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Archiv 2021

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Themen des Jahres 2021


Was 2021 zu kurz kamDr. Pätzold2021/12/25
Marx und Engels Denkmäler in Deutschland2021/12/22
Greta Thunberg Zitat2021/12/19
Die Entwicklung der MikroprozessorenDr. Pätzold2021/12/16
Domenico Losurdo - Theoretiker des MarxismusAndreas Wehr2021/12/12
NANTE RAP im WeddingWolfgang Weber2021/12/08
Anne Frank2021/12/05
Das Holocaust Namenmonument in AmsterdamDr. Pätzold2021/12/02
Das ist unser HausDr. Pätzold2021/11/28
Kanonenberge, TeufelsseeReinhild Paarmann2021/11/25
Neue Ausstellung im Bröhan-Museum Berlin2021/11/22
Märkischer Waldsee mit zwei BirkenWalter Leistikow2021/11/19
Der Lumpensammler Père Jean-BaptisteFranz Skarbina2021/11/16
Impression aus Stexwig an der SchleiAnonyma2021/11/13
Man kann die Menschen zur Vernunft bringen...Voltaire2021/11/10
Gründung der A-I-Z vor 100 JahrenDr. Pätzold2021/11/07
Haikus schwimmen auf Wasser im TurmDr. Pätzold2021/11/04
Hommage à PicassoJuan Gris2021/10/27
Ein Glück, dass kein AstronautReinhild Paarmann2021/10/24
"Wohlstand für Alle"2021/10/21
Prothese Antithese - AphorismenDr. Endler2021/10/18
Man sollte nie so viel zu tun haben...Georg Christoph Lichtenberg2021/10/15
Mikis Theodorakis gestorbenDr. Pätzold2021/10/12
100 Jahre PEN-ClubDr. Pätzold2021/10/09
Tagebuch Teil 53: BombayDr. Pätzold2021/10/05
Tagebuch Teil 52: Von Kalkutta nach BombayDr. Pätzold2021/10/02
21.6.1933 Köpenicker BlutwocheReinhild Paarmann2021/09/27
Summa in da cityWolfgang Weber2021/09/24
Besuch im Kunstarchiv BeeskowDr. Pätzold2021/09/20
Japanische GlanzmispelElla Gondek2021/09/17
Wenn ich nicht tanzen kann...Emma Goldman2021/09/14
Bilder vom Christopher Street Day 2021Dr. Pätzold2021/09/11
Bert Brecht2021/09/08
Die Kreuzberger SpatzenSabine Rahe2021/09/05
Wer ist der Nischel ?Dr. Pätzold2021/09/02
Die KornerntePieter Bruegel d.Ä.2021/08/29
EichhörnchenElla Gondek2021/08/26
Gründung der Fuggerei vor 500 JahrenDr. Pätzold2021/08/23
Zu Besuch beim PriesterDr. Wulf2021/08/20
Freie Ufer für Alle !Dr. Pätzold2021/08/17
150. Geburtstag von Karl LiebknechtDr. Pätzold2021/08/13
Digital Op ArtArt Kicksuch2021/08/11
Reicher Mann und armer MannBertolt Brecht2021/08/08
Domenico Losurdo: »Der westliche Marxismus«Andreas Wehr2021/08/05
Job Garantie statt Langzeitarbeitslosigkeit2021/08/02
Obdachlose in Berlin SteglitzDr. Pätzold2021/07/26
Gründung der KP Chinas vor 100 JahrenDr. Pätzold2021/07/23
Sind Menschen wirklich so ?Markus Richard Seifert2021/07/21
Wenn ich das Wort Moor höreIngo Cesaro2021/07/18
Geraubte Benin-Bronzen in Berlin2021/07/15
The Alhambra by MoonlightWashington Irving2021/07/12
Zeitgeist und GefühlDr. Stumberger2021/07/09
Tagebuch Teil 51: Calcutta IIDr. Pätzold2021/07/05
Tagebuch Teil 50: Calcutta IDr. Pätzold2021/07/02
im namen des volkesDr. Pätzold2021/06/28
Game ChangerBanksy2021/06/26
VerfallsdatumIngo Cesaro2021/06/23
Sonnige Grüße zum MittsommerDr. Pätzold2021/06/20
Wem genug zu wenig ist...Epikur2021/06/18
Berliner Mietendeckel2021/06/15
Eine neue Greta Thunberg StatuteChristine Charlesworth2021/06/12
Washington Irving: »Erzählungen von der Alhambra«Dr. Pätzold2021/06/08
Rudolf Stumberger: »Wir Nicht-Erben«Dr. Pätzold2021/06/05
Victor Klemperer: »Licht und Schatten«Dr. Pätzold2021/06/02
ZikadeQi Baishi2021/05/28
Überall SteineIngo Cesaro2021/05/24
Künstler Notgeld zum ARTerhaltIngo Cesaro2021/05/21
Einbetonierte Cadillacs von Wolf VostellDr. Pätzold2021/05/18
250. Geburtstag von Robert OwenDr. Pätzold2021/05/14
100. Geburtstag von Joseph Beuys2021/05/12
Die Kruppschen TeufelHeinrich Kley2021/05/10
Mein Urgroßvater Friedrich NawrockiMarkus Richard Seifert2021/05/07
Stürz den BecherWolfgang Weber2021/05/04
Grüße zum 1. Mai !2021/05/01
AphorismusDr. Endler2021/04/29
500. Todestag von Fernão de MagalhãesDr. Pätzold2021/04/27
IbizaProf. Dr. Bauer2021/04/24
Der Teufel auf der CouchDr. Wulf2021/04/21
Auf den Spuren der SteineWolfgang Weber2021/04/18
Früchte der LampionblumeElla Gondek2021/04/15
Ein Blasenstein schreibt GeschichteMarkus Richard Seifert2021/04/12
Zum indischen KastensystemDr. Pätzold2021/04/09
Tagebuch Teil 49: Sewapuri/GajepurDr. Pätzold2021/04/05
Tagebuch Teil 48: Sewapuri/GhosilaDr. Pätzold2021/04/02
WeberliedHeinrich Heine2021/03/29
In die Speichen greifenIngo Cesaro2021/03/26
20 Jahre WikipediaDr. Pätzold2021/03/23
FrühlingsanfangSandro Botticelli2021/03/20
Ausrufung der Pariser Commune vor 150 JahrenDr. Pätzold2021/03/18
ForsythienfrühlingDr. Pätzold2021/03/14
10 Jahre Fukushima2021/03/11
Gogogoch2021/03/08
Zum 150. Geburtstag von Rosa LuxemburgDr. Wulf2021/03/05
Arbeiten im Home OfficeMarkus Richard Seifert2021/03/02
Glauben und Wissen...Arthur Schopenhauer2021/02/26
FriedensbereitschaftIngo Cesaro2021/02/23
Schimpf und SchandeProf. Dr. Bauer2021/02/20
Baum des Jahres 2021: IlexDr. Pätzold2021/02/17
Cembalo Sonata K 119Domenico Scarlatti2021/02/14
Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE)2021/02/11
Erlebnis einer LesungMarkus Richard Seifert2021/02/08
blaues brauenart kicksuch2021/02/05
Lesung im SupermarktWolfgang Weber2021/02/02
TriosonataArcangelo Corelli2021/01/27
Die Jäger im SchneePieter Bruegel d.Ä.2021/01/24
Beginn der modernen Ökologie-Bewegung
vor 50 Jahren
Dr. Pätzold2021/01/21
Deutsches NarrativProf. Dr. Bauer2021/01/18
Haiku-Anthologie aus KronachIngo Cesaro2021/01/14
Opa und die TiereWolfgang Weber2021/01/11
Tagebuch Teil 47: Varanasi/SarnathDr. Pätzold2021/01/08
Tagebuch Teil 46: VaranasiDr. Pätzold2021/01/05
Danke dass ihr kuhlewampe.net besucht !Dr. Pätzold2021/01/01

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2021/12/25


Was 2021 zu kurz kam

von Dr. Christian G. Pätzold


Auch in diesem Jahr fielen wieder einige wichtige Ereignisse durch das Raster von kuhlewampe.net, da die Arbeitskapazität nicht ganz gereicht hat. Daher soll hier wenigstens kurz an 3 Menschen erinnert werden, deren Leben durch die deutschen Faschisten schwer beschädigt wurde.

Auf den Mai fiel der 100. Geburtstag des Dichters Erich Fried, denn er wurde am 6. Mai 1921 in Wien geboren. Er stammte aus einer jüdischen Familie und konnte sich 1938 nach London retten, wo er sein ganzes Leben lang wohnte. Sein Vater wurde von den Nazis in Wien ermordet. Erich Fried arbeitete lange Jahre für den deutschen Dienst der BBC, blieb aber trotzdem ein linker Denker. Erich Fried schrieb sehr viele Gedichte, die vor allem im Berliner Klaus Wagenbach Verlag erschienen und ihn in West-Deutschland zum Starpoeten machten. Es hieß, dass Erich Fried jeden Morgen die Zeitung las und danach ein politisches Gedicht schrieb. Jeden Tag ein politisches Gedicht zu schreiben ist eine gute Leistung für einen professionellen Dichter. Außerdem wurde er durch seine Übersetzungen der Theaterstücke von William Shakespeare ins Deutsche bekannt. Insgesamt übersetzte er 27 Stücke von Shakespeare, die sehr gelobt wurden und zu seiner Zeit an deutschen Schauspielbühnen aufgeführt wurden, besonders von dem Regisseur Peter Zadek, der auch im englischen Exil überlebt hatte. Den großen Shakespeare ins Deutsche zu übersetzen, war schon eine sehr mutige Aufgabe. Erich Fried starb am 22. November 1988 in Baden-Baden. Wenn man an Erich Fried denkt, dann muss man auch an seinen Verleger Dr. Klaus Wagenbach denken, der am 17. Dezember 2021 mit 91 Jahren in Berlin gestorben ist.

Ebenfalls im Mai jährte sich der 100. Geburtstag von Sophie Scholl, sie wurde am 9. Mai 1921 in Forchtenberg/Hohenlohe geboren. Seit Mai 1942 studierte sie Biologie und Philosophie an der Universität München. Sie produzierte und verbreitete Flugblätter der studentischen Widerstandsgruppe Weiße Rose, die zum Sturz der Faschisten aufriefen. Im Februar 1943 wurde sie verhaftet und von Roland Freisler vom Volksgerichtshof, der extra aus Berlin nach München angereist war, zum Tod verurteilt. Am 22. Februar 1943 wurde sie im Strafgefängnis München-Stadelheim mit der Guillotine enthauptet.

Im Juni folgte dann der 50. Todestag von Georg Lukács, er starb am 4. Juni 1971 in Budapest/Ungarn mit 86 Jahren. Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Budapest, die ursprünglich Löwinger hieß. Sein Vater war Bankdirektor in Budapest. 1918 trat Lukács in die KP Ungarns ein. Von 1928 bis 1945 lebte und arbeitete er im Exil in Moskau in der Sowjetunion, wo er mit marxistischer Philosophie und Literaturkritik beschäftigt war. Nach dem 2. Weltkrieg kehrte er nach Budapest zurück und wurde Professor für Ästhetik und Kulturphilosophie. Georg Lukács war ein wichtiger Theoretiker des westlichen Marxismus in den 1920er Jahren (zusammen mit Ernst Bloch, Antonio Gramsci und Karl Korsch), dessen Werke auch noch in der Studentenrevolte von 1968 gelesen und diskutiert wurden. Sein bekanntestes Werk ist »Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik« von 1923. Heute ist Georg Lukács allerdings nur noch bei wenigen marxistischen Philosophen eine bekannte Größe.

In diesem Jahr kam wahrscheinlich auch die Corona-Virus-Pandemie als Thema etwas zu kurz auf kuhlewampe.net. Der Kulturbereich hat unter den Schließungen von Theatern, Museen und Clubs sehr gelitten. Viele Veranstaltungen, Vorträge und Shows fielen aus, so dass die Künstler:innen nicht auftreten konnten und kuhlewampe.net nicht darüber berichten konnte.


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2021/12/22


Buchtipp:
Marx und Engels Denkmäler in Deutschland


marxengels


Michael Driever: Karl Marx, Friedrich Engels - Denkmäler in Deutschland. Monuments in Germany.
Berlin 2021. Verlag 8. Mai. 184 Seiten. 22,90 Euro.
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Rolf Hecker.
Das Buch kann bestellt werden bei: ni@jungewelt.de.

In dem Buch werden 82 Kunstwerke mit großen Farb-Fotos sowie mit deutschen und englischen Texten vorgestellt.

Seht bitte auch die Artikel:
"Zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels" vom 2020/11/28 und
"Wer ist der Nischel?" vom 2021/09/02 auf kuhlewampe.net.


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2021/12/19


"'Build Back Better' bla bla bla, 'Green Economy' bla bla bla,
'Net Zero by 2050' bla bla bla, 'Climate Neutral' bla bla bla."

Greta Thunberg, 1. November 2021 in Glasgow.


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2021/12/16


Vor 50 Jahren: Die Entwicklung der Mikroprozessoren


cpu
Central Processing Unit (CPU) von Intel, 2010.
Quelle: Wikimedia Commons.


1971 wurden die ersten Mikroprozessoren oder Mikrochips in den USA auf den Markt gebracht, von den Firmen Texas Instruments und Intel. Mikroprozessoren sind die zentralen Rechenelemente (englisch Central Processing Unit, CPU) eines Computers oder Rechners. Da die Digitalisierung des Lebens immer weiter voran schreitet, werden Mikroprozessoren immer wichtiger. Viele Menschen tragen heute schon mit dem Handy ständig einen kompletten Computer mit sich herum. So entsteht eine Symbiose zwischen Mensch und Computer, der Computermensch. Dieser Computermensch ist ein um einen Computer erweiterter Mensch, der jederzeit mit Menschen auf der ganzen Welt in Verbindung treten kann und alle Informationen aus dem Internet abrufen kann. Viele Computermenschen schauen ständig auf ihr Handy, um keine Nachricht aus der Cybergalaxie zu verpassen.

