is jack
i live in the back
of the greta garbo home

ich heisse jack
& lebe am ende des
greta garbo heims

verflixt & zugenäht
könig zufall regiert die welt
mit & ohne geld

jakob hein psychiater & autor
gab mir die idee zum rap im netz
was würde diese band spielen:

ökologische anzünd-würfel

ökologische anzünd-würfel
für grill kamin ofen & feuerstellen
zweiunddreißig stück
auf basis von holz & raps

ja ja ja das ist der
öko holz würfel rap
gezündet frei nach jakob hein

vor ein paar wochen
begegnete mir jochen
der kaute an einem knochen
wir haben sogar gesprochen
ich und der jochen

du öko vom grill was tust du da
ich rappe den holz würfel rap
jochen mag den raps so schön gelb
welche farbe hat mein rap

6

kommissar zufall regiert die welt
nicht nur im krimi
auch beim geld

ist dieser text zufall
nein hab mich extra
dafür hingesetzt gegrübelt recherchiert

my name is jack
i live in the back
of the greta garbo home

ich heisse jack & lebe
hinten im greta garbo heim
für gestrauchelte jungs & mädchen

for wayward boys & girls
we all love jack
our name is jack

wir alle lieben jack
wir alle heissen jack
& hocken auf einem fleck

rappt mit mir
den öko holz würfel rap
rappt den zufall & die notwendigkeit
seid ihrs auch schon leid

rappez le hasard et la necessite
rappez jack in the box de erik satie
rappez l’ecologie & l’economie
rappez le ’ip et le ’op l ’ip ‘op
rappez l’old school du message de rappers’ delight

rappt zufall & notwendigkeit
rappt jack in the box von erik satie 1899
rappt öko hip & hop hip hop old school
mit der message von rapper’s delight

© Wolfgang Weber, September 2020.

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2020/09/25

Sabine Rahe
Momentum


Kalter Nacken.
Gläserner Blick.
Staksige Äste abgeknickt.
Tropfen tropfen monoton.
Farben bleigrau monochrom.

Klickend ticken Zeiger auf der Stelle.
Unbewegt steht Dunkel vor der Schwelle.
Ruhelos streifen die Augen umher,
finden im Ungefähren den Anker nicht mehr.

Brüllend das Schweigen.
Leer der Ton.
Ertrunken im Dämmerlicht
alle Illusion.

© Sabine Rahe, September 2020.
www.die-dorettes.de.

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2020/09/22

Sonnenuntergang in Berlin


sonnenuntergang
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.


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2020/09/19

dr. christian g. pätzold
kommentar zum berliner stadtschloss


eine monarchistische erzählung:
palast der republik abgerissen
mit schaufelbaggern sehr beflissen
nach 30 jahren wiedervereinigung
gibt’s eine neue fertigung
das stadtschloss steht
die zeit zurückgedreht
brarockfassade aufgebaut
goldenes kreuz auf der kuppel hochgeschaut!
nach weiteren 30 jahren
ihr könnt es bald erfahren
der deutsche kaiser ist einquartiert
orden an die cdu/csu installiert
die monarchie blüht in natura
deutsches kaiserreich hipphipp huhurra!

eine sozialistische erzählung:
palast der republik abgerissen
erichs kristalllampen sind verschlissen
die volkskammer der ddr ist abgeschafft
kapital und immobilien zusammengerafft
das potemkin stadtschloss ist aufgebaut
der anblick ist recht altvertraut
symbol des deutschen imperialismus,
des militarismus und kolonialismus
tarnname ist "humboldt-forum"
wilhelm und alexander drehn sich im grabe um
in tegel scheinen die steine zu zittern
sie können nicht anders als sich zu erbittern
nach weiteren 30 jahren
ihr könnt es bald erfahren
revolution, dynamit, und peng!
das stadtschloss ist weg mit zislaweng
hinfort mit dem modrigen anachronism
long live international socialism!

eine faschistische erzählung:
das stadtschloss ist ja recht mickrig
eigentlich nur ein affenkäfig
verglichen mit der großen halle, traritrara,
der welthauptstadt germania,
die zehnmal größer, gewaltiger,
erhabener und kolossaler
auf dem tempelhofer feld emporsteigt
die masse lauscht und schweigt
wenn dort der führer seine predigt
an das deutsche volk erledigt.

eine bürgerliche erzählung:
im stadtschloss hält der bundespräsident
seine neujahrsansprache an die mitbürgerinnen benevolent
die bundesverdienstkreuze werden verliehen
das deutsche ehrenamt möge erblühen
zu poplig ist schloss bellevue
unter den linden ist die avenue!
im innenhof steht als szenarium
eine statue für das freie unternehmertum
und am eingang prangt, ist das pervers,
eine güldene büste von monika grütters.

eine grüne erzählung:
auf des stadtschlosses dach für die balina
glänzen solarzellen aus china
für das urban gardening
steht im schlosshof ein hochbeet mit kräuterring
außerdem eine linde zum umarmen
um uns der geschundnen natur zu erbarmen
an der fassade sprießt der efeu
im innern vegane cafés ganz neu
sowie eine fahrradreparaturwerkstatt
dort bekommt jede ökologin rabatt.

liebe futurologen, sagt uns bitte,
was bringt die zukunft in berlins mitte?


stadtschloss
Das goldene Monika-Grütters-Kreuz (CDU) auf dem Kaiserschloss in Berlin Mitte.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, August 2020.


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2020/09/16

Wirklich nur Humboldt-Forum?

von Markus Richard Seifert


In Berlin wird wieder ein SCHLOSS gebaut
ich habe es selbst gesehen.
Doch hat man sich’s so nicht zu nennen getraut
das Humboldt-Forum soll hier entstehen.

Es steht genau wo das alte stand -
an der Spree, dem Fluss von Berlin.
Dort wächst es empor aus märkischem Sand
ebenso schnell wie kühn.

Doch zwischendurch stand da ein anderes Haus
genannt der "Palast der Republik".
Aus viel Beton und noch mehr Glas
aber das ist nun wieder weg.

Und drinnen Restaurants und Kegelbahn.
Auch der "Volkskammer" sei hier gedacht.
Doch kam es auf "die" nicht wirklich an
die hatte nur wenig Macht.

Aber nun wird das Schloss wiederaufgebaut
allerdings nur die "alte" FASSADE.
Beachtlich, daß "man" sich das wieder traut
doch nur die Fassade - das ist SCHADE!

Jaaa, das wäre ein PAUKENSCHLAG:
Nicht nur Schloss, sondern wieder ein Kaiser.
Vielleicht verkehrt, doch es wär’ eine Tat
aber die Zeit von heute ist leiser.

So kommen wohl "nur" Museen hinein
Museen und vielleicht Bibliotheken.
Mehr wird es nicht und mehr soll’s nicht sein
alles andere hat zu viel "Hypotheken".

© Markus Richard Seifert, September 2020.

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2020/09/13

ingocesaro7


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2020/09/10

im wirren irrenhaus des kapitals

Buchtipp:
Rudolph Bauer: »Zur Unzeit, gegeigt. Politische Lyrik und Bildmontagen«

von Dr. Christian G. Pätzold


zurunzeit


Vor kurzem ist ein neues Buch mit fortschrittlicher politischer Lyrik von Rudolph Bauer erschienen: »Zur Unzeit, gegeigt«. Einige Gedichte in dem Buch sind den LeserInnen von kuhlewampe.net schon bekannt, da sie in den vergangenen Monaten hier gepostet wurden. Außerdem enthält das Buch farbige Bildmontagen von Rudolph Bauer in der Tradition von John Heartfield, von denen auf kuhlewampe.net auch schon Beispiele erschienen sind. Das Schreiben von politischen Gedichten und die Herstellung von Bildcollagen sind aber nur zwei Aspekte der vielseitigen Aktivitäten von Rudolph Bauer. Rudolph Bauer ist nicht nur ein Meister in der Dichtkunst und der visuellen Kunst, sondern auch Sozialwissenschaftler und tagespolitisch engagiert. Die Mischung von Gedichten und politischen Bildmontagen passt sehr gut zusammen, macht das Buch abwechslungsreich und visuell interessant. Überhaupt ist das Layout des Buches liebevoll und großzügig gestaltet, so dass es als kleines Kunstwerk betrachtet werden kann.

Auch der Titel des Buches »Zur Unzeit, gegeigt« klingt originell und bringt einen erstmal zum Nachdenken. Der Titel erscheint mir sehr treffend. Wir leben tatsächlich in einer Un-Zeit, in einer schrecklichen Zeit des digitalen Überwachungskapitalismus, der weltweiten Seuchen, der globalen Klimakatastrophe und der alltäglichen atomaren Bedrohung. Dafür sind Menschen und die politisch Handelnden verantwortlich, die von Rudolph Bauer auch genannt werden. "wir harren aus / im wirren irrenhaus / des kapitals."

Die Hauptthemen von Rudolph Bauers Gedichten sind einerseits die deutsche Geschichte und was in ihr alles schief gelaufen ist (sehr viel, gelernt hat man sehr wenig). Sein zweites Hauptthema sind Militarismus, Krieg und Unterdrückung, und der Aufruf, etwas dagegen zu tun. Diese Themen standen schon in seinem vorhergehenden Gedichtbuch »Aus gegebenem Anlass« von 2018 im Mittelpunkt. Seht bitte die Besprechung des Buches vom 2019/05/24 auf kuhlewampe.net.

Es gibt nicht so viele Bücher mit sozialistischer politischer Lyrik, die in Deutschland pro Jahr erscheinen. Vielleicht liegt die Anzahl im niedrigen zweistelligen Bereich. Dafür gibt es viele Gründe. Aber schon weil es so wenig politische Lyrik gibt, ist jedes Buch ein seltenes Juwel und das Buch von Rudolph Bauer im Besonderen eine bibliophile Rarität. Und ein Seismograf der aktuellen politischen Auseinandersetzungen und Debatten. Rudolph Bauer hat viele Bösewichter identifiziert. Insgesamt ist es ein provozierendes Buch, das zum Nachdenken anregt.

Hier noch ein Gedicht von Rudolph Bauer aus dem Buch:

Rudolph Bauer
Kein Blut für Öl

Frei nach dem Gedicht "Todesfuge" von Paul Celan

schwarzes öl der wüste sie schlürfen es abends
sie schlürfen es mittags und morgens sie schlürfen es nachts
sie schlürfen und schlürfen
sie schürfen ein grab in den lüften da liegt man nicht eng
gewalt wohnt im haus sie spielt mit den bomben befiehlt
befiehlt wenn es dunkelt dem totland
dein goldenes haar margaretchen

befiehlt es und tritt vor das haus und es blitzen kanonen
sie pfeift die soldaten herbei
sie pfeift ihre juden hervor lässt schürfen ein loch in den boden
sie befiehlt uns spielt auf nun zum tanz

schwarzes öl der wüste sie schlürfen dich nachts
sie schlürfen dich morgens und mittags sie schlürfen dich abends
sie schürfen und schlürfen
gewalt wohnt im haus sie spielt mit den bomben befiehlt
befiehlt wenn es dunkelt dem totland
dein goldenes haar margaretchen

dein aschgraues haar sulamith

sie schürfen ein grab in den lüften da liegt man nicht eng
sie schreit bombt tiefer ins erdreich ihr einen ihr anderen singet und spielt
sie drückt auf den mordknopf alles erstirbt ihre augen sind blau
bombt tiefer ins erdreich ihr einen ihr anderen spielt weiter zum tanz auf

schwarzes öl der wüste sie schlürfen es nachts
sie schlürfen es mittags und morgens sie schlürfen es abends
sie schlürfen und schürfen
gewalt wohnt im haus dein goldenes haar margaretchen
dein aschgraues haar sulamith sie spielt mit den bomben befiehlt

sie ruft spielt süßer den tod der tod ist ein meister der nato
sie ruft streicht dunkler die geigen dann steigt ihr verwest in die luft
dann habt ihr ein grab in den sphären da liegt ihr nicht eng

schwarzes öl der wüste sie schlürfen dich abends
sie schlürfen dich mittags der tod ist ein meister der nato
sie schlürfen dich abends und morgens sie schürfen und schürfen
der tod ist ein meister der nato ihr auge ist blau
sie trifft uns mit bleierner kugel sie trifft uns genau
gewalt wohnt im haus dein goldenes haar margaretchen
sie hetzt die soldaten auf uns sie schenkt uns ein grab in der luft
sie spielt mit den bomben und träumet der tod ist ein meister der nato

dein goldenes haar margaretchen
dein aschgraues haar sulamith

Rudolph Bauer: Zur Unzeit, gegeigt. Politische Lyrik und Bildmontagen
Hamburg 2020. tredition. 160 Seiten
ISBN 978-3-347-06297-9

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2020/09/06

Wolfgang Weber
Sommer mit den Beach Boys

Textbar Juni 2020, Thema: Strandgeflüster


beachboys


• Die Beach Boys sind auf Deutsch die Jungs vom Strand, so eindimensional wie manche glauben, sind sie aber nicht. Sicher, sie haben ihre Lieblingsthemen wie jede Band. Sie waren eine der ersten Boy Groups, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab.
• Die Themen: ewiger Sommer, Mädchen, Autos, Strand, Surfen, gute Laune, California, USA.
• Gegründet 1961, war & blieb die Gruppe eine Angelegenheit von Familie & Freunden: das waren die Brüder Wilson: Brian, Carl & Dennis, ihr Cousin Mike Love, ihr Schulfreund Al Jardine, später dann Bruce Johnston & andere. Sie lebten in California, das prägte ihre Musik, Wellenreiten auf speziellen Brettern, das hieß surfen. Mit dem heutigen Surfen im Internet hat das nicht so viel zu tun.

• Sie waren von den Four Freshmen inspiriert, einer vierköpfigen jazznahen Gesangsgruppe mit vielschichtigen Gesangsharmonien. Was sich so eingängig und vermeintlich simpel anhören mag, beruhte oft, vor allem in den späteren Jahren, auf sehr ausgefeilten Arrangements ihres Masterminds, ihres musikalischen Kopfes, Brian Wilson, der ein Perfektionist allerhöchsten Ranges war, im Studio alles überwachte, aber oft gar nicht selber zum Singen kam vor lauter Produzieren, zeitweise verließ er sogar die Band. Die instrumentale Begleitung war ebenfalls nur vermeintlich einfach, aber in Wirklichkeit äußerst sophisticated, sehr ausgefeilt, mit Twang Gitarren und gelegentlich Hammondorgel, Bass und Schlagzeug. Also bei genauerem Hinhören nicht easy listening.
• Wichtig ist auch der Einfluss des Doo Wop auf die Gruppe, dies ist ein vom Rock’n’Roll kommender Gesangsstil mit close harmony, raffinierten Gesangsharmonien, und Falsett Stimmen, hohen Kopfstimmen.
• Die Beach Boys ihrerseits waren auch ein nicht zu unterschätzender Einfluss auf spätere Gruppen mit mehreren Gesangsstimmen. Einige wenige Beispiele verschiedener Stile: Crosby Stills Nash & gelegentlich Young, The Mamas and The Papas, Frank Zappa, der zeitweise die beiden musikalischen und körperlichen Schwergewichte der Gruppe The Turtles beschäftigte, Jefferson Airplane, The Byrds, The Fifth Dimension, Manhattan Transfer.

• Einige Nummern der Beach Boys, besonders zum Thema Surf, beruhten auf Rock & Roll Nummern der 1950er, oft im Original von Chuck Berry, mit anderem Text natürlich & auch musikalisch bearbeitet, wie: surfin’ safari, surfin’, surfin’ USA, surfer girl, surf’s up.
• Eine andere Themengruppe: summertime blues, fun fun fun, girls on the beach, do you wanna dance, dance dance dance, California girls, good vibrations, all summer long, your summer dream, do it again
• help me Rhonda
• Misirlou (eigentlich eine Rembetiko Nummer aus Griechenland, der Titel bedeutet ägyptisches Mädchen, aufgegriffen vom Surf Gitarristen Dick Dale)
• oder: lonely sea, shutdown, 1963, shutdown Teil 2, 1964, let’s go trippin’, catch a wave, spirit of America, little Miss America, I’m so young, land ahoy, sloop John B (shanty aus der Karibik)
• und schließlich: little deuce coupe (Ford model B, Mike Love), car crazy cutie, little Honda (Motorrad Honda 50), drive-in, 409 (hot rod, aufgemotzte Autos).

• In ihrer psychedelischen Phase wurden die Arrangements so kompliziert, dass sie nicht mehr live aufführbar waren: Sie bestanden aus unzähligen overdubs, übereinandergelegten Gesangs & Instrumentalspuren. Beispiele dafür: heroes & villains, Barbara Ann, good vibrations, break away, bluebirds over the mountain (Drossel). Diese Stücke waren auf ihre Art kleine Symphonien.
• Es gab auch aufgegebene oder unvollendete Projekte, Konzeptalben, die nicht realisierbar waren, aus finanziellen und wie sagt man, logistischen Gründen. Smile oder Pet sounds zum Beispiel.
• Haben sie nun geflüstert, die Beach Boys, eher nicht, aber mit dem Strand hatten sie viel zu tun.

© Wolfgang Weber, September 2020.

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2020/09/03

Vor 50 Jahren: Wahlsieg der Unidad Popular in Chile

von Dr. Christian G. Pätzold


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Salvador Allende Gossens, Briefmarke DDR 1973.
Quelle: Wikimedia Commons.


Am 4. September 1970 siegte die Unidad Popular (spanisch für Volkseinheit) bei der Präsidentschaftswahl in Chile. Für die Unidad Popular (UP) war der sozialistische Senator Salvador Allende Gossens als Kandidat angetreten. Allende erhielt 36,6 % der Stimmen, der Kandidat des rechten Partido Nacional erhielt 34,9% der Stimmen. Das war also nur ein knapper Wahlsieg, keine absolute Mehrheit für Allende. Daher musste der Nationalkongress den Präsidenten bestimmen, am 24. Oktober 1970. Im Nationalkongress erhielt Allende 153 Stimmen von 195 abgegebenen Stimmen, der Kandidat der Rechten erhielt nur 35 Stimmen. Aber auch im Nationalkongress hatte die Unidad Popular keine eigene absolute Mehrheit, sondern Allende wurde mit den Stimmen der Christdemokraten gewählt.
An diesen Zahlen zeigt sich schon, dass der Sozialismus in Chile 1970 keine absolute Mehrheit hatte, sondern auf die Unterstützung der Christdemokraten angewiesen war. Es war ein Sozialismus auf wackligen Füßen. Trotzdem war die Wahl von Salvador Allende eine große Hoffnung für den Sozialismus in Lateinamerika im Allgemeinen, und für die Nationalisierung des chilenischen Kupfers im Besonderen, das von US-Konzernen ausgebeutet wurde.

Die Unidad Popular hatte also erstens nicht die absolute Mehrheit bei der Wahl gewonnen. Hinzu kam, dass die Unidad Popular keine einheitliche Partei war, sondern ein Bündnis aus 8 linken Parteien mit recht unterschiedlichen Ideologien:
Partido Socialista de Chile, Partido Comunista de Chile, Partido Radical, Partido Social Democracia de Chile, Movimiento de Acción Popular Unitaria, MAPU Obrero Campesino, Acción Popular Independiente, Partido Izquierda Cristiana de Chile.

Das Sofortprogramm der Regierung von Salvador Allende bestand aus "Vierzig ersten Maßnahmen":

1. Ende der Wunderlöhne: Wir werden die Gehälter der höchsten Beamten begrenzen. Wir werden die Anhäufung von Ämtern und Bezügen beenden (Beratertätigkeiten, Aufsichtsratsposten, Interessenvertretungen). Wir werden mit den Verwaltungsmanagern und politischen Managern Schluss machen.
2. Mehr Berater? Nein!: Jeder Angestellte im Öffentlichen Dienst soll ein staatliches Gehalt beziehen und niemand soll außerhalb der Aufgaben eines Staatsbeamten tätig werden.
3. Ehrlichkeit im Amt: Wir werden mit der Vetternwirtschaft und ungerechtfertigten Versetzungen im Öffentlichen Dienst Schluss machen. Es wird eine Beschäftigungsgarantie für die Staatsangestellten geben. Niemand wird wegen seiner politischen oder religiösen Ideen verfolgt. Man wird auf die Effizienz, die Ehrlichkeit und auf den guten Umgang mit dem Publikum seitens der Staatsangestellten achten.
4. Keine weiteren Luxusreisen ins Ausland: Wir werden die Auslandsreisen von Regierungsbeamten einstellen. Ausgenommen werden nur die für die Interessen des Staates unverzichtbaren Reisen.
5. Keine Dienstwagen im Urlaub: Die staatlichen Fahrzeuge sollen auf keinen Fall für private Zwecke genutzt werden. Nicht benötigte Fahrzeuge werden für den Dienst an der Gemeinschaft verwendet, etwa zum Schülertransport, Transport von Kranken in die Wohnsiedlungen oder als Dienstfahrzeuge bei der Polizei.
6. Der Staat wird keine neue Reichen "machen": Wir werden eine rigorose Kontrolle über die Renten und das Eigentum der hohen Staatsbeamten verfügen. Der Staatsapparat wird keine Fabrik für neue Reiche mehr sein.
7. Gerechte Renten, keine Millionärspensionen: Wir werden mit den Millionärspensionen Schluss machen, egal ob für Parlamentsabgeordnete, in der privaten Wirtschaft oder im Öffentlichen Dienst, und wir werden die eingesparten Mittel nutzen, um die niedrigsten Renten zu verbessern.
8. Gerechte Altersbezüge und zeitiger Ruhestand: Wir werden allen Menschen ein Recht auf Rente geben, die älter als 60 Jahre alt und nicht in Rente gegangen sind, weil für sie keine Rentenbeiträge bezahlt wurden.
9. Rente für alle: Wir werden die kleinen und mittleren Händler, Landwirte und Gewerbetreibenden, die Selbständigen, die Handwerker, Fischer, kleine Bergwerksbesitzer, Bergarbeiter und Hausfrauen in das Rentensystem eingliedern.
10. Sofortige Auszahlung für Rentner: Wir werden Pensionserhöhungen des Personals der Streitkräfte sofort auszahlen, und wir werden die Auszahlung der Renten der Sozialkasse gerecht gestalten.
11. Schutz für die Familie: Wir werden ein Ministerium zum Schutz der Familie schaffen.
12. Gleichheit der Kinderzuschüsse: Wir werden alle Kinderzuschüsse auf gleiche Höhe setzen.
13. Kinder werden geboren, um glücklich zu sein: Wir werden eine vollkommen kostenlose Schule anbieten. Schulbücher, Hefte und Unterrichtsmaterial werden für alle Kinder der Grundschule kostenlos.
14. Bessere Ernährung für das Kind: Wir werden Frühstück und Mittagessen an alle Schüler der Grund- und Mittelschule ausgeben, deren Eltern nicht in der Lage sind, sie ausreichend zu ernähren.
15. Milch für alle Kinder Chiles: Wir werden einen halben Liter Milch als Ration für alle Kinder Chiles bereitstellen.
16. Mutter-Kind-Klinik in Ihrem Viertel: Wir werden Mutter-Kind-Kliniken in allen Wohnvierteln aufbauen.
17. Echte Ferien für alle Schüler und Studenten: Man wird die besten Grundschüler aus dem ganzen Land in die Sommerresidenz des Präsidenten in Viña del Mar einladen.
18: Kontrolle der Trunksucht: Wir werden den Alkoholismus nicht durch repressive Maßnahmen bekämpfen, sondern durch ein besseres Leben, und wir werden den illegalen Handel mit Alkoholika beenden.
19. Haus, Strom, Trinkwasser für alle: Wir werden einen Notplan zum schnellen Wohnungsbau implementieren und wir werden die Versorgung mit Trinkwasser und Strom pro Häuserblock garantieren.
20. Keine Erhöhung der Tilgungsraten für die Schuldner des staatlichen Wohnungsbaus: Wir werden die Erhöhungen der Raten für die Bezahlung des staatlichen Wohnungsbaus abschaffen.
21. Keine Erhöhung der Mieten: Wir werden festlegen, dass höchstens 10% des Haushaltseinkommens zur Zahlung der Miete oder Wohnungsschulden eingefordert werden dürfen.
22. Brachliegende staatliche Grundstücke nein! Wohnungssiedlungen ja!: Wir werden brachliegende staatliche, halbstaatliche oder Gemeinde-Grundstücke für den Wohnungsbau freigeben.
23. Grundsteuer nur für Villen: Wir werden alle Wohnungen bis zu 80 m², wo der Besitzer dauernd lebt und die keine Luxus- oder Ferienhäuser sind, von der Grundsteuer befreien.
24. Eine echte Agrarreform: Wir werden die Agrarreform vertiefen, sie wird auch dem mittleren und kleinen Landwirt nutzen, auch dem kleinen Landbesitzer, Pächter, Angestellten und Tagelöhner. Wir werden die Kredite für die Landwirtschaft erweitern. Wir werden einen Markt für die Gesamtheit der Agrarprodukte sichern.
25. Medizinische Versorgung ohne Bürokratie: Wir werden alle bürokratischen und verwaltungsmäßigen Beschränkungen beseitigen, welche die medizinische Versorgung von Arbeitern und Arbeitslosen behindern.
26. Kostenlose Versorgung in den Krankenhäusern: Wir werden die Zahlungspflicht für Medikamente und Untersuchungen in den Krankenhäuser beenden.
27. Keine übertriebenen Preise für Medikamente mehr: Wir werden die Preise von Medikamenten drastisch senken, indem wir die Einfuhrsteuer für die Grundstoffe senken.
28. Stipendien für Studenten: Wir werden ein Recht auf Stipendien für gute Schüler und Studenten festlegen, abhängig von ihren Leistungen und der finanziellen Situation ihrer Familie.
29. Sportunterricht: Wir werden den Sportunterricht fördern und wir werden Sportplätze in Schulen und Wohnsiedlungen bauen. Jede Schule und jede Wohnsiedlung wird einen Sportplatz haben. Wir werden die Volkserholung organisieren und fördern.
30. Eine neue Ökonomie, um der Inflation ein Ende zu setzen: Wir werden die Produktion von Massenartikeln erhöhen, die Preise kontrollieren und die Inflation niedrig halten durch sofortige Umsetzung der neuen Wirtschaftspolitik.
31. Keine weitere Fesselung an den Internationalen Währungsfonds: Wir werden die Verträge mit dem Internationalen Währungsfonds kündigen und die skandalösen Abwertungen des Escudo beenden.
32. Keine weiteren Steuern auf Nahrungsmittel: Wir werden Schluss machen mit den Steuererhöhungen für lebensnotwendige Artikel.
33. Schluss mit der Mehrwertsteuer: Wir werden die Mehrwertsteuer abschaffen und durch ein anderes, gerechteres und einfacheres System ersetzen.
34. Schluss mit der Spekulation: Wir werden die Wirtschaftskriminalität drastisch bestrafen.
35. Schluss mit dem Mangel: Wir werden Arbeit für alle Chilenen schaffen und Entlassungen verhindern.
36. Arbeit für alle: Wir werden sofort neue Arbeitsplätze schaffen durch Wohnungsbau und öffentliche Baumaßnahmen, neue Industrien und neue Entwicklungsprojekte.
37. Auflösung der Bereitschaftspolizei: Wir werden die Ordnung in den Wohnvierteln und Wohngebieten und die persönliche Sicherheit der Menschen garantieren. Carabineros und Kriminalpolizei werden nur polizeiliche Aufgaben zur Bekämpfung gewöhnlicher Kriminalität wahrnehmen. Wir werden die Bereitschaftspolizei (Grupo Móvil) auflösen, ihre Mitglieder werden für polizeiliche Aufgaben eingesetzt.
38. Schluss mit der Klassenjustiz: Wir werden legale, schnelle und kostenlose Verfahren in Zusammenarbeit mit den Nachbarschaftskomitees einrichten, um über besondere Vorfälle zu beraten und zu entscheiden, etwa Streit, Nötigung, Ausreißer und häusliche Verwahrlosung der Kinder, Ruhestörung.
39. Rechtsberatung in Ihrem Viertel: Wir werden Rechtsberatung in allen Wohnvierteln anbieten.
40. Schaffung eines Nationalen Instituts für Kunst und Kultur: Wir werden ein Nationales Institut für Kunst und Kultur sowie Schulen für die künstlerische Ausbildung in allen Kommunen schaffen.

Die USA, die US-amerikanischen Geheimdienste und die faschistischen chilenischen Generäle haben die sozialistische Politik Allendes nicht lange geduldet. Am 11. September 1973 wurde Salvador Allende im Präsidentenpalast Moneda in Santiago de Chile in einem Putsch des Generals Augusto Pinochet ermordet. Tausende chilenische Sozialisten wurden ebenfalls ermordet. Und viele Sozialisten mussten ins Ausland flüchten, um ihr Leben zu retten.

Quelle: Wikipedia.

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2020/08/31

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2020/08/30

Zwei Freunde sitzen gemütlich auf einer Terrasse und trinken Bier. Da erzählt der eine, dass er gerade dabei sei, das "Kapital" von Karl May zu lesen. "Das ist doch nicht von Karl May sondern von Karl Marx" belehrt ihn sein Freund. "Ach so! Ich hab mich schon gewundert. Ich bin jetzt auf Seite 352 und es sind immer noch keine Indianer vorgekommen!"


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2020/08/27

Zum 250. Geburtstag von Hegel

von Dr. Christian G. Pätzold


hegel
Preußischer Säulenheiliger Hegel auf dem Hegelplatz in Berlin Mitte.
Plastik von Gustav Bläser, 1870. Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2020.


Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde am 27. August 1770 in Stuttgart geboren. Von 1818 bis 1831 war Hegel Professor der Philosophie an der Berliner Universität, wo er zahlreiche Studenten und Hörer um sich versammelte, die sich für seine Schüler hielten, seine Vorlesungen fleißig mitschrieben und nach seinem Tod veröffentlichten, denn Hegel war plötzlich gestorben. Auch Arthur Schopenhauer lehrte einmal ein Semester an der Berliner Universität. Absichtlich hatte er seine Vorlesung zur selben Uhrzeit angesetzt wie Hegels Vorlesung. Anschließend war er sehr erbost über die mickrige Zahl seiner Hörer, während Hegels Vorlesung überfüllt war. Hegel hielt die Berliner Universität für das Zentrum des "Weltgeistes", seitdem er dort lehrte.
Hegel starb am 14. November 1831 in Berlin, wahrscheinlich an der Cholera. Er wurde mit Sondererlaubnis einzeln bestattet. Die anderen Toten während der Choleraepidemie wurden in einem Sammelgrab beerdigt. Das zeigt den hohen Stellenwert, den Hegel in Berlin hatte. Er gehörte zum Establishment und war Inhaber des Roten Adlerordens. Sein Grab mit besonderem Grabstein befindet sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin Mitte, auf dem viele wichtige deutsche Persönlichkeiten wie Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Herbert Marcuse, Fritz Teufel, John Heartfield, Karl Friedrich Schinkel, Anna Seghers, Hanns Eisler und viele weitere beerdigt sind. In Berlin Mitte gibt es auch einen Hegelplatz mit Hegel-Büste in Bronze hinter der Universität.
Heute würde sich wohl kaum noch jemand an Hegel erinnern (außer ein paar PhilosophInnen), wenn es nicht eine Tatsache gäbe: Hegel ist ein Grundpfeiler des Marxismus. Umgekehrt wäre Marx wohl auch ohne Hegel ein bedeutender und noch heute bekannter Denker geworden, vor allem wegen seiner Kritik der Politischen Ökonomie und des Kapitalismus.

Hegel schrieb dicke Wälzer mit hunderten von Paragraphen in einer verschrobelten Sprache, die ziemlich ungenießbar und unverständlich sind. Er war ein preußischer Professor von Königs Gnaden in Berlin, der es schaffte, weder die preußische Monarchie zu sehr zu preisen, noch zur sofortigen Revolution aufzurufen. Daher gingen die Meinungen über Hegel auch weit auseinander. Für manche war er der preußische Staatsphilosoph, für andere war er ein Unruhe stiftender Geist, der die Jugend aufstachelte. Hegel musste sich so gut es ging durchlavieren durch das politische Minenfeld seiner Zeit. Zwar galt an der Berliner Universität offiziell das Humboldtsche Ideal der Freiheit von Forschung und Lehre, aber wenn man etwas gegen die Obrigkeit sagte oder sich für die Republik aussprach, wurde man ganz schnell entlassen.
Hegel wollte eine gut bezahlte Professorenstelle und der preußische Staat wollte sich mit dem berühmtesten Philosophen Deutschlands schmücken. So entstand diese seltsame Symbiose. Die Berliner Universität lag schräg gegenüber vom Schloss. Es war dem preußischen Hof nicht egal, was an der Universität gelehrt wurde.
Immerhin hat sich Hegel an die Monarchie doch ziemlich angebiedert: "es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft". (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258, Zusatz). Die preußische Monarchie als vernünftiger Staat? Gott, der Staat und die Vernunft in einem Satz, das ist schon sehr bedenklich. Noch so ein schlimmer Satz von Hegel: "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." (Einleitung zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts). Eine andere Formulierung von Hegel wäre nachvollziehbar gewesen: Was vernünftig ist, das soll wirklich sein; und was wirklich ist, das soll vernünftig sein. Aber das hat Hegel nicht geschrieben.

Jedenfalls kam es dazu, dass sich nach Hegels Tod 1831 in Berlin zwei Lager bilden konnten, die Rechtshegelianer (Althegelianer) für die (konstitutionelle) Monarchie und die Linkshegelianer (Junghegelianer) für die Abschaffung der Monarchie, die sich beide auf Hegel beriefen. Als der junge Karl Marx 1836 mit 18 Jahren zum Studium an die Berliner Universität kam, war Hegel schon 5 Jahre tot. Marx hat Hegel also nie persönlich getroffen. Aber der Ruf und die Rezeption von Hegel waren noch groß, als Marx 5 Jahre lang an der Berliner Universität studierte. Karl Marx schloss sich in Berlin den revolutionären Linkshegelianern an, die die repressive preußische Monarchie in einer Revolution stürzen wollten. Die Philosophie von Hegel hat das Denken von Karl Marx in seiner Jugendzeit stark beeinflusst.
Es war die Zeit des Vormärz, die Zeit vor der Märzrevolution des Jahres 1848, mit der aufstrebenden Klasse des Bürgertums und der neuen Arbeiterklasse (das Marxsche Industrieproletariat), die in Konflikt zur herrschenden Klasse des Adels standen. Wobei die Arbeiter damals in Berlin in erbärmlichen und ungesunden Zuständen in der Vorstadt hausen mussten, wo sie in der neuen Eisenindustrie und im Maschinenbau arbeiteten.
Die Althegelianer hatten noch den enttäuschenden Verlauf der Französischen Revolution von 1789 im Gedächtnis und waren konservativ eingestellt. Die Junghegelianer wie Marx wollten dagegen eine gründliche Umwälzung der Gesellschaft. Zu den Junghegelianern gehörten neben Karl Marx und Friedrich Engels so bekannte Persönlichkeiten wie Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach und Max Stirner. In den 1840er Jahren schrieben Marx und Engels zwei Werke, die sich kritisch mit den ihrer Meinung nach fehlerhaften Ansichten einiger Junghegelianer auseinandersetzten: Eine Kritik an Bauer (»Die heilige Familie«, 1845) und eine Kritik an Feuerbach und Stirner (»Die deutsche Ideologie«, 1845).
Die preußische Monarchie aber wurde noch nicht 1848 verabschiedet, sondern erst 70 Jahre später mit der Novemberrevolution 1918. Marx und Engels flüchteten aus dem preußischen Obrigkeitsstaat und sind nach England ausgewandert. In England bestand zwar auch eine Monarchie, aber das Bürgertum hatte dort schon mehr Freiheiten erkämpft.