Die Mikrochips sind dünne Plättchen, die aus dem chemischen Element Silicium bestehen. Daher stammt auch der Name des kalifornischen Silicon Valley: Silizium-Tal. Auf den Plättchen befinden sich Transistoren, die elektrische Ströme steuern. Inzwischen ist die Technik so weit entwickelt, dass sich Milliarden Transistoren auf einem kleinen Chip befinden. Schon 1965 hatte Gordon Moore das berühmte Mooresche Gesetz aufgestellt, nach dem sich jedes Jahr die Zahl der Transistoren auf einem Chip und damit die CPU-Leistung verdoppeln würden. Das kann man sich als Laie kaum vorstellen, jedenfalls befindet man sich im sehr kleinen Nanometer-Bereich. Für die Herstellung der Mikrochips gibt es spezielle Halbleiter-Fabriken mit staubfreien Reinräumen.

Es ist ein interessanter Fakt, dass der erste funktionsfähige Digitalrechner der Welt, der ZUSE Z3, 1941 in Berlin Kreuzberg von Konrad Zuse (1910-1995) und seinen Mitarbeitern gebaut wurde. Das war allerdings noch ein Computer mit ziemlich großen Relais in einer großen Schrankwand. Die damaligen Machthaber hielten Konrad Zuse für so wichtig, dass er nicht in den Krieg ziehen musste. Sein Computer wurde allerdings 1944 bei einem Bomberangriff zerstört. Konrad Zuse wollte mit seinem Computer Berechnungen für die Konstruktion von Kampfflugzeugen durchführen. Das zeigt, dass Computer nicht nur für den Fortschritt der Menschheit benutzt werden, sondern leider auch für Kriege eingesetzt werden können.

Im Moment besteht eine Knappheit an Mikrochips auf dem Weltmarkt, denn ihre Produktion ist aufwändig und wird nur von wenigen Unternehmen beherrscht. Viele wollen Computerspiele spielen oder Kryptowährungen schürfen und da sind die Mikrochips schnell ausverkauft. Auch die Automobilindustrie und das Internet of Things brauchen riesige Mengen Mikrochips. Dadurch wird unter anderem die europäische Industrie ausgebremst, denn ihr fehlen Mikrochips, ohne die viele Maschinen nicht mehr funktionieren. Das Problem wird auch dadurch verursacht, dass kaum Mikrochips in Europa produziert werden. Man könnte sagen, dass die europäische Industrie und Politik in den letzten 50 Jahren die Digitalisierung größtenteils verschlafen haben, denn ohne eine eigene Produktion von Mikrochips wird die Zukunft für die europäische Industrie düster aussehen. Die großen Computerunternehmen sind fast ausschließlich in den USA und in China entstanden. Die Mikroelektronik als entscheidende Schlüsseltechnik wurde wohl in Europa nicht erkannt. Aber wie sollen wir in der Zukunft überleben, wenn wir keine Künstliche Intelligenz (KI) haben ?

Dr. Christian G. Pätzold.


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2021/12/12


Domenico Losurdo - Theoretiker des Marxismus
von Andreas Wehr


domenicolosurdo
Domenico Losurdo


Am 14. November 1941 wurde Domenico Losurdo in San Nicandro Garganico, einer kleinen Stadt in der italienischen Provinz Foggia, Region Apulien, geboren. Aufgewachsen ist er zusammen mit sechs Geschwistern, von denen später drei Lehrerinnen und drei Bankangestellte wurden. Domenicos Vater Giovanni war Steuerbeamter und aus dem ersten Weltkrieg als Kriegsinvalide zurückgekehrt. Politisch blieb er Zeit seines Lebens Monarchist. Neben dem Gehalt des Vaters verfügte die Familie über Einkünfte aus verpachtetem Kleingrundbesitz.

Es war vor allem seine Mutter Laura, die Wert auf die Bildung ihrer sieben Kinder legte, die deshalb bereits früh zu Hause unterrichtet wurden. Domenico Losurdo sprach stets mit großer Hochachtung von seiner Mutter. Sie war eine tolerante und weltoffene Frau. Ihr sozial- und bildungspolitisches Engagement entsprang dem aufgeklärten Glauben einer Katholikin, der vor allem auf die Erziehung zu selbständigem Denken ausgerichtet war. Ihrer deutschen Schwiegertochter Erdmute Brielmayer, die Frau Domenico Losurdos, begegnete sie von Beginn an mit großer Sympathie.

Domenico und seine Geschwister wurden so von ihrer Mutter früh mit Büchern vertraut gemacht. Dies sollte sein Leben prägen. Er wurde ein großer Sammler von Büchern in den verschiedensten Sprachen. So wuchs seine Bibliothek zeitlebens. Am Ende waren es wohl mehr als zehntausend Bände, die das Haus der Losurdos füllten.

Das Gymnasium besuchte Domenico in Bari, der Hauptstadt der Region Apulien, etwa 135 Kilometer von der Stadt seiner Kindheit entfernt. Auch Luciano Canfora, der bekannte Historiker und Marxist, mit dem er später immer wieder zusammenarbeitete, besuchte zu jener Zeit diese Schule - eine Klassenstufe über ihm. Dort erlernte Domenico sein exzellentes Französisch - damals war in den italienischen Schulen noch Französisch erste Fremdsprache, erst in den achtziger Jahren trat Englisch an dessen Stelle. Später kam auch Deutsch hinzu, das er während seines Studiums in Tübingen erlernte und dann perfekt sprach. Englisch kam im Selbststudium hinzu, so dass er seine Vorträge schließlich mühelos in vier Sprachen halten konnte. Wegen seiner außergewöhnlich schnellen Auffassungsgabe - er galt in der Schule als Wunderkind - übersprang er eine Klasse. Das Abitur legte er bereits mit 18 Jahren ab.

Zum Studium der Philosophie und Geschichte ging Domenico Losurdo an die Universität Urbino in der italienischen Region Marken. Bereits 1963, im Alter von 22 Jahren, beendete er es erfolgreich. Seine Dissertation schrieb er über den Hegel-Schüler Karl Rosenkranz. Diese ging später in das Buch »Hegel und das deutsche Erbe« ein, das 1989 als eines seiner ersten auf Deutsch veröffentlichten Bücher erschien. Bis heute ist es ein Standardwerk über den deutschen Vormärz, jene Epoche, die der Revolution von 1848 vorausging. Die Dissertation weckte sein Interesse an Hegel selbst. Nach seinen Worten wollte er nicht einsehen, weshalb er sich nur mit einem Schüler Hegels und nicht mit diesem selbst beschäftigen sollte. So wurde er zum Hegel-Forscher und zu einem der weltweit bekanntesten Hegelianer.

Nach Abschluss seiner Doktorarbeit unterrichtete Domenico Losurdo von 1966 bis 1967 als Studienrat am Gymnasium in Urbino. 1967 ging er zum weiteren Studium und zum Erlernen der deutschen Sprache nach Tübingen. Der Deutsche Akademische Austauschdienst hatte ihm diesen Aufenthalt mit einem Stipendium ermöglicht. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland wurde er 1969 Assistent im Fach Philosophie an der Universität Urbino. 1985 wurde er dort Ordinarius und blieb es bis zu seiner Emeritierung 2013. Eine Zeit lang war er Dekan der Universität.

In Tübingen lernte er Erdmute Brielmayer kennen, die dort Psychologie studierte und 1967 in diesem Fach diplomiert wurde. Geboren 1943 stammt sie aus Tegernsee in Bayern. Ihre Schwester Christa Harrer gehörte als Mitglied der SPD zwanzig Jahre dem Bayerischen Landtag an. Nach Abschluss ihres Studiums arbeitete Erdmute an einem Institut für Markt- und Meinungsforschung in Frankfurt am Main. Nach ihrer Heirat mit Domenico und ihrem gemeinsamen Umzug nach Italien im Jahr 1969 wurde sie Dotoressa (Doktorin) der Pädagogik. Über mehrere Jahre erteilte sie in ihrer neuen Heimat Deutschunterricht. Sie selbst hatte Italienisch in nur einem Jahr erlernt. Erdmute Brielmayer übersetzte in den folgenden Jahrzehnten fast alle der zahlreichen Bücher Domenicos ins Deutsche. Als seine Mitarbeiterin las sie seine Texte Korrektur, kümmerte sich um Zitate und besorgte notwendige Literatur. Durch diese Arbeit wurde sie selbst in vielen philosophischen und politischen Fragen zur Expertin - etwa während der fast zweijährigen Übersetzung des Doppelbandes »Nietzsche - der aristokratische Rebell«. Am Ende kannte sie - so ihre Worte - "den ganzen Nietzsche in- und auswendig".

Gemeinsam war das Paar auch politisch aktiv. Sie war dabei seine wichtigste Beraterin und erledigte zugleich die zu Hause anfallenden täglichen Dinge, wodurch sie ihm den Rücken freihielt. Nur deshalb war es Domenico möglich, wissenschaftlich und publizistisch so produktiv sein.

1978 wurde ihr Sohn Federico geboren. Wie sein Vater studierte er an der Universität Urbino, allerdings nicht wie Domenico Geschichte und Philosophie, sondern Rechtswissenschaft. In Urbino erhielt er in diesem Fach eine Professur.

Von 1972 bis 1987 lebte die Familie in Pesaro, einer Hafenstadt an der Adria, zwischen Rimini und Ancona gelegen. Doch die Wohnung wurde allmählich zu klein für die Familie, vor allem aber für die vielen Bücher. 1987 zogen die Losurdos deshalb in ein geräumiges Haus in Colbordolo, ein kleiner Ort auf einem Hügel gelegen, von dem man einen weiten Blick bis zu den Höhen des Apennin hat. Von hier aus war auch der Weg zur Universität von Urbino kürzer. Vor allem aber bot das neue Haus endlich genügend Platz für die stetig wachsende Bibliothek.

Domenico Losurdo interessierte sich bereits sehr früh für Politik. Als Gymnasiast konnte er auf einer Veranstaltung der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) deren legendären Parteiführer Palmiro Togliatti erleben, von dessen Art zu sprechen - jedes einzelne Wort genau überlegt und mit leiser Stimme vorgetragen - er sofort fasziniert war. 1960, mit neunzehn Jahren, wurde er Mitglied der KPI.

In der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre durchlief er wie viele andere linke Intellektuelle eine Phase der Radikalisierung. Der KPI warf er nun vor, sich der neuen, revolutionären Unruhe nicht öffnen zu wollen. 1969, nach seiner Rückkehr aus Deutschland, verließ er deshalb die Partei. Er schloss sich einer Organisation an, die den traditionellen Namen der italienischen Sektion der III. kommunistischen Internationale von 1919 - der Partito Comunista d'Italia (PCd'I) - führte. Für deren Zeitung Novo Unita schrieb er fortan wöchentlich Kommentare, Analysen und Berichte. Bald kamen Artikel in der seit 1971 erscheinenden Tageszeitung Il Manifesto hinzu. Die PCd'I verfolgte einen an China orientierten Kurs. Auch Erdmute Brielmayer war in dieser Partei aktiv. In einer Delegation von Frauen der PCd'I bereiste sie auf Einladung der KP Chinas die Volksrepublik.

Wie in Deutschland, so verschwanden Ende der siebziger Jahre auch in Italien diese neuen Parteien wieder schnell. Zwar konnten dort - anders als etwa in Deutschland - diese Gruppierungen anfangs eine gewisse Anhängerschaft auch unter Lohnabhängigen gewinnen, doch wurden sie auch hier bald wieder schwächer und waren aufgrund ihrer Erfolglosigkeit Zerrüttung und Spaltungen ausgesetzt. Aufgrund der Enttäuschung über die ihnen nicht folgen wollenden Arbeiter entdeckten in der Bundesrepublik Deutschland ehemalige Maoisten die "neuen sozialen Bewegungen", und hier vor allem die Antiatomkraftbewegung für sich. 1980 waren sie maßgeblich an der Gründung der Partei Die Grünen beteiligt. In Frankreich wandelten sich maoistische Wortführer zu "neuen Philosophen", die sich in ihrem Antikommunismus bald von Niemandem übertreffen ließen.

Einen ganz anderen Weg schlug Domenico Losurdo ein. Er hielt an der kommunistischen Orientierung fest, auch wenn er sich nicht wieder der KPI anschloss, da er deren Eurokommunismus sowie ihr Werben gegenüber den Christdemokraten um einen "historischen Kompromiss" ablehnte. Die Entwicklung der Volksrepublik China verfolgte er auch nach der Propagierung einer sozialistischen Marktwirtschaft unter Deng Xiao Ping 1978 mit großer Sympathie. In zahlreichen Artikeln, Broschüren und Büchern sollte er auch in Zukunft stets den Weg des Landes verteidigen. Später bedauerte er, dass er zum besseren Verständnis des Landes nicht Chinesisch gelernt hatte.

Ab Anfang der achtziger Jahre widmete er sich wieder verstärkt seiner wissenschaftlichen Arbeit und nun auch dem Publizieren. 1983, mit 42 Jahren und damit für einen Wissenschaftler sehr spät, veröffentlichte er sein erstes Buch. Das Werk mit dem Titel Hegel, questione nazionale, Restaurazione. Presupposti e sviluppi di una battaglia politica erschien nur auf Italienisch. Aber bereits sein zweites Buch Tra Hegel e Bismarck. La rivoluzione del 1848 e la crisi della cultura tedesca wurde ins Deutsche übersetzt, wenn auch mit einer Verzögerung von zehn Jahren. Es erschien 1993 unter dem Titel Zwischen Hegel und Bismarck - die achtundvierziger Revolution und die Krise der deutschen Kultur im Berliner Akademie-Verlag. Weitere Bücher über den großen deutschen Philosophen sollten folgen. Losurdo befasste sich aber auch mit Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Martin Heidegger, vor allem aber mit Friedrich Nietzsche. Der Doppelband »Nietzsche - der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz« begründete seinen Ruf als weltweit führender Nietzsche-Forscher.

In Italien wurde er schnell zu einem der wichtigsten Intellektuellen des Landes. Seine Bücher veröffentlichte der landesweit bedeutende Verlag Editori Laterza & Figli, dort wo schon die Werke von Benedetto Croce erschienen waren. Lediglich das Buch Stalin - Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende lehnte Laterza 2008 ab. Es erschien deshalb im kleinen linken Verlag Carocci. Mit bisher fünf Auflagen wurde es aber dennoch das erfolgreichste Buch Losurdos in seinem Land, was zeigt, dass es großes Interesse an einer objektiven Darstellung Stalins in der Geschichte gibt, an einer Bewertung, die sowohl dessen Leistungen wie auch seine Verbrechen nicht verschweigt.

Nach dem Ende des europäischen Sozialismus 1989/91 konzentrierte sich Domenico Losurdo in seinen Büchern und Artikeln auf die Analyse der Niederlage sowie auf die Frage, welche Schlussfolgerungen eine sich erneuernde Linke aus ihr zu ziehen hat. Es ging ihm vor allem darum, sich und zugleich den vielen enttäuschten bzw. zweifelnden Linken Klarheit über den Gang der Geschichte und über die weitere Perspektive des Sozialismus zu verschaffen.

Dazu veröffentlichte er, neben dem Werk über Stalin, in schneller Folge eine Reihe weiterer Bücher. Hier die Titel der deutschen Ausgaben mit ihren Erscheinungsjahren: Der Marxismus des Antonio Gramsci (2000), Kampf um die Geschichte - Der historische Revisionismus und seine Mythen (2007), Demokratie oder Bonapartismus - Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts (2008), Flucht aus der Geschichte? Die russische Revolution und die chinesische Revolution heute (2009), Die Sprache des Imperiums - Ein historisch-philosophischer Leitfaden (2011), Das 20. Jahrhundert begreifen (2013), Gewaltlosigkeit - eine Gegengeschichte (2015), Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten? (2016) und Wenn die Linke fehlt - Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg (2017). Posthum erschien 2021 das Buch Der westliche Marxismus - Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte. Den Schlusspunkt setzte das Buch Was bleibt vom Kommunismus?, das im September 2021 in Italien erschien.

Als sein wichtigstes politisches Buch bezeichnete Losurdo stets das 2005 auf Italienisch und 2010 auf Deutsch erschienene Werk Freiheit als Privileg - Eine Gegengeschichte des Liberalismus. Darin widerlegt er all jene Mythen, mit denen sich der Liberalismus von Beginn an umgibt, und die bis heute seinen hegemonialen Einfluss begründen. Da sich nach der Niederlage von 1989/91 unzählige frühere Linke zu Liberalen wandelten, lieferte Losurdo hier quasi das Gegengift gegen diese sich rasant ausbreitende Weltanschauung und gegen eine Anpassung an die alte und neue Ideologie des Bürgertums. Das Buch wurde in zwölf Sprachen übersetzt: Arabisch, Chinesisch, Deutsch, Englisch, Finnisch, Französisch, Niederländisch, Portugiesisch, Rumänisch, Spanisch, Schwedisch und Türkisch. Es wurde sein international erfolgreichstes Buch.

In den Jahren seines publizistischen Wirkens von 1983 bis 2021erschienen von ihm nicht weniger als 32 Bücher, seine Bibliografie weist zudem für diese Zeit 200 Essays und Artikel auf. Darüber hinaus hat er Beiträge für 31 Bücher anderer Autoren verfasst.

In Deutschland publizierte er in verschiedenen Verlagen. Anfang der neunziger Jahre waren es der Berliner Akademie-Verlag und Pahl-Rugenstein, später dann vor allem der Kölner Verlag PapyRossa, der bis heute die meisten seiner Werke in der Bundesrepublik Deutschland herausbrachte. Losurdo veröffentlichte aber auch im VSA-Verlag (Der Marxismus des Antonio Gramsci) und im Argument-Verlag, in dem 2009 mit den beiden Bänden Nietzsche der aristokratische Rebell - Intellektuelle Biografie und kritische Bilanz eines seiner philosophischen Hauptwerke erschien. Später folgte in diesem Verlag das Buch Gewaltlosigkeit - eine Gegengeschichte.

Er schrieb Artikel für die Marxistischen Blätter und für die Zeitschrift marxistische Erneuerung - Z. und veröffentlichte in der Tageszeitung Junge Welt sowie in der Wochenzeitung Unsere Zeit. Von 1993 bis 2011 gab er zusammen mit dem Philosophen Hans Heinz Holz die Zeitschrift Topos - Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie heraus, von der 36 Ausgaben erschienen. Insbesondere die englischen Ausgaben sind von großer Bedeutung, fungiert doch Englisch als Relaissprache, d.h. aus ihr wird in andere Sprachen übersetzt. Direkte Übertragungen aus dem Italienischen sind hingegen für viele Verlage nur schwer zu realisieren. Mit dem Buch Die Deutschen - Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? von 2010 gibt es aber auch ein Buch, das nur auf Deutsch erschien.

Für die große, weltweite Verbreitung seiner Bücher lassen sich vor allem zwei Gründe nennen: Zum einen gibt es in vielen Ländern weiterhin ein großes Interesse an deutscher Philosophie, an Hegel, Kant, Fichte, Nietzsche und Heidegger. Losurdo hat vor allem mit seinen Arbeiten über Hegel und Nietzsche viel zu deren Verständnis beigetragen. Zum anderen entsprach er mit seinen Büchern über Geschichte und Perspektive des Sozialismus dem weltweit großen Bedürfnis, nach dem Fall der Berliner Mauer Klarheit darüber zu erhalten, wie diese Niederlage möglich war, und welche Perspektive die am Sozialismus festhaltenden Länder haben. Losurdo beschränkte sich dabei nicht auf die Darstellung der Entwicklung in seinem Land Italien. Er hatte die ganze Welt im Blick.

Es gelang ihm so, den traditionell engen eurozentristischen Horizont europäischer Marxisten zu überwinden. Geschichte und Gegenwart des globalen Südens waren in seinem Denken und in seinen Arbeiten stets präsent. Und so kann es nicht verwundern, dass er in einem der Länder des Südens, in Brasilien, besonders intensiv studiert wird. Nirgendwo sonst werden so viele Bücher von ihm verkauft. Regelmäßig konkurrieren hier gleich mehrere Verlage darum, seine Werke zu verlegen. Selbst die umfangreiche Nietzsche-Biografie wurde in Brasilien veröffentlicht. Immer wieder wurde er auch dorthin eingeladen, zu seinen Vorträgen kamen dann auch schon mal Tausende. Sein außerordentlicher Erfolg in Brasilien basiert auf einer dort starken gewerkschaftlichen und politischen Linken, nicht zuletzt auf der großen Bedeutung der brasilianischen kommunistischen Partei, die nicht weniger als 420.000 Mitglieder zählt.

Domenico Losurdo verstand sich Zeit seines Lebens als Kommunist, wobei der italienische Kommunismus - anders als in der Bundesrepublik Deutschland - über Jahrzehnte eine Massenbewegung war. Es bekannten sich Millionen zur KPI, die Partei regierte in zahlreichen Städten und Regionen, man sprach vom "kommunistischen Volk".

Er hat mehrfach die Partei gewechselt, zunächst war er Mitglied der KPI, dann der PCd’I. 1991 schloss er sich der aus dem Zerfallsprozess der KPI hervorgegangenen Partito della Rifondazione Comunista (PRC), der Partei der Kommunistischen Wiedergründung, an. Er erhoffte sich von dieser eine Renaissance des italienischen Kommunismus. Die Partei bot ihm sogar einen sicheren Platz auf ihrer Liste zu den Wahlen zur Abgeordnetenkammer, dem italienischen Parlament, an. Nach einigem Zögern lehnte er jedoch ab, er blieb lieber Wissenschaftler und Publizist, eine Entscheidung, die er nicht bereuen sollte. Mit der Wende der PRC hin zu einer "Bewegung der Bewegungen" unter ihrem Vorsitzenden Fausto Bertinotti, nach der sich kommunistische Parteien nur noch als Organisator von Bewegungen verstehen sollen und daher ihren eigenständigen Charakter als Partei aufzugeben haben, war Losurdo ganz und gar nicht einverstanden. Zusammen mit einer starken innerparteilichen Opposition gegen diesen Kurs, die sich später als Partito dei Comunisti Italiani, PdCI, Partei der Italienischen Kommunisten, außerhalb der PRC konstituierte, verließ er die Partei.

Als die PdCI 2016 den traditionellen Namen der untergegangenen Kommunistischen Partei Italiens und deren Symbolik übernahm sowie sich zu deren historischen Parteiführern Antonio Gramsci, Palmiro Togliatti und Enrico Berlinguer bekannte, trat er dieser Partei bei. Doch weder die wiedergegründete PCI, noch die weiter existierende PRC waren bei Wahlen erfolgreich. Im März 2018 verfehlte das Bündnis beider Parteien den Einzug in die Abgeordnetenkammer und im Juni 2019 in das Europäische Parlament. Auch auf kommunaler Ebene sind die beiden kommunistischen Parteien heute nur noch schwach vertreten.

Losurdo hatte in seinen letzten Lebensjahren keine Illusionen mehr über die Möglichkeit eines raschen Wiederaufstiegs der sozialistischen Bewegung - weder in Italien noch im übrigen Westeuropa. Er richtete seinen Blick vielmehr auf hoffnungsvolle Entwicklungen in Südamerika und vor allem in China. Von den von dort ausgehenden Impulsen erwartete er eine weltweite Wiederbelebung sozialistischer Ideen.

Seit 1988 war Domenico Losurdo Präsident der "Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken" und Mitglied des Wissenschaftlichen Ausschusses des italienischen Instituts für Philosophische Studien. Und er war Präsident der "Marx-Vereinigung des 21.Jahrhunderts" in Italien.

Am 28. Juni 2018 starb der weltweit bedeutende marxistische Historiker und Philosoph.

© Andreas Wehr, Dezember 2021.
www.andreas-wehr.eu.

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2021/12/08


Wolfgang Weber
NANTE RAP im Wedding


ja da steh ick nu / Soldiner Ecke Kolonie / warte auf den Bus / Frust kommt auf / der Bus kommt nicht [Peter Fox, Schwarz zu blau]

da steht er nu / Kolonie Ecke Soldiner / der König der Prinzenallee / redet sich fast um den Verstand / eine große Klappe hat er / quatscht bis die Sonne untergeht & dann noch mal von vorne / schreit ganz laut / damit ihn jeder hört / er hat die beste Musik / das größte Publikum / die besten rhymes weit & breit / die phattesten vibes / die schärfsten beats
drrr drrr drrr drrrt / ssst ssst ssst sssst / drrr drrr drrr drrrt / ssst ssst ssst sssst
er redet solange / bis er selbst nicht mehr weiß / was er sagt / wie er heißt / wo er ist / he didn't know what time it was / er redet immer weiter / so lange so schnell so scharfzüngig / bis seine Zunge zu einem Knoten wird / einem Windsor Knoten genauer gesagt

alle ja alle / kommen vorbei & hören ihm zu / das müssen sie auch / denn der Bus kommt nicht / einfach nicht / was keiner weiß / nur er / der Prinz der Königsallee / Unsinn / der König der Prinzenallee / er hat ganz heimlich die Buslinie umleiten lassen / damit er noch mehr Publikum hat / eitel ist er also auch & das nicht zu knapp

wie einer ruft / quatsch nicht so kariert / doch dieser Block ist liniert / der König der Prinzenallee braucht sowieso kein Blatt Papier / er redet wie ein Buch / ohne Punkt & Komma / wie ihm der Schnabel gewachsen ist & der ist riesengroß

bin der allergrößte Redner weit & breit / das Magazin CICERO druckt meine Texte / demnächst / vielleicht / merhaba / çok güzel / SCHNITT / da kippt mir doch glatt das Obst um / alles nass / man sollte beim Schreiben besser nicht nebenbei essen & trinken / SCHNITT / & wenn sie's doch nicht drucken / na das Blatt geht sowieso bald ein / es ist wie mit Fuchs & Trauben / er erreicht sie nicht / sie sind sauer & er auch

merhaba / hey mate / club mate [æ] / club mate [a] / çok güzel / mir hören alle zu / müssen sie auch / denn der Bus kommt nicht / zu Fuß läuft keiner hier / wenn dann ungern / hab die schwersten Goldketten / die strahlendsten Goldzähne / die am tiefsten sitzenden Cargo Hosen / ohne Gürtel / die tollsten Sneakers ohne Schnürsenkel XTRA large / & eine stylische Sonnenbrille / RAY BAN ist mein Name / auf meinem basecap steht: great big gosh almighty / riesengroße Klappe wie einst Little Richard

he is the prince alley cat / egotrippin' / talkin' loud & sayin' nothin' / his ghetto blaster is blastin' the ghetto kiez away / twice as loud as everybody else / rappin' till the break of dawn & then some more

der Meister der Prinzenallee auf Egotrip / spricht viel & nichts von Bedeutung / schleppt einen Ghetto Blaster herum / doppelt so laut & schnell wie alle anderen / Kiez & Ghetto vibrieren stundenlang / er rappt bis zum Morgengrauen & noch viel länger

hab die schärfste Mike Tyson Frisur / in der ganzen Stadt / im ganzen Land / werde bestimmt noch Boxer wie Tyson / Stehaufmännchen / come back für's Comeback / der Schnitt / moderner Irokese / fake Irokese / oben Haare / an der Seite nicht / im Internet steht / wenig Haare / mehr Zeit zum Geldverdienen / für Mädchen / umm-mmh umm-mmh

prince alley cat / standing on the corner of Mysliborz & colony street / sharpest sneakers in town / haircut just like Mike Tyson / rappin' till the break of dawn / startin' again in the midnite hour

Meister der Prinzenallee / Ecke Mysliborz Kolonie / hippe Sneakers / Mike Tyson Haarschnitt / rappt bis zum Morgengrauen / beginnt noch mal zur Geisterstunde / gonna put a spell on you / like Screamin' Jay Hawkins / Nina Simone / & Eric Burdon did / Zauber zu früher oder später Stunde / wie man's nimmt

wie passt der Eckensteher NANTE hier her? / ich finde gut / er stand immer an der Ecke Königstraße Neue Friedrichstraße / heute Jägerstraße Ecke Oberwallstraße / ganz anderer Kiez / so what / egal / er wartet heute noch / nichts passiert / wieder nichts / rein gar nichts / nüscht / nitschewo!