Die Begründung für seine revolutionären Ansichten fand Marx zum Teil bei Hegel. Die philosophische Grundlage des Marxismus ist der »Dialektische Materialismus« (DiaMat). Den Idealismus von Hegel, wonach die Ideen der Menschen die Realität bestimmen, ersetzte Marx durch den Materialismus, wonach die Realität die Ideen der Menschen bestimmt. Oder anders ausgedrückt: "Das Sein bestimmt das Bewusstsein." Marx stellte also Hegel quasi vom Kopf auf die Füße.
Die Dialektik allerdings übernahm Marx von Hegel. In der Dialektik von Hegel ist die menschliche Geschichte ein fortwährender Prozess des Kampfes zwischen Gegensätzen, zwischen Widersprüchen unterschiedlicher sozialer Gruppen und Klassen, die durch Umwälzungen gelöst werden. Diese Revolutionen sollten zu immer höher entwickelten Stufen der menschlichen Gesellschaft führen. Dazu der anzweifelbare, optimistische Satz von Hegel: "Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit." Mit anderen Worten: Die Idee der Freiheit wird im Zeitverlauf in den Köpfen der Menschen immer stärker. Und da die Ideen der Menschen nach Hegel die Realität bestimmen, würde auch die reale Freiheit der Menschen immer größer. Wie passt zu dieser Vorstellung der heutige digitale Überwachungskapitalismus? Hegel war geprägt vom Vernunftglauben der Aufklärung und vom Fortschrittsglauben der Französischen Revolution.
Die Rechtshegelianer sahen in der preußischen Monarchie die Krönung der menschlichen Entwicklung, die nicht mehr zu verbessern war, quasi das Ende der Geschichte. Die Linkshegelianer mit Marx dagegen sahen zumindest eine bürgerliche Revolution (die Negation des Feudalismus) und eine sozialistische Revolution (die Negation der Negation der bürgerlichen Gesellschaft) und damit eine Überwindung des Feudalismus und den Sturz des preußischen Staates voraus, den sie für rückschrittlich hielten. Für einen Teil der Linkshegelianer war erst mit der künftigen kommunistischen Gesellschaft das Ende der Geschichte erreicht, eine Gesellschaft, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beendet sein würde. Und so kam es, dass Hegels Dialektik für das Denken von Marx und für den Marxismus zu einem zentralen Baustein wurde.
Karl Marx hat sich bei den großen Denkern seiner Zeit immer die Rosinen herausgepickt, die in seine Theorie passten, von Charles Fourier den Kommunismus, von Hegel die Dialektik, von Ludwig Feuerbach den Materialismus und von Adam Smith die Arbeitswertlehre. Das ganze Gedankengebäude hat er dann "Wissenschaftler Sozialismus" genannt.

Die Geschichtsphilosophie von Marx war wie bei Hegel eine recht optimistische Sichtweise, die von einer fortschreitenden revolutionären Höherentwicklung der Menschheit zu Vernunft und Freiheit ausging. Heute kann man sich das Ende der Geschichte auch ganz anders vorstellen, zum Beispiel als ökologischen Kollaps des Planeten. Wer ist heute noch Fortschrittsoptimist, nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert, nach dem Mord an Millionen von Menschen, bei hunderten von Atomraketen, die auf uns gerichtet sind?

Zum Schluss eine Liste von Hegels Hauptwerken, die die Themenvielfalt seines Denkens verdeutlicht:
- Phänomenologie des Geistes, 1806/07.
- Wissenschaft der Logik, 1812-1816.
- Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, ab1816.
- Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821.
- Vorlesungen über die Philosophie der Religion,
aus Mitschriften 1832 postum herausgegeben von Philipp Konrad Marheineke.
- Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie,
aus Mitschriften 1833-1836 postum herausgegeben von Karl Ludwig Michelet.
- Vorlesungen über die Ästhetik,
aus Mitschriften 1835-1838 postum herausgegeben von Heinrich Gustav Hotho.
- Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte,
aus Mitschriften 1837 postum herausgegeben von Eduard Gans.

Zu Hegels Gesellschaftstheorie seht bitte auch das grundlegende Buch von Herbert Marcuse: »Vernunft und Revolution« (Reason and Revolution, London 1941).


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2020/08/23

Hegel und die deutsche Arbeiterbewegung

von Dr. Hans-Albert Wulf


In der sozialistischen Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts ist die dialektische Methode, wie sie Marx von Hegel übernommen und auf die Füße gestellt hatte, sträflich vernachlässigt worden. Die marxistische Geschichtsauffassung, wonach die menschliche Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, deren Grundlage gesellschaftliche Widersprüche sind, ist ohne Hegel nicht denkbar. Man denke nur an den Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, bzw. den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Und auch die von Marx am Anfang des »Kapital« entfaltete Warenform mit ihrem Doppelcharakter von Gebrauchswert und Tauschwert wäre ohne die Hegelsche Dialektik nicht möglich gewesen. Einer der wenigen prominenten Führer der Arbeiterbewegung, der sich ernsthaft mit Hegel beschäftigt und seine Bedeutung für den Marxismus begriffen hatte, war Lenin. (W.I. Lenin. Aus dem philosophischen Nachlass, Berlin 1958)

In der deutschen Arbeiterbewegung dagegen ist Marx und damit auch die dialektische Methode von Anfang an nur eklektisch rezipiert und mit Elementen anderer Theorien vermengt worden. Wie konnte es dazu kommen? Eine bedeutende Rolle hat hierbei die Rezeption des naturwissenschaftlichen Weltbildes gespielt, dem in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts der Rang eines universellen Interpretationsmusters der Wirklichkeit zugemessen wurde. Die rasanten Fortschritte naturwissenschaftlicher Forschung scheinen die Arbeiterbewegung dermaßen beeindruckt zu haben, dass sie zum einen hiermit die unverbrüchliche Hoffnung und den Glauben an den menschlichen Fortschritt schlechthin verbanden und zum anderen die naturwissenschaftliche Methode auch auf die Gesellschaftstheorie übertrugen.
Mit Hilfe des als Naturwissenschaft missverstandenen Marxismus glaubte die deutsche Arbeiterbewegung, die objektive Wahrheit ihrer sozialistischen Zielsetzungen sowie die Daseinsberechtigung ihrer selbst begründen zu müssen. Einen bedeutenden Einfluss hatte in diesem Zusammenhang die von der Sozialdemokratie rezipierte Entwicklungstheorie, vor allem der Darwinismus in seiner von Ludwig Büchner, Ernst Haeckel und Wilhelm Bölsche u.a. popularisierten Form.

Der Zusammenhang zwischen Marx und Darwin stellte sich für die Sozialdemokratie über den Entwicklungsbegriff her. So wie Darwin die Entwicklungsgesetze in der Natur aufgespürt habe, so habe Marx die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung entdeckt. Die von Marx aufgedeckten Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung wurden hierbei allerdings schlicht als Naturgesetze missverstanden. Marx hatte wiederholt betont, dass die Menschen ihre Geschichte selbst gestalten, wobei freilich die gegebenen sozioökonomischen Verhältnisse den Rahmen menschlicher Handlungsmöglichkeiten abstecken. Diese für die Marxsche Theorie fundamentale dialektische Spannung von politischem Aktivismus und ökonomischem Determinismus wird nun im Theorieverständnis der Sozialdemokratie auf eine, die deterministische Seite reduziert.

Einer solchen Geschichtsauffassung korrespondiert das Politikverständnis der Sozialdemokratie. Wenn dem Untergang des Kapitalismus und der Heraufkunft des Sozialismus ein unumstößliches Naturgesetz zugrunde liegt, so bleibt der Arbeiterbewegung letztlich nur, den Zusammenbruch des Kapitalismus abzuwarten. Bereits bei Friedrich Engels drückt sich diese fatalistische Einstellung aus, wenn er in einem Brief an F.A. Sorge meint, "dass wir die Hände in den Schoß legen können und unsere Feinde für uns arbeiten lassen." (MEW Bd.36, S. 123) Und aus dem Munde von Wilhelm Liebknecht hört sich dies folgendermaßen an: "Das eherne Entwicklungsgesetz, dem der Kapitalismus unterworfen ist, zwingt ihn, uns, seinen Todfeinden und Totengräbern, den Weg zum Sieg zu bahnen" (zit. Nach Steinberg, Sozialismus und deutsche Arbeiterbewegung. Zur Ideologie der Partei vor dem 1. Weltkrieg. 3. Auflage Bonn, Bad Godesberg 1972, S.62).
Begünstigt wurde diese Gleichsetzung des Marxismus mit der darwinistischen Entwicklungstheorie ganz wesentlich durch die völlige Unkenntnis der Hegelschen Philosophie in der deutschen Arbeiterbewegung. Soweit Hegel überhaupt zur Kenntnis genommen und nicht als schädlicher Ballast im Marxschen System abgetan wurde, haben die sozialdemokratischen Theoretiker (allen voran Kautsky) seine dialektische Methode, von der sich Marx ja ganz entscheidend hatte inspirieren lassen, als verschrobene Fassung des naturwissenschaftlichen Entwicklungsbegriffs missverstanden.

Und was bleibt heute von Hegel? Ist er ein toter Hund? Mitnichten. Es gibt kaum einen zeitgenössischen Philosophen von Rang, der sich nicht irgendwie auf Hegel bezieht. Hier einige der ganz berühmten in beliebiger Reihenfolge:
Theodor W. Adorno
Max Horkheimer
Ernst Bloch
Georg Lukács
Herbert Marcuse
Michel Foucault
Louis Althusser
Jacques Derrida
Gilles Deleuze
Charles Taylor
Gotthard Günther
Jean-Paul Sartre

Herzlichen Glückwunsch zum 250. Geburtstag!

© Dr. Hans-Albert Wulf, August 2020.

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2020/08/20

200 Jahre Friedrich Engels

Thomas Münzer, Teil II

von Friedrich Engels


Die erste Frucht dieser Propaganda war die Zerstörung der Marienkapelle zu Mellerbach bei Allstedt, nach dem Gebot: "Ihre Altäre sollt ihr zerreißen, ihre Säulen zerbrechen und ihre Götzen mit Feuer verbrennen, denn ihr seid ein heilig Volk" (Deut. 7, 6). Die sächsischen Fürsten kamen selbst nach Allstedt, um den Aufruhr zu stillen, und ließen Münzer aufs Schloß rufen. Dort hielt er eine Predigt, wie sie deren von Luther, "dem sanftlebenden Fleisch zu Wittenberg", wie Münzer ihn nannte, nicht gewohnt waren. Er bestand darauf, daß die gottlosen Regenten, besonders Pfaffen und Mönche, die das Evangelium als Ketzerei behandeln, getötet werden müßten, und berief sich dafür aufs Neue Testament. Die Gottlosen hätten kein Recht zu leben, es sei denn durch die Gnade der Auserwählten. Wenn die Fürsten die Gottlosen nicht vertilgen, so werde Gott ihnen das Schwert nehmen, denn die ganze Gemeinde habe die Gewalt des Schwerts. Die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei seien die Fürsten und Herren; sie nehmen alle Kreaturen zum Eigentum, die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden. Und dann predigen sie gar noch den Armen das Gebot: Du sollst nicht stehlen, sie selber aber nehmen, wo sie's finden, schinden und schaben den Bauer und den Handwerker; wo aber dieser am Allergeringsten sich vergreife, so müsse er hängen, und zu dem allen sage dann der Doktor Lügner: Amen.

"Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun, wie kann es in die Länge gut werden? Ach, liebe Herren, wie hübsch wird der Herr unter die alten Töpfe schmeißen mit einer eisernen Stange! So ich das sage, werde ich aufrührisch sein. Wohl hin!"

Münzer ließ die Predigt drucken; sein Drucker in Allstedt wurde zur Strafe vom Herzog Johann von Sachsen gezwungen, das Land zu verlassen, und ihm selbst wurde für alle seine Schriften die Zensur der herzoglichen Regierung zu Weimar auferlegt. Aber diesen Befehl achtete er nicht. Er ließ gleich darauf eine höchst aufregende Schrift in der Reichsstadt Mühlhausen drucken, worin er das Volk aufforderte,

"das Loch weit zu machen, auf daß alle Welt sehen und greifen möge, wer unsre großen Hansen sind, die Gott also lästerlich zum gemalten Männlein gemacht haben", und die er mit den Worten beschloß: "Die ganze Welt muß einen großen Stoß aushalten; es wird ein solch Spiel angehn, daß die Gottlosen vom Stuhl gestürzt, die Niedrigen aber erhöhet werden."

Als Motto schrieb "Thomas Münzer mit dem Hammer" auf den Titel:

"Nimm wahr, ich habe meine Worte in deinen Mund gesetzt, ich habe dich heute über die Leute und über die Reiche gesetzt, auf daß du auswurzlest, zerbrechest, zerstreuest und verstürzest, und bauest und pflanzest. Eine eiserne Mauer wider die Könige, Fürsten, Pfaffen und wider das Volk ist dargestellt. Die mögen streiten, der Sieg ist wunderlich zum Untergang der starken gottlosen Tyrannen."

Der Bruch Münzers mit Luther und seiner Partei war schon lange vorhanden. Luther hatte manche Kirchenreformen selbst annehmen müssen, die Münzer, ohne ihn zu fragen, eingeführt hatte. Er beobachtete Münzers Tätigkeit mit dem ärgerlichen Mißtrauen des gemäßigten Reformers gegen die energischere, weitertreibende Partei. Schon im Frühjahr 1524 hatte Münzer an Melanchthon, dieses Urbild des philiströsen, hektischen Stubenhockers, geschrieben, er und Luther verständen die Bewegung gar nicht. Sie suchten sie im biblischen Buchstabenglauben zu ersticken, ihre ganze Doktrin sei wurmstichig.

"Lieben Brüder, laßt euer Warten und Zaudern, es ist Zeit, der Sommer ist vor der Tür. Wollet nicht Freundschaft halten mit den Gottlosen, sie hindern, daß das Wort nicht wirke in voller Kraft. Schmeichelt nicht euren Fürsten, sonst werdet ihr selbst mit ihnen verderben. Ihr zarten Schriftgelehrten, seid nicht unwillig, ich kann es nicht anders machen."

Luther fordert Münzer mehr als einmal zur Disputation heraus; aber dieser, bereit, den Kampf jeden Augenblick vor dem Volk aufzunehmen, hatte nicht die geringste Lust, sich in eine theologische Zänkerei vor dem parteiischen Publikum der Wittenberger Universität einzulassen. Er wollte "das Zeugnis des Geistes nicht ausschließlich auf die hohe Schule bringen". Wenn Luther aufrichtig sei, so solle er seinen Einfluß dahin verwenden, daß die Schikanen gegen Münzers Drucker und das Gebot der Zensur aufhöre, damit der Kampf ungehindert in der Presse ausgefochten werden könne.
Jetzt, nach der erwähnten revolutionären Broschüre Münzers, trat Luther öffentlich als Denunziant gegen ihn auf. In seinem gedruckten "Brief an die Fürsten zu Sachsen wider den aufrührerischen Geist" erklärte er Münzer für ein Werkzeug des Satans und forderte die Fürsten auf, einzuschreiten und die Anstifter des Aufruhrs zum Lande hinauszujagen, da sie sich nicht begnügen, ihre schlimmen Lehren zu predigen, sondern zum Aufstand und zur gewaltsamen Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit aufrufen.

Am 1. August mußte Münzer sich vor den Fürsten auf dem Schloß zu Weimar gegen die Anklage aufrührerischer Umtriebe verantworten. Es lagen höchst kompromittierende Tatsachen gegen ihn vor; man war seinem geheimen Bund auf die Spur gekommen, man hatte in den Verbindungen der Bergknappen und Bauern seine Hand entdeckt. Man bedrohte ihn mit Verbannung. Kaum nach Allstedt zurück, erfuhr er, daß Herzog Georg von Sachsen seine Auslieferung verlangte; Bundesbriefe von seiner Handschrift waren aufgefangen worden, worin er Georgs Untertanen zu bewaffnetem Widerstand gegen die Feinde des Evangeliums aufforderte. Der Rat hätte ihn ausgeliefert, wenn er nicht die Stadt verlassen hätte.

Inzwischen hatte die steigende Agitation unter Bauern und Plebejern die Münzersche Propaganda ungemein erleichtert. Für diese Propaganda hatte er an den Wiedertäufern unschätzbare Agenten gewonnen. Diese Sekte, ohne bestimmte positive Dogmen, zusammengehalten nur durch ihre gemeinsame Opposition gegen alle herrschenden Klassen und durch das gemeinsame Symbol der Wiedertaufe, asketisch-streng im Lebenswandel, unermüdlich, fanatisch und unerschrocken in der Agitation, hatte sich mehr und mehr um Münzer gruppiert. Durch die Verfolgungen von jedem festen Wohnsitz ausgeschlossen, streifte sie über ganz Deutschland und verkündete überall die neue Lehre, in der Münzer ihnen ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche klargemacht hatte. Unzählige wurden gefoltert, verbrannt oder sonst hingerichtet, aber der Mut und die Ausdauer dieser Emissäre war unerschütterlich, und der Erfolg ihrer Tätigkeit, bei der schnell wachsenden Aufregung des Volks, war unermeßlich. Daher fand Münzer bei seiner Flucht aus Thüringen den Boden überall vorbereitet, er mochte sich hinwenden, wohin er wollte.

Bei Nürnberg, wohin Münzer zuerst ging, war kaum einen Monat vorher ein Bauernaufstand im Keime erstickt worden. Münzer agitierte hier im stillen; bald traten Leute auf, die seine kühnsten theologischen Sätze von der Unverbindlichkeit der Bibel und der Nichtigkeit der Sakramente verteidigten, Christus für einen bloßen Menschen und die Gewalt der weltlichen Obrigkeit für ungöttlich erklärten. "Da sieht man den Satan umgehn, den Geist aus Allstedt!" rief Luther. Hier in Nürnberg ließ Münzer seine Antwort an Luther drucken. Er klagte ihn geradezu an, daß er den Fürsten heuchle und die reaktionäre Partei mit seiner Halbheit unterstütze. Aber das Volk werde trotzdem frei werden, und dem Doktor Luther werde es dann gehen wie einem gefangenen Fuchs. - Die Schrift wurde von Rats wegen mit Beschlag belegt, und Münzer mußte Nürnberg verlassen.

Er ging jetzt durch Schwaben nach dem Elsaß, der Schweiz und zurück nach dem oberen Schwarzwald, wo schon seit einigen Monaten der Aufstand ausgebrochen war, beschleunigt zum großen Teil durch seine wiedertäuferischen Emissäre. Diese Propagandareise Münzers hat offenbar zur Organisation der Volkspartei, zur klaren Feststellung ihrer Forderungen und zum endlichen allgemeinen Ausbruch des Aufstandes im April 1525 wesentlich beigetragen. Die doppelte Wirksamkeit Münzers, einerseits für das Volk, dem er in der ihm damals allein verständlichen Sprache des religiösen Prophetismus zuredete, und andrerseits für die Eingeweihten, gegen die er sich offen über seine schließliche Tendenz aussprechen konnte, tritt hier besonders deutlich hervor. Hatte er schon früher in Thüringen einen Kreis der entschiedensten Leute, nicht nur aus dem Volk, sondern auch aus der niedrigen Geistlichkeit, um sich versammelt und an die Spitze der geheimen Verbindung gestellt, so wird er hier der Mittelpunkt der ganzen revolutionären Bewegung von Südwestdeutschland, so organisiert er die Verbindung von Sachsen und Thüringen über Franken und Schwaben bis nach dem Elsaß und der Schweizer Grenze und zählt die süddeutschen Agitatoren, wie Hubmaier in Waldshut, Konrad Grebel von Zürich, Franz Rabmann zu Grießen, Schappeler zu Memmingen, Jakob Wehe zu Leipheim, Doktor Mantel in Stuttgart, meist revolutionäre Pfarrer, unter seine Schüler und unter die Häupter des Bundes. Er selbst hielt sich meist in Grießen an der Schaffhausener Grenze auf und durchstreifte von da den Hegau, Klettgau etc. Die blutigen Verfolgungen, die die beunruhigten Fürsten und Herren überall gegen diese neue plebejische Ketzerei unternahmen, trugen nicht wenig dazu bei, den rebellischen Geist zu schüren und die Verbindung fester zusammenzuschließen. So agitierte Münzer gegen fünf Monate in Oberdeutschland und ging um die Zeit, wo der Ausbruch der Verschwörung herannahte, wieder nach Thüringen zurück, wo er den Aufstand selbst leiten wollte und wo wir ihn wiederfinden werden.

Wir werden sehen, wie treu der Charakter und das Auftreten der beiden Parteichefs die Haltung ihrer Parteien selbst widerspiegeln; wie die Unentschiedenheit, die Furcht vor der ernsthaft werdenden Bewegung selbst, die feige Fürstendienerei Luthers ganz der zaudernden, zweideutigen Politik der Bürgerschaft entsprach und wie die revolutionäre Energie und Entschlossenheit Münzers in der entwickeltsten Fraktion der Plebejer und Bauern sich reproduzieren. Der Unterschied ist nur, daß, während Luther sich begnügte, die Vorstellungen und Wünsche der Majorität seiner Klasse auszusprechen und sich damit eine höchst wohlfeile Popularität bei ihr zu erwerben, Münzer im Gegenteil weit über die unmittelbaren Vorstellungen und Ansprüche der Plebejer und Bauern hinausging und sich aus der Elite der vorgefundenen revolutionären Elemente erst eine Partei bildete, die übrigens, soweit sie auf der Höhe seiner Ideen stand und seine Energie teilte, immer nur eine kleine Minorität der insurgierten Masse blieb.

Der Artikel über Thomas Münzer stammt aus dem Buch:
Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. Geschrieben im Sommer 1850. Zuerst erschienen im 5. und 6. Heft der »Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue«, redigiert von Karl Marx, Hamburg 1850.

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2020/08/17

200 Jahre Friedrich Engels

Thomas Münzer, Teil I

von Friedrich Engels


muenzer
Älteste, allerdings nachträgliche und nicht verbürgte Darstellung Thomas Münzers
aus dem Jahr 1608.
Kupferstich von Christoph van Sichem. Quelle: Wikimedia Commons.


Thomas Münzer war geboren zu Stolberg am Harz, um das Jahr 1498. Sein Vater soll, ein Opfer der Willkür der Stolbergschen Grafen, am Galgen gestorben sein. Schon in seinem fünfzehnten Jahre stiftete Münzer auf der Schule zu Halle einen geheimen Bund gegen den Erzbischof von Magdeburg und die römische Kirche überhaupt. Seine Gelehrsamkeit in der damaligen Theologie verschaffte ihm früh den Doktorgrad und eine Stelle als Kaplan in einem Nonnenkloster zu Halle. Hier behandelte er schon Dogmen und Ritus der Kirche mit der größten Verachtung, bei der Messe ließ er die Worte der Wandlung ganz aus und aß, wie Luther von ihm erzählt, die Herrgötter ungeweiht. Sein Hauptstudium waren die mittelalterlichen Mystiker, besonders die chiliastischen Schriften Joachims des Calabresen. Das Tausendjährige Reich, das Strafgericht über die entartete Kirche und die verderbte Welt, das dieser verkündete und ausmalte, schien Münzer mit der Reformation und der allgemeinen Aufregung der Zeit nahe herbeigekommen. Er predigte in der Umgegend mit großem Beifall. 1520 ging er als erster evangelischer Prediger nach Zwickau. Hier fand er eine jener schwärmerischen chiliastischen Sekten vor, die in vielen Gegenden im stillen fortexistierten, hinter deren momentaner Demut und Zurückgezogenheit sich die fortwuchernde Opposition der untersten Gesellschaftsschichten gegen die bestehenden Zustände verborgen hatte und die jetzt mit der wachsenden Agitation immer offener und beharrlicher ans Tageslicht hervortraten. Es war die Sekte der Wiedertäufer, an deren Spitze Niklas Storch stand. Sie predigten das Nahen des Jüngsten Gerichts und des Tausendjährigen Reichs; sie hatten "Gesichte, Verzückungen und den Geist der Weissagung". Bald kamen sie in Konflikt mit dem Zwickauer Rat; Münzer verteidigte sie, obwohl er sich ihnen nie unbedingt anschloß, sondern sie vielmehr unter seinen Einfluß bekam. Der Rat schritt energisch gegen sie ein; sie mußten die Stadt verlassen, und Münzer mit ihnen. Es war Ende 1521.

Er ging nach Prag und suchte, an die Reste der hussitischen Bewegung anknüpfend, hier Boden zu gewinnen; aber seine Proklamation hatte nur den Erfolg, daß er auch aus Böhmen wieder fliehen mußte. 1522 wurde er Prediger zu Allstedt in Thüringen. Hier begann er damit, den Kultus zu reformieren. Noch ehe Luther so weit zu gehen wagte, schaffte er die lateinische Sprache total ab und ließ die ganze Bibel, nicht bloß die vorgeschriebenen sonntäglichen Evangelien und Episteln verlesen. Zu gleicher Zeit organisierte er die Propaganda in der Umgegend. Von allen Seiten lief das Volk ihm zu, und bald wurde Allstedt das Zentrum der populären Antipfaffenbewegung von ganz Thüringen.
Noch war Münzer vor allem Theologe; noch richtete er seine Angriffe fast ausschließlich gegen die Pfaffen. Aber er predigte nicht, wie Luther damals schon, die ruhige Debatte und den friedlichen Fortschritt, er setzte die früheren gewaltsamen Predigten Luthers fort und rief die sächsischen Fürsten und das Volk auf zum bewaffneten Einschreiten gegen die römischen Pfaffen.

"Sagt doch Christus, ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Was sollt ihr" (die sächsischen Fürsten) "aber mit demselben machen? Nichts anders, denn die Bösen, die das Evangelium verhindern, wegtun und absondern, wollt ihr anders Diener Gottes sein. Christus hat mit großem Ernst befohlen, Luc. 19,27, nehmt meine Feinde und würget sie vor meinen Augen ... Gebet uns keine schalen Fratzen vor, daß die Kraft Gottes es tun soll ohne euer Zutun des Schwertes, es möchte euch sonst in der Scheide verrosten. Die, welche Gottes Offenbarung zuwider sind, soll man wegtun, ohne alle Gnade, wie Hiskias, Cyrus, Josias, Daniel und Elias die Baalspfaffen verstöret haben, anders mag die christliche Kirche zu ihrem Ursprung nicht wieder kommen. Man muß das Unkraut ausraufen aus dem Weingarten Gottes in der Zeit der Ernte. Gott hat 5. Mose 7 gesagt, ihr sollt euch nicht erbarmen über die Abgöttischen, zerbrecht ihre Altäre, zerschmeißt ihre Bilder und verbrennet sie, auf daß ich nicht mit euch zürne."

Aber diese Aufforderungen an die Fürsten blieben ohne Erfolg, während gleichzeitig unter dem Volk die revolutionäre Aufregung von Tag zu Tag wuchs. Münzer, dessen Ideen immer schärfer ausgebildet, immer kühner wurden, trennte sich jetzt entschieden von der bürgerlichen Reformation und trat von nun an zugleich direkt als politischer Agitator auf.
Seine theologisch-philosophische Doktrin griff alle Hauptpunkte nicht nur des Katholizismus, sondern des Christentums überhaupt an. Er lehrte unter christlichen Formen einen Pantheismus, der mit der modernen spekulativen Anschauungsweise eine merkwürdige Ähnlichkeit hat und stellenweise sogar an Atheismus anstreift. Er verwarf die Bibel sowohl als ausschließliche wie als unfehlbare Offenbarung. Die eigentliche, die lebendige Offenbarung sei die Vernunft, eine Offenbarung, die zu allen Zeiten und bei allen Völkern existiert habe und noch existiere. Der Vernunft die Bibel entgegenhalten, heiße den Geist durch den Buchstaben töten. Denn der Heilige Geist, von dem die Bibel spreche, sei nichts außer uns Existierendes; der Heilige Geist sei eben die Vernunft. Der Glaube sei nichts anderes als das Lebendigwerden der Vernunft im Menschen, und daher könnten auch die Heiden den Glauben haben. Durch diesen Glauben, durch die lebendig gewordene Vernunft werde der Mensch vergöttlicht und selig. Der Himmel sei daher nichts Jenseitiges, er sei in diesem Leben zu suchen, und der Beruf der Gläubigen sei, diesen Himmel, das Reich Gottes, hier auf der Erde herzustellen. Wie keinen jenseitigen Himmel, so gebe es auch keine jenseitige Hölle oder Verdammnis. Ebenso gebe es keinen Teufel als die bösen Lüste und Begierden der Menschen. Christus sei ein Mensch gewesen wie wir, ein Prophet und Lehrer, und sein Abendmahl sei ein einfaches Gedächtnismahl, worin Brot und Wein ohne weitere mystische Zutat genossen werde.

Diese Lehren predigte Münzer meist versteckt unter denselben christlichen Redeweisen, unter denen sich die neuere Philosophie eine Zeitlang verstecken mußte. Aber der erzketzerische Grundgedanke blickt überall aus seinen Schriften hervor, und man sieht, daß es ihm mit dem biblischen Deckmantel weit weniger ernst war als manchem Schüler Hegels in neuerer Zeit. Und doch liegen drei hundert Jahre zwischen Münzer und der modernen Philosophie.
Seine politische Doktrin schloß sich genau an diese revolutionäre religiöse Anschauungsweise an und griff ebensoweit über die unmittelbar vorliegenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse hinaus wie seine Theologie über die geltenden Vorstellungen seiner Zeit. Wie Münzers Religionsphilosophie an den Atheismus, so streifte sein politisches Programm an den Kommunismus, und mehr als eine moderne kommunistische Sekte hatte noch am Vorabend der Februarrevolution über kein reichhaltigeres theoretisches Arsenal zu verfügen als die "Münzerschen" des sechzehnten Jahrhunderts. Dies Programm, weniger die Zusammenfassung der Forderungen der damaligen Plebejer als die geniale Antizipation der Emanzipationsbedingungen der kaum sich entwickelnden proletarischen Elemente unter diesen Plebejern - dies Programm forderte die sofortige Herstellung des Reiches Gottes, des prophezeiten Tausendjährigen Reichs auf Erden, durch Zurückführung der Kirche auf ihren Ursprung und Beseitigung aller Institutionen, die mit dieser angeblich urchristlichen, in Wirklichkeit aber sehr neuen Kirche in Widerspruch standen. Unter dem Reich Gottes verstand Münzer aber nichts anderes als einen Gesellschaftszustand, in dem keine Klassenunterschiede, kein Privateigentum und keine den Gesellschaftsmitgliedern gegenüber selbständige, fremde Staatsgewalt mehr bestehen. Sämtliche bestehende Gewalten, sofern sie nicht sich fügen und der Revolution anschließen wollten, sollten gestürzt, alle Arbeiten und alle Güter gemeinsam und die vollständigste Gleichheit durchgeführt werden. Ein Bund sollte gestiftet werden, um dies durchzusetzen, nicht nur über ganz Deutschland, sondern über die ganze Christenheit; Fürsten und Herren sollten eingeladen werden, sich anzuschließen; wo nicht, sollte der Bund sie bei der ersten Gelegenheit mit den Waffen in der Hand stürzen oder töten.

Münzer setzte sich gleich daran, diesen Bund zu organisieren. Seine Predigten nahmen einen noch heftigeren, revolutionäreren Charakter an; neben den Angriffen auf die Pfaffen donnerte er mit gleicher Leidenschaft gegen die Fürsten, den Adel, das Patriziat, schilderte er in glühenden Farben den bestehenden Druck und hielt dagegen sein Phantasiebild des Tausendjährigen Reichs der sozial-republikanischen Gleichheit. Zugleich veröffentlichte er ein revolutionäres Pamphlet nach dem andern und sandte Emissäre nach allen Richtungen aus, während er selbst den Bund in Allstedt und der Umgegend organisierte.

Der Artikel über Thomas Münzer stammt aus dem Buch:
Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. Geschrieben im Sommer 1850. Zuerst erschienen im 5. und 6. Heft der »Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue«, redigiert von Karl Marx, Hamburg 1850.

Fortsetzung Teil II folgt als Nächstes.

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2020/08/14

Sabine Rahe
Eben noch


Eben noch waren Eure Leiber warm.
Gerade sprachen Eure Münder noch.
Eben wart Ihr voller Träume und Gefühle.
Jetzt ist das alles fort
und Euch genommen.

Euer Platz bleibt leer.
Eure Freunde finden Euch nicht mehr.
Barbarische Morde löschten Eure Flamme aus.
Von Euch kommt keiner wieder nach haus.

Ihr seid die Opfer mörderischer Vorurteile
und tödlicher Sprache,
von rassistischem Wahn,
der Menschen nach Äußerlichkeit ansah.

Man hat Euch brutal Euren Liebsten geraubt.
Wir sind voller Trauer und entsetzt und voll Zorn,
dass Wegbereiter dieser Morde und Anschläge
nicht zur Verantwortung werden gezogen.

© Sabine Rahe, August 2020.
www.die-dorettes.de.

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2020/08/11

Rudolph Bauer
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White Supremacy


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New German Imperialism


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Krankes System

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, August 2020.

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2020/08/08

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2020/08/05

Die Korallen-Begonie


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Fotografiert von © Ella Gondek.


Die Korallen-Begonie (Begonia corallina) gehört zur Familie der Schiefblattgewächse (Begoniaceae) und kommt aus Brasilien. Sie ist eine pflegeleichte Pflanze mit schönen Blüten und Blättern, die es auch im normalen Zimmerklima aushält, und im deutschen Sommer auf dem Balkon. Es gibt insgesamt über 1.800 Begonia-Arten, von denen einige Zierpflanzen sind. Die Korallen-Begonie mag einen hellen, halbschattigen Standort, aber keine volle Sonneneinstrahlung.


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2020/08/02

Christo gestorben

von Dr. Christian G. Pätzold


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Wrapped Reichstag Berlin von Christo & Jeanne-Claude.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Juni 1995.


Christo ist am 31. Mai 2020 in New York City gestorben. Das Verpackungskünstler-Paar Christo & Jeanne-Claude hat weltweit Kunstwerke geschaffen, die sehr berühmt wurden. Ich möchte an die denkwürdige silbrige Verhüllung des Reichstags durch Christo & Jeanne-Claude im Juni/Juli 1995 erinnern. Die ganze Aktion lief 2 Wochen lang. Der Sinn der Kunst-Aktion war, dieses Gebäude und seine Geschichte wieder in das Bewusstsein zu heben. Man könnte die Verhüllung mit ihrer Ästhetik des Gewebes und seiner Falten auch einen Verfremdungseffekt nennen. Durch die Stoffbahnen wurden die großen Formen des Gebäudes vereinfacht, auf geometrische Formen reduziert. Trotzdem ergab sich eine Lebendigkeit durch die Faltenwürfe und die Silbrigkeit des Materials.
Die Verhüllung bestand aus einem Polypropylengewebe, das mit Aluminium bedampft war. Nicht gerade sehr ökologisch. Der Vorhang hatte durch das Aluminium eine silbrige Farbe, die von weitem auch fast Weiß aussah. Muster des Stoffes wurden in kleinen Stückchen zu 5 x 5 Zentimeter zu Hunderttausenden an die Besucher verteilt. Jeder wollte ein kleines Stückchen des Stoffes als Souvenir haben, so dass schon bald ein Schwarzmarkt entstand, als alle Stückchen verteilt waren. Mein Stückchen Stoff hat erstaunlicherweise die letzten 25 Jahre überdauert, ich habe es immer noch, eingerahmt an meiner Zimmerwand.

Natürlich hatte auch der Ort, der Jahrzehnte im Niemandsland zwischen Ostblock und Westblock lag, eine große Faszination. Immerhin befanden sich 39 Meter der Ostfassade des Reichstags auf Ostberliner Gebiet. Allerdings hatte die Mauer ein paar Meter Abstand vom Reichstag gehalten. Der Reichstag war eine riesige Ruine, die Jahrzehnte leer stand.
Die Idee der Verhüllung entstand schon 1971, aber es war ein langer und steiniger Weg bis zur Realisierung. Unendliche Widerstände taten sich auf. Für einige war das Reichstagsgebäude eine heilige nationale Institution, die auf keinen Fall verpackt werden durfte. Christo & Jeanne-Claude waren zwar Verpackungskünstler, aber der Reichstag durfte mit Rücksicht auf einige deutsche Politiker auf keinen Fall verpackt werden. So einigte man sich auf den »Verhüllten Reichstag«. Nach jahrelanger Überzeugungsarbeit debattierte der Deutsche Bundestag im Februar 1994 zum ersten Mal über ein Kunstwerk und stimmte auch ab: 292 Stimmen für Christo & Jeanne-Claude, 223 Gegenstimmen. Ohne die große Unterstützung der damaligen Präsidentin des Bundestages, Prof. Dr. Rita Süssmuth, wäre dieses Ergebnis nicht zustande gekommen.

Es zeigte sich, dass Christo & Jeanne Claude viele Freunde hatten, die sie unterstützten. Die ganze Aktion hat die Steuerzahler nichts gekostet. Alles wurde von Christo & Jeanne-Claude selbst bezahlt, die das Geld durch den Verkauf ihrer Bilder und Grafiken verdient hatten. Die Berliner hatten ein großes Geschenk erhalten. Natürlich hat die Aktion Geld gekostet. Der Stoff hat sicher eine Menge Geld gekostet. Und es waren auch zahlreiche Menschen wie Bergsteiger und Alpinisten an der Montage des Stoffes beteiligt. Trotzdem war alles für die Besucher kostenlos.
Es war wirklich an der Zeit, dass der Reichstag einmal verpackt wurde, wenn man bedenkt, was sich dort alles abgespielt hat. Zum Beispiel die Bewilligung der Kriegskredite für den verbrecherischen Ersten Weltkrieg des Kaisers Wilhelm II. am 4. August 1914. Oder der Reichstagsbrand vom Februar 1933 mit den dann folgenden Ereignissen, wie dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933, das allerdings in der Kroll-Oper verabschiedet wurde. Oder die Erstürmung des Reichstagsgebäudes durch die Rote Armee am 30. April 1945. Graffiti der Rotarmisten sind noch heute im Reichstag zu sehen.

Christo hatte einen schwierigen Kampf als Künstler zu bestehen. 1956 flüchtete er aus Bulgarien, arm wie eine Kirchenmaus. Seit 1964 lebten er und Jeanne-Claude als illegale Einwanderer in New York City. New York war damals das Zentrum der internationalen Kunstszene. Ach ja, und dann muss ich noch erwähnen, dass Christo eigentlich Christo Wladimirow Jawaschew hieß, und dass Jeanne-Claude Jeanne-Claude Denat de Guillebon hieß, und dass sie beide angeblich am selben Tag geboren wurden, am 13. Juni 1935. Dasselbe Geburtsdatum gehörte zum Mythus von Christo &: Jeanne-Claude. Alle Kunstwerke von Christo & Jeanne-Claude waren fröhlich. Im November 2009 war schon Jeanne-Claude gestorben.

Literatur: Christo & Jeanne Claude: »Verhüllter Reichstag, Berlin, 1971-1995. Das Buch zum Projekt«, Köln 1995 (Benedikt Taschen Verlag).


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Christo & Jeanne-Claude. Quelle: Wikimedia Commons.


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2020/07/31

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2020/07/27

Verspätete Erinnerung an Rudis 80. Geburtstag
Schönefeld bei Luckenwalde 7. März 1940 - Aarhus/Dänemark 24. Dezember 1979

von Peter Hahn & Jürgen Stich


rudi


Die Kommune I war das Gegenmodell zur bürgerlichen Kleinfamilie. Sie wurde am 1. Januar 1967 gegründet. Am 19. Februar zogen neun Männer und Frauen sowie ein Kind in die leer stehende Wohnung Fregestraße 19 (in Berlin Friedenau) des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger ein. Nach seiner Rückkehr besetzten die Kommunarden Anfang März die Atelierwohnung des sich in New York aufhaltenden Schriftstellers Uwe Johnson in der Niedstraße 14 und seine Familienwohnung in der Stierstraße 3. Rudi Dutschke ist in keine dieser Wohnungen eingezogen.

Zeitzeuge Ulrich Enzensberger erinnert sich in seinem Buch an »Die Jahre der Kommune I«:
"Inzwischen waren zwei DDR-Flüchtlinge zur Westberliner Mikrozelle gestoßen. Der 1940 in Schönefeld bei Luckenwalde geborene Rudi Dutschke. Sein Vater, ehemals Berufssoldat war jetzt Postangestellter. Die Mutter war streng protestantisch. Anders als in der BRD gab es in der DDR keine Wehrpflicht. Als Dutschke aber 1957 in der Schule gegen den Eintritt in die Nationale Volksarmee sprach und Beifall erntete, wurde er ein Fall für die Staatssicherheit. Für den aktiven Leichtathleten wurde das ersehnte Studium der Sportjournalistik unmöglich. Also entschied er sich für Westberlin. Er wurde Wochenendpendler. Das DDR-Republikfluchtgesetz, das seit 1957 galt, verbot es DDR-Bürgern nicht, in den Westsektoren Berlins zu arbeiten ... Am 13. August 1961 wurde Dutschke durch den Bau der Mauer von zu Hause abgeschnitten. Jetzt meldete er sich als politischer Flüchtling und wurde Westberliner ... Dutschke wandte sich vom Sportjournalismus ab und studierte an der Freien Universität (FU) Soziologie"

Im Café am Steinplatz in Berlin Charlottenburg lernte Rudi Dutschke im Sommer 1964 die Theologiestudentin Gretchen Klotz kennen. Das Paar wollte zusammenleben, was von den Kommunarden abgelehnt wurde: Feste Bindungen, Ehen gar, waren verpönt. Frauen galten als Zubehör, das nach Belieben weggelegt werden konnte. Gretchen aber wollte in der Partnerschaft mit Rudi die Gleichberechtigung von Mann und Frau umsetzen. Sie lehnte einen Einzug in die Kommune I ab - laut Dieter Kunzelmann mit mehr als nur sanftem Druck. Im Dezember 1965 bezogen Gretchen Klotz und Rudi Dutschke eine gemeinsame Wohnung am Cosimaplatz Nr. 2 in Berlin Friedenau. Am 23. März 1966 heirateten die beiden. Am 12. Januar 1968 wurde Sohn Hosea-Che Dutschke geboren.

Am 3. Dezember 1967 strahlte die ARD mit der Sendung »Zu Protokoll« ein langes Gespräch Dutschkes mit Günter Gaus aus - mit zwiespältigen Folgen. Es erhöhte den Bekanntheitsgrad der Symbolfigur der Studentenbewegung, setzte Dutschke aber andererseits dem Vorwurf des Personenkults aus. Dutschke hielt sich danach mit Interviews zurück, wollte für einige Zeit sogar in die USA gehen, machte aber für den Fernsehjournalisten Wolfgang Venohr eine Ausnahme. Venohr begann sein Filmporträt mit einer Straßenumfrage:

Dutschke? - Verbrennen müsste man so was! Vergasen! Det wär’ richtig! - Na ja, er sollte man richtig n Arsch vollkriegen, auf deutsch gesagt, damit det, wat sein Vater versäumt hat, noch nachgeholt werden könnte. - Na Gott, tja, Abschaum der Menschheit, nicht, Randalierer ersten Grades. - Er geht nach der Zersetzung der Demokratie, also für mich ist klar, der wird vom Osten bezahlt. - Tja, den sollt man in ’n Sack stecken und über die Mauer schmeißen.

Im Treppenaufgang des Hauses in Friedenau, in dem die Aufnahmen gemacht wurden, hatte Venohr an der Wand Vergast Dutschke! gelesen und fragte ihn, ob er sich wegen solcher Schmierereien nicht bedroht fühle. Dutschke antwortete: Ich fühle mich persönlich überhaupt nicht bedroht. Es gebe zwar pogromartige Ansätze, doch die seien ganz normal. Als der Interviewer nachhakte: Haben Sie nicht manchmal Angst, dass Ihnen einer über ’n Kopf haut?, schloss Dutschke allerdings nicht aus, dass natürlich irgend ’n Neurotiker oder Wahnsinniger mal ’ne Kurzschlusshandlung durchführen könne.

Ulrich Enzensberger:
"Am Gründonnerstag, den 11. April 1968, traf um 9.10 Uhr der 24jährige Hilfsarbeiter Bachmann mit dem Interzonenzug am Bahnhof Zoo ein. Er trug eine Pistole im Schulterhalfter. In seiner Einkaufstasche steckten eine Röhm RG 5, Kaliber 6 mm, und Munition. Unter einigen Zeitungsausschnitten, die er in einem Umschlag bei sich trug, war auch der Artikel der "Deutschen National-Soldatenzeitung" vom 22. März: "STOPPT DUTSCHKE JETZT!" Nach einem Frühstück erkundigte er sich bei den Taxifahrern auf dem Bahnhofsvorplatz nach der Wohnung von Dutschke. "Der Dutschke ist doch so einer von der Kommune. Da müssen Sie in die Kaiser-Friedrich-Straße." Bachmann macht sich auf den Weg. In der Kaiser-Friedrich-Straße trifft er einen Postboten. Von ihm erfährt er die Hausnummer, klingelt im Haus 54 a. Nach einiger Zeit öffnet ein Mann mit Wuschelkopf die Tür. Den kennt Bachmann auch, das ist der Langhans. Von dem sind zu dieser Zeit auch alle paar Tage Bilder in der Zeitung. Aber Langhans interessiert nicht. Er sucht Dutschke und fragt nach ihm. "Nein, Rudi wohnt hier nicht, und ich weiß auch nicht wo"; sagt Langhans und fügt noch hinzu, Bachmann solle doch mal im SDS am Kurfürstendamm 140 fragen. Dann schließt er wieder die Tür‘. Ein Telefonat mit dem SDS brachte nicht die gewünschte Auskunft. Daraufhin fuhr Bachmann zum Einwohnermeldeamt und besorgte sich Rudis Meldeadresse. Sie war mit der Adresse des SDS identisch. Um 16.35 Uhr erkannte Bachmann vor dem Kurfürstendamm 140 Dutschke mit dem Fahrrad.

Bachmann: Das Fahrrad war auf der Straße, und Dutschke stand auf dem Bürgersteig. Ich bin um Dutschke herumgegangen.

Richter: So dass Sie auch auf dem Bürgersteig waren?

Bachmann: Ja.

Richter: Und Sie haben ihn gefragt?

Bachmann: Ob er Dutschke ist, und er sagte ja.

Richter: Sie kannten ihn?

Bachmann: Man kennt ihn von Bildern.

Richter: Und dann?

Bachmann: Dann sagte ich, du dreckiges Kommunistenschwein. Dutschke kam auf mich zu, und ich zog den Revolver und ersten Schuss.

Der Schuss ging in die Wange. Bachmann beugte sich über den am Boden Liegenden und schoss ihm in den Kopf. Ein dritter Schuss traf die Schulter. Von Polizisten verfolgt, flüchtete Bachmann sich in den Keller eines Neubaus und wurde dort nach einem Schusswechsel schwer verletzt verhaftet.


Dutschke erlitt lebensgefährliche Gehirnverletzungen. Er überlebte nach einer mehrstündigen Operation. Später meldeten die Zeitungen, Dutschke könne schon wieder aufstehen. In monatelanger täglicher Sprachtherapie, unterstützt vom Psychologen Thomas Ehleiter und Gretchen Dutschke, eignete er sich mühsam wieder Sprache und Gedächtnis an. Da der Medienrummel die Lernfortschritte störte, entschloss sich die Familie, die Bundesrepublik im Juni 1968 zu verlassen. Zunächst in einem Sanatorium in der Schweiz, dann in Italien, schließlich Dänemark, wo Rudi Dutschke 1971 Dozent an der Universität Aarhus wurde. 1973 promovierte er an der FU Berlin im Fach Soziologie.

Rudi Dutschke starb am 24. Dezember 1979 im Alter von 39 Jahren in Aarhus - elf Jahre nach dem Anschlag. Er lag in der Badewanne, als einer der epileptischen Anfälle kam, die ihn seit dem Attentat plagten. Sein Sohn Hosea Che versuchte vergeblich, den ertrunkenen Vater wiederzubeleben. Zurück blieben Gretchen Dutschke (geboren 1942) mit Sohn Hosea Che, Tochter Polly Nicole (geboren 1969) und Rudi-Marek, der erst nach dem Tod seines Vaters am 16. April 1980 in Aarhus zur Welt kam.
Gretchen Dutschke zog 1985 mit den Kindern Polly und Marek nach Boston. Hosea-Che Dutschke blieb "aus Liebe" in Dänemark und ist heute Direktor der Pflege- und Gesundheitsbehörde von Aarhus mit 7.000 Angestellten. Seine Schwester Polly lebt mit ihrer Familie in Aarhus. Sie ist Leiterin eines Pflegeheims. Gretchen Dutschke kam 2010 nach Berlin zurück. Marek zog mit 21 Jahren und zwei amerikanischen akademischen Abschlüssen, Bachelor of Arts in Politik und Germanistik, nach Berlin, wo er heute mit seiner Familie lebt.

Auf Youtube wurde unter https://www.youtube.com/watch?v=SIuz9XLyLD4 das Interview von Wolfgang Venohr aus dem Film "Rudi Dutschke - sein jüngstes Porträt" veröffentlicht.

© Peter Hahn & Jürgen Stich, Juli 2020.
Der Artikel erschien zuerst auf www.friedenau-aktuell.de.

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2020/07/24

Rudolph Bauer
Bildmontagen


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Vermeintliche Verschwörungstheoretiker


bildmontage07
Hotspot Schlachthof


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Zwergen-Serie III

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, Juli 2020.

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2020/07/21

Markus Richard Seifert
Immer nur Vorfreude?


Jetzt habe ich IHN also wieder.
Mein "Baby". Mein Rechner. Mein PC. Mein Computer.
Womit mein home office also wieder vollständig wäre.
Aber ich fahre ihn noch nicht hoch, denn ich habe Angst.
Wovor eigentlich?
Vor einer Enttäuschung, wenn er dann doch nicht funktioniert.
Und eine Enttäuschung nach so viel Vorfreude, das ist bitter.
Natürlich, eigentlich müßte er jetzt wohl wieder "laufen", denn mein Freund Andreas (der Mann mit den sieben Ausbildungen) hat ihn mir doch heil gemacht. Also ist er H-E-I-L.
Aber wenn er nun doch nicht heil ist??
Nicht auszudenken wäre das!
Und das nach so viel VORFREUDE!
Eigentlich, wenn man’s genau nimmt, besteht doch das Leben der meisten Menschen überwiegend nur aus "Vorfreude", und die macht bekanntlich nicht wirklich satt - soviel steht fest.
Aber Vorfreude ist doch die schönste Freude, sagt schon ein altes deutsches Sprichwort. Aber NUR Vorfreude?
Und dann vielleicht KEINE Erfüllung?
Darum: Vorsicht vor der Vorfreude, denn sie kann SCHAL werden wie ein altes Bier, das zu lange offen gewesen ist.
Aber Vorfreude ist doch ...
Ja, ich weiß, darum fahre ich meinen "Rechner" eben noch nicht hoch - wegen der Vorfreude, damit die länger dauert.
Und kaufe mir demnächst vielleicht einen zweiten Rechner, einen nigelnagelneuen "Schlepptop" - mit windows 10 drauf und so weiter.
Und benutzt Du DEN dann wenigstens?
Nein, natürlich nicht, aber wenn ich zehn Computer zusammen habe, dann mache ich vielleicht einen Laden auf.
Einen Laden? Für Computer??
Nein, für Vorfreude.

© Markus Richard Seifert, Juli 2020.

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2020/07/19

Stockrosenzeit im Friedrichshainer Kiez


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Fotos von Anonyma, Anfang Juli 2020.


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2020/07/18

Rummelplatz Dosenwerfen


dosenwerfen
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.


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2020/07/15

ingocesaro5


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2020/07/12

Wasser ist kostbar

An die Agrarindustrie und die hörigen Politiker:
Verseucht nicht weiter unser Grundwasser mit eurer Gülle!
Hört auf, unsere Insekten und Arten zu töten!
Hört auf, die Tiere in Massentierhaltung zu quälen!


wasser
Wasseruhren, Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.

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2020/07/09

Joachim Ringelnatz oder Hans Bötticher?

von Markus Richard Seifert


ringelnatz
Joachim Ringelnatz um 1930. Fotografiert von Hugo Erfurth.
Quelle: Wikimedia Commons.


In irgendeiner Berliner Buchhandlung: "Haben Sie Gedichte von Hans Bötticher??" "Nein, der sagt mir jetzt nichts!" "Aber Sie werden doch Joachim Ringelnatz kennen!" "Den freilich ja!" Joachim Ringelnatz also. Er wurde am 7. August 1883 in der Stadt Wurzen (wahrscheinlich ein kleinerer Ort) in Sachsen geboren. Früh schon packte ihn das Fernweh, das bei Binnenländern oft eine Sehnsucht nach der See ist. Nur bis zur 11. Klasse hielt er die Schule aus, die er auf dem Gymnasium in Leipzig besuchte, dann mit dem so genannten Einjährigen in der Tasche brach er aus, um das zu werden, was er wollte: Schiffsjunge. Aber auch das war für ihn keine reine Freude, denn klein gewachsen, mit großer Nase und sächsischem Dialekt ward er schon bald zum Prügelknaben seiner Kameraden ("Nasenkönig" nannte ihn sein Kapitän). Dennoch hielt er durch, absolvierte schließlich seine Qualifikationsfahrt und durfte deshalb 1904 als Einjährig-Freiwilliger sein Jahr bei der Marine in Kiel abdienen.

Danach verlief sein Leben zunächst einmal ziellos. Und nur an eines konnte er sich halten, nämlich an die Dichtkunst, die ihm sozusagen in die Wiege gelegt war. Denn schon sein Vater, Georg Bötticher, hatte humorvolle Verse verfasst. Und das rettete ihn vor dem "Nichts" und führte dazu, dass er seit 1909 für das bekannte Satiremagazin »Simplicissimus« in München als so genannter Hausdichter schreiben durfte. Dabei lernte er so interessante Leute wie den Anarchisten Erich Mühsam, den Heimatdichter Ludwig Thoma und den Schauspieler Max Reinhardt kennen. Dass er im I. Weltkrieg bei der Marine war, zuletzt als Leutnant zur See auf einem Minensuchboot, wird nicht verwundern. Kurzfristig fasste er auch Sympathie für die deutsche Novemberrevolution 1918, doch als er sich bei einem Auftritt vor dem Arbeiter- und Soldatenrat weigerte, seine Offiziersmütze abzunehmen, war auch das bald zu Ende.

Übrigens hatte er auch eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung (Hamburg). Seit 1919 führte er das Pseudonym Joachim Ringelnatz, dem er selbst zwar keine Bedeutung beimaß, von dem es aber doch hieß, er habe es gewählt, weil einerseits die Ringelnatter "sich sowohl zu Wasser als auch zu Lande wohlfühlt" und Joachim seine Gläubigkeit - Joachim heißt: "Gott möge helfen" - zum Ausdruck bringen kann. Schließlich landete er wieder beim Kabarett, 1920 bei »Schall und Rauch«, wo er im Matrosenanzug gekleidet eigene Gedichte im Moritaten- und Bänkelsängerton vortrug - und damit auch auf Tournee ging. Dass seine eigene Mischung aus Tief- und Unsinn den Nazis nicht gefiel, versteht sich (fast) von selbst. Und obwohl inzwischen ziemlich berühmt, ist er die Geldsorgen doch nie wirklich losgeworden, wie sein Gedicht »Angstgebet in Wohnungsnot« (1923) beweist, wo er die Angst vor Obdachlosigkeit zum Thema gemacht hat. Das also war der Dichter Joachim Ringelnatz ("Kuttel Daddeldu"), stilistisch irgendwo zwischen Boheme und Dadaismus anzutreffen - und am 17. November 1934 ist er in Berlin am heutigen Brixplatz an Tuberkulose gestorben.

© Markus Richard Seifert, Juli 2020.


Joachim Ringelnatz
Bumerang


War einmal ein Bumerang;
War ein Weniges zu lang.
Bumerang flog ein Stück,
Aber kam nicht mehr zurück.
Publikum - noch stundenlang -
Wartete auf Bumerang.

Joachim Ringelnatz
Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument


Guten Abend, schöne Unbekannte!
Es ist nachts halb zehn.
Würden Sie liebenswürdigerweise mit mir schlafen gehn?
Wer ich bin? - Sie meinen, wie ich heiße?
Liebes Kind, ich werde Sie belügen,
Denn ich schenke dir drei Pfund.
Denn ich küsse niemals auf den Mund.
Von uns beiden bin ich der Gescheitre.
Doch du darfst mich um drei weitre
Pfund betrügen.
Glaube mir, liebes Kind:
Wenn man einmal in Sansibar
Und in Tirol und im Gefängnis und in Kalkutta war,
Dann merkt man erst, daß man nicht weiß,
wie sonderbar Die Menschen sind.
Deine Ehre, zum Beispiel, ist nicht dasselbe
Wie bei Peter dem Großen L’honneur.-
Übrigens war ich - (Schenk mir das gelbe
Band!) - in Altona an der Elbe Schaufensterdekorateur.-
Hast du das Tuten gehört?
Das ist Wilson Line.
Wie? Ich sei angetrunken?
O nein, nein! Nein!
Ich bin völlig besoffen und hundsgefährlich geistesgestört.
Aber sechs Pfund sind immer ein Risiko wert.
Wie du mißtrauisch neben mir gehst!
Wart nur, ich erzähle dir schnurrige Sachen.
Ich weiß: Du wirst lachen.
Ich weiß: Daß sie dich auch traurig machen.
Obwohl du sie gar nicht verstehst.
Und auch ich - Du wirst mir vertrauen - später in Hose und Hemd.
Mädchen wie du haben mir immer vertraut.
Ich bin etwas schief ins Leben gebaut.
Wo mir alles rätselvoll ist und fremd,
Da wohnt meine Mutter. - Quatsch!
Ich bitte dich: Sei recht laut!
Ich bin eine alte Kommode.
Oft mit Tinte oder Rotwein begossen;
Manchmal mit Fußtritten geschlossen.
Der wird kichern, der nach meinem Tode
Mein Geheimfach entdeckt.-
Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt!
Ich bin auch nicht richtig froh.
Ich habe auch kein richtiges Herz.
Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk.
Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts,
irgendwo Im Muschelkalk.

Joachim Ringelnatz
Die Ameisen


In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee,
Da taten ihnen die Beine weh,
Und da verzichteten sie weise
Dann auf den letzten Teil der Reise.

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2020/07/06

Kakteenblüte


kakteenbluete


Blühende Igelkakteen (Echinopsis) aus Argentinien. Fotografiert von © Ella Gondek. Die Igelkakteen sind recht einfach zu pflegen und eignen sich auch für KakteenanfängerInnen. Echinopsis eyriesii, auch Bauernkaktus genannt, wurde im Jahr 2010 zum Kaktus des Jahres gewählt.

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2020/07/04

Tagebuch 1973, Teil 42: Lahore

Dr. Christian G. Pätzold


29. September 1973, Lahore, Sonnabend

Das Essen in Pakistan war immer sehr scharf und zerkocht. Heute begann der Fastenmonat Ramadan, bei dem nur morgens um vier Uhr und dann erst wieder abends um sechs Uhr etwas gegessen werden darf. Auch Rauchen und Trinken waren tagsüber nicht erlaubt. Angeblich konnte man aber hinter einem Vorhang auch tagsüber etwas essen.
Wir sind zum Fort von Lahore gefahren, es ist eine bedeutende und große Palastanlage der Moguln. Wir haben die Elefantentreppe, Hathi Pair, die königlichen Elefanten trugen die Damen des Hofes über diese Treppe in das Fort, und den Spiegelraum gesehen, den Shish Mahal oder Palast des Großmoguls Schahjahan, der Spiegelpavillion selbst heißt Naulakha. Im Spiegelraum gab es das Lichtspiel und die Reflexionen der vielen Spiegel zu sehen. Insgesamt waren wir sehr beeindruckt von dem Fort, dem Sitz der Großmoguln, erbaut zur Zeit von Akbar dem Großen um 1560.

Ein Mann hat uns zu sich in sein Haus eingeladen, es lag mitten im Bazar. Er hatte wohl einen Uhrenladen gehabt, arbeitete aber nicht mehr. Er hatte zwei Töchter und einen Sohn. Man hat uns Äpfel, Tee und Kekse besorgt, aber er hat sein Fasten eisern eingehalten, während wir gegessen und getrunken haben. Er zeigte uns seine Frau, was sehr ungewöhnlich war, aber bei Ausländern machten die Pakistanis anscheinend eine Ausnahme. Oben am Treppenabsatz schielte immer seine jugendliche Tochter herunter, traute sich aber nicht, näher heranzukommen. Die Menschen in Pakistan waren unterschiedlich gegenüber ausländischen Reisenden eingestellt. Einige waren interessiert und suchten den Kontakt zu Ausländern, diskutierten mit ihnen über ihr Leben und die Welt im Allgemeinen, wenn sie Englisch sprechen konnten. Andere Leute lehnten die Ausländer eher ab und sahen in ihnen vor allem westliche Hippies und Drogenabhängige
Viele Leute schliefen hier nachts auf der Straße, wahrscheinlich weil sie kein Geld für ein Zimmer hatten und weil die Temperatur erträglich ist. Abends sind wir ins Kino gegangen. Der Film hieß »Mastana Mahi« und handelte von zwei Brüdern, der eine arm und Postbote auf dem Land, der andere Arzt in der Stadt. Sie lernten jeweils die Zukünftige des anderen kennen und lieben. Schließlich stellte sich heraus, dass sie Zwillingsbrüder waren und alle wurden glücklich. Der Postbote bekam die Schauspielerin aus der Stadt und der Arzt bekam die Tochter des Landlords. Kino war eigentlich vom Islam verboten, aber die Leute gingen trotzdem hin, weil es ihnen natürlich Spaß machte, einen Film anzusehen.

30. September 1973, Lahore - Indische Grenze, Sonntag

Mit einem Regierungsbus sind wir zu 80 Paisas zur Indischen Grenze gefahren. Die Pakistanis wollten die Road Permission sehen, die Inder Geld und Hasch, aber kein Health Certificate. Da sich Indien und Pakistan wie üblich in einer Art Kriegszustand befanden, war die Grenze für Inder und Pakistanis dicht. Aber westliche Reisende konnten ziemlich unproblematisch passieren.
Auf der indischen Seite der Grenze liefen plötzlich die Frauen völlig frei herum, keine Schleier, keine abgetrennten Abteile im Bus, wir waren platt. Man merkte deutlich, dass wir jetzt in einer ganz anderen Kultur waren. Ich hatte jetzt also die islamische Welt verlassen, in die ich nicht mehr kommen würde, abgesehen von einem kurzen Kontakt in Malaysia.

Ausgaben in Pakistan: 80,- DM für 9 Tage (22.9. - 30.9.1973) pro Person:

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2020.

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2020/07/02

Tagebuch 1973, Teil 41: Lahore (Pakistan)

Dr. Christian G. Pätzold


badshahimoschee
Die Badshahi-Moschee in Lahore. Quelle: Wikimedia Commons.


28. September 1973, Lahore, Freitag

Am Morgen bin ich durch endlose Bazare gegangen. Die Kinder waren frech, warfen mit Abfällen nach mir und riefen Hippie und Haschisch. Ich habe es in die Wazir Khan Moschee geschafft, in der sich ein berühmtes Grabmal befindet, es gab viel Weihrauch und einen Beter. Die Wazir Khan Moschee ist wirklich sehr schön, vollständig geschmückt mit Blütenmotiven. Die Moschee wurde von einem ehemaligen Arzt im Jahr 1634 in Auftrag gegeben, der es zum Wezir unter Großmogul Schahjahan gebracht hatte. Der Wezir war damals der höchste Beamte, vergleichbar mit einem heutigen Ministerpräsidenten. Unterwegs habe ich Raubvögel gesehen, die über der Stadt flogen, Streifenhörnchen und Papageien. Beim General Post Office habe ich noch ein Päckchen für 13 Rupees nach Deutschland abgeschickt.

In die Moscheen bin ich nicht aus religiösen Gründen gegangen, sondern aus kulturhistorischem und kunsthistorischem Interesse. Wenn man bedenkt, dass man sich dort befindet, wo schon die Großmoguln herumspazierten, dann haben diese Orte doch eine ganz besondere Aura. Die historischen Moscheen in Persien und Pakistan sind oft von großer architektonischer Schönheit. Sehenswert sind besonders die vielen floralen Motive auf Keramik. Die Darstellung von Blüten in Moscheen ist im Islam erlaubt, von Menschen dagegen nicht.

Am Nachmittag habe ich die Badshahi-Moschee besucht, vorher natürlich die Schuhe ausziehen, eine beeindruckende Mogulmoschee aus rotem Sandstein mit weißen Marmorkuppeln, die während der Regierung von Großmogul Alamgir Aurangzeb im Jahr 1674 erbaut wurde, also etwas später als das Tadsch Mahal in Agra (1631-1648), dessen Kuppeln und Anlage ähnlich sind. Die Moschee gehört zu den größten der Welt und der ganze Moscheebezirk mit großem Garten ist sehr gut komponiert. Großmogul Aurangzeb war der Sohn von Großmogul Schahjahan, der das Tadsch Mahal in Agra für seine Lieblingsfrau Mumtaz Mahal erbauen ließ, Enkel von Großmogul Jahangir und Urenkel von Akbar dem Großen, der eigentlich Jalaluddin Badschah-i-Ghazi hieß.

Man muss sich immer vergegenwärtigen, dass Pakistan und Nord-Indien gemeinsam zum Reich der Moguln gehört haben und dass die Hauptstädte Lahore, Delhi und Agra waren. Die moslemischen Moguln haben die Mehrheit der Hindus beherrscht. Teilweise sind während der Mogulherrschaft auch einige Hindus der untersten Kasten zum Islam übergetreten, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Die Nachfahren der konvertierten Moslems sind dann nach der Unabhängigkeit 1947 aus Indien geflüchtet und haben sich in West-Pakistan niedergelassen, wo sie als Volksgruppe aber oft in Konflikt zu den eingesessenen Pakistanis gerieten.

Ein Mann, der Englisch sprach, hat uns aus einem Disput mit einem Kutscher gerettet, der uns 5 Rupees abknöpfen wollte. Sofort versammelte sich eine riesige Menschenmenge, die natürlich die Partei des Kutschers ergriff. Wir bezahlten sicherheitshalber die 5 Rupees. Wir gingen zu unserem Retter nach Hause, er wohnte in dem an die Moschee angrenzenden Bazar. Er hat uns einen Brief nach Indien mitgegeben, da die Post nach Indien nicht ging. Er war ein Moslem, der 1947 nach Pakistan gegangen ist und die Massaker zwischen Hindus und Moslems miterlebt hatte. Er sagte, dass die Moslem League von den britischen Kolonialherren als Konkurrenz zur National Congress Party eingerichtet worden war, um ihre divide-et-impera-Politik besser durchführen zu können. Wir sind durch den ganzen Bazar gelaufen, die Leute waren teilweise aggressiv uns gegenüber. Wenn irgendwo irgendetwas los war, bildete sich sofort ein riesiger Menschenauflauf, weil die Leute nichts anderes zu tun hatten.

Zurück im Hotel haben wir einen Beamten aus Sindh getroffen, der über seine Arbeit erzählt hat. Er verdiente 400 Rupees im Monat (entsprach 100,- DM) und konnte davon seine Familie nicht ernähren. Also nahm er 1.000 bis 2.000 Rupees Bestechung zum Beispiel für Baugenehmigungen. Er sagte, dass das alle so machen. Er sagte, es gäbe 16 Lohnstufen für Arbeiter, die niedrigste bei 140 Rupees. Er meinte, 1975 werde es wieder Krieg mit Indien geben. Er erzählte noch von seiner Familie, dass er seine Frau sehr liebe, dass es hier keine Scheidung gäbe und dass sein Familienleben sehr glücklich sei. Seine Frau bleibe fast immer im Haus und dürfe nur tiefverschleiert über die Straße gehen. Er kaufe ein, sie herrsche dafür im Haus. Sie habe viel zu tun, sie haben acht Kinder. Heutzutage sei schon viel liberalisiert, früher durften Frauen nur in einer Sänfte das Haus verlassen. Er könne sich nicht vorstellen, dass eines Tages Männer und Frauen am selben Arbeitsplatz nebeneinander tätig sein werden.

Exkurs: Über die Arten des Transports auf einer Weltreise

Bei einer Weltreise kommt man durch zahlreiche Länder mit ganz unterschiedlichen lokalen Möglichkeiten des Reisens und der Fortbewegung. Man muss sich jeweils an die vorhandenen Gegebenheiten flexibel anpassen. Auf meiner Weltreise haben sich die unterschiedlichsten Transportmittel ergeben: Auto, auf der Ladefläche eines LKW, Zug, Reisebus, Minibus, mit Militärflugzeug, mit Passagierflugzeugen, Motorrad, Fähre, Schiff. Die preiswerteste Art des Reisens war das Trampen mit Autos. So wurde ich auf dem Trans-Canadian Highway von der Westküste zur Ostküste kostenlos von Autofahrern mitgenommen. Die KanadierInnen waren sehr freundlich und hilfsbereit.
Die teuerste Art des Reisens war das Fliegen, weswegen ich nur das Flugzeug genommen habe, wenn es gar nicht anders ging, und dann auch nur den billigsten Flieger. Der Vorteil des Fliegens war, dass man die Erde mal von oben sehen konnte. Andererseits lernte man beim Fliegen kaum Menschen kennen. Da ich meist durch arme Länder gereist bin, waren die Transportkosten im Durchschnitt relativ billig. Überhaupt war das Reisen in den armen Ländern billiger als die normalen Unterhaltskosten in Deutschland.
Innerhalb der Städte gab es wiederum verschiedene Arten, von A nach B zu kommen: Zu Fuß, mit Bussen, Fahrrad-Rikschas, Pferdekutschen, U-Bahnen, S-Bahnen, Street Cars in San Francisco oder New Orleans, Taxis. In Sri Lanka habe ich sogar einmal auf einem Elefanten gesessen.
Mein erstes Transportmittel zum Anfang der Reise war ein VW-Bulli, mit dem ich 2 Monate durch die Sowjetunion gefahren bin, wie ihr zu Beginn dieses Tagebuchs nachlesen könnt. Der VW-Bulli war damals ein Kultauto und Freiheitssymbol der jungen Leute, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und vielen anderen Ländern. Oft wurden die VW-Bullis bunt mit Hippiemotiven angemalt. Sie waren auch relativ geräumig, so dass man darin übernachten konnte, quasi kleine Wohnmobile. Außerdem waren die Wagen robust und konnten daher für ferne Reisen genutzt werden. Unser VW-Bulli hat es immerhin von Berlin bis nach Tiflis im Kaukasus geschafft, und auch wieder zurück. Irgendwann hat der VW-Konzern die Produktion von VW-Bullis und VW-Käfern eingestellt, ich vermute aus Profitgründen. Dabei haben diese simplen Autos, die man noch selbst reparieren konnte, durchaus Sinn gemacht für die Nutzer.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2020.