NANTE wurde um 1830 nach historischem Vorbild (Ferdinand Strumpf * 1803) von mehreren Dichtern beschrieben / mit Übertreibungen / wie auch heute im HIP HOP & RAP / der prominenteste von ihnen Adolf Glasbrenner / sein Pseudonym Brennglas

NANTE war als Dienstmann / Gepäckträger bei der Polizei registriert / also noch mal / NANTE stand an der Ecke / kommentierte alles wirklich alles / & wenn ich sage alles / meine ich alles & jedes / was sich an der Ecke abspielte / zwischen dem Eckenstehen ging er immer in die nächste Eckkneipe / diese sterben auch in Berlin langsam aber sicher aus

er / NANTE nämlich / etablierte einen ganz neuen Beruf / den Eckensteher als frühen Vorläufer der / HIP HOPPER RAPPER STORYTELLER Schwadroneure Salbader / die immer an irgendeiner Ecke zusammenstehen / abhängen / das Wort kommt wohl von den tiefhängenden tiefsitzenden Hosen / diese jungen Männer führen das große Wort / im Wechsel will jeder den anderen überbieten / die meisten die sich im RAP austoben / sind tatsächlich Männer

SCHNITT / NANTE / EXTRABLATT

NANTE ( & BOLLE) EXTRA ! BLATT !


da steh ick nu' wieder / Kolonie Ecke Soldiner / Königs Ecke Neue Friedrichstraße / der Platz ist leer / der Bus lässt auf sich warten / die Pferdedroschke fährt leer vorbei / am Ende steigen ganze drei Gestalten ein / die Sonne scheint / immerhin
NANTE LEBT !
NANTE kommentierte alles / wirklich alles / was sich an der Ecke ereignete / die Eckensteher von heute haben ein großes Maul wie einst NANTE / Dieser Eckensteher war die lebende Zeitung von 1830 & das Internet zugleich NANTE.BLN / ja es gab damals schon Internet / es war fast genauso schnell wie heute / es hieß aber anders / ROHRPOST nämlich / genauer gesagt träumten Tüftler davon / umgesetzt wurde das ganze 1830

heute noch wird in NANTEs Geist gerappt / was das Zeug hält / ohne jeglichen Respekt vor Obrigkeit & Staat / beim NANTE Test kam heraus / dass ihn heute nicht mehr alle kennen / nicht mal in Berlin / NANTE in Kombination mit Eckensteher / da sah das Bild anders aus / beruhigend

einst wollte BOLLE / laut Internet & auch Rohrpost: Zwiebel / sich köstlich amüsiern / er fuhr mit seinem Jüngsten zu Pfingsten hoch zu Rad & stürzte sich in Pankow im Rathaus Center ins Jewühl / verlor dort seinen Jüngsten & hatte fortan ein janz mieses Jefühl
interaktiver Teil / lasst es uns versuchen / der Refrain geht so:
aber dennoch hat sich Bolle janz köstlich amüsiert

1
BOLLE reiste jüngst zum Jewimmel & Jetümmel im Mauerpark
verlor wieder seinen Jüngsten im Jewühl
hinter der Bühne beim Karaoke
jab's leider keinen Text für Bolle
aber dennoch hat sich BOLLE janz köstlich amüsiert
2
im Mauerpark jab's nichts zu essen
alles leerjefressen von andren Leuten hier
die früha uffjestanden warn
nich' ma' 'ne Butterstulle hatten sie ihm reserviert
aber dennoch hat sich BOLLE janz köstlich amüsiert
3
im Schillerpark da jab's ne Keilerei
aus Jux & Dollerei
BOLLE janz & jarnich' feige
mittenmang dabei
aber dennoch hat sich BOLLE janz köstlich amüsiert
4
zuhaus anjekommen
erjings ihm janz schlecht
seine Olle hat ihn übelst verdrescht
BOLLE hat keene Ahnung nicht warum
aber dennoch hat sich BOLLE janz köstlich amüsiert

ob sich BOLLE & NANTE nu persönlich kannten / ich weiß es nich' / sie sind beide vom gleichen frechen Geist / sie waren die TAZ von damals / RAP hieß seinerzeit Gassenhauer

EXTRA BLATT ENDE ! zurück zum HAUPTTEXT

zurück vom EXTRABLATT


Soldin / habe auf Anhieb den richtigen Band vom großen Lexikon gegriffen / wollte die genaue Schreibweise des polnischen Namens für Soldin MYSLIBORZ nachsehen / steht aber gar nicht drin / im Internet finde ich M / Y / S mit Akzent / L / I / B / O mit Akzent / R / Z / MYSLIBORZ / Aussprache ohne Garantie

hier steh' ick nu' Kolonie Ecke Soldiner / rappe den MYSLIBORZ RAP / bis der Bus kommt / nicht der Arzt / er kommt vorläufig nicht / immer mehr Leute stehen hier & warten / der Bus kommt einfach nicht

auf der andren Seite der Kreuzung / wo mal Schlecker war / kommt doch noch ein Bus / welche Freude / die Hälfte der Leute rennt schnell rüber trotz roter Ampel & steigt ein / hier steh' ick nu' / warte immer noch auf den Bus / hab's verpasst rüber zu gehen

wozu nur wozu / das ganze Blinklicht? / blau gelb blau / ist doch vollkommen irrsinnig / zwei Feuerwehrwagen parken in zweiter Reihe / nichts brennt / nirgends / Gott sei Dank / von einem Einsatz nichts zu sehen / rein gar nichts / der Bus in die Gegenrichtung kommt / wie so oft zuerst / warte weiter auf meinen Bus / die Haltestelle füllt sich / der Bus kann kommen / er fährt irgendwann / bloß nicht nach Fahrplan / endlich kommt der Bus / fährt hau-ruck / es kommt ja alles immer so plötzlich

Sonne scheint / goldener Oktober / nach 'ner Weile geht's zurück / U Bahnhof Osloer Strasse oben / warte auf den Bus / seh' mir Obst & Gemüse & Preisschilder an / bin nicht so überzeugt / der Händler ruft: lecker lecker / Leute schauen / kaufen wenig / Sonne scheint / immer noch goldener Oktober / mehrere Imbisse / wenig Kunden

es wird voller an der Haltestelle / Zeit verstreicht am Ende doch / Straßenbahn hält / fährt weiter / da ein Jugendlicher TYSON / weite Hosen / der Bus kommt sicher bald / unterdessen sind richtig viele Leute an der Haltestelle / da ein Feuerwehrwagen / Blaulicht ausgeschaltet / das kommt gaaanz selten vor

nun ist der Bus zu sehen / gleich ist es soweit / fast alle Sitzplätze im Nu besetzt / vierzehn Minuten Wartezeit? / doch wohl eher zwanzig / zu Fuß wäre ich schon lange da gewesen / jetzt aber habe ich es fast geschafft / Soldiner Ecke Kolonie / viele steigen dort aus / sag' ich mal / na ja so viele waren es dann doch nicht

bleibe nicht an der Ecke Soldiner Kolonie / will nachhaus / aber der Tag ist noch nicht zu Ende / zwei junge Männer / so jung auch nicht mehr / selbst mein Vater schon damals über 80 / wurde als junger Mann angesprochen beim letzten Mal / die beiden fragen also / ob ich Zigaretten verkaufe / als Nichtraucher habe ich keine / Tabak zum Drehen auch nicht

keine hunderte von Widmungen & Danksagungen wie im RAP HIP HOP SOUL & FUNK / ich faß mich kurz / danke an alle!

© Wolfgang Weber, Dezember 2021.


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2021/12/05


Anne Frank
Frankfurt am Main 12. Juni 1929 - ermordet im KZ Bergen-Belsen März 1945


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Quelle: Wikimedia Commons


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2021/12/02


Das neue Holocaust Namenmonument in Amsterdam ist eingeweiht
entworfen von Daniel Libeskind


holocaustamsterdam


In Amsterdam ist das Holocaust Namenmonument nach langwierigen juristischen Auseinandersetzungen fertig gebaut. Entworfen wurde das Mahnmal von dem Architekten und Künstler Daniel Libeskind (geboren 1946), der zum Beispiel auch das Jüdische Museum in Berlin entworfen hat. Das große Mahnmal in Amsterdam besteht aus 102.000 Backsteinen, auf denen jeweils ein Name der 102.000 von den deutschen Nazis verschleppten und ermordeten niederländischen Jüdinnen und Juden steht. Darunter befindet sich auch der Stein für Anne Frank (Annelies Frank), die durch ihr »Tagebuch« bekannt ist und die im März 1945 im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde. Durch die Backsteine bekommen die Opfer eine Präsenz in der Öffentlichkeit und ihre Namen können nicht vergessen werden.

Von oben betrachtet hat das Mahnmal die Form von 4 hebräischen Buchstaben, die für das Wort "Im Gedenken" stehen. Das Holocaust Namenmonument befindet sich in der Weesperstraat in Amsterdam-Centrum in unmittelbarer Nähe des ehemaligen jüdischen Viertels.

Dr. Christian G. Pätzold.

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Das Holocaust Namenmonument in Amsterdam.
Foto von Christian Michelides, September 2021.
Quelle: Wikimedia Commons.


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2021/11/30

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2021/11/28


Buchtipp: Das ist unser Haus !


dasistunserhaus


Barbara Sichtermann / Kai Sichtermann: Das ist unser Haus. Eine Geschichte der Hausbesetzung.
Berlin 2017. Aufbau Verlag. 300 Seiten. Mit zahlreichen Fotos.

Eine gute Gelegenheit, zurück zu blicken: Der Häuserkampf wird jetzt 50 Jahre alt, denn er begann im Dezember 1971 mit der Besetzung des Georg-von-Rauch-Hauses in West-Berlin, am Mariannenplatz in Kreuzberg, um genau zu sein. Das Georg-von-Rauch-Haus existiert noch heute mit etwa 50 Bewohner:innen. 1973 folgte das Tommy-Weisbecker-Haus, ebenfalls in Kreuzberg. Die große Hausbesetzungswelle kam allerdings erst 1981. Für den Rückblick eignet sich das Buch von Barbara Sichtermann und Kai Sichtermann, denn es wurde von Leuten geschrieben, die mit der Bewegung verbunden waren. So bekommt man eine historische Information aus erster Hand, keine aufgekochte Geschichte von Leuten, die die Stimmung vor 50 Jahren gar nicht erlebt haben. Barbara Sichtermann war damals Studentin an der Freien Universität Berlin und ihr Bruder Kai Sichtermann war Mitglied der Band Ton Steine Scherben.

»Das ist unser Haus« ist ein gewichtiges Buch von 300 Seiten, das viel enthält, viele Zeitzeugenberichte und viele historische Fotos. Es behandelt zunächst die Geschichte in den Brennpunkten Berlin, Frankfurt, Hamburg und Köln. Dann folgen Dokumente zu den Hausbesetzungen in weiteren Städten in Deutschland und im benachbarten Ausland. Es ist ein Buch, das mit Sympathie und Verständnis für die Hausbesetzer:innen geschrieben wurde.

Der Kampf um die Häuser entwickelte sich in den 1970er Jahren und besonders in den 1980er Jahren vor allem in Frankfurt am Main und in West-Berlin parallel, aber aus sehr unterschiedlichen Ursachen. In Frankfurt am Main sollten die alten Wohnhäuser in der Innenstadt abgerissen werden, um den Bürotürmen der Bankenmetropole Platz zu machen. Dagegen entstand natürlich der Widerstand der Bewohner, die nicht an den Stadtrand verdrängt werden wollten. In West-Berlin gab es eine große Wohnungsnot bei gleichzeitigem Leerstand vieler Häuser. West-Berlin war seit 1961 eine eingemauerte Insel inmitten des Sozialismus. Viele Hauseigentümer waren aus Angst vor den Kommunisten nach West-Deutschland geflüchtet. Ihre sanierungsbedürftigen Mietshäuser ließen sie lieber leer stehen und verfallen, als Geld in West-Berlin zu investieren. So kam es, dass viele junge Leute die leer stehenden Häuser besetzten, zeitweise waren es über 200 besetzte Häuser in West-Berlin. Denn auf dem offiziellen Wohnungsmarkt gab es kaum Wohnungen. Jeden Samstag Abend gab es am Bahnhof Zoo eine lange Schlange der Wohnungssuchenden, die auf die Sonntagsausgabe der Zeitungen mit den Wohnungsangeboten warteten.