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2020/07/01

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2020/06/30

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dalmatiner

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2020/06/27

Vor 100 Jahren: Erste Internationale DADA-Messe in Berlin
veranstaltet von Propagandada Marshall George Grosz, Dadasoph Raoul Hausmann
und Monteurdada John Heartfield

Ausstellung und Verkauf dadaistischer Erzeugnisse
30. Juni 1920 - 25. August 1920


Die folgenden KünstlerInnen waren mit Exponaten an der Ausstellung beteiligt:
Johannes Alberts, Johannes Sokrates Albrecht, Hans Arp (Zürich), Johannes Baader, Johannes Theodor Baargeld (Köln), Carl Boesner, Otto Burchard, Hans Citroën, Otto Dix, Alois Erbach (Wiesbaden), Max Ernst (Köln), George Grosz, Maud E. Grosz, Raoul Hausmann, John Heartfield, Ben Hecht (Chicago), Wieland Herzfelde, Hannah Höch, Georg Koch, Georg Kobbe, Sigmar Mehring, Francis Picabia (Paris), Max Schlichter, Rudolf Schlichter (Karlsruhe), Otto Schmalhausen (Antwerpen), Georg Scholz (Grötzingen), Walter Serner, Walter Stuckenschmidt.


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George Grosz und John Heartfield bei der Dada-Messe, Berlin 1920


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Raoul Hausmann und Hannah Höch vor ihren Werken


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Blick in die Ausstellung


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2020/06/24

Zum Friedrich-Engels-Jahr

Dr. Hans-Albert Wulf
Die Hölle auf Erden im Frühkapitalismus


manchester
Arbeiterinnen in einer Baumwollfabrik in Manchester, um 1830.
Quelle: Wikimedia Commons.


Der Teufel versuchte sich zu erinnern. Vor einiger Zeit, die er auf der Erde verbrachte, war er versehentlich in eine Kirche geraten und dort fand gerade ein Gottesdienst statt. Der Pfarrer oben auf der Kanzel hatte sich mit seiner Predigt mächtig ins Zeug gelegt. Allein ein arbeitsames und fleißiges Leben sei ein gottgefälliges Leben und nur durch Arbeit öffne sich für den Menschen die Himmelstür. Zum Schluss der Predigt bat der Pfarrer die Gläubigen sich zu erheben und folgendes Gebet nachzusprechen: "Oh mein Gott, mein Gott, schenke mir doch Arbeit und Dienste allezeit! Oh mein Gott, mein Gott, was ist doch die Plage und Beschwerde hier auf Erden köstlich, da sie so große Seligkeit schafft. Oh Gott, ich erkenne deine Güte und ich bitte dich, erlöse mich von bösen Gesinnungen und von Unzufriedenheit mit dir, aber nicht von Arbeit, solange ich lebe auf Erden! Denn je arbeitsamer ich bin, je seliger werde ich sein!" Nach einer solch großen Dosis christlichen Balsams, war der Teufel derartig erschöpft, dass er sich in die Sakristei verzog, sich dort im hintersten Winkel auf dem Boden einrollte und in einen tiefen Schlaf versank.
In der Frühe des nächsten Morgens machte er sich auf, setzte seine Mütze auf und wanderte zu den großen Textilfabriken Manchesters. Dort wollte er sich anstellen lassen, um die vom Pfarrer so gepriesenen Wohltaten der Arbeit am eigenen Leibe zu erfahren. Als der Teufel noch etwas müde vor sich hin schlurfte, wurde er plötzlich lauthals von zwei Männern überholt, die lange Holzstangen mit sich führten. Und mit diesen Stangen klopften sie laut und kräftig an die Fenster der Arbeitersiedlung. "Um Gotteswillen, was machen sie denn da? Wollen sie die Fensterscheiben einschlagen?" "Quatsch!" entgegnete einer von ihnen gereizt. "Wir sind das Weckkommando. Wir treiben die faulen Arbeiter aus ihren Betten, damit sie morgens pünktlich zur Arbeit kommen." Denn wenn sie den Beginn der Schicht um 6 Uhr versäumen, werden sie bestraft und es wird ihnen eine Stunde vom Lohn abgezogen. Der Teufel beschleunigte seinen Schritt und erreichte nun das Industriegelände von Manchester. Als er um die Ecke bog, sah er eine alte Frau, die sich hin zu den Fabriken schleppte. Und als er sie überholte, sah er zu seinem Entsetzen, dass es keine alte Frau sondern ein junges Mädchen war.

Beherzt klopfte er an den Nebeneingang des Hauptgebäudes der Fabrik. Nach einigem Warten öffnete sich das Tor und ein Pferdewagen fuhr hinaus, auf dessen Ladefläche sich ein Sarg befand. Und in dem Sarg lag, wie er später erfuhr, die Leiche eines jungen Arbeiters, der am Vorabend versehentlich in das Getriebe einer Maschine geraten war. Ein Keilriemen hatte ihn erfasst und mehrfach so heftig durch die Luft gewirbelt, dass ihm auf der Stelle sämtliche Knochen gebrochen waren. Er war auf der Stelle tot.
Nachdem dem Teufel von einem Vorarbeiter diese grausliche Geschichte berichtet worden war, musste er erst einmal schlucken, fasste sich aber dann doch ein Herz und betrat das Fabrikgebäude. Ob er hier arbeiten könne, fragte der Teufel einen der Vorarbeiter. Na klar, gerade sei ja einer seiner Leute mit dem Leichenwagen abtransportiert worden. In der Ecke stand ein gebeugter junger Mann, dem das Greisenalter schon ins Gesicht geschrieben war und dessen rechter Arm fehlte. Ob man denn keine Arbeit für ihn habe, bettelte er. Er sei doch bis zu seinem Unfall immer ein fleißiger Arbeiter gewesen. Der Vorarbeiter schnauzte ihn an, dass er jetzt schon seit drei Tagen jeden Morgen den Betrieb hier aufhalte, er solle sich zum Teufel scheren! Dann führte er den Teufel durch die riesige Fabrikhalle mit ihrem ohrenbetäubenden Lärm hin zu den gigantischen Baumwollspinnmaschinen.
Und dort stellte ihn der Vorarbeiter hin und gab ihm Arbeitsanweisungen. Große körperliche Kraft müsse er hier nicht aufbringen, da die Maschinen ja nun von einer Dampfmaschine am Laufen gehalten würden. Er müsse die Maschine allerdings gewissenhaft beaufsichtigen und bei Störungen sofort eingreifen und z.B. zerrissene Fäden wieder anknüpfen. Nachdem sich der Teufel eingearbeitet hatte, musste er denken, dass diese Arbeit an den Maschinen weiß Gott nicht "köstlich sei und dem Arbeiter große Seligkeit verschaffe", wie der Pfarrer gepredigt hatte. Ganz im Gegenteil es sei eine einzige riesige Hölle der Langeweile. Es sei ja nichts anderes als ein Lebendigbegrabenwerden in der Fabrik und dieses pausenlose Achtgeben auf die unermüdliche Maschine sei eine einzige Tortur, die alle Höllenvorstellungen überbiete. Denn nichts sei fürchterlicher als von morgens bis abends etwas tun zu müssen, was einem widerstrebt und eine immerwährende Qual bereitet. Der Teufel hatte noch nicht die Fließbandarbeit in den Automobilfabriken im 20. Jahrhundert von Henry Ford kennengelernt.

Aber er, der Teufel, war ja nur zu Besuch gekommen und konnte jederzeit wieder gehen. Aber wie stand es mit den irdischen Menschenkindern? Krankheiten und Verkrüppelungen sind im Arbeitsalltag auf der Tagesordnung. Immer wieder gibt es Arbeitsunfälle, die dadurch hervorgerufen werden, dass die Arbeiter zwischen den Maschinen hantieren müssen. Da wird schon mal ein Finger abgequetscht oder aber ein ganzer Arm wird von der Maschinerie ergriffen und zermalmt. In einem zeitgenössischen Bericht hierzu ist zu lesen. "Die gefährlichsten Stellen der Maschinerie sind aber die Riemen, welche die Triebkraft auf die einzelnen Maschinen leiten. Wer von diesen Riemen ergriffen wird, den reißt die treibende Kraft pfeilschnell mit sich herum, schlägt ihn oben gegen die Decke und unten gegen den Fußboden mit solcher Gewalt, dass selten ein Knochen am Körper ganz bleibt und augenblicklicher Tod erfolgt." (zit. nach Friedrich Engels S.387)
Als der Teufel all diesen Horror mit Schaudern sah, musste er an die Qualen der Hölle denken und die Ähnlichkeiten waren unübersehbar. Auch hier herrschte ein unerträglicher Lärm und die Insassen resp. Arbeiter schufteten in fürchterlicher Hitze. Und machten sie auch nur den kleinsten Fehler, wurden sie unmittelbar und schmerzhaft mit dem Tode bestraft, indem ihnen ein Treibriemen um die Ohren flog. Einen großen Unterschied gab es aber doch: Die in der Hölle schmorenden Menschen hatten in ihrem Leben eine oder mehrere Sünden begangen - jedenfalls nach dem Urteil der katholischen Kirche. Die Frauen, Kinder und Männer in der Hölle der Fabrik haben sich dagegen nichts zu Schulden kommen lassen. Ihr einziges Vergehen bestand darin, dass sie leben wollten. Und um leben zu können, mussten sie tagein, tagaus 12 bis 14 Stunden von früh bis spät in der Fabrikhölle ihr Leben hingeben.

Und dies begann schon im Leben von kleinen Kindern, die in den Textilfabriken deshalb von den Fabrikanten so gerne eingesetzt wurden, weil sie aufgrund ihrer Körperkleinheit gut unter den Maschinen arbeiten konnten. Eine Arbeiterin erzählte unter Tränen, wie morgens Aufseher in ihre Wohnung mit Gewalt eingedrungen waren und ihre Kinder nackt aus dem Bette geholt, mit den Kleidern auf dem Arm unter Schlägen und Tritten sie in die Fabrik gejagt haben und wie sie ihnen den Schlaf mit Schlägen ausgetrieben haben. Ein zweiter Arbeiter berichtete wütend, wie die Kinder dann trotzdem über der Arbeit eingeschlafen, wie ein armes Kind noch im Schlaf, und nachdem die Maschine stillgesetzt war, auf den Zuruf des Aufsehers aufsprang und mit geschlossenen Augen die Handgriffe seiner Arbeit ausführte. Und wenn die Kinder nach Hause kamen, waren sie so müde, dass sie vor Müdigkeit ihr Abendbrot nicht essen konnten. (Engels S. 388f.)
Am nächsten Morgen um 6 Uhr ging die Tortur dann von neuem los. Die Arbeit der Kinder besteht darin, dass sie unter die Spinnmaschinen kriechen müssen, um die herabfallenden Fasern wegzuschaffen. Und dabei müssen sie sich beeilen und sehr schnell arbeiten. Weil nur wenige Sekunden später die Spulenreihe zurückfährt und den gesponnenen Faden aufwickelt. Kommen die Kinder nicht rechtzeitig heraus, werden sie unweigerlich zwischen der heranrasenden Maschinenreihe und dem Maschinengestell zerquetscht.

Nach dem Ende der Schicht war der Teufel völlig fertig und machte sich auf den Heimweg zu seiner Herberge. Und auf seinem Weg dorthin traf er immer wieder Krüppel und verstümmelte Arbeiter. Dem einen fehlt der ganze oder der halbe Arm, dem anderen der Fuß, dem Dritten ein halbes Bein; "man glaubt unter einer Armee zu leben, die eben aus dem Feldzug zurückkommt." (Engels 386f.)
Als der Teufel in seiner Herberge ermüdet angekommen war, trank er erst einmal ein Bier. Auf dem Tisch lag ein Stapel des "Manchester Guardian" und hier las der Teufel über die letzten größeren Unglücksfälle in den Fabriken von Manchester.

15. Juni, Ein Junge aus Saddleworth wird von einem Rad ergriffen und mitgerissen, er starb, vollkommen zerschmettert.
29. Juni, Ein junger Mann in Greenacres Moor bei Manchester, der in einer Maschinenfabrik arbeitete, gerät unter einen Schleifstein, der ihm zwei Rippen zerbrach und ihn zerfleischte.
24. Juli, Ein Mädchen in Oldham stirbt, von einem Riemen fünfzigmal mit herumgerissen, kein Knochen blieb ganz.
27. Juli, In Manchester gerät ein Mädchen in einen Blower (die erste Maschine welche die rohe Baumwolle aufnimmt) und starb an den erlittenen Verstümmelungen.
3. August, Ein Spulendrechsler stirbt, von einem Riemen fortgerissen, in Dukinfield, alle Rippen waren zerbrochen.

Das Krankenhaus von Manchester hatte im Jahre 1843 allein 962 Verwundungen und Verstümmelungen zu heilen.
Der Teufel trank sein Bier aus, stieg die Treppe hinauf zu seiner Schlafstätte und betete zu Gott, dass er von all dem Grauen des Tages nicht träumen möge.

Die Seitenzahlen beziehen sich auf Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, MEW Band 2 (zuerst Leipzig 1845). Insgesamt beziehe ich mich bei der Schilderung der damaligen englischen Fabrikzustände auf Engels.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Juni 2020.

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2020/06/21

Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Brandenburgisches Konzert Nr. 1 BWV 1046 - 1. Satz: Allegro (1721)

2 Hörner, 3 Oboen, 1 Fagott und 1 Violino piccolo
4 Minuten 36 Sekunden. Quelle: Wikimedia Commons
(Bitte mit Kopfhörer hören für vollen Klang)





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2020/06/18

Sabine Rahe
Watt


Perlender Schaum, der Schlick benetzt.
Venusmuscheln im Sand versteckt.
Mutter Erde, die nackte Beine mit Modder bedeckt.
Angst, dass eine im Boden verborgene Auster
blosse Fußsohlen aufschlitzt.

Gesichter vom frischen Wind gerötet
und von wolkendurchbrechender Sonne erhitzt.
Meerwasserlache, die unter den Schritten aufspritzt.
Ein kleiner Seestern, der in einer flachen Pfütze festsitzt.

Am Horizont eine Hallig.
Das Watt, in dem ein Priel in der tiefstehenden Sonne blinkt.
Eine Haarsträhne, die der Wind in die Stirn bläst.
Gewaltige Wolken, die er wie Banner voran trägt.

© Sabine Rahe, Juni 2020.
www.die-dorettes.de



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2020/06/17

linie

wattwanderung
Wattwanderung in Wangerooge, Sommer 1965.


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2020/06/15

Tipp vom Bioobst-Gärtner: Rhabarber

Dr. Christian G. Pätzold


rhabarber
Rhabarberblüte. Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, April 2020.


Rhabarber (Rheum rhabarbarum) kommt aus dem Himalaja und gehört zur botanischen Familie der Knöterichgewächse (Polygonaceae). Von der mehrjährigen Staude sind nur die Blattstiele essbar. Vorsicht! Alle anderen Pflanzenteile sind giftig. Die Blattstiele bieten das erste Obst des Jahres schon im April und können bis Mitte Juli geerntet werden. Danach muss sich die Pflanze wieder regenerieren. Rhabarber ist in Deutschland sehr beliebt als schmackhaftes Rhabarberkompott, als Rhabarberkuchen oder auch als Rhabarbermarmelade. Die Pflanze ist recht anspruchslos, freut sich aber auch über etwas Dünger in Form von Komposterde. Als Platz benötigt sie nur 1,50 x 1,50 Meter. Sie wächst etwa 1,50 Meter hoch.

Ein weiterer Vorteil des Rhabarbers neben der Speise ist seine große dekorative Wirkung. Schon die großen Blätter mit den roten Stielen sind sehr schön anzusehen. Besonders spektakulär sind die Blütenstände mit zahlreichen kleinen Einzelblüten. Die Blütenstände sollte man teilweise stehen lassen, wenn man mehrere Rhabarberpflanzen hat. Im kommerziellen Rhabarberanbau werden die Blütenstände herausgeschnitten, um mehr Blattstiele ernten zu können.

Die Zubereitung von Rhabarberkompott ist sehr einfach: Die Blattstiele waschen und in kleine Stückchen schneiden. Im Topf mit etwas Wasser aufkochen und 5 Minuten köcheln lassen, bis die Stückchen zu Fasern zerfallen sind. Bourbon-Vanille-Zucker hinzugeben. Fertig! Dazu passt Vanilleeis.

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2020/06/12

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2020/06/09

Die Bremer Stadtmusikanten
4 alte Künstler auf der Suche nach Freiheit


bremerstadtmusikanten
Die Bremer Stadtmusikanten vor dem Rathaus in Bremen.
Plastik von Gerhard Marcks, 1953. Quelle: Wikimedia Commons.
Nach dem Märchen von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm.


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2020/06/06

Neues aus der Welt der Flacherdler

von Dr. Hans-Albert Wulf


Wir befinden uns in einer Schule im mittleren Westen der USA. Es klingelt und der Geografielehrer Mr. Barnes betritt den Klassenraum. Er müht sich mit einem enorm großen Paket ab, das er mit Ächzen vorne auf sein Pult wuchtet. "Guten Morgen Kinder, ich habe euch etwas Schönes mitgebracht. Jeder von euch erhält eine kleine Erdkugel aus Blech." Die Kinder sind begeistert und stürzen nach vorne, um sich einen dieser Bälle zu holen. Und sie legen sofort los, mit den kleinen Erdkugeln wie wild im Klassenraum Werfen und Fangen zu spielen. Ein mordsmäßiger Krach, der über den gesamten Flur scheppert und poltert. Die Lehrerin aus dem Nebenklassenraum kommt wütend hereingeschnauzt. Sie verbitte sich diesen Lärm! So könne man ja überhaupt keinen Unterricht durchführen. Und was denn überhaupt dieser Unfug hier zu bedeuten habe. Sie werde es dem Direktor melden, wenn dieser von seiner Dienstreise zurückgekehrt sei. Mr. Barnes erklärt ihr, es handele sich um kleine Taschengloben, um den SchülerInnen eine plastische Vorstellung von unserem Erdball zu vermitteln.

Mr. Johnson, der Schulleiter, erfährt am nächsten Montag von dem Vorfall und ist wütend und entsetzt. Was ist das doch für ein miserabler und unfähiger Geografielehrer, der den Kindern solch einen veralteten Kram erzählt, dass die Erde eine Kugel sei! Gerade habe er selbst in der letzten Woche an einer Konferenz der "Flach-Erder"-Vereinigung in California teilgenommen. Und dort wurde auf Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse der endgültige Beweis dafür erbracht, dass die Erde eine Scheibe ist, an deren Rändern ringsum sich die Arktis und Antarktis auftürmen, um das Auslaufen der Meere zu verhindern.

Nach diesem skandalösen Vorfall wird der Geografielehrer Barnes auf der Stelle entlassen und der Schulleiter übernimmt nun in eigener Person den Geografieunterricht. Als erste Tat werden unter der Anleitung des Fachlehrers für den Werkunterricht sämtliche Taschenblechgloben Stück für Stück zu Scheiben plattgehämmert. Ein Riesenspaß für die Kinder. Für diese großartige Aktion im Kampf gegen ketzerische Weltauffassungen wird Schulleiter Johnson ins Bildungsministerium nach Washington eingeladen. Und dort wird ihm feierlich die Donald-Trump-Medaille verliehen.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Juni 2020.

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2020/06/02

Der Baum des Jahres 2020: Die Robinie


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Robinien im Berliner Stadtbild.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold am 9. Mai 2020.


Jedes Jahr wird in Deutschland ein Baum des Jahres ausgewählt, um auf die Schönheit und den Nutzen der Bäume aufmerksam zu machen. Dieses Jahr ist es die Robinie (Robinia pseudoacacia) aus der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae). Die Robinie wird im Volksmund auch Akazie genannt, was botanisch nicht stimmt, denn die Akazien bilden eine eigene Gattung. Die Robinie stammt aus den östlichen USA und ist in Deutschland eine invasive Art, das heißt sie breitet sich hier schon lange von selbst aus und verdrängt andere Pflanzen. Deswegen wird die Robinie von einigen Leuten angefeindet. Die Robinie soll erstmals im Jahr 1601 von Jean Robin, dem Gärtner der französischen Könige, in Frankreich eingeführt worden sein.

Die Robinie hat aber eine Reihe von Vorzügen, weswegen sie von anderen Menschen sehr geschätzt wird.
Erstens ist die Robinie ein sehr dekorativer Baum, da sie ein bizarres Aussehen mit Ästen in einer Art Zick-Zack-Struktur hat. Die Krone ist sehr licht, so dass viele Sonnenstrahlen auf den Boden durchgelassen werden. Dadurch ist der ganze Baum eine sehr freundliche Erscheinung. Wenn man dagegen unter Buchen steht, dann ist es zappenduster. Da die Robinie sehr widerstandsfähig gegenüber Umweltbelastungen ist, ist sie auch ein beliebter Straßenbaum. Sie kann bis zu 30 Meter hoch wachsen.
Zweitens ist die Robinie eine sehr gute Bienenweide, die ab Mai blüht. Die Blüte ist spektakulär, denn oft sind die Bäume vollständig mit weißen Blütentrauben bedeckt. Die Blüten der Robinie duften stark süßlich, so dass Straßen und Plätze parfümiert werden. Die Bienen lieben den reichlichen Nektar der Blüten und produzieren köstlichen Robinienhonig.
Drittens ist das Holz der Robinie sehr hart und witterungsbeständig. Es eignet sich etwa zum Bau von stabilen Klettergerüsten auf Kinderspielplätzen. Die Robinie gehört weltweit mit Pappeln und Eukalyptus zu den 3 Laubbäumen, die am häufigsten auf Plantagen angebaut werden. Sie wird auch zum Stopp der Bodenerosion angepflanzt.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2020/05/31

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2020/05/27

Flower Power
Einen zitronengelb blühenden Rhododendron sieht man nicht so oft


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Fotografiert von © Ella Gondek in der Nähe von Berlin.


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2020/05/24

Susan Hill: The Giant's Head


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Skulptur in The Lost Gardens of Heligan, Cornwall, England.
Fotografiert 2004. Quelle: Wikimedia Commons.


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2020/05/21

Die Ermordung von Hans Paasche vor 100 Jahren


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Es begann mit den »Lettres persanes« von Montesquieu, die im Jahr 1721 erschienen. Darin schildern zwei in Europa reisende Perser in fiktiven Briefen ihre Erlebnisse, wobei die Kritik am französischen Absolutismus und am gesellschaftlichen Leben deutlich wird. Durch den Abstand, den Fremde haben können, werden die Verhältnisse mit ganz anderen Augen gesehen. Die Fremden können sich mit Satire und Spott äußern, was einem Eingeborenen aufgrund seiner Betriebsblindheit nicht möglich ist. Das Buch des Aufklärers Montesquieu soll damals noch von Amts wegen unterdrückt worden sein. Der französische König mochte es nicht, wenn man sich über sein Reich lustig machte.

Dasselbe Talent, etwas mit einem fremden Blick zu sehen und gründlich in Frage zu stellen, hatte Hans Paasche (1881-1920), der zur Kaiserzeit einige Jahre in Ost-Afrika als deutscher Kolonialoffizier verbracht hatte. Sein Buch »Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland« erschien zuerst 1912 in der Halbmonatszeitschrift Vortrupp. Darin lässt er den Afrikaner Lukanga, den er am Viktoriasee kennengelernt hatte, zu Wort kommen. Der in Deutschland reisende Afrikaner kritisiert etwa die europäische Umweltverschmutzung, den brutalen Kolonialismus und den westlichen Fortschrittsfetischismus. Hans Paasche war vor dem Ersten Weltkrieg ein Vordenker der bürgerlichen Jugendbewegung, des Wandervogels und des progressiven Teils der Lebensreform in Deutschland. Er ist vor allem als Pazifist in die Geschichtsbücher eingegangen, als jemand der sich traute, die brutale Kolonialpolitik des Deutschen Reiches zu kritisieren..
Leider wurde Hans Paasche schon am 21. Mai 1920 von rechtsextremen Reichswehrsoldaten auf seinem Landgut Waldfrieden in der Neumark erschossen, mit nur 39 Jahren. Er war gerade in Badehose beim Angeln, als sie ihn ermordeten. Als Todesursache gaben die Rechtsextremisten "auf der Flucht erschossen" an, das war die übliche Begründung für ihre Morde.

Kurt Tucholsky veröffentlichte in der Weltbühne Anfang Juni 1920 das folgende Gedicht für Hans Paasche:

"Wieder Einer./Das ist nun im Reich/Gewohnheit schon. Es gilt ihnen gleich./So geht das alle, alle Tage./Hierzuland löst die soziale Frage/ein Leutnant, zehn Mann. Pazifist ist der Hund?/Schießt ihm nicht erst die Knochen wund!/Die Kugel ins Herz!/Und die Dienststellen logen:/Er hat sich seiner Verhaftung entzogen./Leitartikel. Dementi. Geschrei./Und in vierzehn Tagen ist alles vorbei./-Wieder Einer. Ein müder Mann,/der müde über die Deutschen sann./Den preußischen Geist - er kannte ihn/aus dem Heer und aus den Kolonien,/aus der großen Zeit - er mochte nicht mehr./Er hasste dieses höllische Heer./Er liebte die Menschen. Er hasste Sergeanten/(das taten alle, die beide kannten)./Saß still auf dem Lande und angelte Fische./Las ein paar harmlose Zeitungswische.../-Spitzelmeldung. Da rücken heran/zwei Offiziere und sechzig Mann./(Tapfer sind sie immer gewesen,/das kann man schon bei Herrn Schäfer lesen.)/Das Opfer im Badeanzug... Schuss. In den Dreck./Wieder son Bolschewiste weg -!/Verbeugung. Kommandos, hart und knapp./Dann rückt die Heldengarde ab./Ein toter Mann. Ein Stiller. Ein Reiner./Wieder Einer. Wieder Einer."

Bereits der Vater von Hans Paasche, Hermann Paasche, war eine Berühmtheit in Deutschland. Er war Nationalökonom, nationalliberaler Politiker und Reichstags-Vizepräsident. Er ist noch heute bekannt für den Paasche-Index, einen Inflationsindex, den jeder Student der Wirtschaftswissenschaft kennt. Der Paasche-Index wird aber seltener verwendet als der Laspeyres-Index, der weniger aufwändig zu berechnen ist.

Als letztes in der Reihe der zivilisationskritischen Bücher kam das Buch »Der Papalagi. Die Reden des Südsee-Häuptlings Tuiavii aus Tiavea«. Es stammt von Erich Scheurmann (1878-1957), der eine kurze Zeit im polynesischen Samoa gelebt hatte, das damals noch von Deutschland besetzt war. Das Buch erschien zuerst 1920. Das samoanische Wort Papalagi bedeutet der Weiße, der Fremde. Auch dieses Buch enthält eine scharfsinnige Zivilisationskritik an Europa. Der Häuptling spricht:

"Das runde Metall und das schwere Papier, das sie Geld nennen, das ist die wahre Gottheit der Weißen. ... Du musst zahlen für alles. ... Ich habe nur eines gefunden, für das in Europa noch kein Geld erhoben wird, das jeder betätigen kann, soviel er will: das Luftnehmen. Doch ich möchte glauben, dass dies nur vergessen ist, und ich stehe nicht an zu behaupten, dass, wenn man diese meine Worte in Europa hören könnte, augenblicklich auch dafür das runde Metall und schwere Papier erhoben würde. Denn alle Europäer suchen immer nach neuen Gründen, Geld zu verlangen."

Der »Lukanga Mukara« und der »Papalagi« waren noch in der ökologischen Alternativbewegung der 1970er/1980er Jahre überaus beliebte Bücher und erreichten hohe Auflagen in Westdeutschland.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2020/05/19

Rudolph Bauer
Corona Bildmontagen


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Corona Feudalism


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DGB am 1. Mai 2020


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Der Schrei

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, Mai 2020.

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2020/05/16

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2020/05/12

15 Jahre Holocaust-Mahnmal in Berlin


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Das Holocaust Mahnmal in Berlin Mitte von Peter Eisenman.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.


Das bedeutendste Mahnmal der an Mahnmalen reichen Memopolis Berlin ist sicher das Holocaust-Mahnmal des New Yorker Architekten Peter Eisenman direkt neben dem Brandenburger Tor. Zur Zeit des 3. Reiches stand auf dem Gelände die Stadtvilla von Joseph Goebbels. Und zur Zeit der Berliner Mauer (1961-1989) lag dort der von Pflanzen durch Herbizide freigehaltene Todesstreifen. Der Architekt Peter Eisenman wurde 1932 in Newark/New Jersey/USA in eine jüdische Familie geboren. Das Holocaust Mahnmal wurde vor genau 15 Jahren, am 12. Mai 2005, eröffnet. Es wird auch als "Mahnmal für die ermordeten Juden Europas" bezeichnet. Dem Holocaust fielen 6 Millionen Juden zum Opfer, sie waren die größte Opfergruppe in den KZs. Das große Mahnmal bedeckt einen ganzen Block.
Das Mahnmal geht auf die unermüdliche Arbeit der Journalistin Lea Rosh zurück und musste sich gegen Widerstände durchsetzen. Die 2.711 grauen Betonquader oder Stelen erinnern an Sarkophage auf Friedhöfen. Zwischen den Quadern, die teilweise höher als Menschen sind, kann man hindurchlaufen. Der gewellte Boden zwischen den Quadern soll ein Gefühl der Unsicherheit vermitteln. Hinzu kommt eine beängstigende Enge im Zentrum des Mahnmals. Die unpassenden Bäume innerhalb des Denkmals wurden auf Wunsch eines bekannten deutschen Bundeskanzlers gepflanzt. Wahrscheinlich wollte er das Mahnmal etwas aufhübschen. Unter der südöstlichen Ecke des Mahnmals befindet sch ein Informationszentrum mit vier Ausstellungsräumen, das kostenlos betreten werden kann.

In den letzten 15 Jahren hat das Mahnmal der künstlerischen Kritik standgehalten. Mit seinen klaren geometrischen Formen steht es in der Tradition der Bauhaus-Moderne. Nur die jugendlichen Besucher, die das Stelenfeld als einen Abenteuerspielplatz betrachteten und von Stele zu Stele hüpften, waren ein Problem. Dieses Verhalten war den Sarkophagen gar nicht angemessen. Die Jugendlichen mussten von Wachposten zu Ernst ermahnt werden. Wenn man die Sarkophage höher gebaut und weiter auseinander gerückt hätte, dann hätte es dieses Problem nicht gegeben.
Wie zu erwarten war, gab es dann doch noch Anfeindungen von rechten deutschen Kräften. Das Holocaust Mahnmal wurde als "Denkmal der Schande" bezeichnet und es wurde eine "Wende der deutschen Erinnerungskultur um 180 Grad" gefordert. Als Antwort darauf baute das Zentrum für Politische Schönheit im November 2017 vor dem Wohnhaus des Rechtspolitikers in Thüringen eine Miniaturausgabe des Mahnmals auf.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2020/05/11

300. Geburtstag des Baron Münchhausen

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Baron Münchhausen: Der Ritt auf der Kanonenkugel.
Zeichnung von Gottfried Franz (1846-1905). Quelle: Wikimedia Commons.


Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen wurde vor 300 Jahren, am 11. Mai 1720, auf Gut Bodenwerder an der Weser, heute Niedersachsen, geboren. Er war ein Offizier und Jäger, dessen phantastische Reiseerzählungen und Kriegsabenteuer berühmt wurden. Im 18. Jahrhundert langweilten sich die Soldaten oft im Feld, wenn gerade mal eine Kriegspause eingetreten war. Zur Zerstreuung und Unterhaltung dachten sie sich Geschichten von ihren Kriegserlebnissen und Heldentaten aus. Am bekanntesten sind wohl die Geschichten des Baron Münchhausen, in denen er sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht und auf einer Kanonenkugel durch die Lüfte reitet. Diese Geschichten hörten sich zwar sehr beeindruckend an, waren aber aus physikalischen Gründen unmöglich und sorgten für viel Heiterkeit. Heute würde man Fake News dazu sagen. Seine gesammelten Geschichten erschienen bereits ab 1761 in Buchform. Seitdem werden amüsante Lügendichtungen als Münchhauseniaden bezeichnet. Münchhausen wurde auch der Lügenbaron genannt.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2020/05/09

"Zu wenig Parfum, zu viel Pfütze"

Hans Baluschek zum 150. Geburtstag

Breslau 9. Mai 1870 - Berlin 28. September 1935
Die große Hans-Baluschek-Ausstellung im Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg
soll demnächst geöffnet werden


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Hans Baluschek: Hier können Familien Kaffee kochen, 1895.
Mischtechnik auf Pappe. Bröhan Museum.


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2020/05/08

75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee

In diesem Jahr ist der Tag der Befreiung einmalig ein Feiertag in Berlin.
Aufgrund der Coronavirus-Pandemie finden aber keine Feiern statt.


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Stolpersteine in Berlin. Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Februar 2020.


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2020/05/04

Rudolph Bauer: »China, die Welt und wir«

von Dr. Christian G. Pätzold

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Tian’anmen-Platz/Platz am Tor des Himmlischen Friedens in Beijing,
wo Mao Zedong 1949 die Volksrepublik China ausgerufen hat.
Quelle: Wikimedia Commons.


Die moderne Geschichte Chinas begann am 1. Oktober 1949, als Mao Zedong in Beijing die Volksrepublik China ausrief. Mao Zedong war bereits seit 1945 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas. In den 1950er Jahren musste China die Verwüstungen aufarbeiten, die die japanische Okkupation während des Zweiten Weltkriegs hinterlassen hatte. Um den kommunistischen solidarischen Geist im chinesischen Volk zu stärken und den kapitalistischen egozentrischen Geist zurückzudrängen, starte Mao 1966 die Große Proletarische Kulturrevolution. Mao sah klar die Notwendigkeit einer permanenten Revolutionierung des Denkens und Verhaltens. Dabei stützte er sich vor allem auf die revolutionäre Jugend, die in der Roten Garde organisiert war. Das stieß natürlich auf Widerstand bei den Anhängern des kapitalistischen Weges. Vertreter der kapitalistischen Richtung wie Liu Shaoqi wurden entmachtet, er starb in der Haft 1969.
Die Kulturrevolution war allerdings nur vorübergehend erfolgreich. Nach dem Tod von Mao 1976 kam es zu Machtkämpfen innerhalb der Kommunistischen Partei, aus denen die kapitalistische Richtung um Deng Xiaoping siegreich hervorging. Von Deng ist der berühmte Ausspruch bekannt: "Egal ob die Katze weiß oder schwarz ist, Hauptsache sie fängt Mäuse." Damit wollte er den kapitalistischen Weg als ökonomisch erfolgreicher rechtfertigen. Er war der Ansicht, dass nur der Kapitalismus die Produktivkräfte entfalten und zu Wohlstand führen könne. Den Sozialismus dagegen hielt er für unfähig. Deng war ein kapitalistischer Denker durch und durch. Aktienspekulation und ausländische Kapitalisten wurden ins Land geholt, um die chinesischen Arbeitskräfte auszubeuten. In der Konsequenz befand sich China seit 1980 immer weiter auf dem Weg der kapitalistischen Entwicklung, der auch beibehalten wurde, als Deng 1997 starb.