In Berlin gab es so viele besetzte Häuser, dass die Polizei nicht mehr mit der Räumung hinterher kam. Aber es wurden nicht nur leer stehende Mietshäuser besetzt, sondern auch leer stehende Gewerbegelände und Fabrikgelände, wie zum Beispiel die UFA-Fabrik in Berlin-Tempelhof oder die Regenbogenfabrik in Berlin-Kreuzberg, die noch heute als Kulturzentren existieren. Die Projekte haben sich jetzt 40 Jahre oder länger am Leben gehalten, trotz gesellschaftlicher Umbrüche und trotz vieler Steine, die ihnen in den Weg gelegt wurden. Aber die Besetzer:innen von damals werden jetzt allmählich alt und es fehlt vielerorts an Nachwuchskräften. Ein Teil der besetzten Häuser wurde im Lauf der Jahre legalisiert, ein anderer Teil wurde von den Innenministern und der Polizei geräumt, was öfter zu Straßenschlachten führte, besonders am 1. Mai in Berlin Kreuberg.

Die Autor:innen des Buches schreiben im Vorwort über die Hausbesetzer:innen:
"Woher kamen die Hausbesetzer, aus welchen sozialen Schichten und Milieus? Viele waren schon in der Studentenbewegung aktiv gewesen und sahen jetzt mit Freuden, dass sich ihnen nach all der radikalen, aber doch schon angegrauten Theorie ein kämpferisches Praxisfeld eröffnete. Das waren links-alternative Jungs und Mädchen aus der Mittelschicht, oft aus gutem Hause, mit Abitur und kritischem Bewusstsein. Hinzu kamen Lehrlinge, Migrantenfamilien, Flüchtlinge, Künstler, Hippies, Arbeitslose, Spontis, Freaks, Punks und Drop-outs. In Nordrhein-Westfalen war die Anti-Psychiatrie-Bewegung stark; immer wieder türmten Patienten aus den Kliniken und schlossen sich den Häuserkämpfern an. In Berlin mischten sich aus Heimen geflohene Jugendliche unter die Besetzer. Auch Obdachlose machten mit - aus existenziellen Gründen. Mit den Allerärmsten schlichen Drogen, Suff und Destruktionslust in die Häuser; zur Moral der Okkupanten gehörte es, möglichst niemand auszuschließen. Es war also eine sehr heterogene Truppe, die unter dem Label »Hausbesetzer« ein neues Leben begann; es gab mehr Jungs als Mädchen, und Menschen zwischen achtzehn und dreißig überwogen. Es entstand eine Gemengelage, die, milde gesagt, durchaus konfliktgeladen war."

Der Soundtrack zum Häuserkampf war die Hausbesetzerhymne von Rio Reiser und Ton Steine Scherben, die noch heute bei Demos gern aus den Lautsprechern dröhnt: Der Rauch-Haus-Song.

"Der Mariannenplatz war blau, soviel Bullen waren da,
und Mensch Meier musste heulen, das war wohl das Tränengas.
Und er fragte irgendeinen: »Sag mal, ist hier heut 'n Fest?«
»So was Ähnliches« sagte einer, »das Bethanien wird besetzt.«
»Wird auch Zeit«, sagte Mensch Meier, »stand ja lange genug leer.
Ach, wie schön wär doch das Leben, gäb es keine Pollis mehr.«
Doch der Einsatzleiter brüllte: »Räumt den Mariannenplatz,
Damit meine Knüppelgarde genug Platz zum Knüppeln hat!«

Doch die Leute im besetzten Haus
riefen: »Ihr kriegt uns hier nicht raus!
Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich
Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.«
etc. etc."

Von der LP »Keine Macht für Niemand« von Ton Steine Scherben, 1972.

Dr. Christian G. Pätzold.

Seht bitte auch den Artikel über Rio Reiser vom 2020/01/09 auf kuhlewampe.net.

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2021/11/25


Reinhild Paarmann
Kanonenberge, Teufelssee


Ein Buntspecht hämmert Kanonensalven ab
wie vor dem 1. Weltkrieg hier geübt,
"Auf den Kanonen"...
Vögel schreien im Liebesnotstand,
Zitronenfalter-Sonne
mit flattrigen 8 Minuten und 19 Sekunden alten Strahlen,
der Teufel hat gerade keine Sprechstunde,
Sex in the pool
der Gras-Kröten,
Weide mit aufschwellender Sehnsucht.
Bockwurst gibt's am Müggel-Turm,
Herr Buschkowsky* würde sich freuen,
hier ist kein Neukölln,
das Sturmtief vom Herbst guillotinierte Baumbeine,
die nun im Langen See hängen,
es ist warm,
der blauen Wassersprache lauschen,
hinter uns Fahrradklingeln,
Flugzeuge grummeln,
weil sie am Sonntag arbeiten müssen,
"Kuhle Wampe"-Zeltplatz,
"Wem gehört die Welt?",
spitze Nägel der Segel
an Wellenfingern,
Stelen der Aufforstung,
ein Bass zerhackt im Schiff
die Töne.

* Ehemaliger Bürgermeister von Neukölln, aß gern Bockwurst

© Reinhild Paarmann, November 2021.
www.Reinhild-Paarmann.de

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2021/11/22


Kleine Vase mit Schmetterlingen der Porzellanmanufaktur Bing & Grøndahl,
Kopenhagen, 1896
August F. Hallin (Form) / Effie Hegermann-Lindencrone (Dekor)


broehanvase
Porzellan mit Unterglasurbemalung, Bröhan-Museum Berlin.
Foto: Martin Adam, Berlin.

Zu sehen in der Ausstellung »Bröhan Total !«
Im Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg
6. Oktober 2021 - 16. Januar 2022
Kurator:innen der Ausstellung sind: Dr. Anna Grosskopf und Dr. Tobias Hoffmann.
Bitte ein Zeitfenster-Ticket buchen auf der Webseite des Bröhan-Museums !
Im Museum ist genügend Platz, um Abstand halten zu können. Maskenpflicht.


Die Ausstellungsmacher:innen schreiben zur Ausstellung:
"2021 wäre Karl H. Bröhan 100 Jahre alt geworden. Dieser runde Geburtstag gibt den Anlass zu einer groß angelegten Jubiläumsausstellung: Auf der gesamten Ausstellungsfläche wird in einer neuartigen und ungewöhnlichen Präsentation so viel wie noch nie von der Sammlung gezeigt. Schaudepotbereiche mit Highlights der Kollektion, aber auch zum Teil selten gezeigte Schätze wechseln sich ab mit Periodrooms zum französischen Art Nouveau, zu den reformbewegten Entwürfen des deutschen Jugendstils, zum Art déco und zur funktionalistischen Formgebung der 20er Jahre. Die Gemäldebestände zur Berliner Secession werden ebenso gezeigt wie ausgefallene Sammlungsblöcke - beispielsweise Tierfiguren. Ausgewählte Neuerwerbungen der letzten Jahre zeigen zudem die Entwicklung der Sammlung auf."


broehan


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2021/11/19


Walter Leistikow, 1865-1908
Märkischer Waldsee mit zwei Birken, um 1895


broehanleistikow
Öl auf Leinwand, Bröhan-Museum Berlin.
Foto: Martin Adam, Berlin.

Zu sehen in der Ausstellung »Bröhan Total !«
im Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg
6. Oktober 2021 - 16. Januar 2022
Bitte ein Zeitfenster-Ticket buchen auf der Webseite des Bröhan-Museums !


Walter Leistikow (Bromberg 1865 - Berlin Zehlendorf 1908) war ein Maler der Berliner Secession. Besonders bekannt ist er für seine Gemälde der Mark Brandenburg mit Seen und Kiefernwäldern, in denen er die Stimmung der Landschaft besonders charakteristisch eingefangen hat. Sie waren vom Jugendstil und vom Wandervogel angehaucht und zu seiner Zeit sehr beliebt. Vorbilder waren öfter der Grunewaldsee und der Schlachtensee in Berlin. Die Stämme der Kiefern leuchten manchmal rötlich in der Abendsonne. Obwohl die Kiefernstämme recht gerade wachsen, entsteht eine Spannung durch die bizarre Struktur der Kiefernkronen. Walter Leistikow hat sich schon mit 42 Jahren erschossen im Endstadium seiner Syphilis-Erkrankung.
Dr. Christian G. Pätzold.


broehan


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2021/11/16


Franz Skarbina, 1849-1910
Der Lumpensammler Père Jean-Baptiste, Paris 1886


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Öl auf Leinwand, Bröhan-Museum Berlin.
Foto: Martin Adam, Berlin.

Zu sehen in der Ausstellung »Bröhan Total !«
im Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg
6. Oktober 2021 - 16. Januar 2022
Bitte ein Zeitfenster-Ticket buchen auf der Webseite des Bröhan-Museums !


Das großformatige Gemälde »Der Lumpensammler Père Jean-Baptiste« von Franz Skarbina, gemalt 1886 in Paris, ist eine bedeutende Neuerwerbung des Bröhan-Museums in Berlin Charlottenburg. Der Berliner Maler Franz Skarbina (Berlin 1849 - Berlin 1910) lebte und arbeitete öfter für längere Zeit in Paris, wo er künstlerisch sehr von der Malerszene profitieren konnte, denn Paris war damals die Welthauptstadt der Malerei. Die vorherrschende Richtung in Paris war der Naturalismus und der beginnende Jugendstil. 1898 war Skarbina ein Mitbegründer der Berliner Secession, einer Vereinigung von fortschrittlichen Berliner Malern, die realistisch malten und auch das Leben der einfachen Leute, des damaligen Proletariats, abbildeten. Dafür ist das Bildnis von Père Jean-Baptiste ein gutes Beispiel.

Das Gemälde zeigt einen Augenblick im Treppenhaus eines Pariser Mietshauses. Père Jean-Baptiste steht auf dem Treppenabsatz und schaut den Betrachter frontal an. Mit der linken Hand hält er sich am Treppengeländer fest, mit der rechten Hand stützt er sich auf einen Gehstock, was darauf hinweist, dass er in seinem Alter wahrscheinlich nicht mehr so gut zu Fuß war, obwohl er bei seiner täglichen Arbeit des Einsammelns von Lumpen (aussortierten Bekleidungsstücken) die Treppen der Mietshäuser auf und ab klettern musste. Auf dem Rücken trägt er eine große Kiepe aus Weidengeflecht, in der er die Lumpen der Mieter sammelte. Er trägt eine blaue Arbeitermütze und ein langes blaues Arbeitshemd. An den Füßen trägt er schwarze Sabots, die traditionellen französischen Holzschuhe der Arbeiter. Alles an dem Porträt macht klar, das man hier einem Arbeiter gegenüber steht.

Im Bildhintergrund ermöglicht ein großes Fenster des Treppenhauses einen verschwommenen Blick auf die Pariser Stadtlandschaft. Das Wetter scheint trüb und diesig zu sein, vielleicht ist es Herbst oder Winter. Das Innere des Treppenhauses ist mit großer Detailgenauigkeit geschildert. Gut erkennbar ist ein Besen, der an der Wand lehnt. Der Fußboden des Treppenabsatzes ist mit rotbraunen Fliesen in Bienenwabenform gefliest. Die Fliesen sind sehr lebendig abgebildet.

Heute gibt es den Beruf des Lumpensammlers kaum noch. Die alten Menschen sammeln keine Lumpen mehr, sondern Pfandflaschen. An manchen Straßenecken stehen heute Sammelcontainer des Roten Kreuzes, in die man Altkleider werfen kann. Diese Kleiderspenden werden dann irgendwie weiterverwertet, aber man weiß nicht genau wie. Damals im 19. Jahrhundert waren Lumpen noch ein wichtiger Rohstoff. Aus den verschlissenen Alttextilien wurde zum Beispiel Papier (Hadernpapier) hergestellt. Im 19. Jahrhundert gab es auch den Begriff des Lumpenproletariats, das war die ärmste, arbeitslose Schicht der Bevölkerung, die in zerrissenen Kleidern herumlaufen musste. Das ist heute bei jungen Leuten teilweise in Mode, die in zerrissenen löchrigen Jeans herumlaufen. Die Jeans werden von den Kaufhäusern schon zerrissen verkauft. Das ist aber heute nicht mehr unbedingt ein Zeichen von Armut, sondern meist ein politischer Jugendprotest gegen die uniformierte Bekleidung der Spießer.

Das Gemälde von Franz Skarbina ist ein bedeutendes Arbeiterbildnis und darüber hinaus ein bedeutendes Werk des Naturalismus.

Dr. Christian. G. Pätzold.


broehan


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2021/11/13


Impression aus Stexwig an der Schlei / Schleswig-Holstein


stexwig
Fotografiert von Anonyma, August 2021.


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2021/11/10


"Man kann die Menschen zur Vernunft bringen,
indem man sie dazu verleitet, dass sie selbst denken."

Voltaire, 1694-1778


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2021/11/07


Gründung der A-I-Z vor 100 Jahren


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Titelseite der Arbeiter Illustrierte Zeitung (A-I-Z), 1929, Nr. 27.


Die Arbeiter Illustrierte Zeitung erschien am 7. November 1921 zunächst als Monatsschrift unter dem Titel "Sowjet-Russland im Bild", später wöchentlich als A-I-Z. In Deutschland konnte die Zeitung bis zur Machtergreifung der Nazis 1933 erscheinen, danach wurde sie noch bis 1938 im Exil in Prag fortgeführt.

Im Mittelpunkt der Zeitung standen Fotoberichte mit knappen Texten, vor allem zum Leben in der noch jungen Sowjetunion, zum populären Arbeitersport, aus der Arbeitswelt und zu allgemeinen gesellschaftlichen Erscheinungen. Seit 1930 wurde die Zeitung auch durch die noch heute berühmten Fotomontagen von John Heartfield gegen die Nazis geprägt. Die Fotos der Illustrierten stammten nicht nur von professionellen Pressefotografen, sondern auch von Arbeiterfotografen, die in ihrer Freizeit Fotos aufnahmen. In den 1920er Jahren nahm die Schwarz-Weiß-Fotografie in Deutschland einen großen Aufschwung. Auch Privatleute und sogar Arbeiter:innen konnten sich jetzt Fotoapparate leisten und machten Aufnahmen. Daraus entstand die recht große Bewegung der Arbeiterfotografen, die in der A-I-Z gefördert wurde. Die Arbeiterfotografen bekamen einen kleinen Obolus ausbezahlt, wenn ihre Fotos veröffentlicht wurden. Es handelte sich überwiegend um sozialdokumentarische Fotografie. Wenn man diese Fotoberichte betrachtet, bekommt man ein gutes Gefühl dafür, wie das alltägliche Leben in den 1920er Jahren in Deutschland tatsächlich war.

Herausgegeben wurde die A-I-Z von dem kommunistischen Verleger Willi Münzenberg (1889-1940). Er hatte erkannt, dass die Fotografie ein wirksames Propagandamittel für den Sozialismus sein konnte. Entsprechend war die Zeitung auch auf der Linie der KPD. Die bebilderte Zeitung wurde als ein erstrangiges Mittel der AgitProp gesehen. Die Zeitung erreichte hohe Auflagen, zeitweise bis zu 500.000 Exemplare in der Woche. Damit war die A-I-Z ein wichtiges Medium im Meinungskampf während der Weimarer Republik in Deutschland.

Willi Münzenberg hatte während des 1. Weltkriegs in der Schweiz Lenin kennen gelernt. Nach der Oktoberrevolution erhielt er von Lenin persönlich den Auftrag, die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) für die junge Sowjetunion zu organisieren. Dazu gründete er zunächst die Illustrierte »Sowjetrussland im Bild«, die 1926 zur »Arbeiter Illustrierte Zeitung« wurde. Münzenberg war Mitglied im Zentralkomitee der KPD und KPD-Abgeordneter im Reichstag bis 1933. Nach 1933 nahm er eine zunehmend kritische Stellung gegenüber der Politik Stalins ein, wodurch es ihm unmöglich wurde, sich ins Exil in die Sowjetunion zu flüchten. 1939 trat Münzenberg aus der KPD aus. Zuletzt hielt er sich in Frankreich auf, wo er 1940 unter ungeklärten Umständen starb.

Dr. Christian G. Pätzold.

Zur Arbeiterfotografie der 1920er Jahre seht bitte auch den Artikel "Ausstellung: Der proletarische Blick" vom 2020/11/02 auf kuhlewampe.net.

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2021/11/04


Haikus schwimmen auf Wasser im Turm
Ingo Cesaro zum 80.


ingocesaro80


Am 4. November 2021 wird Ingo Cesaro 80 Jahre alt. Den Leserinnen und Lesern von kuhlewampe.net ist Ingo Cesaro durch seine Gedichte bekannt, die hier erschienen. Er ist aber auch ein international bekannter Autor von Haikus, das sind Kurzgedichte im japanischen Stil mit einem Silbenschema von 5-7-5. Vor kurzem sind von ihm Haikus in der Edition Wasser im Turm in Berlin erschienen:

hinterher träumen II. Haiku von Ingo Cesaro. Siebdruck von corn.elius.
edition wasser im turm, Berlin 2021.

Es handelt sich um das zweite von drei Buchobjekten mit Haiku Gedichten von Ingo Cesaro und mit dem Sieb gedruckten Bildmustern von Cornelius Brändle. Das Künstlerobjekt erscheint in einer auf 200 Exemplare limitierten Auflage. Das Exemplar kostet 15 €uro. Das Kunstwerk kann bestellt werden bei dem Haiku-Meister Ingo Cesaro in Kronach: ingocesaro(at)gmx.de, oder bei dem Siebdruck-Meister Cornelius Brändle in Berlin: corn.elius(at)editionwasserimturm.de.

Ingo Cesaro kann auf ein riesiges Oeuvre von Gedichten zurückblicken und er hat zahllose Bücher herausgebracht, schaut euch nur mal sein Werkverzeichnis in seinem Wikipedia-Artikel an. Viele seiner Künstlerbücher können noch in dem Shop auf seiner Homepage bestellt werden.


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2021/10/31

vorschau11

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2021/10/27


Pablo Picasso zum 140. Geburtstag
Málaga/Spanien 25. Oktober 1881 - Mougins/Frankreich 8. April 1973

Juan Gris (1887-1927): Hommage à Picasso, 1912


picasso
Art Institute of Chicago, Quelle: Wikimedia Commons.


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2021/10/24

Reinhild Paarmann
Ein Glück, dass kein Astronaut


Ein Glück, dass kein Astronaut
in die Sonne seine Fahne rammen kann
nach dem Motto:
meinem Land gehört sie jetzt,
wir waren zuerst da!
Wir würden sonst für
jeden Strahl bezahlen müssen.

Eine Standarte in der Venus
wäre möglich.
Wir müssten dann für
jedes bisschen Liebe Abgaben entrichten.

Welches Land erobert den Mars?
Ich hoffe, dass keiner so dumm sein wird,
Kriege per Nachnahme zu bestellen.
Wird Amerika
Iran angreifen, weil
es Atomkraftwerke haben soll,
die hochgefahren,
Atombomben herstellen könnten?
Die Inspekteure fanden
nichts.
Der Oberste Führer Hassan Rohani
sagte im britischen Rundfunk:
»Wenn Amerika uns angreift
und wir verlieren die Hälfte unserer
Leute, dann haben wir immer noch 40.900.134.«

Hafis: »Wohin? Was soll ich tun?
Und was soll ich beginnen?
Der Gram der Zeit hat mich
In Traurigkeit versenket.«

© Reinhild Paarmann, Oktober 2021.
www.Reinhild-Paarmann.de

Das Gedicht ist mit Erlaubnis der Autorin dem Buch entnommen:
Thomas Bachmann (Herausgeber): Schlafende Hunde VII. Politische Lyrik.
Berlin 2021. verlag am park in der edition ost.


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2021/10/21

fuellhorn


"Wohlstand für Alle"

Buchtitel von Ludwig Erhard, CDU (1897-1977)

Wohneigentumsquote in Singapur: 91 %
Wohneigentumsquote in Berlin: 15 %

So viel zum sogenannten Wohlstand in Deutschland.

Die Menschen in Berlin sind derart verarmt, dass sie sich nicht mal
eine kleine eigene Wohnung leisten können.


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2021/10/18

Prothese Antithese von Wolfgang Endler


endler


Wolfgang Endler: Prothese-Antithese: GrundGegenSprengsätze. Aphorismen.
Reihe FREEdrichshagener KleeBLATT 8.
Berlin 2021. Neopubli.

Dr. Wolfgang Endler hat eine neue Sammlung seiner geistesblitzenden Aphorismen herausgebracht, mit denen er regelmäßig politisch-literarisch interveniert. Den Leserinnen und Lesern von kuhlewampe.net ist er ja schon durch einige Beispiele seiner überraschenden humorvollen Einfälle bekannt. Auch sein neuestes Heft kann sehr empfohlen werden. Es enthält Texte aus den bekannten Endlerschen Rubriken:
Bericht zur (Schräg-) Lage der Nazi_on
DADA, GAGA, TRaLaLa
Endlers Tier_ÜBER_Leben
Fatale Personalia
Lokal handeln - global miss_handeln
Prima Klima von Lima bis Fukushima

Das Heft ist darüber hinaus schön layoutet und enthält Illustrationen von Dorothy Siegl. Hier nur einige Kostproben aus dem Inhalt:

Alternatives Angebot
der Bundesregierung

Anstelle eines
BEDINGUNGSLOSEN GRUNDEINKOMMENS
gibt's künftig SM auf Krankenschein.

Recht-Haber ODER
Sein & Haben?
Warum gibt es ein Recht
auf freie Religionsausübung,
aber kein Recht auf Arbeit?
Ist die Zahl der vorhandenen Götter
ungleich größer als die Anzahl
der verfügbaren Arbeitsplätze?

Born in the U.S.A.
"Entspannen Sie sich,
der Klügere gibt nach",

sagte der Henker
beim Ansetzen
der Giftspritze.

Vorschulisches Lernen
Virales Video aus Florida
zeigt zweijähriges Kind
mit erhobenen Händen
auf Polizisten zulaufend.
Gut gemacht, Kleines -
dabei bist du
noch nicht einmal
schwarz.


Mehr Informationen von und über Wolfgang Endler gibt es unter
www.wolfgang-endler.de.

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2021/10/15

"Man sollte nie so viel zu tun haben,
dass man zum Nachdenken keine Zeit mehr hat."

Georg Christoph Lichtenberg, 1742-1799


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2021/10/12

Mikis Theodorakis gestorben


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Mikis Theodorakis auf dem Rembrandtplein in Amsterdam, Januar 1978.
Quelle: Wikimedia Commons.


Am 2. September 2021 ist der griechische Komponist Mikis Theodorakis in Athen gestorben. Geboren wurde er 1925 auf Chios. Er hat sehr viele Musikstücke in seinem langen Leben geschrieben, darunter am bekanntesten vielleicht sein Sirtaki im Film »Zorba the Greek«, seine Musik zum Canto General von Pablo Neruda, oder seine Ballade von Mauthausen. All das und mehr kann man bei YouTube anschauen und anhören. Es ist eine mitreißende Musik. Mikis Theodorakis ist ein leuchtender Stern am Himmel der Welt-Musik.

Genauso bekannt war er aber auch als kommunistischer Widerstandskämpfer gegen die deutschen Faschisten und gegen die griechische Militärdiktatur, er wurde gefoltert und musste lange Jahre im Exil leben. Für die meisten Griechen war er daher auch ein Freiheitsheld.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2021/10/09

Vor 100 Jahren: Gründung des PEN-Club in London/England


Vor 100 Jahren, am 5. Oktober 1921, wurde der PEN-Club als Autor:innenverband von der englischen Schriftstellerin Catherine Amy Dawson Scott in London gegründet. PEN ist die Abkürzung für Poets, Essayists und Novelists, also Dichter, Essayisten und Romanautoren. Heute können aber auch Menschen anderer schreibender Berufe Mitglied sein. Bedingung für eine Mitgliedschaft ist, dass man mindestens 2 Bücher veröffentlicht hat und dass man von 2 Mitgliedern des Clubs für eine Mitgliedschaft vorgeschlagen wurde.

Gleichzeitig ist PEN eine Anspielung auf das englische Wort pen, das Schreibfeder bedeutet. Der PEN besteht heute aus dem Dach PEN International sowie aus 144 PEN Zentren in 102 Ländern. Der jährliche Mitgliedsbeitrag im PEN-Zentrum Deutschland kostet 160 €uro.

Der PEN kümmert sich vor allem darum, die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit gegen Angriffe zu verteidigen und von Staaten verfolgte Schriftsteller:innen zu unterstützen. Das Komitee Writers in Prison versucht, Autor:innen frei zu bekommen, die in Gefängnissen eingesperrt sind. Und das Komitee Writers in Exile Network unterstützt verfolgte Autor:innen, die ins Exil flüchten mussten. Die Charta des Internationalen PEN enthält auch eine Verpflichtung für die Mitglieder, sich gegen "wahrheitswidrige Veröffentlichungen, vorsätzliche Fälschungen und Entstellungen von Tatsachen für politische und persönliche Ziele" einzusetzen.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2021/10/05

Tagebuch 1973, Teil 53: Bombay

von Dr. Christian G. Pätzold


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Bombay Hospital mit heiliger Kuh.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, 27. Oktober 1973.


26. Oktober 1973, Bombay, Freitag

Obwohl wir gestern bei einem Homöopathen zu Gast waren, war ich kein Anhänger des Hokuspokus der Homöopathie, sondern vertraute lieber der wissenschaftlichen Schulmedizin, die es auch in Indien gab. Wegen meiner Magen-Darm-Infektion war ich im privaten Breach Candy Hospital, das ein angesehenes aber wahnsinnig teures Krankenhaus in Bombay war. Meine Untersuchung kostete 40 Rupees und die Medikamente noch mal 60 Rupees. Der Arzt hatte bei mir Amöben festgestellt, das waren kleine Tierchen, die mich innerlich sehr schwächten. An Tabletten erhielt ich Streptomagma, damit der Durchfall aufhört, Flagyl gegen Amöben und Digene gegen Erbrechen. Glücklicherweise hatte der Arzt anscheinend die richtigen Tabletten verschrieben, denn mit mir ging es in den nächsten Tagen wieder aufwärts. Auch das europäische Essen bei der Heilsarmee war sicher hilfreich. Insgesamt betrachtet war meine Magen-Darm-Infektion schon recht bedenklich, das war schon der 7. kritische Moment auf meiner Weltreise.


27. Oktober 1973, Bombay, Sonnabend

Wir hatten in Bombay Reisende wiedergetroffen, die wir schon von früher kannten. Auch sie hatten sich eine Magen-Darm-Infektion eingefangen. Daher war ich mit ihnen im privaten Bombay Hospital, wo sie eine Untersuchung machen ließen. Im Eingangsbereich des Krankenhauses stand eine Statue des Elefantengottes Ganesha mit Räucherstäbchen. Ganesha war ja im Hinduismus auch für die Wissenschaft zuständig. In Indien gab es viele Räucherstäbchen mit zahlreichen Düften wie Sandelholz, Patchouli, Moschus etc. etc. Der Feinstaub der Räucherstäbchen war wahrscheinlich nicht ideal für ein Krankenhaus. Aber das waren so indische Kompromisse zwischen Hinduismus und Wissenschaft. In einem deutschen Krankenhaus hätte der Manager wahrscheinlich eine Krise bekommen, wenn man ein Patchouli-Räucherstäbchen entzündet hätte.

Die Privatkrankenhäuser erschienen mir im sauberen Zustand, während gesagt wurde, dass die öffentlichen Krankenhäuser völlig überfüllt seien. Es hieß, dass man in den öffentlichen Krankenhäusern stundenlang auf einen Arzt warten müsse, wenn man überhaupt mit einer Untersuchung dran komme. Daher sind wir sicherheitshalber in die privaten aber teuren Krankenhäuser gegangen. Anschließend habe ich noch Geld gewechselt zum Kurs von 1 DM : 3,6 Rupees.