Heute ist China eine kapitalistische Supermacht, die Werkbank der Welt, die ihre Industrieprodukte in alle Länder der Welt verkauft. Dabei sind viele Produkte durchaus High-Tech. In China gibt es heute mehr Dollar-Milliardäre als in den USA und kapitalistische Großunternehmen. Daher muss man China als kapitalistisches Land bezeichnen, auch wenn die Staatsmacht von der "Kommunistischen" Partei kontrolliert wird. Die führenden Köpfe des Ein-Partei-Staates haben enge Beziehungen mit den kapitalistischen Milliardären. Darüber hinaus entwickelt sich China zu einem imperialistischen Staat, wie der Bau von Häfen in Übersee und der Bau von riesigen Flugzeugträgern andeutet.
Seit 2012 ist Xi Jinping Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas. Er hat sich inzwischen zum "Obersten Führer" (chinesisch: Zuigao Lingdaoren) ernannt, einen Personenkult um sich installiert und beabsichtigt, bis an sein Lebensende an der Macht zu bleiben. Im Inland hat er den Kapitalismus weiter ausgebaut, einen digitalen Überwachungsstaat mit Punktesystem für jeden Einwohner eingerichtet und die Sinisierung von Xinjiang mit der Unterdrückung der Uiguren fortgesetzt. Das Recht der Völker auf Selbstbestimmung wird mit Füßen getreten. Bei den Tibetern ebenso. Das ist dasselbe, was die Amis mit den Indianern machen. Oder die Brasilianer mit den indigenen Völkern des Amazonas-Gebietes. Marginalisierung der Völker durch ökonomische Ausbeutung ihrer Länder. Außenpolitisch ist er mit dem Projekt der neuen Seidenstraße auf einen imperialistischen Kurs gegangen. Man kann daher Xi Jinping als einen der wichtigsten Kapitalisten und Imperialisten unserer Zeit bezeichnen.

Zu diesen Überlegungen regte mich das neue Chinaheft von Prof. Dr. Rudolph Bauer an, auch wenn der Autor vielleicht nicht mit meinen Einschätzungen übereinstimmen wird. Auf jeden Fall ist das Chinaheft lesenwert, wenn man mal wieder in die Traditionen und in die Entwicklungen in China eintauchen will. Leider endet das Heft um das Jahr 2000. Die Publikation umfasst nur 67 Seiten, bietet aber trotzdem viele Denkanstöße.
Zwei Themenbereiche habe ich allerdings in Rudolph Bauers Essay schmerzlich vermisst: Zum einen eine Darstellung der kapitalistischen Entwicklung Chinas in den letzten 20 Jahren, die sich auf ökonomische Daten stützt. Nur so kann die Bedeutung Chinas in der heutigen Weltwirtschaft richtig eingeschätzt werden. Es gibt krasse Gegensätze zwischen den vielen armen Menschen und den wenigen reichen Menschen in China. Und es gibt eine gigantische Umweltzerstörung aufgrund der kapitalistischen Produktion. Zum zweiten vermisse ich eine Überlegung zur quantitativen Dimension. China ist ein Land mit 1,4 Milliarden Menschen, Deutschland im Vergleich hat etwa 80 Millionen Einwohner. Es ist doch klar, dass diese quantitativen Unterschiede zu ganz anderen qualitativen Ergebnissen führen müssen.

China ist heute zu wichtig für die Entwicklungen auf der Welt. Da lohnt sich ein Studium auf jeden Fall, zumal Rudolph Bauer längere Zeit in China gelebt hat. Zu den zahlreichen Erfahrungen von Rudolph Bauer mit China sei aus dem Anhang des Heftes zitiert:

"In Bremen war Bauer aktiv als einer der Gründer der GDCF (Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft). Er war GDCF-Vorstandsmitglied, zunächst der Bremer Gruppe und später bundesweit. Mehrmals besuchte er mit Reisegruppen sowie einer Delegation des GDCF-Bundesvorstands die Volksrepublik China. Dadurch wurde sein Interesse geweckt, die chinesische Sprache kennen zu lernen sowie das Leben und die Gesellschaft des Landes durch eigene Anschauung zu studieren. Dies wurde ihm durch eine Beurlaubung an der Universität Bremen und durch eine Einladung seitens der Chinesischen Botschaft in Bonn ermöglicht.

1979/80 lebte er für die Dauer eines Jahres als ausländischer Experte in China. Dort arbeitete er am Ersten Fremdspracheninstitut in Beijing als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe für "Das Neue Chinesisch-Deutsche Wörterbuch" (1. Auflage, 1.164 Seiten; Beijing 1985). Über seine Eindrücke berichtete er fortlaufend im "China Report", der Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung freundschaftlicher und kultureller Beziehungen zur VR China (ÖGCF) sowie in der GDCF-Zeitschrift "China heute".

In China machte sich Rudolph Bauer vertieft mit der Kultur und Geschichte des Landes vertraut. Als ein Indikator der gesellschaftlichen Entwicklung in der Umbruchzeit 1979/80 entdeckte und sammelte er die in der Zeitschrift "Fengci Yu Youmo" veröffentlichten Karikaturen und Cartoons. Daraus entstand sein Buch "China lacht. Zeitgenössische Karikaturen" (288 Seiten; Wien, München, Zürich 1983). Ein weiterer Schwerpunkt seines Interesses und der Studien vor Ort galt der chinesischen Sozialpolitik, für die Bauer vom Wiener Ludwig Boltzmann Institut für China- und Südostasienforschung als Wissenschaftlicher Referent berufen wurde.

In der Zeit nach seiner Rückkehr verfolgte Bauer die Entwicklung der Volksrepublik weiterhin aus kritischer Distanz, nicht zuletzt unter dem Eindruck von DENG Xiaopings Politik der Vier Modernisierungen und der westlichen Berichterstattung über die Unruhen auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989."

Das Heft enthält ein umfangreiches, interessantes Literaturverzeichnis.

Rudolph Bauer: China, die Welt und wir. Bergkamen 2020. pad-Verlag. 67 Seiten.


Prof. Dr. Rudolph Bauer schreibt zu obiger Besprechung seiner Publikation:

"Lieber Christian,
ich finde es schade, dass Du über den Inhalt der Broschüre kaum etwas schreibst. Der "Kommentar" besteht in erster Linie aus Deiner Beurteilung der VRCh als imperialistisch und kapitalistisch. Dabei bleibt offen, was darunter zu verstehen ist; Du beschränkst Dich darauf, Parallelen zu ziehen zwischen China und den USA, zwischen China und der Russischen Föderation. Inwieweit diese Parallelen auch inhaltlich und empirisch etwas hergeben, bleibt offen. Ich persönlich finde, dass die Unterschiede Chinas zu diesen Staaten/Gesellschaften/Ökonomien hätten genauer beachtet werden müssen. Auch finde ich, dass die geopolitischen Konfrontationen manche der Angleichungen nachvollziehbar (nicht entschuldbar!) machen.
Um meine Zweifel an Deiner Beurteilung der VRCh zu unterfüttern, bitte ich Dich, Dir das Buch von Wolfram Elsner ("Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders." Frankfurt/Main 2020) zu besorgen und zu studieren. Dort wird auf Seite 9 auf verschiedene "Gastbeiträge" verwiesen, die in einer gewissen Korrespondenz zu Elsners Studie stehen - u.a. auch auf meinen Beitrag, der unter dem Link www.westendverlag.de/china abrufbar ist.
Wegen der Verbindung mit dem Elsner-Buch führen meine Auslassungen nicht bis in die Gegenwart, die das Hauptthema von Elsners Arbeit ist. (Deine Kritik, dass meine Arbeit nicht bis in die Gegenwart führt, ist also zutreffend, aber aufgrund des angedeuteten Zusammenhangs wohl nachvollziehbar.)"


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2020/05/01

Sonnige Grüße zum 1. Mai !


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2020/04/30

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2020/04/29

Blick nach Draußen aus dem Homeoffice:
Es ist Fliederzeit


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Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.


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2020/04/28

wolfgang weber
go slow update


dies ist das Frühlings update 2020 des Songs / go slow / von Fela Kuti / Erfinder des Afro Beat / kraftvoll / energetisch / dynamisch / Weiterentwicklung des Highlife / Westafrika / Bläser Saxofone Posaunen Trompeten / Keyboards Piano Orgel Synthesizer / Gitarre Bass / Drums Percussion / Gesang viel Gesang / beeinflusst von James Brown / Soul Funk Groove / Miles Davis / Coolness Hipness / Reggae / Bob Marley / Black Power / Malcolm X

go slow go slow / politische Texte / Dissident / Präsidentschaftskandidat / ein Album hieß / Black President / Staatsfeind / verfolgt und tyrannisiert

go slow go slow / Inspiration für diesen Text / es geht um Verkehr in Lagos Nigeria / traffic jam / Verkehr kommt zum Erliegen / go slow go slow / rasender Stillstand / eingesperrt / wie im Gefängnis

Text im Original in Pidgin English und Yoruba / Version 1976 enthält nur diese beiden Slogans / go slow go slow / ole make e niyen! / Refrain ad infinitum / Album: upside down / Welt steht Kopf

die längere Version 1972 / Album: Roforofo fight / ins Deutsche gebracht / bearbeitet / einem update unterzogen:

go slow go slow /
Menschheit braucht Land / stimmst Du zu /
Menschheit braucht Arbeit / stimmst Du zu /
Menschheit braucht Nahrung / stimmst Du zu /
Chorus: ole make e niyen!

impossible / es geht nicht / impossibility / impossibilityism / keine Chance /
impossibilityismalogy / Unmöglichkeit / total unmöglich / nichts funktioniert /
nichts geht / rien ne vas plus / impossibilityismatologylogicalization /
impossibililityismatologylogicalization babe

go slow go slow / Staus Unfälle Stillstand Umwege /
Du kommst nicht nach hause / willst etwas erledigen /
nichts geht / traffic jam / eingeklemmt in der rush hour

Du bekommst Kopfschmerz / Nase läuft / Kehle zugeschnürt / keine Chance / unmöglich / Schüttelfrost / wie ein Blatt Papier / kalt wie Eis / go slow go slow

go slow go slow / Stillstand holt Dich ein / Auto Busse LKW Rad zu Fuß / egal /
Du bist auf dem Weg / plötzlich / aus dem Nichts / auf einmal /
endloser Stau / aus dem Nichts / go slow go slow / gaaanz laaangsaaam /
wie in Lagos / so auch hier / ole make e niyen! / eingesperrt

go slow go slow / rings um Dich / Lastwagen / Autos / Fahrzeuge / Lieferwagen / Busse / Motorräder / Taxis / e-bikes / Fußgänger / von links rechts hinten vorne / Hubschrauber Christoph 19 / über unseren Köpfen /

go slow go slow / Du fühlst Dich eingesperrt / wie im Gefängnis / nichts geht / ausgebremst / es geht nicht voran / go slow go slow / ole make e niyen! / gefangen in der Stadt / eingesperrt bei lebendigem Leib / go slow go slow / rasender Stillstand / wie gelähmt / Du kommst nicht weiter

go slow go slow / Leben steht still / kaum noch Staus auf Strassen / Busse Bahnen / leerer seltener / Geschäfte verschlossen bis / ja bis? / schönstes Frühlingswetter / Leben steht still / silent spring / go slow go slow / rasender Stillstand / eingeschlossen in den eigenen vier Wänden

keine Kultur / kein Ort für Kultur / fast nirgends / Bücher kaufen kann man / noch / wie lange noch / im Laden / Lebensmittel auch / leere Regale / Ware weggehamstert / Toilettenpapier etwa / manche sollten jahrelang auf dem Klo sitzen und sich schämen / go slow go slow / ole make e niyen!

© Wolfgang Weber, April 2020.

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2020/04/25

Markus Richard Seifert
Corona und die Folgen


Es gibt Zeiten, da zeigen die Staaten
... plötzlich ihr WAHRES Gesicht.
Und Puhlitika begehen Taten,
die sie halten für ihre Pflicht.

Zum Beispiel bei der Corona-Krise
... die sieht doch aus wie bestellt.
Ein Vorwand für Ermächtigungsgesetze
... die UNDEMOKRATISCH sind.

Dann reden "sie" von Quarantäne,
vor jedem Haus steht ein Puhlizist.
Und schlimmstenfalls, da hilft keine Träne
... SOGAR, WENN DU GESUND BIST.

Natürlich wird es Ausnahmen geben
... ARBEITEN, EINKAUFEN, ARZT.
Und vielleicht sogar ein Spaziergang,
wenn Du ihn NUR ZU ZWEIT wagst.

Doch die Schulen, die bleiben geschlossen.
Bibliotheken und Rathäuser auch.
Und vielleicht wird sogar bald geschossen -
auf Menschen, die "ohne Grund" außer Haus.

Und nur wer "systemrelevant" ist,
der DARF noch zur Arbeit geh'n.
Das sind die CORONA-Regeln.
Vielleicht nötig, aber NICHT SCHÖN.

Falsch oder falsch?

Die Regierungen der CORONA-Staaten haben es zurzeit nicht leicht. Denn was auch immer sie machen, später wird es heißen, sie hätten es falsch gemacht. Maßregeln sie die Menschen zu sehr, dann wird es heißen: Hilfe, die Diktatur naht! Halten sie sich aber zu sehr zurück, dann werden die Leute sagen: Seht her, die da oben, die tun ja nichts!
Und auch nachher wird es so weiter gehen: Wird die Wirtschaft mit milliardenschweren "Hilfspaketen" unterstützt, unter Inkaufnahme von neuer Staatsverschuldung und einer möglichen Inflation (wobei man inflationären Preisanstieg durch Gesetze verbieten könnte), dann wird das sehr schnell Kritik und Kritiker auf den Plan rufen. Hält sich der Staat aber zurück und stellt der Flut einer großen Pleite nichts entgegen, dann bekommen wir wieder eine Great Depression, wie die Welt sie schon 1929 erlebt hat - und wer kann das wollen?
Kurz gesagt: Die Politik hat offenbar nur die Wahl zwischen Skylla oder Charybdis, zwischen Pest oder Cholera. Aber wer möchte so eine Entscheidung wirklich treffen müssen? Bleibt die Gefahr, dass wenn die autoritären Maßnahmen "greifen" sollten, sich die Sympathisanten eines diktatorischen Regierens bestätigt fühlen werden. Und wir werden nicht mehr frei werden für eine lange Zeit. Aber wer kann das wirklich wollen?

© Markus Richard Seifert, April 2020.

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2020/04/22

Zum 150. Geburtstag von Lenin


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Lenin auf dem Roten Platz in Moskau, Mai 1919.
Quelle: Wikimedia Commons.


Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, wurde am 22. April 1870 in Simbirsk an der Wolga in Russland geboren. Er wurde zu einem führenden kommunistischen Politiker und zum wahrscheinlich bedeutendsten Revolutionär des 20. Jahrhunderts. Er gründete die Partei der Bolschewiki als Partei von sozialistischen Berufsrevolutionären. Mit der Oktoberrevolution von 1917 kamen die Bolschewiki in Russland an die Macht und gründeten einen riesigen sozialistischen Staat, die Sowjetunion. Seit 1920 setzte sich Lenin mit der Losung "Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung" für die Elektrifizierung und Industrialisierung Russlands ein, das damals noch stark agrarisch geprägt war. Die politische Macht lag in den Händen der Sowjets, das heißt der Räte aus Arbeitern und Bauern.
Lenin ist auch als sozialistischer Theoretiker bekannt, der einige wichtige Bücher veröffentlicht hat. In »Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung« (Stuttgart 1902) entwarf er das Programm der bolschewistischen Partei. In dem Buch »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« (Petrograd 1917) untersuchte er den Übergang vom Konkurrenzkapitalismus zum Monopolkapitalismus, der durch Kapitalkonzentration und Zusammenschluss des Bankkapitals mit dem Industriekapital entstand. Ein weiteres wichtiges Werk von 1917 ist »Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution«. Mit dem Begriff "Leninismus" wird die Weiterentwicklung der Theorien von Karl Marx durch Lenin bezeichnet.
Die sozialistische Utopie der Sowjetunion hat leider nur etwas mehr als 70 Jahre Bestand gehabt. In den letzten Jahrzehnten ihrer Existenz war der sozialistische Geist der Bevölkerung schon sehr geschrumpft und zu schwach, um die Gesellschaft und Wirtschaft am Laufen zu halten. Aber die sozialistische Gesellschaft der Zukunft wird sicher einige positive Erfahrungen der Sowjetunion übernehmen können. Immerhin hat die sowjetische Rote Armee den deutschen Faschismus besiegt.
Lenin starb bereits 1924 in Gorki bei Moskau. Nach ihm war die Stadt Leningrad benannt, die seit 1991 Sankt Petersburg heißt.

Dr. Christian G. Pätzold.

Seht bitte auch die Artikel vom 2017/08/14 und 2017/11/07 (Der Rote Oktober) auf kuhlewampe.net.

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2020/04/18

Buchtipp: »Utopie konkret«
Gedanken zu dem gleichnamigen Buch von Dr. Rudolf Stumberger

von Dr. Hans-Albert Wulf

utopie
Das Volk im Zukunftsstaat, Illustration von Friedrich Eduard Bilz, 1904.
Quelle: Wikimedia Commons.


Wenn Politiker in Sonntagsreden über die "Zukunftsfähigkeit" unserer Gesellschaft schwadronieren, so ist damit immer gemeint, dass wir uns den Imperativen der neoliberalen Ökonomie unterwerfen sollen. Und wenn dann einer meint, dass es auch einen anderen Weg geben könne, wird ihm sofort der Hinweis auf die "Alternativlosigkeit" um die Ohren geschlagen. Kapitalismus forever. Angesichts solcher Sackgassenideologie ist es an der Zeit, den Begriff der Utopie wiederzubeleben.
Dieses aus dem Griechischen stammende Wort heißt frei übersetzt "ein nicht-Ort". Ein Ort, den es schlechterdings nicht geben könne, "Das ist ja utopisch, das kann niemals sein. Das ist doch bloß ein Wolkenkuckucksheim." Gegen diesen affirmativen und negativen Utopiebegriff hat der Philosoph Ernst Bloch in seinem Opus Magnum »Das Prinzip Hoffnung«, den Begriff der "konkreten Utopie" gesetzt. Und dieser Begriff zielt auf die reale Möglichkeit einer radikalen gesellschaftlichen Umwälzung. Rudolf Stumberger knüpft an den Blochschen Utopiebegriff an und hat in seinem Buch mit dem Titel »Utopie konkret - und was daraus geworden ist« einen sehr informativen Überblick über die Geschichte gesellschaftlicher Utopien nachgezeichnet.

Der Begriff kann zweierlei bedeuten:
1. Zum einen den theoretischen Entwurf für ein alternatives Gesellschaftsmodell. Hierzu zählen beispielsweise die Modelle des Franzosen Charles Fourier (1772-1837) mit seiner Vision agrarischer Produktivgenossenschaften, der "Phalangen", in denen u.a. Verteilungsgerechtigkeit und die "freie Wahl der Dauer, Gattung und Art der Arbeit" verwirklicht sein sollten. (30)
2. Die praktische Umsetzung einer Utopieidee. Dies ist bei dem britischen Unternehmer Robert Owen der Fall, der zunächst in seiner Baumwollspinnerei im schottischen Lanark für seine Arbeiter halbwegs menschliche Arbeits- und Lebensbedingungen jenseits des Manchesterkapitalismus realisierte.

Rudolf Stumberger holt in seinem Buch über die Geschichte der Utopien weit aus. Er beginnt mit den frühen Klosterformen des 4.Jahrhunderts und der dort praktizierten asketischen Lebensweise und schlägt den Bogen bis hin zu den gegenwärtigen Modellen einer alternativ-ökologischen Gesellschaftsform. Insgesamt stellt Stumberger mehr als zwanzig Utopien dar. Bei 150 Seiten Text können die Darstellungen der einzelnen Utopieentwürfe natürlich nur knapp ausfallen. Allerdings belässt es Stumberger nicht bei den einzelnen Gestaltformen der verschiedenen Utopieentwürfe, sondern er befasst sich detailliert mit den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen der Utopien:
1. Ehe und Sexualität
2. Wohnen, Kochen, Essen
3. Kleidung
4. Produktion, Arbeit und Lohn
5. Konsum und Geld
6. Eigentum und Privatbesitz
7. Technische Neuerungen
Nachzutragen wären noch Kultur und Bildung.
Jeweils daran anschließend prüft Stumberger, was "an der jeweiligen Utopie gescheitert und was noch gegenwärtig ist." (131)

Karl Marx und Friedrich Engels kommen in der Abhandlung von Rudolf Stumberger nur am Rande und nicht explizit bei der Darstellung der einzelnen Utopieentwürfe vor. Und dies hat einen Grund. Denn sowohl Marx als auch Engels haben ganz bewusst darauf verzichtet (anders als z.B. die Frühsozialisten Fourier, Saint-Simon), einen Entwurf einer sozialistischen oder gar kommunistischen Utopie auszupinseln. Denn die Strukturen und Merkmale einer neuen Gesellschaft sollten sich ja erst im revolutionären Prozess herausbilden.
Eine Ausnahme bildete damals lediglich August Bebel, der Führer der deutschen Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert. In seinem umfangreichen Werk »Die Frau und der Sozialismus« beschreibt er detailliert den sozialdemokratischen "Zukunftsstaat". Das umfangreiche Werk wurde bis 1929 etwa 200.000 Mal gedruckt und dies zeigt nachdrücklich, dass in der Arbeiterbewegung ein großes Bedürfnis nach einer utopischen Vision bestand.

Utopie ist der Traum von einer besseren Gesellschaft. Das größte realutopische Experiment war zweifellos der Versuch, den Sozialismus in der Sowjetunion aufzubauen. Aber um diesen Traum zu verwirklichen, mussten vor allem zwei Voraussetzungen gegeben sein: 1. eine Bevölkerung, welche die Umwälzung der Gesellschaft in Richtung Sozialismus vorantreibt oder zumindest unterstützt. 2. ein bestimmtes Maß der Entwicklung der Produktivkräfte. Gerade auf diesen zweiten Aspekt hatte Marx besonderen Wert gelegt. Den unmittelbaren Sprung von einer feudalistischen Agrargesellschaft in eine sozialistische Gesellschaft hielt Marx schlechterdings kaum für realisierbar.

Was bleibt nun aktuell vom "Geist der Utopie" (Bloch)? Es ist unübersehbar, dass die kapitalistische Profit- und Wachstumsgesellschaft immer stärker in eine fundamentale Krise gerät. Die Klimakatastrophe ist hierfür nur ein sichtbarer Ausdruck.
Aber es gibt auch starke gesellschaftliche Gegentendenzen. Die Bewegung "Fridays for Future" hätte man sich vor zwei Jahren noch nicht träumen lassen. Und in den gegenwärtigen Alternativ- und Ökologiebewegungen werden hoffnungsfrohe Ideen für eine menschenwürdige Gesellschaft formuliert und erprobt. Und hierbei kann die Besinnung auf die Geschichte der Utopien, wie sie Rudolf Stumberger in seinem Buch »Utopie konkret« beschrieben hat, ausgesprochen hilfreich sein.

Rudolf Stumberger: Utopie konkret und was daraus geworden ist. Aschaffenburg (Alibri Verlag) 2019. 155 Seiten.

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2020/04/15

Zum 100. Jubiläum der Internationalen DaDa-Messe in Berlin, 1920

Wolfgang Weber
dada pastiche


1: abba zabba dabba / zazete zaza zazoom / zoom

2: abracadabra / simsalabim / palabra / sasim

3: walk on guilded splinters / kon kon killy / kon kon / kon

4: yabba gabba zabba / yayete yaya yayoom / yoom

5: hocus pocus fidibus omnibus / dreimal schwarzer kater

6: babba dabba gabba / babete babba baboom / boom

7: walk on guilded splinters / gris gris on the floor / come back for more

8: abba yabba zabba / gabba babba dabba / yayete yaya yaya yayoom / yoom yoom

9: in a gadda da vida / gagete gagoom / goom

10: pappa ante portas / papete pappa papoom / poom

11: tapas antipasti / tapete tipitina tatoom / toom

12: simsalabim / krim klimbim isegrimm kim / simsalabim / dreimal schwarzer kater / was für ein theater

13: abba zabba yabba gabba / abba dabba babba / chubba hubba rubba stubba / zabba abba gabba yabba dabba

14: abracadabra / palabra / hocus pocus focus locus

15: local global viral / kolossal portal banal fatal / wartesaal

16: in a gadda da vida / wir trafen uns in einem garten / in hinterzarten / die meiste zeit verbrachten wir mit warten

17: dada dadete dadoom doom / da dada dadoom / dada doom

18: walk on guilded splinters / kon kon kon kon killy / kon kon killy killy / kon kon kon

19: dada voodoo doodoo doowop / how do you do / hoodoo doodoo voodoo voovop / bebop a lula / she’s my baby

20: somebody done hoodooed the hoodoo man / got my mojo working

21: dada dadete dadoom / zaza zazete zazoom / yayaya yayete yayoom / baba babete baboom / gabba gabba gabete gagoom / killy kon kon / abracadabra / simsalabim / hocus pocus / de gustibus non disputandum / wir trafen uns in a gadda da vida / voodoo chile / doodoo doowop / palabra parole parole parole

22: get yer ya-yas out

Inspiration, in der Reihenfolge des Textes:
• Don van Vliet aka Captain Beefheart & The magic band: Abba zabba
• Malcolm McRebennack aka Dr John (The night tripper): Walk on guilded splinters, später: Gris gris (Voodoo Amulett) und Tipitina (später: Name eines Nacht Clubs)
• Iron Butterfly: In a gadda da vida (im Garten des Lebens)
• Loriot: Film Pappa ante portas
• 2raumwohnung (Inga Humpe, Tommi Eckart): Wir trafen uns in einem Garten
• Gene Vincent: Be bop a lula
• Doo Wop: Gesangsstil des R&B der 50er und 60er
• Louis Jordan: Somebody done hoodooed the hoodoo man
• McKinley Morganfield aka Muddy Waters: Got my mojo working
• Jimi Hendrix: Voodoo Chile (child)
• Dalida: Parole parole (Worte Worte)
• The Rolling Stones: Live album: Get yer ya-yas out!

The Mighty Wolf: erweiterte Version der Dada bonus beats 05/2019, geschrieben zu:
• wohin, erschienen im Kunst Magazin Innen Welten Nr 3, 08/2018.

© Wolfgang Weber, April 2020.

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2020/04/12

Markus Richard Seifert
Die Ladenzeitung


werdi
Im Umsonst-Buchladen in der Werderstraße in Berlin Tempelhof, 2013.


War es in meinem 10. Schuljahr auch nicht zu einer Schülerzeitung gekommen, weil mein Mitschüler Georg B. in Wirklichkeit nur einen Presse-Ausweis haben wollte, so habe ich dann später doch noch die "Weihen" eines Redakteurs empfangen dürfen. Meinen dritten Einsatz in dieser schreibenden Funktion hatte ich als Mitarbeiter einer Sozialen Bücherstube mit dem Namen "Medienfreund" (oder so ähnlich). Wobei der Vollständigkeit halber gesagt werden muss, dass es eigentlich zwei Ladenzeitungen waren, an denen ich beteiligt war.
Ja, es fing wirklich ganz harmlos an. Die erste Ladenzeitung, von unserer damaligen Chefin (sprich: Projektkoordinatorin) Frau A. Ebert (ich weiß bis heute nicht, ob sie mit dem ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert verwandt war) ins Leben gerufen, war ein schlichtes Blättchen, gedruckt auf lachsfarbenem Papier (so wie die Financial Times Deutschland), eine doppelseitig bedruckte DINA4-Seite, die einmal im Monat erschien. Schreibberechtigt waren, wenn sie wollten, aber natürlich wollten nicht alle, die dreißig Mitarbeitenden unserer drei Berliner Süd-West-Filialen dieser Umsonst-Buch-Läden, also Schöneberg, Tempelhof und Steglitz - das heißt: Dreißig Menschen plus Chefin - und das auf nur zwei DINA4-Seiten. Man kann sich ausrechnen, wie "groß" da die Chance auf eine eigene Veröffentlichung gewesen ist.

Ich fragte an, ob auch Gedichte zugelassen wären. Sie antwortete mir freundlich, aber bestimmt mit einem eindeutigen "Nein", was der Markus zur Kenntnis nahm. Dennoch habe ich es immerhin einmal geschafft, dort einen Textbeitrag zu veröffentlichen, nämlich ein Gedicht auf unseren Verschenk-Buch-Laden, der gewissermaßen eine Parodie auf das berühmte Soldaten-Lied "Lili Marleen" gewesen ist, der wurde dann doch gedruckt. "Also doch Gedichte?", fragte ich dankbar die Chefin. "Aber das ist doch ein Lied", sagte sie mit einem freundlichen Schmunzeln.
Das war der Anfang. Das "Feigenblatt", so hieß diese kleine Publikation, wurde dann später "eingestellt", nämlich im Februar 2011, als unsere Förderung durch das zuständige Jobcenter vorläufig zu Ende war (bis Ende Mai desselben Jahres). Dann aber, im Zuge seiner Öffentlichkeitsarbeit, schuf unser kleiner Filial-Diktator namens H.H. (ein ehemaliger Radio-Moderator) unsere zweite Ladenzeitung, die er "Werdi" nannte, nach unserer Adresse in der Tempelhofer Werderstraße.

Die erste Ausgabe erschien im Februar 2012 (wir waren inzwischen wieder bezahlte Mitarbeitende in dieser Sozialen Bücherstube) und setzte von der äußeren Form her zunächst einmal die lachsfarbene Tradition des "Feigenblattes" fort, bestand auch nur aus einer DINA4-Doppelseite. Wobei diese Publikation ursprünglich als ein so genannter "Newsletter" geplant war. Aber aus Mangel an Veranstaltungen, die darin angekündigt oder besprochen werden sollten, wurde eine ganz normale Laden-Zeitung daraus. Mein Textbeitrag in der ersten Ausgabe war ein Gedicht mit dem Titel "Wenn ein Mensch dichtet", was ich im Nachhinein eher als eine Art von Finger-Übung betrachte. Aber damals freute ich mich doch über seine Veröffentlichung!
Bitter war allerdings, dass mein Beitrag nicht mit dem Namen des Autors (also mit meinem) gekennzeichnet war, nicht einmal mit einem Kürzel wie zum Beispiel HDK. In meinem Falle hätte es dann vielleicht MRS heißen können - also Markus Richard Seifert. Hätte, aber hat nicht. Denn ein NAMENLOSER Redakteur bin ich geblieben, vom ersten bis zum letzten Tage meines Schreibens für diesen "Werdi". Und als ich fragte, warum das so wäre, da antwortete mir unser kleiner Diktator namens H.H. (unser Chefredakteur) wortwörtlich: "Wenn’s Dir nicht passt, dann musst Du ja nicht mitarbeiten!" Ich aber wollte schreiben, und darum fügte ich mich in meine Namenlosigkeit. Übrigens schreibe er ja auch "namenlose" Artikel, sagte H.H. noch zu mir.
Aber das war doch etwas ganz anderes, denn im Gegensatz zu Markus bestimmte dieser Herr H.H. seine Namenlosigkeit selbst - weil er ja unser Chefredakteur war. Nebenbei bemerkt war diese Ladenzeitung namens "Werdi" ein freiwilliges Neben-Projekt unseres Verschenk-Buch-Ladens, was mit der Firma "Medienfreund" nicht direkt verbunden war. (Ich selbst durfte noch bis zur Mai-Ausgabe des Jahres 2013 weiter Mitglied des Redaktionsteams bleiben, obwohl ich bereits Ende Januar 2013 in dieser Sozialen Bücherstube aufgehört hatte zu arbeiten).

Der nächste Streit mit unserem Chefredakteur kam bereits mit der Mai-Ausgabe des Jahres 2012, worin der Markus einen Artikel über Manfred von Richthofen, den legendären "roten Baron" und Kampf-Flieger im Ersten Weltkrieg geschrieben hatte. Völlig eigenmächtigerweise und ohne den Autor gefragt zu haben verlängerte der kleine Diktator H.H. diesen Artikel um einen Zusatz, der einfach nur "unpassend" war. Daraufhin sagte der Markus zu ihm: "Jetzt bin ich aber froh, dass meine Artikel ohne meinen Namen gedruckt werden, denn sonst müsste ich ja auch Deine Ergänzungen mit verantworten und vertreten". Natürlich wurde der H.H. (empfindlich gegenüber Kritik wie alle Diktatoren) nun sehr böse und er schrie mich an (solche Leute schreien offenbar öfter als andere Menschen): "Was? Was? Du distanzierst Dich von unserer Zeitung?" Aber noch wollte ich mitmachen, denn ich schreibe gern - und meist gut.
Der nächste Konflikt wurde vermieden: Ich hatte für den "Werdi", Ausgabe Juli 2012, einen kleinen Artikel unter der Überschrift "Falsch einsortiert" verfasst, mit dessen letztem Satz ich meine redaktionelle Namenlosigkeit wenigstens einmal und indirekt zu "überwinden" hoffte: "Bleibt allerdings anzumerken, dass ich manche Bücher nie gefunden hätte, wären sie richtig einsortiert gewesen. Aber das ist natürlich kein Argument, meint jedenfalls der Mitarbeiter Markus vom Medienfreund Tempelhof". Ein Satz, der aber niemals gedruckt wurde, denn der kleine Diktator durchschaute offenbar dieses Manöver, meine Namenlosigkeit sozusagen indirekt zu überwinden.

Einmal hatte er einen Textbeitrag von mir verlängert, allerdings ohne mich zu fragen. Aber häufiger kürzte er, auch ohne zu fragen - aus Platzgründen, wie er behauptete. Einmal war ich über eine dieser Textkürzungen (zu welchem Thema, das habe ich vergessen) so erbost, dass ich der Kollegin Martina meine Langfassung zum Lesen gab - ausgedruckt, versteht sich. Das wiederum erboste unseren Chefredakteur, denn er meinte, die Martina sei nur eine "Kollegin im Ladendienst", aber für die Werdi-Zeitung eine "projektfremde" Person - so sprach unser kleiner Diktator. Auch durfte ich dem Ex-Kollegen Sigurd, der "in Ungnade" entlassen worden war, keinerlei Exemplare des "Werdi" per E-Mail mehr zukommen lassen, denn er könne damit (so H.H. wörtlich) "etwas Feindliches gegen unseren Bücherladen anstellen."
Und dann kam mein Ende, das heißt: Mein Rauswurf aus der Redaktion des "Werdi", natürlich durch unseren kleinen Diktator. Was war geschehen? Für die Mai-Ausgabe des Jahres 2013 hatte ich einen Artikel über den amerikanischen Kinofilm "House of Wax" mit Vincent Price in der Hauptrolle geschrieben. Aber nicht, weil ich diese Story "dufte" fand, durfte ich darüber schreiben, sondern weil dieser Film im Jahre 1953 der erste war, der in 3D-Format in deutschen Kinos "gelaufen" ist (Eintragung in das Guiness-Buch der Rekorde). Und das war 2013 nunmehr 60 Jahre her (denn der "Werdi" wählte seine Themen nach dem Kalender aus). Was weiter? Im Original umfasste mein Text eine DINA 4-Seite, was in dieser Zeitung drei Spalten waren. Aber H.H. kürzte mir meinen Beitrag um ein Drittel - und füllte den so gewonnen Platz mit dem "weltbewegenden" Thema "Joghurt, seit Mai 1963 im Plastikbecher". Ein typischer "Lückenfüller", wo eigentlich gar keine Lücke hätte sein müssen. Wogegen ich protestiert habe! Und damit war ich RAUS, raus aus dem "Werdi".

© Markus Richard Seifert, April 2020.