Abends waren wir bei einer Studentenveranstaltung für ausländische Studenten anlässlich des Diwali-Festes. Die berühmte Filmschauspielerin Nargis aus dem Film »Mother India« war auch anwesend und hat auf dem Podium mitgebetet. Dann gab es ein buntes kulturelles Programm, mit Tänzen, von Nigerianern, Indern aus Sansibar, Studenten aus Bhutan, abschließend ein Feuerwerk. Iranische Studenten waren auch da, die zum Englischlernen in Bombay waren. Das war ein schönes internationales Fest.


28. Oktober 1973, Bombay, Sonntag

Mit der S-Bahn, die regelmäßig fuhr und in der Rushhour sehr voll war, sind wir zum Juhu Beach gefahren, etwa 18 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. In der Nähe lag der Airport Bombay. Juhu Beach war ein großer und typisch tropischer Sandstrand mit Cocospalmen am Arabischen Meer. Wir haben im Sand gesessen. Die tropischen Sandstrände in Indien, die wir besuchten, waren alle ziemlich leer, nur ein paar Fischer mit ihren Booten waren manchmal zu sehen. Am Strand liegen oder im Meer baden waren 1973 in Indien überhaupt nicht in Mode.

Anschließend waren wir im benachbarten Santa Cruz East, 5th Road, bei Mr. Sethi von der RSP (Revolutionary Socialist Party). Sie hatten in diesem Gebiet 2 Gewerkschaften (Silk Workers Union, Gewerkschaft der Seidenarbeiter) und einigen politischen Einfluss, aber mit der CPI und der CPI (M) bestanden ständige Auseinandersetzungen um das Einflussgebiet. Er sagte uns, dass fast die Hälfte der Einwohner in Bombay in wasserundichten Wellblechhütten und überfüllten Räumen lebte. Das größte Problem sei aber der Nahrungsmangel und die daraus folgende Unterernährung der Arbeiter. Und das obwohl die Natur Indiens so überaus fruchtbar war. Die Produktion und die Verteilung von Nahrungsmitteln funktionierten nur schlecht in Indien, das musste man der Premierministerin Indira Gandhi ankreiden. Andererseits war Indira Gandhi gerade im Jahr zuvor mit dem Krieg mit Pakistan und mit 9 Millionen Flüchtlingen aus Bangladesh beschäftigt gewesen. Mr. Sethi gab uns Zeitungen und Adressen.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2021.


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Premierministerin Indira Gandhi (1917-1984) von der Congress Party auf einer sowjetischen Briefmarke. (Quelle: Wikimedia Commons). Die Politik von Indira Gandhi war vielleicht am ehesten mit der Politik der deutschen SPD in den 1970er Jahren vergleichbar. Sie war sozialliberal und säkular eingestellt und hat sowohl Beziehungen zur Sowjetunion als auch zu den USA unterhalten. Gelegentlich sagte Indira Gandhi auch, dass sie Sozialismus wolle. Indira Gandhi wurde 1984 durch ein Attentat ermordet. Indira Gandhi stammte aus einer Familie von Pandit-Brahmanen aus Kaschmir, der höchsten Kaste im indischen Kastensystem. Sie war nicht mit Mahatma Gandhi verwandt, sondern ihre Familie hieß Nehru, und durch Heirat erhielt sie den Namen Gandhi. Sie hatte eine interessante weiße Strähne im Haar, die später sehr in Mode kam. Auf ihrem Schultertuch ist das indische Paisleymuster zu erkennen.


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2021/10/02

Tagebuch 1973, Teil 52: Von Kalkutta nach Bombay

von Dr. Christian G. Pätzold


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Das Gateway of India in Bombay vom Wasser aus gesehen.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, 25. Oktober 1973.


23./24. Oktober 1973, Kalkutta - Bombay, Dienstag/Mittwoch

Wir sind mit dem Zug von Kalkutta nach Bombay gefahren, einmal quer durch Indien von der Ostküste zur Westküste, was 36 Stunden gedauert hat. Die Entfernung zwischen Kalkutta und Bombay beträgt 1.900 Kilometer. Die durchschnittliche Geschwindigkeit des Zuges lag also bei 53 Kilometern in der Stunde. Der Zug ratterte und ratterte vor sich hin durch die wunderschöne indische Natur. Die Züge in Indien fuhren generell langsam, was vielleicht auch ganz gut war aus Gründen der Sicherheit. So konnten sie nicht so leicht entgleisen und man hatte auch mehr Zeit, sich mit den Mitreisenden zu unterhalten und die Landschaft zu betrachten. Das macht ja überhaupt den Mehrwert des Reisens aus, denn wenn man in nullkommanichts ans Ziel kommt, hat man ja nichts von der Reise.

Mit uns im Abteil fuhren ein 30-jähriger Moslem und ein Hindu, die beide im Atomforschungszentrum Bombay arbeiteten, wie sie uns sagten. Der moslemische Mitreisende war noch nicht verheiratet und lebte bei seinen Eltern und musste ihnen großen Respekt zeigen, worunter er sehr litt. Er war sehr traurig und wurde auch oft krank in Bombay. Er hat uns ein Bild seiner zukünftigen Frau gezeigt. Er war sich auch nicht sicher, ob er überhaupt seine Heirat bezahlen konnte, denn erst müssten noch seine Schwestern verheiratet werden, was aber viel Geld koste. Ein anderer Mitreisender war Manager in einem Seidenladen und kaute den ganzen Tag Betel. Wir haben mit ihm Karten gespielt.

Die Menschen in Indien waren im Allgemeinen sehr aufgeschlossen und gesprächsbereit uns gegenüber als Ausländern. Sie haben sofort mit uns gesprochen, wenn sie Englisch konnten, was in der Mittelklasse eigentlich alle jungen Leute konnten, denn Englisch war die Lingua Franca in Indien. Sie haben offen über ihr Leben gesprochen und auch ihre Probleme mit der Arbeit oder mit der Familie geschildert. Auf unserer Reise in Indien kam es auch häufiger vor, dass uns Menschen spontan zu sich nach Hause eingeladen haben. Ich habe die Menschen in Indien als sehr gastfreundlich erlebt.

Die Bahnfahrt nach Bombay war angenehm, wir hatten uns das 1. Klasse-Abteil geleistet, für 160 Rupees. Nur leider habe ich mich aufgrund meiner Magen-Darm-Infektion sehr schwach gefühlt.

Bombay erschien mir sehr viel ruhiger als Kalkutta. Wir sind zum Touristenbüro gegangen und haben nach einer Unterkunft gefragt. So sind wir zu einer sehr speziellen Bleibe gekommen: In Bombay wohnten meine Reisepartnerin und ich bei der Salvation Army (Heilsarmee) im Bankenviertel, die getrennte Schlafräume (Dormitories) für Männer und für Frauen hatte, Geschlechtertrennung nach streng christlichen Grundsätzen. Aber andere Hotels waren zu schmutzig oder zu teuer. Die Heilsarmee kostete 14 Rupees (umgerechnet 4,- DM) am Tag im 6-Personen-Schlafraum, inklusive Frühstück, Mittagessen, Tee und warmem Abendbrot. Das Essen bei der Heilsarmee war gemäßigt und gut, um meine schwere Magen-Darm-Infektion auszukurieren. So hat mich die Heilsarmee tatsächlich auch teilweise geheilt, neben den Tabletten.

In Bombay gab es gerade das Fest Diwali, das hinduistische Lichterfest, das groß gefeiert wird wie bei uns Weihnachten oder Neujahr. Diwali fällt immer auf die Zeit Ende Oktober/Anfang November. Es symbolisiert den Sieg des Guten über das Böse. Mit Diwali beginnt das Neue Jahr in Indien.

Abends waren wir im Goethe-Institut und haben eine Spiegel-Serie über Indien gelesen. Der Direktor des Goethe-Instituts war freundlich und hatte ein kleines Diwali-Kaffeekränzchen für seine Angestellten organisiert. Dazu hat er uns auch eingeladen.


25. Oktober 1973, Bombay, Donnerstag

Vormittags sind wir mit dem Boot vom Gateway of India zur Insel Elephanta gefahren. Die Fahrt dauerte eine ¾-Stunde, das Returnticket kostete 3,50 Rupees. Die Bootsfahrt war angenehm, wir sind nicht seekrank geworden. Die Insel wurde von den Portugiesen Elephanta genannt, weil sich dort ein lebensgroßer, aus Stein gehauener Elefant befand. Auf Elephanta gab es einen großen und berühmten Shiva-Tempel in einer Höhle zu besichtigen. Er enthält historische Shiva-Skulpturen, die aus dem Fels herausgehauen wurden und zu den bedeutendsten hinduistischen Plastiken gehören. (Sie sind seit 1987 UNESCO-Weltkulturerbe). Die Hauptplastik ist ein 3-köpfiger Shiva, die ihn als Schöpfer, Bewahrer und Zerstörer darstellt.

Irgendwie hatte es sich ergeben, dass wir Nachmittags in die Familie eines indischen Homöopathen eingeladen waren, den wir im Zug kennen gelernt hatten. Sie wohnten mit ihrem Sohn im wohlhabenden Viertel Bandra am Meer. Der Homöopath sagte uns, dass er ein sehr berühmter Homöopath sei, der oft zu Konferenzen ins Ausland geschickt würde. Sie lebten anscheinend recht wohlhabend, hatten 5 Zimmer, einen Hausaltar in der Küche sowie einen teuren Schwarz-Weiß-Fernseher, den sich nur sehr wenige Inder leisten konnten. Abends hat die Frau des Homöopathen Essen für uns alle gekocht. Im Gespräch haben sie sehr die Deutschen bewundert, denn die Homöopathie wurde ja von dem deutschen Arzt Samuel Hahnemann (1755-1843) begründet. Leider äußerten sie auch ihre Bewunderung für Adolf Hitler und ihre Abneigung gegenüber den Juden. Da mussten wir natürlich deutlich widersprechen.

Auf der Rückfahrt zur Heilsarmee haben wir einen Doppeldeckerbus erwischt, der ziemlich leer war. Wir haben uns ins Oberdeck in die vorderste Reihe gesetzt. Von dort oben konnten wir das tolle Schauspiel der Tausende von Lichtern und bunten Lampions in allen Fenstern in der dunklen Nacht von Bombay bewundern, denn es war ja Diwali. Der Anblick war verzaubernd. Incredible India.


Postskriptum zum Namen Mumbai, Oktober 2021:

Der historische englische Name Bombay wird auf die portugiesische Bezeichnung Bom Baia (gute Bucht) zurückgeführt. Der offizielle Name Mumbai seit 1996 geht auf die regionale Hindu-Göttin Mumbadevi zurück. Mumbai hat heute in der Agglomeration 28,8 Millionen Einwohner, ist also eine Megacity. Mumbai ist die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Maharashtra und liegt am Arabischen Meer, an der Nord-West-Küste Indiens.

In Bombay gab es eine große indische Filmindustrie für Hindi-Unterhaltungs-Filme mit musikalischen Tanzszenen. Die Filme waren in der Regel 2 bis 4 Stunden lang. Die Stadt wurde daher auch "Traumfabrik" Bollywood genannt, in Anspielung auf das kalifornische Hollywood. In den gesamten 1970er Jahren wurden über 1.200 Hindi-Filme produziert.

Im Atomforschungszentrum in Bombay wurde die indische Atombombe entwickelt. Indien zündete 1974 die erste Atombombe und war damit Atommacht, Pakistan erst 1998.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2021.


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2021/09/30

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2021/09/27

Reinhild Paarmann
21.6.1933 Köpenicker Blutwoche


Isot kam von der
Schule, 13 Jahre alt,
ihr Vater wurde
von der SA durch Straße
geprügelt, Sirenenschrei.
"Selbsthilfe" nannte
die SA-Führung Folter
und Morde auf dem
Heuboden des "Sturmlokals".
Der SPDler Johann Schmaus
mit seinen Söhnen
wird nachts verhaftet, er schießt
in Notwehr und "flieht",
findet seinen Tod. Scharsich,
SA-Sturmführer, der Spitzer
mit Eisenstange
auf den Kopf schlug, schützt seinen
Adjutanten, der
den Geruchs- und Geschmackssinn
aus dem Opfer prügelte:
"Dummerjungenstreich",
so 1950.
Rote Rosen als
Hakenkreuz für die Täter.
23 Opfer in
Dahme geworfen,
wir wanderten am
See 1960,
und wussten es nicht.
Auf einem Bild: "Dort
war der Mörderkeller", blind
durch Folter, Penis
mit Stahlrute traktiert, bist
du ein Jude wie
Dr. Georg Eppenstein,
konfessionslos, aus Knoblauch,
"die Judenzwiebel",
stellte er Heilpillen her,
ohne gelben Stern erwischt,
im Gefängnis die
Brille weggenommen, das
Nasenbein kaputt,
aus seinen Ohren quillt das Blut.
Sozialdemokrat Essen
verschleppt, getötet.
Einen Juden versteckte
die Frau jahrelang,
wurde Zeuge im Prozess.
Kurt Fechner SA lebt bis
zum Tod in Köln,
73, nicht belangt.
Sonnenstich hat das Navi,
Topflappen zum Anfassen
bräuchte ich dafür,
32°, Zeichen
plinkert rot, Geister
des 21., nicht
angeschnallt, wie loswerden?