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2020/04/09

Markus Richard Seifert
Die Schülerzeitung


Mein Mitschüler Georg Birkhahn (Name leicht geändert) war ein sehr spezieller Jüngling. Denn einerseits war er so hochbegabt wie es früher nur der "Primus" der Klasse gewesen ist. Andererseits aber war er so linkisch und ungeschickt, dass viele ihn für leicht "behindert" gehalten haben. Außerdem soll er "gepetzt" haben, zum Beispiel wenn ein Mitschüler bei einer Klassenarbeit einen so genannten oder auch "Spickzettel" benutzt hat. Aber das habe ich nie selbst erlebt. Und auch dass er gelegentlich dafür "Klassenkeile" bekommen haben soll, das weiß ich nur vom Hörensagen.
Denn eigentlich war er gar kein "richtiger" Mitschüler, sondern er ging in eine Parallelklasse. Aber da unsere Schule eine Gesamt-Schule war, so hatten wir als Folge des dort üblichen Kurs-Systems trotzdem in mehreren Fächern gemeinsamen Unterricht. So auch im Fach Deutsch. Es war in der 10. Klasse beziehungsweise Jahrgangsstufe - und ich war damals offensichtlich der Jahrgangsbeste im Deutschen Aufsatz. Eine Tatsache, die allerdings ohne Auswirkungen geblieben ist und bei meinen Mitschülerinnen und Mitschülern auf keinerlei Interesse stieß. Was mir ganz recht war, denn ich hatte keine Lust, als Streber verprügelt zu werden. Aber damit war nicht zu rechnen. Denn die, die selber gute deutsche Aufsätze schrieben, waren natürlich nicht auf der Suche nach diesbezüglichen Vorbildern, von denen sie hätten lernen können. Und die anderen - und das war die weitaus größere Mehrheit - hatte spätestens nach dem Halbjahrs-Zeugnis Ende Januar innerlich mit dem Thema Schule abgeschlossen, denn wir waren nur wenige, die den Besuch der gymnasialen Oberstufe zum Ziel hatten.

Deutscher Aufsatz also. Und das war wohl auch der Grund dafür, dass dieser Mitschüler Georg Birkhahn (ich habe seinen Namen nie geschrieben gesehen), mich eines Tages in der Mittagspause (denn wir waren eine Ganztags-Schule mit Mittagessen und danach Hausaufgaben-Betreuung) angesprochen hat - von der Seite sozusagen. Eine Schülerzeitung wollte er "machen", vertraute er mir an. Und ob ich mitmachen wolle? Ich sagte ja. Woraufhin wir zu unserem Herrn Direktor gingen, das Projekt gewissermaßen ordnungsgemäß anzumelden. Ob das nötig war oder Vorschrift, das weiß ich bis heute nicht.
Unser Schulleiter, ein schlanker und mittelgroßer Mann in den besten Jahren, der meines Wissens nach fast nur mit "Verwaltungskram" beschäftigt war und selbst keinen Unterricht erteilte, ein gewisser Johann Peter Hellmann (Name ist echt) empfing uns beide mit jenem Wohlwollen, das in der Gleichgültigkeit seine Wurzeln hat. Und hörte meinem zukünftigen Chefredakteur eine Weile zu, wie dieser sein oder genauer gesagt: unser Projekt erläuterte. Schließlich schwieg mein Mitschüler Georg Birkhahn - und wir warteten auf Antwort. Die bekamen wir auch, die Antwort - und zwar in Gestalt des folgenden Satzes: "Na, wenn Ihr unbedingt wollt". Das war alles. Womit unsere Audienz beendet war.

Draußen bestürmte ich sozusagen diesen Burschen namens Georg mit Fragen, wie er sich unsere Zeitung nun konkret vorstelle. Er aber winkte ganz lässig ab und erwiderte nur ziemlich "cool": "Natürlich machen wir überhaupt keine Zeitung! Aber wenn ich mir (er sagte ich und nicht wir) von unserem Rektor eine Bescheinigung über unsere Schüler-Zeitung ausstellen lasse, dann bekomme ich (wieder nur er) vielleicht auch einen Presse-Ausweis. Und damit kommt "man" meist gratis und kostenlos in alle möglichen kulturellen und vielleicht sogar in politische Veranstaltungen rein. Und vielleicht reicht das sogar für einen Sitzplatz in der ersten Reihe", fügte er noch hinzu. "So wie ein Theaterkritiker, der für das Feuilleton einer Zeitung schreibt". "Ach so!", sagte ich, nun ziemlich ernüchtert. Womit auch dieses Gespräch zu Ende war.
Aber ob mein Mitschüler Georg Birkhahn damals dann wirklich einen Presse-Ausweis bekommen hat (man schrieb übrigens das Schuljahr 1983/84), das habe ich vergessen. Ich jedenfalls bekam keinen - weder damals noch später. Bleibt anzumerken, dass ich später dann doch noch für mehrere kleine Zeitschriften schreiben durfte und geschrieben habe. Zum Beispiel für die politische Jugendzeitung "Perspekt", zu Deutsch: Durchblick. Oder als Mitarbeiter einer Sozialen Bücherstube für unsere Ladenzeitung namens "Werdi", aber das wäre eine andere Geschichte.

© Markus Richard Seifert, April 2020.

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2020/04/08

Unconditional Basic Income

Für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) von 1.300 Euro im Monat für Alle !
(Stand 2020)

Grundeinkommen statt Hilfskredit in der Coronavirus-Krise !

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2020/04/06

Tagebuch 1973, Teil 40: Lahore

Dr. Christian G. Pätzold

lahore
Quadrangle of the Queens Palace of Mirrors, with the Badshahi Mosque in the background.
Lahore, West Pakistan.


27. September 1973, Rawalpindi - Lahore, Donnerstag

Im Kamran-Hotel haben wir die Rechnung bezahlt und sind zum Bahnhof von Rawalpindi gepilgert. Für die Studentenermäßigung mussten wir natürlich wieder zum Station Master und zwei Stunden warten, sagte der Beamte. Dagegen protestierten wir entschieden, da wir extra 1½ Stunden vor Abfahrt des Zuges an den Bahnhof gekommen waren. Wir bekamen dann auch den Zettel in zehn Minuten. Die 180 Meilen nach Lahore kosteten 4 Rupees.
Vom Zug aus haben wir Teile der Flut gesehen, die den Leuten schwer zu schaffen gemacht hat, die aber schon stark weggetrocknet war. Ein Fahrgast war nicht der Meinung, dass sich bei dem neuen Regime etwas geändert hat. Er sagte, dass die Leute Mr. Bhuttos PPP (Pakistan Peoples Party) aus Überredung gewählt hätten. Er meinte, die Flut hätte hier so schlimme Folgen gehabt, weil Indien sie nicht rechtzeitig über die großen Wassermassen informiert habe. Tatsache war vielleicht, dass die Dämme von Rattenlöchern zerfressen waren und dass das Geld für Reparaturen in den Taschen einiger Beamter verschwunden war.

Lahore, die Hauptstadt der pakistanischen Provinz Punjab, hatte 1973 über 2 Millionen Einwohner (heute 2020: Eine Megacity mit über 11 Millionen Einwohnern). Die Stadt liegt strategisch günstig zwischen den Tälern des Indus und des Ganges. Der erste moslemische König, der Lahore eroberte, war Mahmud von Ghazni im Jahr 1021. Das bedeutet, dass der Islam schon an die 1.000 Jahre in Lahore existiert. Ab 1524 regierten dort die Moguln, ab 1848 die Briten, wodurch der Punjab Teil des British Empire of India wurde. Rudyard Kipling, der Autor des »Dschungelbuches«, lebte in den 1880er Jahren als Zeitungsjournalist in Lahore.
Abends im Bahnhof von Lahore hatten wir ein Gespräch mit einem Bahnangestellten. Er sagte, jede Heirat hier gehe über die Eltern und nur mit ihrem Einverständnis, also gibt es keine Liebesheiraten. 50 Prozent würden sich nach der Heirat verstehen, 50 Prozent nicht und 10 Prozent ließen sich scheiden. Geheiratet werde oft in der Familie, zum Beispiel die Cousine ersten Grades. Er könne Pakistan nicht leiden, weil die Menschen nicht nett zueinander seien. Er wolle hier raus und habe schon viele Ausländer angesprochen, die dann aber im Ausland nicht mehr für ihn gebürgt hätten. Dadurch bekomme er keinen Pass. Er sagte, dass viele weg wollen.
Anschließend gab es einen Streit mit meiner Reisepartnerin, ich weiß aber nicht mehr warum, vielleicht wegen Müdigkeit oder weil das Land hier so nervös ist. Das war schon der 5. kritische Moment auf meiner Weltreise. Am nächsten Tag waren aber die Probleme wieder verflogen.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2020.

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2020/04/02

Tagebuch 1973, Teil 39: Islamabad

Dr. Christian G. Pätzold

islamabad
Moderne Moschee (Lal Masjid oder Rote Moschee von 1966) in Islamabad,
Hauptstadt von Pakistan.


25. September 1973, Islamabad, Dienstag

Wir sind nach Islamabad gefahren, der ab 1960 planmäßig neu gebauten Hauptstadt von Pakistan. Islamabad bedeutet wörtlich "Wohnsitz des Islam". 1966 wurde Islamabad offiziell zur Hauptstadt Pakistans erklärt. Islamabad grenzt direkt im Nordwesten an die Großstadt Rawalpindi an. Während die historischen pakistanischen Städte sonst eher voll, eng und chaotisch wirkten, machte das neue Islamabad einen modernen, aufgeräumten und weitläufigen Eindruck. Die Absicht des Neubaus der Hauptstadt war wohl auch, die Regierungsbeamten vor dem Volksunmut zu schützen, der in Pakistan angesichts der Armut öfter auftritt.

Zuerst waren wir bei der Deutschen Botschaft. Dann sind wir zum Ministry of Home Affairs zu einem Mr. Abdul G. gegangen. An der Reception sagte man uns erst, dass wir morgen um 9 Uhr wiederkommen sollten. Als dann der Sekretär des Ministers kam hieß es, dass wir ein paar Minuten warten sollten. Dann hieß es wieder, dass der Beamte für die Straßenerlaubnis gerade in einer Konferenz sei. Wir benötigten nämlich für die Weiterreise nach Indien eine Road Permission, weil die Lage zwischen Indien und Pakistan mal wieder sehr angespannt war.
Ich habe dann im Ministerium Krach geschlagen und mit jemandem am Telefon gesprochen, worauf Formulare kamen. Allerdings musste ich noch mal einen Aufstand machen, worauf wir vorgelassen wurden und die Straßenerlaubnis endlich bekamen. Die Zustände bei den Ämtern erschienen mir recht mittelalterlich. Scheinbar brauchte man persönliche Beziehungen, um an seine Papiere zu kommen, die Leute wurden erstmal grundsätzlich weggeschickt, mussten eventuell wochenlang warten, wenn sie nicht mit Schmiergeld nachhalfen, oder sie wurden einfach nicht zu den entscheidenden Beamten vorgelassen.
Aber dieses Verhalten der Bürokraten kannte ich tendenziell schon aus Deutschland. Das Volk ist grundsätzlich der Bittsteller und die BeamtInnen sind die Wohltäter, die widerwillig etwas gewähren.

Nach diesem schwer erkämpften Erfolg sind wir nach Rawalpindi zurückgefahren, wo wir im "Café Iran" einen Armeeangehörigen trafen, der uns ein Spanischlehrbuch, eine Landkarte und die "Newsweek" spendierte. In der Newsweek habe ich gelesen, dass Präsident Salvador Allende ermordet wurde, das war allerdings schon am 11. September passiert, aber jetzt gab es Fotos davon in der Newsweek. Ich war etwas überrascht, dass das chilenische Militär so brutal vorgegangen ist. Die chinesische Illustrierte "China im Bild" wurde übrigens hier auf der Straße verkauft. Pakistan kooperierte mit China, weil der Erzfeind Indien mit der Sowjetunion zusammenarbeitete.

Abends haben wir im Kino einen pakistanischen Film gesehen. Er hieß »Anmol« (auf Englisch Priceless, auf Deutsch etwa Wertvoll) von Regisseur Pervez Malik (1937-2008), der das Filmemachen an der University of Southern California in Los Angeles studiert hatte. Die Geschichte des Films war einfach gestrickt und für mich auch ohne Kenntnisse in Urdu verständlich. Die SchauspielerInnen spielten so melodramatisch, dass man den Film auch stumm verstanden hätte. Der Held des Films war der Sohn eines Landbesitzers, der von seinem Halbbruder und dessen Mutter ständig gequält und ausgepeitscht wurde. Er lernte aber eine Frau kennen, die alle Männer umlegte (mit einer Art pakistanischer Judo- und Karatetechnik) und ihm wieder Kraft einflößte, so dass er am Ende seinen bösartigen Bruder besiegte. Gesang spielte eine wichtige Rolle in dem Film, durch ihn wurden alle Gefühle ausgedrückt. Die schöne Moral des Films war, dass am Ende das Gute über das Böse siegte. Der Film war psychologisch sehr gut aufgebaut. Er zeigte, dass die Frau den Held am Ende liebt. Eine Liebesheirat schien hier in der Realität eher selten zu sein, weil die Eltern die Ehepartner aussuchten, aber es bestand wohl bei den jungen Leuten ein großes romantisches Bedürfnis nach Liebe. Für westliche Augen war die ganze Geschichte ziemlich kitschig, aber für die lokale Filmindustrie typisch.

26. September 1973, Rawalpindi, Mittwoch

Ein trostloser Tag. Nicht viel passiert. Ich war nur bei der United Bank Limited, um Geld zu wechseln. Ich musste mit dem Bankbeamten wegen der Bank Commission feilschen. Schließlich habe ich den offiziellen Betrag ohne Bezahlung von Gebühr erhalten.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2020.

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2020/03/31

vorschau04

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2020/03/29

Rudolph Bauer
März 1920. Acht Sonette


1. Sonett: Der Putsch

im märz des jahres neunzehnzwanzig
ein herr kapp zu regieren fand sich
es putschten preussische reaktionäre
dem hollenzoller wilhelm zur ehre

der hat sich nach holland verkrochen
von den ruhrindustriellen bestochen
besetzten freikorps der marinebrigade
die hauptstadt berlin sie zogen zu rate

armeegeneräle wie walter von lüttwitz
marschierten auf mit kanonengeschütz
hakenkreuz und faschistisch verrohten

mörderbanden um zu töten die roten
um auszulöschen die hoffnung auf die
neue proletarische demokratie

2. Sonett: Der Generalstreik

ein klassenbündnis hatten beschlossen
gewerkschaftskollegen und genossen
aus U.S.P.D. S.P.D. kommunisten
angestellten und werktätigen christen

selbst bürger begrüßten mutig nicht feig
die massenbewegung zum generalstreik
in den rheinisch-westfälischen industrien
in thüringen mecklenburg und in berlin

im kohlenpott auch unter den sachsen
ist die wut auf die reaktionäre gewachsen
die arbeiter stemmten sich ihr entgegen

der freikorps-putschismus war unterlegen
und die arbeitermassen siegten für die
neue proletarische demokratie

3. Sonett: Besiegung der Putschisten

in essen eroberten rebellisch aufbrausende
die feindeskanonen und an die zehntausende
in bochum westfalens eisenhüttenstadt
besiegten putschisten und den verrat

bekämpft wurden die verräter nicht
von den regulären truppen was ihre pflicht
beschönigend hieß es aus feldherrnsicht
"reichswehr schießt auf reichswehr nicht"

fünfzigtausend männer und sanitäterinnen
der roten ruhrarmee kämpften nahmen binnen
kurzer zeit sechshundert der feinde in haft

verschonten deren leben und wurden bestraft
dafür weil sie nicht blutgierig töteten für die
neue proletarische demokratie

4. Sonett: Die politische Konterrevolution

in schreck um den erhalt ihrer macht im staat
denn die arbeiter planten zentral einen arbeiterrat
befahl ängstlich nunmehr in dumpfer verwirrung
der reichswehr die flüchtige reichsregierung

auf jene arbeiter ohne rücksicht zu schießen
welche zuvor streiken und bluten sie ließen
welche erst gegen die putschisten aufgerufen
jetzt verjagt wurden von den marmorstufen

politischer macht arbeiter sollten wieder klein
sich unterordnen gehorchen und fleißig sein
nicht einfluss zu nehmen auf das regieren

war ihnen bestimmt sondern abzuschmieren
in demut und dank erhalten sollten sie nie die
neue proletarische demokratie

5. Sonett: Die militärische Konterrevolution

mitmörder an der reichswehr seite waren
auch freikorps-truppen die zuvor in scharen
den sturz der regierung in berlin proklamiert
die ihrerseits an deren mordinstinkte appelliert

hunderte von arbeitern und samariterinnen
wurden nun brutal und gnadenlos von ihnen
umgebracht es fanden standgerichte statt
massenerschießung galt dem proletariat

hingerichtet wurden zivilisten auch publico
wenn jemand schon verletzt war ebenso
als dies "gesetzwidrige verhalten" später

verboten war erklärten scheinheilig die täter
"erschossen auf der flucht" fangschuss für die
neue proletarische demokratie

6. Sonett: Der Verrat durch Ebert und Noske

die mörder der werktätigen männer genossen
die rückendeckung eines S.P.D.-genossen
des friedrich ebert des wahrlich horrenden
wirts sattlermeisters und reichspräsidenten

zuständig an eberts seite für das militärische
war minister gustav noske der luziferische
ebenfalls sozialdemokrat und missetäter
der sozialisierung rotbrauner verräter

der kapp-putsch wurde niedergeschlagen
von den arbeitermassen ?noch fragen
das militärmassaker an arbeitern hingegen

erfolgte mit sozialdemokratischem segen
so wurde die hoffnung gemeuchelt auf die
neue proletarische demokratie

7. Sonett: Die Rolle der Reichswehr

im märz des jahres neunzehnzwanzig
ein herr kapp zu regieren fand sich
es putschten preussische reaktionäre
dem hollenzoller wilhelm zur ehre

ein klassenbündnis hatten beschlossen
gewerkschaftskollegen und genossen
aus U.S.P.D. S.P.D. kommunisten
angestellten und werktätigen christen

bekämpft wurden die putschisten nicht
von den regulären truppen was ihre pflicht
beschönigend hieß es aus feldherrnsicht

"reichswehr schießt auf reichswehr nicht"
und so schaufelten das grab sie für die
neue proletarische demokratie

8. Sonett: Vom Ende der letzten Hoffnung

in schreck um den erhalt ihrer macht im staat
denn die räte planten zentral einen arbeiterrat
befahl ängstlich nunmehr in dumpfer verwirrung
der reichswehr die flüchtige reichsregierung

auf jene arbeiter ohne rücksicht zu schießen
welche zuvor streiken und bluten sie ließen
welche erst gegen die putschisten aufgerufen
jetzt verjagt wurden von den marmorstufen

politischer macht arbeiter sollten wieder klein
sich unterordnen gehorchen und fleißig sein
hunderte von arbeitern und samariterinnen

wurden brutal und gnadenlos von ihnen
umgebracht so starb die hoffnung auf die
neue proletarische demokratie

Vor 100 Jahren putschten Armeeteile gegen die parlamentarisch eingesetzte Regierung. Arbeiter und Angestellte haben daraufhin die militaristischen und nationalistischen Feinde der Republik mit den Mitteln des Generalstreiks bezwungen.
Auf das Vorgehen der Putschisten und den Generalstreik wird landläufig unter der Bezeichnung "Kappputsch" erinnert. Dass der Putsch in kurzer Zeit durch die streikenden und demonstrierenden Werktätigen beendet wurde, ist nur wenigen bekannt. Darüber schweigen die Geschichtsbücher. Nicht erinnert wird in der Bundesrepublik an die konterrevolutionäre Rolle des Militärs, der Industriellen und Agrarjunker sowie ihrer Parteien und ferner an die Rolle der sozialdemokratischen Führung. Die SPD-Führer Ebert und Noske gaben der Reichswehr den Schießbefehl gegen die revolutionären Werktätigen, nachdem diese zuvor durch den Generalstreik und kämpfend die Putschisten niedergerungen hatten.

Prof. Dr. Rudolph Bauer trägt die 8 Sonette auf YouTube vor:
https://youtu.be/YxIW78Iqjhs

© Rudolph Bauer, März 2020.

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2020/03/28

COVID-19
Corona Virus Disease 2019
Kleine Ursache, Große Wirkung:
Ein einziges winziges Fledermausvirus in Wuhan bringt die gesamte Weltwirtschaft
in die Krise und führt zu tausenden toten Menschen.
Zu wenig in die Wissenschaft investiert?


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2020/03/26

Beton City oder Garden City ?
Der Balina liebt det Jrüne

Dr. Christian G. Pätzold


gardencity
Gärten und Häuser in Berlin.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Februar 2020.


»Befragt über sein Verhältnis zur Natur sagte Herr K.: Ich würde gern mitunter aus dem Hause tretend ein paar Bäume sehen.«
Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner.

Berlin muss sich entscheiden: Beton City oder Garden City? Wer die Betonköpfe sind, weiß man. Für die Gartenstadt sind die Kleingärtner. Und nach Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung. Jetzt ist es noch möglich, sich für den richtigen Weg des Grüns zu entscheiden. Im Senat von Berlin gibt es allerdings aktuell Überlegungen, an die 1.000 Kleingartenparzellen platt zu machen und zu bebauen. Das wäre ein großer Verlust an grünem Boden, Sträuchern und Obstbäumen.
Tatsächlich fehlen in Berlin an die 100.000 Kleingärten, wie man aus den langen Bewerberlisten der Kleingartenkolonien ablesen kann. Das ist in etwa die Zahl an Parzellen, die in den letzten 50 Jahren vernichtet wurden. Die existierende Gartenstadt ist in Berlin an vielen Stellen in den letzten Jahrzehnten mutwillig zerstört worden. Ein erster wichtiger Schritt wäre, die weitere Vernichtung von Kleingärten in Berlin sofort zu stoppen. Die Stadt braucht zwischen den hohen Häusern und den asphaltierten Straßen grüne unversiegelte Inseln wie Parks, Wiesen, Plätze und Gärten, damit sich die Bewohner vom Metropolenstress erholen können. Urban Gardening ist weltweit ein großes Bedürfnis der Menschen. Bei den neu zu schaffenden Kleingärten denke ich in erster Linie an Obstgärten, die weniger arbeitsaufwändig sind als Gemüsegärten.

Schon vor 10 Jahren war absehbar, dass eine Hauptstadt mit einiger internationaler Bedeutung irgendwann einen Zuzug von Menschen und einen Bauboom erleben würde, der jetzt eingetroffen ist. Es kam zu Bodenspekulation, immer höheren Immobilienpreisen und teilweise wahnwitzigen Mietpreisen für Wohnungen und Gewerbeflächen. Die Reaktion der Politik war die "Nachverdichtung" der Stadt. Obwohl in dem Wort Dichtung vorkommt, war es gar nicht poetisch gemeint. Unzählige kleinere und größere Grünflächen wurden bebaut und damit der Boden versiegelt, Dachgeschosse wurden ausgebaut, Flachbauten aufgestockt. Ein freier Boden ist aber die Voraussetzung für Grün. Durch die Bodenversiegelung verlor die Stadt viele kleine grüne Oasen und Frischluftschneisen, die für die Naherholung und die Gesundheit der Bewohner sehr wichtig waren. Immer mehr Menschen wurden auf denselben Raum konzentriert, was natürlich zu mehr Stress führte. Es wurde einfach zu voll.
Die zunehmende Vernichtung von Grün in der Stadt hat auch zahlreiche Wildtiere aus der Stadt vertrieben, die früher noch einen Lebensraum hatten, wie Nachtigallen, Eichhörnchen, Füchse, Fledermäuse und viele andere Arten. Das Insektensterben auch in der Stadt ist ebenfalls bekannt, ein Beispiel dafür sind die bedrohten Wildbienenarten. Für die Artenvielfalt (Biodiversität) der Flora und Fauna sind Gärten unbedingt notwendig. Wenn man die Natur radikal aus der Stadt vertreibt, muss das negative Folgen für die Psyche der Menschen haben. Die Menschen müssen aus den finsteren Zellenkäfigen der Mietskasernen in Gärten kommen können.

Ein großer Nachteil der Betonstadt ist auch die Aufheizung im Sommer, die schon zu Hitzetoten geführt hat, weswegen das Berliner Parlament die Klimanotlage erklärt hat. Im Sommer ist es nicht mehr ungewöhnlich, dass in Berlin eine Hitzewelle auftritt, bei der die Temperaturen ein längere Zeit lang über 30 Grad Celsius erreichen. Eine Stadt ohne Grün kann sich im Sommer nachts nicht mehr abkühlen, weil die Häuser zu viel Wärme abstrahlen. In Berlin gibt es bereits sehr große Steinmassen, die Hitze speichern. Nur durch Gärten als Kaltluftschneisen kann frische Luft nachts in die Stadt gelangen. Der Hitzeschock hat gravierende gesundheitliche Probleme, die in den nächsten Jahren mit der Erdüberhitzung noch zunehmen werden. Um noch mehr Todesfälle und Krankheitsfälle zu verhindern, könnte man in jede Wohnung eine Klimaanlage einbauen, aber das wäre sehr teuer.
Meiner Meinung nach macht es keinen Sinn, das Wachstum einer betonierten Stadt ins Unendliche zu fördern. Eine Stadt mit 4 oder 5 Millionen Einwohnern ist schon groß genug. Eine Mega-City mit 10 Millionen oder 15 Millionen Einwohnern hat kaum noch Diversitätsvorteile. Stattdessen potenzieren sich die Umweltprobleme, die Abgasprobleme, die Verkehrsprobleme. Statt an einer Mega-City zu arbeiten, sollte man lieber dezentrale Städte fördern, die vielleicht 100.000 Einwohner haben und dabei noch viel Grün und Natur, denn die brauchen die Menschen für ein gesundes Leben.

Es gibt einen Gegensatz zwischen Stadt und Land, der sich nur tendenziell aufheben lässt, denn auf dem Land überwiegt die Natur, in der Stadt dagegen die gebaute Urbanistik. Dadurch haben Stadt und Land jeweils besondere Vorteile und Nachteile. Das heißt aber nicht, dass man die Natur vollständig aus der Stadt entfernen und jeden Quadratmeter Boden versiegeln sollte. Vielmehr sollte man sich an dem Vorbild der Gartenstadt orientieren, eine Idee, die schon über 100 Jahre existiert. Mit der Gartenstadt lassen sich die Vorteile des Landes mit den Vorteilen der Stadt kombinieren und gleichzeitig die Nachteile des Landes und die Nachteile der Stadt minimieren. Es entsteht eine Stadtlandschaft, die gleichzeitig Stadt und Landschaft ist. Bei der Gestaltung der Gartenstadt kann man sich an der alten Lebensreformbewegung orientieren und an solchen Vordenkern wie Ebenezer Howard (Garden-cities of To-morrow, 1902).
Weil es um das Leben der Menschen geht, sind Gärten eine wichtige politische Frage. Man kann die Gärten nicht als seltsames Hobby von ein paar Außenseitern betrachten. Natürlich gibt es auch unter den Gärtnern einige Menschen, die sich noch nicht zu einem richtigen ökologischen Denken entwickelt haben. Es werden oft noch Kunstdünger und Plastikteile in den Gärten eingesetzt. Aber das sind Probleme, die sich durch eine Aufklärung in Sachen Nachhaltigkeit mit der Zeit überwinden lassen.

Die Kleingärten sind aber nur eine Säule der Gartenstadt von morgen. Ebenso wichtig ist die 2. Säule der Volksparks, Parks und Friedhöfe. Daher sollte man auch in verbesserte und zusätzliche Volksparks und Parks investieren. Die 3. Säule der Stadtnatur sind die städtischen Forste, die gestärkt und erweitert werden sollten. Dann würde eine durchgrünte Metropole entstehen. Das Ziel müsste sein, Licht, Luft und Sonne in die Stadt zu bringen.
Zum Schluss noch ein Tipp für die Berliner Grünflächenämter: Es macht keinen Sinn, als Alibi Jungbäume anzupflanzen, die dann im Sommer vertrocknen, weil man keine Mitarbeiter zum Gießen einstellen will. Ein Jungbaum braucht im heißen Sommer 20 Liter Wasser am Tag.

Seht bitte auch den Artikel »Ebenezer Howard und seine Garden City« vom 2015/07/23 auf kuhlewampe.net.

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2020/03/23

lukesonnenglanz1

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2020/03/20

Heute ist Frühlingsanfang


fruehling
Zierquittenblüte (Chaenomeles).
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold am 5. März 2020.
Durch die Coronavirus-Epidemie ist die Stimmung in Berlin leider ziemlich eingetrübt.
Menschen mit Atemschutzmasken sind schon auf den Straßen zu sehen.
Die meisten Läden haben auf unbestimmte Zeit geschlossen.

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2020/03/18

Hamstereinkauf in Zeiten der Coronavirus-Pandemie (Covid-19)


hamstereinkauf
Fotografiert von Anonyma.
Nudeln sind ausverkauft, Tomatensoße ist ausverkauft, Dosenbohnen sind ausverkauft.

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2020/03/17

Bezahlbarer und sicherer Wohnraum für Alle !
Housing For All !
Wohnen ist ein Menschenrecht !
Wir haben eine Wohnungskrise !


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2020/03/14

Besoffen bei Leydicke

Dr. Christian G. Pätzold


leydicke
Ladenschild von Leydicke. Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.

Nur wenige Kneipen in Berlin haben eine solche Aura. Leydicke ist eine Altberliner Schnapsdestille in der Mansteinstraße in Schöneberg, kurz vor den Yorckbrücken. Leydicke wurde 1877 von den Brüdern Emil und Max Leydicke gegründet. Neben der Kneipe umfasste das Unternehmen eine Fruchtsaftfabrik, eine Liqueurfabrik und eine Schnapsbrennerei. Likörstubenbesitzer war schon immer ein etwas besonderer Beruf, etwa so wie Operettenkomponist. Berufe, die nach Kaiserzeit klingen. Die Decke und die Wände der Kneipe wurden in den letzten 140 Jahren noch nie gestrichen, was als besondere Attraktion gilt.
Bei Leydicke war ich Mitte der 1960er Jahre einmal so vom Johannisbeerwein besoffen, dass ich seither Alkohol nur noch in homöopathischen Portionen zu mir nehme. Außerdem soll Alkohol nicht gut für die inneren Organe sein. 1968 war Leydicke für die Westberliner Studenten und für die Planung der Weltrevolution eine ganz wichtige Adresse. Betreut wurden die Studenten von der legendären Lucie Leydicke. Ich habe mal wieder ein Gläschen Persiko auf die alten Gebrüder Leydicke getrunken.
Bei Leydicke gibt es nichts zu essen, außer am Sonntag frische Buletten. Dafür darf man zum Glück rauchen. Das war jedenfalls noch 2015 so, als ich das letzte Mal bei Leydicke war. An Spirituosen gab es eine große Auswahl. Zitronenlikör, Pfefferminzlikör, Haselnusslikör, Zimtlikör, Ingwerlikör, Eierlikör. An Obstweinen gab es Brombeerwein, Kirschwein und Himbeerwein. Und der Wirt hatte noch einiges andere auf Lager. Die Getränkekarte war der Wirt persönlich. Gedruckt gab es so etwas nicht. Aber der Wirt wusste genau, was er im Keller zusammendestilliert hatte.
An den Wochenenden gab es Musikerauftritte. Vor 20 Uhr sollte man aber bei Leydicke nicht aufkreuzen. Leydicke hat noch seine Seele bewahrt. Insofern ist Leydicke ein besonderer Berliner Kulturschatz.

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2020/03/11

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2020/03/08

Zum Internationalen Frauentag


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Quelle: Wikimedia Commons.


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2020/03/05

Deutsche Panzer gegen Kurden


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Bildmontage von © Rudolph Bauer, 2020.
http://www.rudolph-bauer.de/instagram/


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2020/03/02

Ende Gelände


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Bildmontage von © Rudolph Bauer, 2020.
http://www.rudolph-bauer.de/instagram/


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2020/02/29

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2020/02/26

Tipp vom Bioobst-Gärtner: Zwetschen

Dr. Christian G. Pätzold


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Zwetschen. Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold im Juli.


Die Zwetsche (Prunus domestica) sollte in keinem Garten fehlen, denn sie ist ein anspruchsloser Baum, der jedes Jahr viele köstliche Früchte produziert. Tatsächlich ist der Zwetschenbaum neben dem Apfelbaum auch in sehr vielen Berliner Schrebergärten anzutreffen. Der Platzbedarf ist etwa 4 x 4 Meter. Der Zwetschenbaum gehört botanisch zur Familie der Rosengewächse (Rosaceae). Die Zwetsche ist eine Pflaumenunterart, die es in vielen Sorten gibt. Ihre Früchte sind klein, blau und oval. Sie wird in Europa, Westasien, Nordamerika, Nordafrika und Südafrika angebaut.
Wenn die Zwetsche erstmal im Garten heimisch geworden ist, braucht man sich kaum mehr um sie zu kümmern. Na gut, einige Früchte haben Maden, die muss man aussortieren. Aber die meisten Früchte sind ok und schmecken süß und aromatisch, mit etwas Fruchtsäure. Für die Bekämpfung der Schädlinge sorgen die fleißigen Blaumeisen und Kohlmeisen. Die Bestäubung der zahlreichen weißen Blüten übernehmen die Bienen, von denen es zum Glück noch einige gibt. Dank an den Imker in der Kolonie!
Da man von einem Zwetschenbaum viele Kilo Früchte ernten kann, stellt sich die Frage, wohin mit dem vielen Obst? Einen Teil der Zwetschen kann man frisch essen, einen anderen Teil der Zwetschen kann man verschenken. Den größten Teil muss man irgendwie für später konservieren. Eine Möglichkeit ist, Pflaumenmus einzukochen. Eine andere Möglichkeit ist, die Zwetschen zu waschen, zu entkernen und im Gefrierfach des Kühlschranks einzufrieren für den Winter. Dafür gibt es besondere Behälter zum Einfrieren aus Kunststoff. Dann kann man auch im Winter den süßen Geschmack des Sommers genießen.
Das leckere Zwetschenkompott lässt sich im Winter sehr einfach herstellen: In einen großen Kochtopf etwas Wasser geben, die aufgetauten Zwetschen dazu, einmal aufkochen lassen, und fertig ist das Zwetschenkompott. Man braucht auch nicht mit Zucker zu süßen, da die Zwetschen viel Fruchtsüße haben. Die beim Kochen entstehende Flüssigkeit ergibt einen leckeren Zwetschensaft. Wenn man möchte, kann man beim Kochen auch Gewürze wie Zimtstangen und Nelken hinzugeben. Wer Alkohol mag, kann auch Rotwein oder Weißwein dazu geben.

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2020/02/23

Lektüre vor 100 Jahren:
Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips«, 1920


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Sigmund Freud (1856-1939). Fotografie von Max Halberstadt, 1921.
Quelle: Wikimedia Commons.


Sigmund Freud war ein jüdischer Psychologe in Wien, der die Psychoanalyse begründet hat. Genau vor 100 Jahren erschien sein wichtiger Aufsatz »Jenseits des Lustprinzips«, der einen Wendepunkt in seiner Triebtheorie markierte. Es lohnt sich, ihn mal wieder zu lesen. Sigmund Freud war nicht nur ein hervorragender Psychologe, sondern auch einer der besten Essayisten in deutscher Sprache.
Ursprünglich war Freud davon ausgegangen, dass die psychischen Vorgänge vom ökonomischen Lustprinzip gesteuert werden, dass die Menschen also die Lust maximieren wollen bzw. die Unlust minimieren wollen. Die direkte Lustgewinnung stößt in der Praxis allerdings oftmals auf Probleme, die eine größere Unlust produzieren. Daher wird das Lustprinzip vom Realitätsprinzip modifiziert. Freud schreibt:
"Wir wissen, daß das Lustprinzip ... für die Selbstbehauptung des Organismus unter den Schwierigkeiten der Außenwelt so recht von Anfang an unbrauchbar, ja in hohem Grade gefährlich ist. Unter dem Einflusse der Selbsterhaltungstriebe des Ichs wird es vom Realitätsprinzip abgelöst, welches, ohne die Absicht endlicher Lustgewinnung aufzugeben, doch den Aufschub der Befriedigung, den Verzicht auf mancherlei Möglichkeiten einer solchen und die zeitweilige Duldung der Unlust auf dem langen Umwege zur Lust fordert und durchsetzt."
Freud stellt dann die Frage, ob es auch Motive jenseits des Lustprinzips gibt. Er führt den kranken Wiederholungszwang der Neurotiker an, der dem Lustprinzip widerspricht und einen "dämonischen Charakter" hat. Dann kommt er zum Bereich der Triebe, "die Repräsentanten aller aus dem Körperinneren stammenden, auf den seelischen Apparat übertragenen Kraftwirkungen". Diesen Bereich der Triebe bezeichnet er als "das wichtigste wie das dunkelste Element der psychologischen Forschung". Im Trieb sieht er einen "organischen Wiederholungszwang", "ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes". Und dann kommt Freud zur neuen Annahme eines Todestriebes, eines Triebes, "zum Leblosen zurückzukehren".
Auch der Todestrieb spielt sich jenseits der Wirkung des Lustprinzips ab. Dem Todestrieb entgegen wirken die Sexualtriebe oder Lebenstriebe. Es entsteht so eine "dualistische Auffassung des Trieblebens".
Wenn man etwas über die sehr spekulativen Ausführungen von Freud nachdenkt, fallen einem vielleicht noch andere Ausdrucksformen des Todestriebes ein, wie Selbstmord, Amoklauf oder Nirwana. Wie dem auch sei. Es war auf jeden Fall ein Vergnügen, mal wieder Sigmund Freud zu lesen.

Dr. Christian G. Pätzold.

Ausgabe: Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. Stuttgart 2013, 110 Seiten. Reclam.

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2020/02/20

Schon mal älter geworden?

Markus Richard Seifert


Nein, sechzig will ich nicht werden,
denn ich weiß, dass hier auf Erden
die sechzig sich nicht reimen lässt.
Das ist wohl wahr und das steht fest.

Drum bleib' ich lieber fünfzig
und sage mir für künftig:
Nein, ÄLTER werd' ich NICHT,
denn das passt in kein Gedicht.

Und darum auch nicht siebzig.
Doch ich fürchte, das ergibt sich
aus Leben, Lauf und Zeit.
Aber bitte nicht schon heut'!

Natürlich auch nicht achtzig.
Doch ich fürchte nur, das macht sich
und ist kaum aufzuhalten,
genau wie unsere Falten.

Und dann kommt schon "die neun"
soll'n wir uns drüber freu'n?
Dann sind "die andern" JUNG,
doch wir jetzt OHNE SCHWUNG.

Doch schließlich sind wir hundert
was uns doch sehr verwundert.
Denn wir sind noch nicht "so weit"
und trotzdem ALTE LEUT
(Was uns NICHT immer freut
mit Rheuma und Rollator:
Oh, Senex, Triumphator!)

© Markus Richard Seifert, Februar 2020.

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2020/02/17

Free Julian Assange Now !


assange
Bildmontage von © Rudolph Bauer, 2020.
http://www.rudolph-bauer.de/instagram/


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2020/02/14

Dr. Hans-Albert Wulf
Faul: Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft
Teil II


faul1
Franz von Lenbach: Der rote Schirm, 1859. Quelle: Wikimedia Commons.


Was ist Faulheit?

Ob jemand ein Müßiggänger ist, das lasse sich wie bei einer Uhr ablesen: "Die Hände verhalten sich zur Seele, wie der Zeiger einer Uhr zum inwendigen Uhrwerke; dieser deutet auswendig an, wie viel es inwendig geschlagen hat. Steht der Zeiger still, so steht auch das Uhrwerk still. Auf gleiche Weise verraten müßige Hände eine verdorbene, tote Seele." (Thomas Wiser: Vollständiges Lexikon für Prediger und Katecheten, Bd.13, Regensburg 1858, S.391) Der radikale Faule hat demnach nur ein einziges Motto: "Wer Arbeit kennt, und danach rennt, und sich nicht drückt, der ist verrückt."
Das absolute Nichtstun erfährt noch eine Steigerung in den sog. Faulheitswettbewerben, die in der neuzeitlichen Literatur immer wieder auftauchen. Am Beginn dieses Kapitels habe ich ein solches Kuriosum vorgestellt. Wer der Faulste ist, wird zum König ernannt. In seinem "Lob des Müßiggangs" zitiert Bertrand Russell eine weitere Variante: Es lagen einst zwölf Bettler müßig in der Sonne und dösten vor sich hin. Da kam ein Reisender vorbei und sprach sie an:"Wer von euch der Faulste ist, dem schenke ich einen Gulden." Sofort sprangen elf der Bettler auf und streckten dem spendablen Passanten die Hand entgegen. Nur einer blieb reglos in der Sonne liegen und - wie konnte es anders sein - er bekam den Gulden geschenkt.
Faulheit, Müßiggang, Trägheit, Nachlässigkeit, Nichtstun, Schläfrigkeit. Diese Begriffe werden in ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht trennscharf verwendet. Im Mittelalter war das Wort Trägheit verbreitet und entstammt dem Kampf der Mönche gegen die Todsünde der Acedia. Faulheit ist das Schimpfwort, das den Diskurs im 16. und 17. Jahrhundert beherrscht. Es ist unmittelbar auf Arbeit bezogen; wer nicht arbeitet, ist faul. Demgegenüber ist das Wort Müßiggang sehr viel weiter gefasst und wird geradezu inflationär für alle nur denkbaren Abweichungen vom "normalen" Verhalten gebraucht.

"Der Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit ist Faulheit." konstatiert der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) (Kant, Werke Bd. VII, Berlin 1917, S.276). Dies ist freilich nur eine dürre und karge Definition. Kants Kollege, der Philosoph Christian Thomasius (1655-1728) hatte bereits 100 Jahre zuvor eine differenziertere Sichtweise. Er unterscheidet zwischen grobem und subtilem Müßiggang. Der grobe Müßiggang bedarf keiner weiteren Erklärung; es ist das offenkundige faule Nichtstun, die Vernachlässigung der verordneten Pflichten. Hier ein Beispiel: Helbling steht im Büro an seinem Schreibpult und die Arbeit ödet ihn wieder einmal unsäglich an. Die Zeit will einfach nicht vergehen. "Er bemüht sich, zu versuchen, ob es ihm möglich sei, den Gedanken zu fassen, dass er jetzt arbeiten müsse." (Robert Walser: Ein Vormittag. In: Fritz Kochers Aufsätze. Genf und Hamburg 1972, S. 219) Um Zeit zu schinden, verschwindet er auf der Toilette, wo er volle zwölf Minuten zubringt. Währenddessen stürzen die Kollegen an sein Pult, um zu sehen, was er denn nun in der letzten Stunde geschafft hat. Und mit Verblüffung stellen sie fest, dass da nicht mehr als drei Zahlen stehen - sowie eine Vierte im Ansatz! Komplizierter verhält es sich mit dem subtilen Müßiggang, der sich vordergründig fleißig gibt und äußerlich vom Arbeitseifer nicht zu unterscheiden ist. Thomasius gibt ein Beispiel: Ein Bauernknecht drischt fleißig auf der Tenne zusammen mit einer Magd Korn. Das tut er aber nur mit dem Hintergedanken, nach vollbrachter Arbeit die Magd im Heu zu verführen.
Mit solchen Definitionsklaubereien und Feinheiten gibt sich der Volksmund erst gar nicht ab, sondern geht drastisch zu Werke: Der Müßiggänger ist lebendig tot. Er ist ein Leimsieder, Trödelphilipp, Murmeltier, Bärenhäuter, Drückeberger, Pflastertreter, Asphaltspucker, Schlafhaube, Tagedieb. Der Müßiggang ist der Amboss, auf dem alle Sünden geschmiedet werden. Er ist eine Angel des Teufels, womit er die Seele des Menschen fängt. Er ist ein Kopfkissen und Polster des höllischen Geistes. Er ist ein lebendiges Grab des Menschen. Er ist ein Dieb und Räuber des himmlischen Groschens. Der Müßiggang ist ein Verführer der Jugend, ein Verschwender der Zeit, ein schädlicher Schlaf der Wachenden, ein Gift allen menschlichen Seelen, der angenehmste Gast der Hölle, ein weiches Kissen des Teufels, eine sanfte Lagerstätte von allem Übel. Er ist ein Urheber der Diebstähle und Morde, ein Zündstoff der Unzucht, ein Lockvogel der fleischlichen Begierden, ein Lehrer aller Leichtfertigkeiten, eine Schwindgrube aller bösen Gedanken und ungeziemenden Gelüste. Er ist der Tugend Stiefvater, des Teufels Faulbett, der Rost eines ehrlichen Gemüts, das Unkraut eines unbesäten Ackers, die Hauptstadt des Unheils, ein Lehrmeister alles Bösen und der Höllen Pfandschilling.

Kehren wir zur Wissenschaft zurück. Der Philosoph Peter Sloterdijk definiert Faulheit und Müßiggang als "Passivitätskompetenz". Aber auch dieser launige Begriff hilft nicht weiter; denn Müßiggang resp. Faulheit müssen ja nicht notwendig durch Passivität geprägt sein. Passiv ist, wer das, was er tun soll, unterlässt. Das faule Kind, das nicht lernen will, Dienstboten, die keine Lust zum Arbeiten haben, oder Menschen, die schlicht ihre Zeit vertrödeln. Müßiggang kann sich aber auch ausgesprochen aktiv geben. Extrem ist dies beim geschäftigen Müßiggang, beim frommen Müßiggang mit seinen übertriebenen Betorgien oder dem allseits umtriebigen wollüstigen Müßiggänger der Fall.
Mit der Frage, was genau Faulheit ist und welche Ursachen sie hat, haben sich auch die Psychologie und Pädagogik intensiv befasst. Dabei geht es meist um die Ursachen und Formen von Trägheit und Faulheit bei Schulkindern. Ein Dauerbrenner durch die Jahrhunderte. Ein kleines Taschenbuch aus den 1980er Jahren trägt den Titel "Faulheit ist heilbar" und suggeriert damit, dass es sich um eine Krankheit handele. Wenn ein Kind vom Lehrer öffentlich als faul bezeichnet wird, so kann dies sein berufliches Fortkommen nachhaltig beeinträchtigen. Vor einigen Jahren war in einer Berliner Boulevardzeitung als riesige Balkenüberschrift zu lesen: "Faul! Hartherziges Lehrer-Wort auf dem Zeugnis belastet berufliche Zukunft."
Dass ein Fauler bestraft wird, ist in einer Arbeitsgesellschaft nicht verwunderlich. Gibt es aber auch den umgekehrten Fall, dass ein arbeitsamer Mensch mit dem Gesetz in Konflikt geraten kann? Dies ist der Fall, wenn z.B. ein Gelehrter am Sonntag bei offenem Fenster forscht. Die Juristen sind hier sofort zur Stelle und verweisen auf die einschlägigen Paragraphen des Feiertagsrechts. Danach macht sich strafbar, wer öffentlich sichtbar am Sonntag arbeitet. So ist es jedenfalls in einem Buch über das Feiertagsrecht von 1929 zu lesen. (Otto Nass: Das Recht der Feiertagsheiligung, Berlin 1929, S.40) Dabei ist es nicht einfach - das geben die Juristen auch zu -, einem Gelehrten am Fenster den Gesetzesbruch nachzuweisen. Welches sind die Indizien? Vielleicht Schweiß auf der Stirn? Wie soll man aber folgenden Fall beurteilen? Es steht einer mit seiner Geige auf der Straße und hat einen Hut für Spenden vor sich hingestellt. Soweit so gut. Er leistet mit seinem Violinspiel eine öffentliche Dienstleistung, die er sich mit Spenden belohnen lässt. Was aber, wenn er gar nicht richtig spielen kann? Wenn er sich fortwährend verspielt? Dann handelt es sich, - so haben es die Juristen geregelt - um keine Dienstleistung, sondern schlicht um Faulheit und Bettelei. (vgl. S. 149).

Müßiggang ist mithin kein absoluter Begriff. Was als Müßiggang oder Faulheit kritisiert wird, hängt von den jeweils vorherrschenden Formen der Arbeit ab. So wurde z.B. in einer Gesellschaft, die von körperlicher Arbeit geprägt war, der Büromensch schnell zum Faulenzer, da sein Arbeiten ja nicht unmittelbar sichtbar ist. (S.186) Wer ist ein Müßiggänger? Der Angler, der bequem auf seinem Anglerstuhl sitzt? Die Katze, die vor einem Mauseloch lauert und auf ihre Beute wartet? Wie steht es überhaupt mit dem Warten? Ist es Müßiggang, wenn jemand in einer Einkaufsschlange steht oder im Wartezimmer eines Arztes sitzt? Gibt es jemanden, der gar nichts tut?
Worin besteht der Unterschied zwischen der Muße und dem Müßiggang. Vor einiger Zeit (2011) brachte der "Spiegel" hierzu eine Titelgeschichte und warf beide Begriffe heillos durcheinander. In der Tat, beide können sich äußerlich aufs Haar gleichen. Der Augenschein kann keinen Unterschied zwischen beiden, Muße und Müßiggang, erkennen. Und doch sind es grundverschiedene Welten. Der Müßiggänger verrichtet nicht das, was er tun soll. Er flieht seine Pflichten, um sich anderweitig die Zeit zu vertreiben, oder faul in der Ecke zu sitzen. Dagegen steht derjenige, der sich der Muße hingibt, unter keinerlei Zwang. Er tut, wozu er Lust und Laune hat. Für ihn gibt es keine äußere Instanz, die mahnend an irgendwelche Arbeitspflichten erinnert. In seiner historisch klassischen Form verweist der Begriff Muße insofern auf ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis. Auf die Existenz einer privilegierten Klasse, die jenseits des lästigen Alltagskrams und frei von entfremdeter Arbeit tun und lassen kann, was sie will, ohne dabei zu verhungern oder bestraft zu werden. Heute wird das "altmodische Wort Muße" (Habermas) meist etwas unscharf und ungenau durch den Begriff Freizeit ersetzt; ungenau deshalb, weil Freizeit zwar Inseln der Muße ermöglicht, sie aber nicht automatisch zur Folge hat. Der seit etwa 150 Jahren wachsende Bereich der Freizeit hat die fremdbestimmte Arbeit zwar nicht beseitigt, schafft aber immerhin Voraussetzungen für Phasen selbstbestimmten Lebens.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Februar 2020.

Der Text ist dem Buch entnommen:
Hans-Albert Wulf: FAUL! Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft, Norderstedt 2016.
ISBN 978-3-7392-0225-9.

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2020/02/11

Dr. Hans-Albert Wulf
Faul: Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft
Teil I


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Franz von Lenbach: Italienerknaben, 1859. Quelle: Wikimedia Commons.


Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne. Als er im Sterben lag, rief er sie zu sich und sprach: "Wer von euch der Faulste ist, soll mein Nachfolger werden." Da sprach der Älteste: "So gehört das Königsreich mir. Denn wenn ich schlafen will und es fällt mir ein Tropfen ins Auge, so bin ich zu faul, das Auge zu schließen." "Da bin ich doch noch viel fauler", entgegnete der Zweite. "Wenn ich am Ofen sitze und verbrenne mir dabei die Füße, so bin ich zu faul, sie zurückzuziehen." Darauf der Dritte: "Das ist doch noch gar nichts. Wenn ich aufgehängt werden sollte und hätte den Strick schon um den Hals und man gäbe mir ein Messer, um den Strick zu zerschneiden, so wäre ich dazu zu faul und würde mich lieber aufhängen lassen." Als der König dies hörte, sprach er: "Du bist der Faulste und sollst König werden." Und auch in dem berühmten Märchen vom Schlaraffenland tragen die Faulpelze den Sieg davon. "Jede Stunde Schlafen bringt dort ein Silberstück ein und jedes Mal Gähnen ein Goldstück. Wer gern arbeitet, der wird aus dem Schlaraffenland vertrieben. Aber wer nichts kann, nur schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird zum Grafen ernannt. Und der Faulste wird König im Schlaraffenland."
Dass die Faulen belohnt werden, gibt es freilich nur im Märchen und in der verkehrten Welt des Schlaraffenlandes. In unserer arbeitsamen Gesellschaft steht Faulheit nicht eben hoch im Kurs. "Wer arbeiten will, der findet immer Arbeit. Und wer keine Arbeit hat, ist selbst dran schuld und nur zu faul." Generell wird unterstellt, dass Arbeitslose keine Lust zum Arbeiten haben und deshalb wird ein ganzes Arsenal an Maßnahmen aufgefahren, um Druck auszuüben. Das reicht von Kürzungen des Arbeitslosengeldes, wenn man z.B. eine Vorladung zum Jobcenter versäumt hat, bis hin zum Zwang, irgendwelche oftmals völlig sinnlosen Arbeiten zu verrichten. Und immer wieder bricht über die "HartzIV-Faulpelze" ein Mediengewitter unter der Anführung der Bild-Zeitung herein. Von einer "HartzIV-Sauerei" ist die Rede. "Stoppt die Drückeberger!" "Noch nie wurde so viel geschummelt!" So die seitenfüllenden Schlagzeilen der Bild-Zeitung. (11.04.2012) Und wenn die Arbeitslosen erst einmal als Müßiggänger abgestempelt worden sind, so ist es nicht mehr weit, sie als "Müßiggängster" zu diffamieren. "Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft" verkündete der frühere Bundeskanzler Schröder 2001 in einem Interview mit der Bild-Zeitung. (05.04.2001) Dass es sich lediglich um eine verschwindende Zahl von Arbeitslosen handelt, die sich nicht korrekt verhalten, wird dabei unter den Teppich gekehrt. Und auch bei diesen handelte es sich meist nur um Terminversäumnisse bei Vorladungen zu den Jobcentern. Die Debatten über faule Arbeitslose und die Verschärfung der Sanktionen folgen bestimmten politischen Konjunkturen. Das hat jedenfalls eine Forschungsgruppe am Wissenschaftszentrum Berlin herausgefunden. "Immer wenn Regierungen ein bis zwei Jahre vor der Wahl stehen und die Konjunktur lahmt, wird die Alarmglocke 'Faulheitsverdacht!' geläutet, auch wenn es keine objektiven Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Arbeitslosen fauler geworden sind." (Frank Oschmiansky u.a., "Faule Arbeitslose?", in: WZB-Mitteilungen, Heft 93, September 2001)
All diese Vorschriften und Zwangsmittel haben eine lange Tradition. Bereits im 18. Jahrhundert wurde die staatliche Unterstützung von Arbeitslosen mit abschreckenden Repressalien verbunden. "Die Notdürftigen, die der Staat unterhält, müssen ein schlechteres und beschwerlicheres Leben führen als der große tagelöhnerische Haufen, der nicht dürftig ist; denn sonst würde sich niemand scheuen, bald oder spät dem Staat zur Last zu fallen. Überdies muss die Zucht der vom Staat unterhaltenen Armen, insonderheit für Faulheit und Verschwendung sehr strenge und also ihre Freiheit fast militärisch eingeschränkt sein, damit der die Freiheit und das Wohlleben liebende Mensch einen Abscheu vor der Notwendigkeit der Staatshilfe behalte." (Johann Bernhard Basedow, Anschläge zu Armen-Anstalten wider die Unordnung der Bettelei, Dessau 1772, S.34f.)
Gegen das gesellschaftliche Arbeitsdiktat sind in den letzten Jahren immer wieder Bücher und Aufsätze erschienen, die das "Lob der Faulheit" anstimmen oder die "Kunst des Müßiggangs" verkünden. Meist geht es dabei um die Frage, wie man der Alltagshektik, dieser allgegenwärtigen Sisyphos-Falle, entrinnen und wie man die Faulheit und den Müßiggang von ihrem schlechten Ruf befreien kann. Mit meinem Buch knüpfe ich an diese Diskussion an, allerdings aus einer anderen, bisher eher vernachlässigten Perspektive: Mir geht es um das Problem, wie dieser epidemische Arbeits- und Geschwindigkeitswahn, der in unserer Gesellschaft mittlerweile fast alle Lebensbereiche durchdrungen hat, in die Welt gekommen ist und wie er sich ausgebreitet hat.
Ich werde die Wurzeln und Traditionen der verschiedenen Faulheitsverbote in unserer Kultur beleuchten und darstellen, mit welchen Druckmitteln und Strafen der Faulheit und dem Müßiggang in den verschiedenen Epochen unserer abendländischen Gesellschaft zu Leibe gerückt wurde. Zumal seit der frühen Neuzeit werden Faulheit und Müßiggang zu universellen Kampfbegriffen. Sie entwickeln sich zu Chiffren einer negativen Didaktik, die den Teufel an die Wand malt, um ihn besser bekämpfen zu können.
Es geht mir darum zu dokumentieren, wie der Kampf gegen Trägheit, Faulheit und Müßiggang als wichtiges Instrument eingesetzt wurde (und wird), um den heutigen disziplinierten und angepassten Menschen zu modellieren. Bei alldem soll der Streifzug durch die Vorgeschichte und Geschichte der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft mit all ihren Faulheitsverboten dazu verhelfen, den Blick für ihre Überwindung zu schärfen.

Der Zwang zum Selbstzwang

In seinem Werk über den »Prozess der Zivilisation« hat der Soziologe Norbert Elias diesen gesellschaftlichen Wandel eindrucksvoll dargestellt. Er beschreibt "die Verwandlung der gesellschaftlichen Fremdzwänge in Selbstzwänge, in eine automatische, zur selbstverständlichen Gewohnheit gewordene Triebregulierung und Affektzurückhaltung." (Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt am Main 1978, S. 343) Dies ist ein Prozess, der mit viel Zwang, Widerständen und großen Schmerzen über die welthistorische Bühne gegangen ist.
Eine wichtige Bedeutung spielte hierbei die Verinnerlichung der Zeitdisziplin. Denn die Differenzierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung seit der Neuzeit konnte nur funktionieren, wenn die einzelnen Handlungsketten zeitlich exakt aufeinander abgestimmt wurden. Dies bedeutete, dass die innere Uhr des Menschen auf ökonomische Erfordernisse umgestellt werden musste. Waren bislang die Arbeitsabläufe von der Natur bestimmt, so tritt nun mit der Ausbreitung der kapitalistischen Ökonomie ein neues Zeitreglement an ihre Stelle. Der äußere Zwang der Fabriksirene wird Schritt für Schritt durch Elemente des Selbstzwangs ergänzt und schließlich auch ersetzt. Begünstigt und forciert wurde dieser Wandel durch die Uhrenentwicklung. An die Stelle der Fabriksirene tritt der häusliche Wecker, der gleichsam als Prothese des Selbstzwangs dient.
Bei den Selbstzwängen unterscheidet Elias zwei Varianten: 1. Die bewusste Selbstkontrolle; hierzu gehört auch das Gewissen, welches gleichsam als Buchhalter der Seele fortwährend Ist- und Sollwert des eigenen Verhaltens abgleicht und gegebenenfalls Korrekturen anmahnt. 2. Eine unbewusst arbeitende "Selbstkontrollapparatur", bei der die gesellschaftlichen Regeln und Verhaltensweisen in Fleisch und Blut übergegangen sind und sich so unwillkürlich wie ein Wimpernschlag zu automatisch funktionierenden Gewohnheiten herausbilden.
Im Laufe der Geschichte haben sich diese "Selbstkontrollapparaturen" immer mehr verfeinert und perfektioniert. In einem 1930 erschienenen Buch mit dem Titel »Sich selbst rationalisieren« wird dem Selbstzwang mit dramatischen Worten eine geradezu existentielle Bedeutung beigemessen: "Sich selbst nicht gehorchen, das ist eine Schande, das ist ein schleichendes Gift, das zermürbt Charakter und Willen sowie Energie, Ausdauer und Selbstachtung wie eine versteckte, unerkannte, schleichende, tückische Krankheit, die den Körper langsam zerstört." (Grossmann, S. 159) Und in einem kürzlich (11. April 2015) erschienenen Artikel der "Wirtschaftswoche" nehmen die Gymnastikübungen des Selbstzwangs geradezu groteske Züge an: "Auch die intelligente Führung der eigenen Person macht die gute Führungskraft aus. Heißt konkret: Sie handelt im Optimalfall stets bewusst, formt die Persönlichkeit und zahlt so auf die 'Marke Ich' ein."

© Dr. Hans-Albert Wulf, Februar 2020.

Der Text ist dem Buch entnommen:
Hans-Albert Wulf: FAUL! Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft, Norderstedt 2016.
ISBN 978-3-7392-0225-9.

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2020/02/07

Erinnerung an Hatun Sürücü
West-Berlin 17.1.1982 - West-Berlin 7.2.2005


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Vor 15 Jahren, am 7. Februar 2005, wurde Hatun Sürücü von einem ihrer Brüder in Berlin Tempelhof (Oberlandstraße Ecke Oberlandgarten) durch 3 Kopfschüsse ermordet. Es war ein so genannter Ehrenmord, begründet damit, dass sie sich nicht an die Vorschriften ihrer Familie halten würde und ein selbständiges freies Leben führen wollte. Hatun Sürücü war eine türkeistämmige Deutsche kurdischer Herkunft, die in Berlin geboren wurde und in Berlin Kreuzberg aufgewachsen war. Mit 16 Jahren wurde sie von ihren Eltern mit ihrem Cousin in Istanbul zwangsverheiratet. 1999 kam sie allein nach Berlin zurück, wo sie ihren Sohn zur Welt brachte, das Kopftuch ablegte und eine Lehre als Elektroinstallateurin machte. Mehrmals hatte Hatun Sürücü der Polizei von Morddrohungen gegen sich berichtet, hatte aber keinen Schutz erhalten. In Berlin Neukölln erinnert die Hatun-Sürücü-Brücke an sie.

Dr. Christian G. Pätzold, Quelle Wikipedia.


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Gedenktafel für Hatun Sürücü. Oberlandstraße Ecke Oberlandgarten in Berlin Tempelhof.

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2020/02/05

Hannes Wader, Volkssänger
Ein Sänger, der nicht stumm zu boykottieren war

Dr. Christian G. Pätzold


Für uns alte 68er (wir sind inzwischen alle schon alt beziehungsweise uralt) war der deutsche Volkssänger Hannes Wader eine große Unterstützung. Seine Arbeiterkampflieder haben uns Kraft gegeben. Er war ein echter Genosse mit einer phantastischen Stimme, kräftig und klar. Seine Lieder wurden so populär, dass sie sogar später im Musikunterricht der Schulen gesungen wurden. Seit den 1970er Jahren war ich ein Fan von Hannes Wader, ohne ihn live erlebt zu haben. Ich besaß nur eine Platte von ihm, sein Album "Volkssänger" von 1975. Obwohl sich Hannes Wader selbst Volkssänger nannte, sollte man ihn vielleicht besser einen Folk Singer nennen, denn Volk klingt so völkisch und nationalistisch, was er bestimmt nicht ist.
Das Terrain ist vermint, denn das Wort "Volk" wurde in der deutschen Sprache in sehr unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Da gab es die rechte faschistische Verwendung, in der "Volk" eine bestimmte ethnische und biologische Gemeinschaft bezeichnete, in Abgrenzung zu anderen Menschen, wie etwa in "Volksgemeinschaft" oder "Völkischer Beobachter". Und es gab die linke sozialistische Verwendung, in der "Volk" die breite Masse der Menschen bezeichnete im Gegensatz zu einer herrschenden Oberschicht, wie etwa in "Volksrepublik". Diese letztere Verwendung von Volk war überhaupt nicht nationalistisch gemeint. Hannes Wader war ein Volkssänger in diesem internationalistischen Sinn.
Hannes Wader wurde 1942 bei Bielefeld geboren. Sein erster Auftritt war 1966 beim Folkfestival auf der Burg Waldeck. 1968 war er im West-Berlin der Studentenbewegung und dort in der Liedermacherszene aktiv. Seit herauskam, dass Gudrun Ensslin von der Baader-Meinhof-Gruppe 1972 in seiner Hamburger Wohnung lebte, wurde er von Fernsehen und Funk boykottiert. 1977 trat er dann in die DKP (Deutsche Kommunistische Partei) ein, worauf sein Name in den westlichen Medien nicht einmal mehr erwähnt werden durfte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR trat er 1991 wieder aus der DKP aus.
Eine Mitgliedschaft in der DKP haben sich damals nicht viele getraut. Denn Kommunisten waren in der BRD mit einem Berufsverbot belegt. Viele Linke hielten den sowjetischen Kommunismus auch für zu bürokratisch, so dass sie nichts mit der DKP zu tun haben wollten. Seit Hannes Wader aus der DKP ausgetreten ist, war er natürlich bei den DKP-Mitgliedern durchgefallen. Ja, die DKP gibt es immer noch. Aber für diese Altkommunisten zählten nur noch die Liedermacher Franz Josef Degenhardt (1931-2011) und Dieter Süverkrüp (geboren 1934), die in der Partei geblieben waren.
Ich wollte Hannes Wader dann doch noch im April 2015 live bei einem Konzert in Potsdam erleben. Nach so vielen Jahrzehnten war er mit seiner Gitarre immer noch auf Tour und auf den Bühnen, obwohl er im Juni 2012 schon 70 Jahre alt geworden ist. Leider war der Nikolaisaal in Potsdam mit 600 Plätzen schon frühzeitig ausverkauft, so dass ich keine Karte mehr bekommen habe.
Ich habe eine kleine Rechnung angestellt. Der Nikolaisaal in Potsdam hat über 600 Plätze. Und die Eintrittskarten kosteten 30 Euro. Das ergibt nach Adam Riese: Hannes Wader nimmt an einem Abend von 2 Stunden 18.000 Euro ein. Das ist schon ein ganz schönes Sümmchen für einen Volkssänger mit einer Gitarre unter dem Arm. Hannes Wader dürfte inzwischen eigentlich durch seine Tonträger und Auftritte Multimillionär geworden sein. Trotzdem würde ich ihn noch als Genossen bezeichnen, zumindest als Genosse Millionär.
Deutschland hat in den letzten 50 Jahren einige talentierte Barden gesehen wie Reinhard Mey, Konstantin Wecker oder Ingo Insterburg. Aber am höchsten schätze ich doch Hannes Wader wegen seiner politischen Stellungnahme, wegen seines Naturtalents und wegen seines Fleißes, denn er hat alle Arbeiterlieder gesungen und auf Platte aufgenommen. Er ist für mich der ultimative Folksinger in jeder Hinsicht.
Nachdem ich den Auftritt in Potsdam vermurkst hatte, hatte ich mir rechtzeitig eine Karte für seinen Auftritt in Rostock im Oktober 2015 besorgt. Da ich schon früh von Berlin mit dem Bus losgefahren war, konnte ich mir auch die schöne Hansestadt Rostock etwas ansehen. Denn ich war vorher noch nie in Rostock.
Der Veranstaltungsort in Rostock-Marienehe, die Moya Kulturbühne, war ein ziemlich hässlicher Bau in einer Art Gewerbegebiet. Aber innen war die Einrichtung schon besser und es gab im Konzertsaal eine Bar. Die Fans von Hannes Wader waren raumfüllend erschienen und überwiegend ältere Semester so um die 60. Ich habe in der ersten Reihe einen Platz erwischt.
Hannes Wader begann gleich mit seiner Erkennungsmelodie, seinem bekanntesten Lied »Heute hier, morgen dort«, von dem ich hier ein paar Zeilen zitieren möchte:

"Heute hier, morgen dort,
bin kaum da, muss ich fort,
hab mich niemals deswegen beklagt.
Hab es selbst so gewählt,
nie die Jahre gezählt,
nie nach gestern und morgen gefragt.

Manchmal träume ich schwer
Und dann denk ich, es wär
Zeit zu bleiben und nun
was ganz andres zu tun.

So vergeht Jahr um Jahr
Und es ist mir längst klar,
dass nichts bleibt, dass nichts bleibt,
wie es war."

Er hat schön von seiner Solidarität mit der Arbeiterklasse gesungen, aus der er selbst kommt. Er hat sogar auf Französisch, Englisch und Griechisch gesungen, wobei mich seine Aussprache nicht so ganz überzeugt hat. Von seinem großen Vorbild, dem Chansonnier und Anarchisten Georges Brassens (1921-1981), hat er »Les copains d’abord« (1965) gesungen.
Seine Stimme war noch immer unverwechselbar und stark. Er pickte auch noch ganz munter auf seinen Gitarren herum, die er nach jedem Lied auswechselte. Er hat das Lied vom Deserteur gesungen und ein Lied über Lampedusa. Es hat mich gefreut, dass Hannes Wader immer noch ein politischer Mensch ist. Und Carl Michael Bellman (1740-1795), den alten Schweden, berühmt für seine Sauf- und Liebeslieder, hat er auch gesungen. Auch das Volkslied »Die Gedanken sind frei« hat er angestimmt. Er hat jahrzehntelang Verschiedenes gesungen und er hat wirklich ein riesiges Repertoire.
Hannes Wader ist ein alter 68er und davon hat er auch gesungen, wie ihm vor dem Springer-Hochhaus in West-Berlin damals die Zähne von der Polizei ausgeschlagen wurden. Dann hat er noch verraten, dass er kurz vor seinem Tod in die NPD eintreten wird, damit ein Nazi stirbt, und nicht ein aufrechter Demokrat. Das war wieder typisch Wader. Zum Schluss hat er noch 3 Zugaben gegeben und zum Mitsingen »Sag mir wo die Blumen sind« angestimmt. Die Gäste meinten: "Es war ein schöner Abend".
Als Chansonnier oder Singer-Songwriter wird man natürlich mit solchen internationalen Größen wie Bob Dylan, Leonard Cohen, Pete Seeger oder Charles Aznavour verglichen. Ich finde, Hannes Wader brauchte sich da nicht zu verstecken. Er hat ein beeindruckendes Lebenswerk geschaffen. Am ehesten erinnert er mich wahrscheinlich an Joan Baez, die bis vor kurzem auch noch munter auf Tour um die Welt reiste.
Damals im Oktober 2015 kamen gerade die vielen syrischen Flüchtlinge am Rostocker Hauptbahnhof an. Rostock war für die Flüchtenden nur ein Zwischenstopp, sie wollten weiter mit der Fähre über die Ostsee nach Schweden. Ich habe dort die jungen deutschen Menschen gesehen, die als Freiwillige die Flüchtlinge mit Kleiderspenden, Schuhen und warmem Tee begrüßt haben, die ganze Nacht durch. Die Parole war: "Refugees Welcome".

Es gibt ein Buch von Hannes Wader, in dem er auch seine Lebensstationen beschreibt:
Hannes Wader Liederbuch, Herausgegeben von Beate Dapper, kunterbundedition, Mainz 2007 (4. Auflage).
Einige Platten, die ihn berühmt machten, waren:
1974 Plattdeutsche Lieder
1975 Volkssänger
1977 Hannes Wader singt Arbeiterlieder.

In den letzten 2 Jahren ist er nicht mehr auf Tour gegangen, sondern hat seine Autobiographie geschrieben, die jetzt veröffentlicht wurde:
Hannes Wader: Trotz alledem. Mein Leben, München 2019, 592 Seiten.

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2020/02/02

Das Zentrum für Politische Schönheit will die Asche von in Auschwitz ermordeten Juden vor dem Reichstagsgebäude in Berlin ausgestellt haben, an der Stelle, an der die bürgerlichen Parteien 1933 für das Ermächtigungsgesetz der Nazis gestimmt haben


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Aktion "Sucht nach uns!"
"Teurer Finder, suche überall, auf jedem Zollbreit Erde. Suchet in der Asche. Die haben wir verstreut, damit die Welt sachliche Beweisstücke von Millionen von Menschen finden kann."
So wird der in Auschwitz ermordete Salmen Gradowski zitiert.

Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, 4. Dezember 2019.

Das Zentrum für Politische Schönheit wurde 2008 gegründet. Künstlerischer Leiter ist der Berliner Aktionskünstler Philipp Ruch.
Frühere Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit waren unter anderen:
Im Jahr 2012 die Aktion "Sarkophag Oberndorf": Ein Sarkophag aus Beton sollte nach dem Vorbild des Atomkraftwerks Tschernobyl über der "Todeszone" des Rüstungsunternehmens Heckler & Koch mit Sitz in Oberndorf am Neckar errichtet werden.
2016 die Aktion "Flüchtlinge fressen - Not und Spiele": Die geplante Verspeisung von Flüchtlingen durch Tiger in einem Käfig vor dem Maxim-Gorki-Theater in Berlin als Protest gegen das Sterben der Flüchtlinge im Mittelmeer.
Im Jahr 2017 folgte der Nachbau des Berliner Holocaust-Mahnmals vor dem Haus des thüringischen AFD-Chefs Björn Höcke in Bornhagen. Höcke hatte das Holocaust-Mahnmal als "Denkmal der Schande" bezeichnet und "eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gefordert.

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2020/01/31

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2020/01/28

Friedrich Pollock

von Dr. Jörg Später, Freiburg


Um 1930 herum traten sie, so erinnerte sich der junge Theodor Wiesengrund Adorno, als das verschworene "Freundespaar Lenin und Trotzkij" auf, Max Horkheimer und Friedrich Pollock, beides Unternehmersöhne um die 35 Jahre alt, die gegen das System rebellierten, das ihre Familien wohlhabend gemacht und ihnen, als deutsche Juden, den sozialen Aufstieg ermöglicht hatte. Pollock stammte aus Freiburg, wo sein Großvater Salomon das "Damenkonfektionsgeschäft S. Pollock" in der Eisenstraße 6 eröffnet hatte. Nach dessen Tod 1899 übernahm Friedrichs Vater Julius den Laden. Als die Familie 1914 nach Stuttgart übersiedelte, verkaufte er das Geschäft an seine Angestellte Adele Rüdenberg, die 1935 von den Nazis zum Verkauf gezwungen wurde und sich 1939 das Leben nahm.
Pollock und Horkheimer lebten seit Beginn der 1920er Jahre zusammen in Kronberg im Taunus in einer Wohngemeinschaft, waren Teilnehmer an der legendären "Ersten Marxistischen Arbeitswoche" am Pfingstwochenende 1923 in Jena mit Karl Korsch und Georg Lukács, zudem an der Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung beteiligt. Während die Weimarer Republik nun ihre Dämmerung erlebte, wurde Horkheimer Direktor des ersten marxistischen Forschungsinstituts in Deutschland, und zwar als Nachfolger des schwer erkrankten Carl Grünberg, den sein Assistent Pollock zuvor interimsmäßig vertreten hatte.

Nach der Flucht vor den Nazis wurde Pollock neben Horkheimer geschäftsführender Direktor des zuvor evakuierten Instituts und versuchte, "das Goldschiff behutsam an allen bedrohlichen Klippen" vorbei zu lotsen, wie der argwöhnische Siegfried Kracauer kommentierte. Was nicht immer gelang, denn Pollock verspekulierte in New York einen großen Teil des von Hermanus Weil gestifteten Institutsvermögens. Aber nicht nur viel Geld, sondern auch der kämpferische Marxismus blieb angesichts der Erfahrungen von Flucht, Krieg und nicht zuletzt des Judenmords auf der Stecke. Pollock kehrte mit Horkheimer 1950 nach Frankfurt zurück, wo sie das Institut in der Senckenberganlage wiedereröffneten, und zog sich ein knappes Jahrzehnt später mit dem Freund ins Tessin zurück, wo er 1970 starb. Immer stand Pollock im Schatten Horkheimers, der ihm zusammen mit Adorno die »Dialektik der Aufklärung« gewidmet hatte - beteiligt war Pollock an dem Buch eben nicht, außer natürlich als betroffener Zeitzeuge in Sachen beschädigter Lebenserfahrung.
Doch der Ökonom mit politischem Hintergrund war nicht nur Geschäftsführer, sondern selbst Wissenschaftler. 1923 reichte er seine Dissertation zum Marx’schen Geldbegriff an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt am Main ein. Sie stand unter der Prämisse, dass die politische Ökonomie die einzige "universale Grundwissenschaft" sei, weil die "Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens" aller Kultur und allen Denkens vorausgehe. Die Differenz von Wesen und Erscheinung, verdinglicht im Phänomen des Geldes, das die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse verschleiere, war für Pollock der Ausgangspunkt kritischer Wissenschaft, zeitgleich und ähnlich wie bei anderen materialistischen Ideologiekritikern wie Korsch und Lukács. In dieser Zeit bildete sich im deutschen Sprachraum das heraus, was man später den "westlichen Marxismus" (Maurice Merleau-Ponty) nennen sollte.

Jetzt werden Pollocks Schriften geborgen. Philipp Lenhard, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München hat diese Aufgabe in Angriff genommen. Er selbst wird 2019 im Jüdischen Verlag, der zu Suhrkamp gehört, eine Biographie des Schattendenkers der "kritischen Theorie" veröffentlichen. Die Gesammelten Schriften, die im kleinen und linken Freiburger ça-ira-Verlag ohne großes Mäzenatentum erscheinen, sind auf sechs Bände angelegt, von denen der erste nun erschienen ist, nämlich die "Marxistischen Schriften" aus jenen 1920er Jahren, in denen das Freundespaar sogar die Aufmerksamkeit des Frankfurter Polizeipräsidenten auf sich zog, der sie einwandfrei als Kommunisten identifizierte. Zu dem Band gehört neben der erwähnten Dissertation auch eine Streitschrift gegen Werner Sombart, der einem faschistischen Ständestaat das Wort redend nicht nur die Grundlagen des Marxismus attackiert, sondern auch die Juden zu Hauptakteuren des Kapitalismus stilisiert hatte. Lenhard meint, die Sombart-Kritik von 1926 könne man als die erste faschismustheoretische Studie des Instituts lesen.
Die bekannteren Texte Pollocks über die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion, seine Habilitationsschrift von 1929, und seine Analyse des Nationalsozialismus als "Staatskapitalismus" von 1941, die für einen fruchtbaren wie aufschlussreichen Streit vor allem mit Franz L. Neumann sorgte, werden in den Bänden zwei (Planwirtschaft und Krise) und drei (Nationalsozialismus und Antisemitismus) aufgenommen werden. Der vierte Band umfasst die Schriften nach 1945 des Frankfurter Professors für Volkswirtschaftslehre und Soziologie zur Automation, der fünfte Vermischtes und der sechste - für Historiker der sicherlich spannendste - eine ausgewählte Korrespondenz.
Pollock galt vielen als "die graue Eminenz" des Instituts für Sozialforschung. Nun wird ein, wenn auch kleiner, Scheinwerfer auf ihn gerichtet, der ihn als Autor zeigt, was erst verstehen lässt, warum er ein kongenialer Partner Horkheimers werden konnte. Noch gespannter aber darf man auf die Biographie über diesen besonderen Zeitzeugen sein, der Auskunft über die Ursprünge des westlichen Marxismus, die Vertreibung der jüdischen Intelligenz aus Deutschland, ihr Wirken im Exilland Amerika und die Rückkehr ins Haus der Henker geben wird. Dann auch wird vielleicht das Rätsel gelöst werden, wer von den beiden Freunden einst Lenin war und wer Trotzkij.

© Dr. Jörg Später, Januar 2020.

Anmerkung: Die von Philipp Lenhard verfasste Biographie Pollocks ist inzwischen erschienen.

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2020/01/27

Holocaustgedenktag
International Holocaust Remembrance Day

Heute ist der 75. Jahrestag. Der 27. Januar ist der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (des Nazi-Völkermords, im Hebräischen Shoa genannt), Er wurde von den Vereinten Nationen eingeführt, um an den Holocaust und an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 zu erinnern. Bei dem in Polen gelegenen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau handelte es sich um das größte deutsche Vernichtungslager während der Zeit des Nationalfaschismus. Etwa 1,1 Millionen Menschen wurden hier von deutschen Nazis in Gaskammern ermordet. Insgesamt fielen über 5,6 Millionen Menschen, die meisten Juden, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, politisch Andersdenkende und andere Verfolgte der NS-Diktatur, dem Holocaust zum Opfer. Erinnerung an die Gräuel der Nazis und an die aktuellen Gefahren des wieder erstarkenden Faschismus.


Bilder aus dem KZ Ravensbrück

Fotografiert von Manfred Gill

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Fritz Cremer: Müttergruppe im KZ Ravensbrück.
3 Frauen tragen eine zusammengebrochene 4. Frau.
Am Weg vom Bahnhof zum Lager, wo die Angekommenen unter den Augen der Anwohner
durch Fürstenberg/Havel getrieben und gestoßen wurden.

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2020/01/25

"All the world's a stage,
And all the men and women merely players.
They have their exits and their entrances,
And one man in his time plays many parts."

William Shakespeare, As You Like It.


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2020/01/22

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2020/01/19

Häuser, fotografiert von Luke Sonnenglanz


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2020/01/16

Tagebuch 1973, Teil 38: Taxila

Dr. Christian G. Pätzold

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Buddhistische Füße in Taxila. Quelle. Wikimedia Commons.


24. September 1973, Taxila, Montag

Am Morgen sind meine Reisepartnerin, unsere neuen pakistanischen Freunde und ich mit dem Bus nach Taxila gefahren. Das Touristenbüro in Taxila konnte uns mehrere Prospekte geben. Wir haben dann eine Pferdekutsche für 15 Rupees für den ganzen Tag gemietet, der Kutscher wollte uns zu allen interessanten archäologischen Stätten fahren, die über ein größeres Areal verteilt sind. Taxila liegt etwa 30 Kilometer nordwestlich von Rawalpindi entfernt. Taxila war die Hauptstadt des großen Reiches Gandhara im Nordwesten von Pakistan, das von etwa 500 vor unserer Zeitrechnung bis etwa 500 nach unserer Zeitrechnung bestand. Die Stadt war nicht nur ein Handelszentrum, sondern hatte damals auch eine berühmte Universität. Die archäologischen Überreste der Stadt wurden im 20. Jahrhundert teilweise ausgegraben.
Alexander der Große nahm die Stadt im Jahr 326 v.u.Z. kampflos ein, aber die Herrschaft der Griechen endete schon 317 v.u.Z. Die Beziehungen zu Griechenland dauerten aber länger an. Zahlreiche Kulturen, die griechische, die buddhistische, die zarathustranische sind sich hier begegnet. Taxila war der historische Hotspot, an dem die antike europäische Kultur, die chinesische Kultur und die indische Kultur vor 2.000 Jahren aufeinander trafen. Die Ruinen liegen in einer pastoralen Landschaft, Trockengras mit mittelhohen, Schatten spendenden Bäumen.
Wir sind zuerst zu den Resten von zwei buddhistischen Klöstern mit Stupas gefahren. Stupas sind kegelförmige Grabstätten, relativ hohe Bauwerke, die zur Aufnahme von Reliquien Buddhas oder von Buddhas Asche dienten oder die einfach nur ein kultisches Denkmal darstellten. In Burma heißen die Stupas Pagoden. Die Form der Stupas hat sich aus der von Grabhügeln entwickelt. Die Stupas von Taxila gehören zu den ältesten, sie stammen aus der Zeit Ashokas aus dem dritten Jahrhundert v.u.Z. Der indische König Ashoka (304-232 v.u.Z.) bekannte sich nach großen Eroberungszügen zum Buddhismus und förderte dessen Ausbreitung durch das Entsenden von Missionaren.

Mr. Muhammad R. und sein Freund, die uns auf diesem Ausflug nach Taxila begleiteten, haben dann Essen besorgt und wir haben ein Picknick in der wunderschönen Landschaft veranstaltet. Der Wächter an der Stupa bei Mohra Muradu hat uns Wasser gegeben und den Brunnen gezeigt. Dann haben wir noch einen zoroastrischen Tempel gesehen, der griechische ionische Säulen hatte. Auch die Buddhafiguren, die in großer Anzahl gefunden wurden, sind durch die griechische antike Kunst beeinflusst. Von Taxila gelangte die Idee der griechisch beeinflussten Buddhafigur bis nach China und Japan. Es waren auch Hakenkreuzsymbole, Swastikas auf Schmuck, Fußbodenfliesen, Siegelringen und Münzen zu sehen.

Wir sind mit dem Zug nach Rawalpindi zurückgefahren. Im Punjab wird Punjabi und Urdu gesprochen, mit vielen englischen Wörtern dazwischen, was einigen Leuten nicht passt, denn sie wenden sich gegen allen englischen Einfluss und wollen stattdessen zum reinen Islam zurückkehren. Wir waren im Bazar, in dem wir im Teeladen noch Medizin gegen Mückenstiche gekauft haben. Außerdem haben wir Süßigkeiten gekostet. Wir haben auch die Spezialität Betel (Pan) gekostet, ein Blatt mit Kräutern, Samen, Ketchup oder so ähnlich zum Kauen und Ausspucken, was hier und in Indien sehr beliebt ist, weswegen überall rote Flecken auf dem Fußboden zu sehen sind. Die Leute im Bazar haben uns wieder als Attraktion umringt und waren sehr kontaktfreudig. Es war ein guter Tag.

Postskriptum Januar 2020:
Die archäologischen Stätten von Taxila sind seit 1980 Weltkulturerbe der UNESCO. Taxila lag geografisch günstig an der historischen Fernhandelsstraße Grand Trunk Road nach Indien und an der Seidenstraße nach China. Die Stadt Taxila wurde bereits in den indischen Epen Ramayana und Mahabharata erwähnt. Die gegenseitige gedankliche Bereicherung der Menschen lebte weiter in den Jahrhunderten, auch wenn die Stadt, in der das alles passiert war, längst nur noch aus ruinösen Steinen bestand.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2020.

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2020/01/12

Tagebuch 1973, Teil 37: Von Peshawar nach Rawalpindi

Dr. Christian G. Pätzold


22. September 1973, Peshawar - Rawalpindi, Sonnabend

Wir sind zur Bank marschiert und haben 30,- DM 1:4 gewechselt und haben die soldatenbewachte Bank wieder verlassen. Angesichts der Armut werden Banken hier anscheinend oft überfallen. Auch bei der Bank sind die jungen Männer wieder nahezu ausgeflippt angesichts meiner Reisepartnerin, da sie unverschleierte Frauen nicht gewöhnt sind. Nach erbittertem Handeln hat uns eine Pferdekutsche für 2 Rupees zum Bahnhof befördert, wo wir nach Ausfüllen etlicher Formulare zwei Studententickets 1. Klasse für 24 Rupees nach Rawalpindi bekommen haben.
Im Zug gab es vier Klassen sowie abgetrennte Frauenabteile. In der 1. Klasse gab es keine Glasfenster, nur Holzbretter zum Hochschieben, dafür aber zwei Ventilatoren und es war leer. Der Zug war ein Bummelzug und brauchte für die 160 Meilen von Peshawar nach Rawalpindi über 6 Stunden. Wenn er schneller gefahren wäre, wäre er wahrscheinlich bei diesem Schienennetz entgleist. An den Bahnhöfen unterwegs wurde unser Fenster von dichten Männertrauben umringt, die gafften. Hier bekam man den pakistanischen Islam ganz schön zu spüren. Die jungen Männer litten wahrscheinlich sehr unter dem Kontaktverbot mit Frauen. Außerdem waren viele von ihnen arbeitslos und hatten den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als auf der Straße nach etwas Interessantem Ausschau zu halten. Und ausländische Touristen waren etwas Besonderes für sie.
Ein pakistanischer Student, der im Zug arbeitete, hat uns zu sich in Rawalpindi eingeladen. Nach einigem Suchen haben wir in Rawalpindi ein gutes Zimmer für 27 Rupees pro Tag gefunden.

23. September 1973, Rawalpindi, Sonntag

Am Vormittag haben wir uns im Khamran-Hotel etwas erholt. Nachmittags sind wir mit einem klapprigen Bus für 50 Paisas zur Satellite Town, einem neuen Wohnbezirk mit Privathäusern, gefahren, um unseren neuen Freund Mr. Muhammad R. zu besuchen, den wir gestern im Zug kennen gelernt hatten. Sein Vater arbeitete als Bahnbeamter bei den Pakistan Western Railways. Die Familie schien relativ wohlhabend zu sein, besaß westliche Plüschmöbel und hatte ein Bild von Mr. Muhammad Ali Jinnah (1876-1948), dem Gründer von Pakistan, an der Wand des Wohnzimmers hängen. M. A. Jinnah, dessen Mausoleum sich in Karachi befindet, wurde auch als Größter Führer (Quaid-e Azam) und Vater der Nation (Baba-e Qaum) bezeichnet. Pakistan war vor der Unabhängigkeit im Jahr 1947 wie ganz Indien eine englische Kolonie.
Bei unserem Gespräch waren keine Frauen anwesend außer meiner Reisepartnerin, aber Männer kamen öfters herein, unter anderem Mr. Riaz A., der ein Degree in Politik und Ökonomie hatte, aber seit zwei Jahren keine Arbeit fand, wie viele Leute hier, oder Mr. Kazim N., Handelsreporter bei der Daily New Times, der gleich wissen wollte, ob wir Touristen sind. Die Alternative wären unsere Freunde, die Blumenkinder, gewesen. Er war beruhigt, dass wir Touristen waren. Denn die Hippies interessierten sich ja nicht für das islamische Pakistan, sondern wollten nur schnell durchreisen ins hinduistische Indien. Er wollte auch wissen, in welchem Hotel wir wohnten.
Unser neuer Freund Mr. Muhammad R. war recht schick mit einem Playboytouch. Er hatte das Government Intermediate College besucht, war Captain vom Hockeyteam und bester Sprecher in Englisch und Urdu etc. Er hatte schon gehört, dass in Europa mehr "sex-freedom and coeducation" existieren, und wir haben ihm auch gesagt, dass uns die Situation der Frauen hier im Islam ziemlich stört. Dann haben wir noch versucht, dem Ökonomen zu erklären, dass die Volkswirtschaft ohne Frauen nicht stark zu machen sei. China baute eine Textilfabrik bei Taxila, Deutschland einen Wasserdamm, aber er wusste nichts über die Bedingungen.
Dann kamen wir auf die Situation zwischen West-Pakistan und Ost-Pakistan zu sprechen. Nach der Unabhängigkeit 1947 bestand Pakistan aus 2 Teilen: West-Pakistan im Westen von Indien gelegen und Ost-Pakistan im Osten von Indien. Ost-Pakistan erreichte 1971 mit dem Namen Bangladesch seine Unabhängigkeit. Die Forderungen von Mr. Mujibur Rahman, dem Führer in Ost-Pakistan (Bangladesch), nach zwei Währungen, getrenntem Handel und zwei Armeen wurden dadurch unterstützt, dass zirka 25 Familien das ganze Land ausgeplündert und ihr Geld ins Ausland geschafft hatten. Mr. Zulfikar Ali Bhutto, der Führer in West-Pakistan, schob jetzt die ganze ökonomische Misere auf sie und hatte ihnen ein Ultimatum gestellt, ihr Geld wieder aus Europa und Amerika abzuziehen und nach Pakistan zu bringen. Das haben sie natürlich nicht getan, sondern lebten weiter in Pakistan und scheffelten Geld, weil Herr Bhutto nichts gegen sie unternahm, wie der Ökonom feststellte.
Mr. Muhammad R. begründete die Zusammensetzung der ehemaligen pakistanischen Armee fast ausschließlich mit Westpakistanis mit dem Größenunterschied zwischen Punjabis und Bengalis von angeblich 8 Inches (das wären 20 Zentimeter), was wohl nicht stimmt, und der größeren Tapferkeit der Punjabis. "Die Punjabis sind so tapfer, dass sie die ganze Welt besiegen können." Ich hatte den Eindruck, dass die Punjabis ein recht starkes Selbstwertgefühl hatten.
Mr. Mujibur Rahman hatte auch gefordert, dass Bengali Nationalsprache in Pakistan wird, was vor 1971 nicht der Fall war, obwohl die Bengalis in der Mehrheit waren. Alles deutete auf eine Unterdrückung von Ost-Pakistan durch westpakistanische Kapitalisten und Militärs hin. Die Unabhängigkeit von Bangladesch wurde von Mr. Muhammad R. als indisch-sowjetisch-amerikanisches Komplott zur Umzingelung Chinas hingestellt. Begründung von Mr. Muhammad R. für die Teilung des indischen Subkontinents 1947: "Für die Inder sind die Kühe Götter und wir essen sie."
West-Pakistan hatte vier Provinzen: 1 Punjab, Hauptstadt Lahore. 2 Sind, Hauptstadt Karachi. 3 N.W.F.P. (North Western Frontier Province), Hauptstadt Peshawar. 4 Baluchistan, Hauptstadt Quetta.
Wir bekamen noch einen kurzen Überblick über die politische Geschichte Pakistans seit der Unabhängigkeit 1947. Bis 1973 hatte Pakistan zahlreiche Premierminister, deren häufiger Wechsel ein Indiz für die insgesamt recht instabile Situation des Landes war.

Hier folgt ein Postskriptum, das ich Ende 1988 geschrieben habe:
Der damalige (September 1973) Premierminister Zulfikar Ali Bhutto wurde von seinem Nachfolger General Mohammed Zia-ul-Haq 1979 gehängt. General Zia-ul-Haq seinerseits, der wieder stark den Islam gefördert und die Sharia eingeführt hatte, ist im August 1988 bei einem Bombenanschlag mit seinem Flugzeug abgestürzt und umgekommen. Im Moment (Oktober 1988) sind die Verhältnisse in Pakistan verworren. Gerade bringen sich in Karachi die Sindis und die Moslems aus Indien gegenseitig um. Im Nachhinein erscheint mir Pakistan als ein Land, dessen Menschen besonders nervös und frustriert waren.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2020.

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2020/01/09

Zum 70. Geburtstag von Rio Reiser
West-Berlin 9.1.1950 - Fresenhagen/Nordfriesland 20.8.1996

rio

Ende der 1960er Jahre war ich der Ansicht, dass moderne Musik und deutsche Texte unmöglich zusammen passen. Es war die Zeit der Beatles und der Rolling Stones und zahlreicher weiterer englischer Musikgruppen, die die englische Sprache so wunderbar in Musik umsetzten. Im westberliner Radio spielte man bald nur noch englische Songs. Deutsche Schlager hörte ich kaum noch, die waren nur etwas für Hinterwäldler, Unterbelichtete und ewig Gestrige. Doch dann geschah 1970 ein kleines Wunder. Die Band »Ton Steine Scherben« wurde in West-Berlin gegründet und ihr Texter und Sänger Rio Reiser schaffte es, die deutsche Sprache und die moderne Rock-Musik zusammenzubringen. Kaum jemand sonst hat das damals geschafft, vielleicht noch in Ansätzen etwas später Udo Lindenberg, aber der bewegte sich in einer etwas anderen politischen Welt. Noch später in den 80er Jahren kamen dann die Neue Deutsche Welle und noch einige andere talentierte deutschsprachige SängerInnen.
Man sagt, es gibt Sängerinnen und Sänger, die das Telefonbuch vorsingen können, und sie klingen trotzdem fantastisch. Rio Reiser hatte so eine Telefonbuchstimme, eine existentialistische Stimme.
Bei den zahlreichen anarchoiden Demos der 1970er und 1980er Jahre in West-Berlin waren die Songs von »Ton Steine Scherben« der konstante Soundtrack, der über Lautsprecher gesendet zur aufgeheizten Stimmung der Hausbesetzerkämpfe passte. Hier sind die Titel einiger sehr berühmter Songs, die sich auf ihren ersten beiden Langspielplatten finden:

Macht kaputt was euch kaputt macht!
Die letzte Schlacht gewinnen wir!
Keine Macht für Niemand!
Rauch-Haus-Song (Hausbesetzer-Hymne)
Ich will nicht werden was mein Alter ist!
Der Kampf geht weiter!
Allein machen sie dich ein!
Schritt für Schritt ins Paradies.

Diese programmatischen Songs von Rio Reiser vom Anfang der 1970er Jahre haben einen doch psychisch etwas aufgerichtet. Sie können noch heute bei YouTube im Internet angehört werden. Der Bandname »Ton Steine Scherben« soll von Heinrich Schliemann stammen. Schliemann soll, als er Troja entdeckt hatte, gesagt haben: "Alles was ich fand waren Ton, Steine, Scherben." Später fand Schliemann allerdings noch den sogenannten Goldschatz des Priamos in Troja, der sich heute im Puschkin-Museum in Moskau befindet.
Rio Reiser wurde am 9. Januar 1950 in West-Berlin geboren. Sein richtiger Name war Ralph Christian Möbius. Den Künstlernamen Reiser hat er dem Roman »Anton Reiser« (1785) von Karl Philipp Moritz entlehnt.
Die Zeit der Band »Ton Steine Scherben« reichte von 1970 bis 1985. Danach machte Rio Reiser solo Musik und träumte davon, König von Deutschland zu werden. Er starb am 20. August 1996 auf seinem Bauernhof in Fresenhagen in Nordfriesland. Das sollte man anmerken, dass er schon 1975 von Westberlin aufs Land geflüchtet war. Damals begann die Ökobewegung und viele haben sich überlegt, aufs Land umzuziehen, um der Natur näher zu kommen. Auch er ist nicht in die DDR umgezogen, sondern nach Nordfriesland. Und seine Hausbesetzerzeit reichte nur von 70 bis 75.
Die Erinnerung an Westberlin und Kreuzberg in den 1970er Jahren kommt mit der Musik zurück. Ja Ja Ja, War gar nicht schlecht. Na ja, 68 war toller. Vergessene verrückte vergraute Mauerstadt der 70er. Die Reichen hatten schon ihr ganzes Geld nach Westdeutschland transferiert aus Angst vor den Kommunisten. Oder waren wenn möglich selbst nach Westdeutschland geflüchtet. Die ArbeiterInnen in Westberlin bekamen eine Zitterprämie. Viele Mietshäuser aus der Kaiserzeit standen leer und verfielen und wurden von Alternativen besetzt. In Ostberlin auf der anderen Seite der Mauer existierte der ebenfalls recht graue real existierende Sozialismus, ein anderer Kosmos, der schon bröckelte, als man Wolf Biermann hinauswarf.
Rio Reiser ist mit seiner Homosexualität immer offen umgegangen, auch das war ein Fortschritt der 70er Jahre. Dazu kann ich aber nichts sagen, weil ich nicht in der westberliner Schwulenszene unterwegs war.
Kurz vor dem Ende der DDR hat er es dann doch noch nach Ost-Berlin (Hauptstadt der DDR) geschafft. Anfang Oktober 1988 durfte Rio Reiser in der Werner-Seelenbinder-Halle 2 Konzerte singen, das war schon erstaunlich. An 2 Abenden kamen insgesamt 12.000 Besucher, Rio Reiser bekam 20.000 Westmark für die Auftritte. Die FDJ-Leitung wollte die ostberliner Jugendlichen durch Westbands bei Laune halten. Er sang auch das Lied "Der Traum ist aus", in dem es um ein Land geht, wie er es sich erträumt:

"Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist?
Ich weiß es wirklich nicht.
Ich weiß nur eins, da bin ich sicher.
Dieses Land ist es nicht! Dieses Land ist es nicht!."

Das Publikum jubelte, aber das DDR-Jugendradio DT 64 hat das Lied aus der Übertragung herausgeschnitten. Den Song "Keine Macht für Niemand" durfte er von vorneherein nicht in Ost-Berlin singen, das war vereinbart.
Obwohl er der DDR 1988 mächtig einen vor den Bug geschossen hatte, ist Rio Reiser 1990 in die PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) eingetreten, die Nachfolgepartei der SED. Auch das war erstaunlich für einen Anarchisten. Das Ergebnis war, dass er daraufhin vom vereintdeutschen Radio boykottiert wurde.
Der Heinrichplatz an der Oranienstraße in Berlin Kreuzberg soll demnächst in Rio-Reiser-Platz umbenannt werden. Eigentlich ist es etwas schade, dass der historische Heinrichplatz verschwindet, wo dort so viel passiert ist. Aber ich finde Rio-Reiser-Platz auch nicht schlecht, zumal dort seine Songs so oft gespielt wurden. Es gibt noch viele Leute, die sich an die Musik von Rio Reiser erinnern.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2020/01/07

Stillleben mit Kaffeekochern

stillleben
Der Kaffee kommt auch nicht von hier.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.

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2020/01/04

Rudolph Bauer
Peace for Future: Klotzen statt Kleckern

Zum Großteil verantwortlich für Umweltverbrechen und Klimaschäden sind das Militär, die Armeen weltweit, Militärtransporte und Manöver, Rüstungswahnsinn und Waffenproduktion, die Kriege, die sog. Terrorbekämpfung und der Export von militärischen Mordgeräten. Ganz zu schweigen vom drohenden Einsatz der Atomwaffen - auch in Deutschland (20 Atombomben lagern in Büchel) und ausgehend von Deutschland!

Das Militär der USA ist beim Erdölverbrauch weltweiter Spitzenreiter. Es verbraucht pro Tag 48 Millionen Liter Öl. (Süddeutsche Zeitung vom 22. August 2019) Laut der amerikanischen Umweltjournalistin Johanna Peace ist die US-Armee für 80 Prozent beim amerikanischen Energieverbrauch verantwortlich. Dem CIA-Factbook zufolge verbrauchen nur 35 von 210 Ländern der Welt täglich mehr Öl als der Umweltvergifter Pentagon.
Allein in der Bundesrepublik sind 35.000 US-Soldaten in Kasernen stationiert. Für sie hat die deutsche Bundesregierung in den vergangenen sieben Jahren 243 Millionen Euro Steuergelder ausgegeben. Weitere 480 Millionen Euro wurden 2012 bis 2019 für militärische Baumaßnahmen der Nato, fast ausschließlich für die USA, verplant.
Mit ihrem Kriegsgerät und Manövern tragen die hier stationierten US-Militärs bei zur Landschaftszerstörung und Bodenvergiftung der Truppenübungsplätze. Die Air Base Ramstein bei Kaiserlautern ist die Flugleitzentrale für völkerrechtswidrige Drohneneinsätze. Sie ist europäische Drehscheibe für Fracht- und Truppentransporte der USA.
Wissenschaftler machen das US-Militär für den Klimawandel mitverantwortlich. Steve Kretzmann, Direktor der Organisation "Oil Change International", hat errechnet, dass amerikanische Streitkräfte während des Irakkrieges allein im Zeitraum 2003 bis 2007 an die 141 Millionen metrischer Tonnen an CO2 freigesetzt haben.
Die Stahlproduktion und die Herstellung von Beton bzw. Zement bedingen hohe CO2-Emissionen. Veit Noll berichtet in der Zeitschrift »Ossietzky« am 24. August 2019: "Für Krieg und Militär benötigt man 'besten' Stahl auch für Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Über- und Unterwasserschiffe. Für Start- und Landebahnen benötigt man Beton. Auch militärische Deckungen werden als Betonbunker gefertigt." In den Ausbau betonierter Verkehrswege nach Osteuropa werde neuerdings massiv investiert. "Der Transport des Militärs und dessen Ausrüstung in die Welt ist nicht CO2-neutral."
Für Greta Thunberg sind Kriege diejenigen Aktionen, welche die Umwelt am meisten zerstören. Sie vergiften die Luft, die Gewässer und den Boden, erst recht, wenn abgereichertes Uran eingesetzt wird. Kriege zerstören die Ressourcen und fügen den Menschen selbst unvorstellbares Leid zu. Das ist nicht erst in 30 oder 50 Jahren der Fall, sondern schon jetzt, aktuell. Die Armeen der USA und der NATO - die Bundeswehr einbezogen - sind die größten CO2-Erzeuger der Welt.
Jonathan Schell sowie die Herausgeber Paul J. Crutzen und Jürgen Hahn warnen seit den 1980er Jahren vor den Auswirkungen eines Atomkrieges auf Klima und globale Umwelt ("Schwarzer Himmel"), wobei Milliarden Menschen ums Leben kommen und viele Pflanzen- und Tierarten aussterben werden.
Der Arzt Dr. Lars Pohlmeier, Vorstandsmitglied der deutschen IPPNW, warnt eindrücklich vor der nuklearen Eskalation: Nach Erkenntnissen von Klimatologen hätte auch ein 'begrenzter' Atomkrieg - etwa zwischen Indien und Pakistan, oder seitens der israelischen Armee gegen den Iran - verheerende globale Folgen. Aufgrund der klimatischen Veränderung käme es zu ausbleibenden Ernten, und bis zu 2 Milliarden Menschen wären vom Hunger bedroht.

Was dagegen hilft, ist nicht Kleckern, sondern Klotzen.

Für Frieden, Abrüstung, Umweltschutz und Klimarettung - aber sofort! Es ist sonst zu spät.

Dieser Text erschien ursprünglich als Flugblatt des Bremer Friedensforums.

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2020/01/01

Willkommen in den ereignisreichen 20er Jahren !

Dr. Christian G. Pätzold

Vielleicht werden sich die Leute ja wieder so gedankenlos amüsieren wie damals in den Roaring Twenties vor 100 Jahren. Und dann kam der 2. Weltkrieg. Diesmal kommt der Klimakollaps. Es ist doch ganz egal, ob Deutschland irgendwelche Klimaziele einhält oder nicht. China, die USA, Russland, Indien, Indonesien, Brasilien, Australien etc. werden in den 20er Jahren so viele Abgase in die Atmosphäre pusten, dass es für den Zusammenbruch vieler Ökosysteme ausreicht. Das kleine Deutschland mit 1 % der Weltbevölkerung ist da ziemlich irrelevant. Aber trotzdem sollte man nicht aufgeben. Man kann zumindest ein gutes Beispiel abgeben und alles tun, was man kann. Auch wenn die Erfolgsaussichten minimal sind. Außerdem ist Europa als ganzes beim Treibhauseffekt durchaus von Gewicht. Man sollte auch mit dem Kulturbloggen weitermachen, denn etwas Freude braucht man ja auch noch.
kuhlewampe.net hat sich in den vergangenen 5 Jahren gut entwickelt und immer neue BesucherInnen verzeichnet und neue AutorInnen gewonnen, die mit facettenreichen Texten und Fotos weitere Kunstaspekte geöffnet haben. Im Jahr 2019 stand das 100. Jubiläum des Bauhaus, und damit Design und Architektur, sehr im Vordergrund. In diesem Jahr ist schon der 200. Geburtstag von Friedrich Engels im November als Highlight absehbar. Das wird ein politischer und ideengeschichtlicher Schwerpunkt. Wir sollten den immer größer werdenden Cyberspace nicht den Geschäftemachern und den Kriminellen überlassen, die unsere Daten stehlen und uns mit Fake-News überschwemmen wollen. Vielmehr sollten wir den Cyberspace mit Kultur, Kunst, Wissen und Bildung füllen, indem wir Texte, Bilder, Töne und Filme ins Netz stellen. Der Cyberspace ist eine komplett neue Welt, die im Entstehen ist, zusätzlich zur realen Welt.
Die Optik von kuhlewampe.net hat sich wieder etwas verändert. An der Stelle der Azaleenblüten vom letzten Jahr finden sich in diesem Jahr weiße Wildrosen im Mai als Hintergrundbild.
Ich möchte allen Kreativen danken, die kuhlewampe.net in 2019 so einzigartig gemacht haben: Jenny Schon, Art Kicksuch, Dr. Karin Krautschick, Markus Richard Seifert, Dr. Hans-Albert Wulf, Ella Gondek, Ingo Cesaro, Prof. Dr. Rudolph Bauer, Dr. Rudolf Stumberger, Peter Hahn & Jürgen Stich, Wolfgang Weber, Anna Gerstlacher, Sabine Rahe, Luke Sonnenglanz und Achim Mogge. Ich wünsche Allen erfolgreiche 20er Jahre! Bleibt wach und kritisch.

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