© Reinhild Paarmann, September 2021.
www.Reinhild-Paarmann.de


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2021/09/24

Wolfgang Weber
Summa in da city
Version 2021


summa in da city
street in Berlin town
neck's getting' dirty'n'gritty
let's get down to the real nitty gritty

cars passin' by in da fas' lane
speedin' up
no way to slow down
ole loco - motive breath
e - ve - ry - where

let's do the loco - motion
loco down in Acapulco
un poco loco
mucho verano (viel Sommer)


nite street in Berlin town
had me low
had me down
up town
down town
all around town

never ever gonna stop no-how
never ever

dancin' in da street
it's a brand new beat
in da heat of the nite
dancin' the nite away

e - ve - ry - thing I do gonh be funky from now on
e - ve - ry - thing gonh be funky

Berlin street at nite in Berlin town
Berlin city
never ever sleeps
up town
down town
all around town


Wedding
Berlin district
al-l-l-l-ways on da up'n'up
'cause it's way low down
real low down

it mus' come up any good or bad ole time
ye ye ye c'mon ye ye

let's go dancin' the nite away


Inspirationen in der Reihenfolge des Textes
1. The Lovin' Spoonful
, summer in the city, 1966
2. Jethro Tull, locomotive breath, 1971
3. Little Eva, the loco-motion, 1962
4. The Four Tops, (going) loco (down) in Acapulco (comp. Phil Collins, Lamont Dozier), 1988
5. Bud Powell, un poco loco, 1951
6. Martha Reeves & The Vandellas, dancing in the street, 1964
7. Film: In the heat of the night, mit Sidney Poitier, Soundtrack: Quincy Jones, 1967
8. Lee Dorsey, everything I do gonh be funky (from now on), (comp. Allen Toussaint), 1967

Versionen des Textes
• Soundcheck: Summer in the city
, Beitrag auf meinem Facebook Profil, 22. Mai 2016
• Summa in da city revisited, Video, Version 1 und 2, 22. Mai 2020
• Summa in da city, remix, Text für Internet Aktion: Symphonie der Großstadt, 21.06.2021
• Summa in da city Version 2021, für Poetenoffensive 18.07.2021,
die in rot gesetzten Passagen habe ich gegenüber 2020 verändert.


© Wolfgang Weber, September 2021.


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2021/09/20

Ein Besuch im Kunstarchiv Beeskow

von Dr. Christian G. Pätzold


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Die Burg Beeskow. Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2021.


Die Helle Panke Berlin hat mal wieder eine ihrer legendären Busexkursionen veranstaltet, die zum Glück noch ein Geheimtipp sind. Das Kunstarchiv Beeskow oder genauer das Archiv der Kunst der DDR in Beeskow im Landkreis Oder-Spree in Brandenburg beherbergt insgesamt zirka 23.000 Kunstobjekte, darunter allein 1.500 Gemälde, die zur Zeit der DDR entstanden sind, also bis 1990. Es handelt sich um Werke, deren Vorbesitzer der Kulturfonds der DDR, die Parteien und Massenorganisationen der DDR sowie der Magistrat von Berlin (Ost) waren. Nach 1990 wurden die Werke im Kunstarchiv gesammelt, um den Bestand zu erhalten. Eigentümer der Werke sind die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Das Kunstarchiv Beeskow verwaltet lediglich den Bestand, zeigt die Werke aber auch manchmal in Ausstellungen.

Die Fahrt startete um 8:30 Uhr am Franz-Mehring-Platz 1 vor dem Haus des »Neuen Deutschland«. Obligatorisch in Coronazeiten waren natürlich ein Impfpass mit 2facher Impfung und eine FFP2-Maske, die wir aber nicht brauchten, da alle geimpft waren. Das Wetter hat an jenem Junitag mitgespielt, der Himmel war bedeckt und es war nicht zu heiß. Nach dem Start in Friedrichshain ging es über die Frankfurter Allee nach Osten, vorbei am "Berliner Balkon" und an der Gigafactory von Tesla in Grünheide, die bald fertig gebaut ist. Unser Bus machte dann einen Zwischenstopp an der mittelalterlichen Burg in Storkow (Mark).

Nach gar nicht langer Fahrt erreichten wir die ebenfalls mittelalterliche Burg in Beeskow, die auf einer Insel in der Spree liegt. Auf dem Gelände der Burg Beeskow befindet sich auch das Kunstarchiv. Beeskow an der Spree ist ein kleines Städtchen mit 8.000 Einwohnern, das ziemlich unbekannt vor sich hinschlummert. Bekannter ist da schon das benachbarte Eisenhüttenstadt an der Oder, die ehemalige sozialistische Musterstadt Stalinstadt. Touristische Hauptattraktionen in Beeskow sind die Burg, in der gerade 3 Ausstellungen gezeigt wurden, außerdem die riesige, völlig überdimensionierte St. Marien Kirche, die Stadtmauer sowie das älteste Haus Beeskows aus dem Mittelalter. Im Turm der Burg hausen die Dohlen.

Im Kunstarchiv Beeskow befinden sich hauptsächlich Gemälde, Grafiken und Plastiken. Die 1stündige Führung war sehr informativ. Die 1.500 Gemälde sind auf 150 Quadratmetern auf 100 Ziehgittern untergebracht. Ich war erstaunt, wie wenig Platz man im Archiv braucht, um 1.500 Gemälde unterzubringen. Es gibt auch großformatige Gemälde, darunter von solch berühmten Malern wie Willi Sitte, Walter Womacka oder Neo Rauch. Auch einige Berlin-Ansichten. Die Grafiken sind in Grafikschränken untergebracht. Die Plastiken sind hauptsächlich Porträtköpfe zum Beispiel von Bertolt Brecht oder Hanns Eisler. Auf diesem kleinen Raum lagerte also fast die gesamte berühmte "Staatskunst" der DDR, obwohl man feststellen muss, dass durchaus nicht alle Kunstwerke einer kommunistischen Linie entsprechen.

Vertreten sind insgesamt 1.700 Künstlerinnen und Künstler, darunter allerdings nur 300 Frauen. Es scheint also im staatlichen Kunstbetrieb der DDR ein Übergewicht der Männer gegeben zu haben. Der Ankauf von Kunstwerken durch gesellschaftliche und staatliche Organe war eine wichtige Einnahmequelle für die KünstlerInnen in der DDR, weil der private Kunstmarkt natürlich nicht so groß war wie im Kapitalismus. Es ist ein großes Verdienst des Kunstarchivs Beeskow, dass es die Kunst der DDR bewahrt, denn die Werke könnten in der Zukunft noch sehr wichtig werden für die wissenschaftliche Forschung.

Nach dem Mauerfall 1989 fielen die Besserwessis über Ost-Deutschland her und entwerteten alles, was aus der DDR kam. Das betraf nicht nur die Biografien der ehemaligen DDR-Bürger, sondern auch die DDR-Bauwerke und die Kunst aus der DDR, die als zweitklassig abgewertet wurde. Wie die Werke im Kunstarchiv Beeskow zeigen, entsprach das nicht der Wahrheit. Tatsächlich kann man argumentieren, dass die Kunst in der DDR höher entwickelt war als in der BRD. Das merkten auch einige Sammler in West-Deutschland, die Kunst aus der DDR aufkauften.

Dr. Siegfried Wein leitete die Exkursion der Hellen Panke mit sehr amüsanten Geschichten und Anekdoten von Fontane über die märkische Landschaft um Beeskow. Hier kann man noch die typische Mark Brandenburg erleben, mit ihren vielen Flüssen und Seen, mit Wäldern und Feldern, mit kleinen Städtchen, die weit entfernt vom Weltgeschehen hübsch vor sich hin blühen wie Mauerblümchen. Trotz aller Naturschönheit leiden natürlich die Menschen hier sehr unter den kapitalistischen Verhältnissen und der sozialen Unsicherheit. Die jungen Leute flüchten, so schnell sie können.


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2021/09/17

Eine Japanische Glanzmispel

Fotografiert von © Ella Gondek im Juni


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Die Japanische Glanzmispel (Photinia glabra) gehört zur Familie der Rosengewächse (Rosaceae). Dank der Pflege von Ella Gondek hat sich die Glanzmispel schön entwickelt und blüht sogar. Und die Blätter der Glanzmispel glänzen in der Sonne.


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2021/09/14

"Wenn ich nicht tanzen kann, will ich eure Revolution nicht!"

Emma Goldman (1869-1940)


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2021/09/11

Bilder vom Christopher Street Day (CSD) 2021 in Berlin

Die große Demo der LGBTIQ Community
Die Polizei meldete 65.000 Demonstrierende, die Veranstalter 80.000.
Viele hatten eine FFP-2 Maske auf, wegen Corona.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, 24. Juli 2021.


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2021/09/08

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2021/09/05


Sabine Rahe
Die Kreuzberger Spatzen


Gefiederte Plusterbälle.
Muntere Schar.
In Staub und spiegelnder Pfütze
flatternd im Bad.

Blanke, dunkle Augen.
Die Köpfe schräg.
Blechernes Tschilpen.
Possierliches Hüpfen.

Grau, schwarz, braunes Federkleid.
Ihr macht Euch zu Scherzen bereit.
Stipt kurz auf das Knie.
Zetert eine Spatzensymphonie.

© Sabine Rahe, September 2021.
www.die-dorettes.de.


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2021/09/02

Wer ist der Nischel ?

von Dr. Christian G. Pätzold


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Das Karl-Marx-Monument in Chemnitz. Gestaltet von Lew Kerbel, 1971.
Quelle: Wikimedia Commons. Foto von André Karwath.


Nischel ist ein sächsisches Wort, das Kopf bedeutet. Es ist ein seltenes Wort, das zum Beispiel in Berlin nicht bekannt ist. Der Duden kann nichts über den Ursprung des Wortes sagen. Berühmt ist lediglich der Nischel, das ist der Spitzname des riesigen Kopfes von Karl Marx in Chemnitz in Sachsen, dem ehemaligen Karl-Marx-Stadt zu Zeiten der DDR.

Der Nischel in Chemnitz ist nicht etwa irgendeine Plastik, sondern tatsächlich mit 7,10 Meter Höhe der zweitgrößte Porträtkopf der Welt, nach dem Lenin-Kopf in Ulan-Ude in Sibirien, der 60 Zentimeter höher ist. Der Marx-Kopf wurde von dem Bildhauer Lew Kerbel gestaltet und 1971 aufgestellt. Der Bronze-Kopf wurde in Leningrad in zahlreichen Einzelteilen gegossen und in Karl-Marx-Stadt zusammengesetzt.

Lew Jefimowitsch Kerbel (1917-2003) war ein berühmter sowjetischer Bildhauer aus einer jüdischen Familie, der auch zum Beispiel das Kriegerdenkmal auf den Seelower Höhen und das Ernst Thälmann Denkmal in Berlin Prenzlauer Berg geschaffen hat. Der Marx in Chemnitz schaut etwas ernst, fast grimmig, als ob er sich darüber ärgern würde, was aus seiner Karl-Marx-Stadt geworden ist. Hinter dem Marx-Kopf ist an einer Hauswand der Satz "Proletarier aller Länder vereinigt euch!" in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch angebracht. Der Satz stammt aus dem »Kommunistischen Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels von 1848. Er steht für den Internationalismus von Marx und Engels. Karl Marx war übrigens, so viel bekannt ist, nie in Chemnitz.

Seht bitte auch den Artikel über das Ernst-Thälmann-Denkmal von Lew Kerbel von 2018/10/17 auf kuhlewampe.net.


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2021/08/31

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2021/08/29

Pieter Bruegel der Ältere: Die Kornernte, 1565
Detail: Die Bauern machen Mittagspause während der Kornernte


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Metropolitan Museum of Art/New York.
Quelle: Wikimedia Commons.


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2021/08/26

Das Eichhörnchen hat Appetit auf Sonnenblumenkerne


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Fotografiert von © Ella Gondek, Mai 2021.


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2021/08/23

Vor 500 Jahren: Gründung der Fuggerei in Augsburg als Armensiedlung

von Dr. Christian G. Pätzold


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Teilansicht der Fuggerei in Augsburg.
Quelle: Wikimedia Commons. Foto von Tiia Monto, 2017.


Vom 23. August 1521 datiert der Stiftungsbrief Jakob Fuggers, mit dem die Fuggerei als Armensiedlung in Augsburg gegründet wurde, als ein frühes Vorhaben des sozialen Wohnungsbaus, das bis heute existiert. Sie gilt sogar als die älteste Sozialsiedlung der Welt. Damit wurde Wohnraum für die arme Bevölkerung geschaffen, die nicht genug Geld hatte, um sich ein eigenes Haus zu bauen.

Jakob Fugger, genannt "der Reiche" (1459-1525), war der reichste Kaufmann im damaligen Deutschland, heute würde man sagen, er war ein Multimilliardär. Augsburg in Schwaben war damals eine bedeutende Handelsstadt mit Verbindungen nach ganz Europa. Jakob Fugger war der Sohn einer Kaufmannsfamilie und wurde in Venedig zum Kaufmann ausgebildet. Er erhöhte sein Vermögen vor allem durch die Errichtung eines Kupfermonopols. Er kaufte Bergwerke in Spanien, Tirol, Kärnten und Ungarn auf. Seit 1505 beteiligte er sich auch am große Gewinne abwerfenden ostindischen Gewürzhandel. Auch der lukrative Handel mit dem St.-Peter-Ablass wurde ihm vom Papst überlassen. Er wurde zum Bankier der Päpste sowie der Kaiser Maximilian I. und Karl V., wodurch das größte frühkapitalistische Bankhaus entstand. 1519 hatte er Karl V. für dessen Wahl zum römisch-deutschen Kaiser über 500.000 Gulden zur Verfügung gestellt. Mit diesem Geld wurden die Kurfürsten für Karl V. gewonnen.

Das Geschäftsgeheimnis Jakob Fuggers bestand darin, dass er in Schwierigkeiten befindlichen Fürsten Geld lieh, wofür er Handelsprivilegien und das Recht zur Ausbeutung von Bodenschätzen erhielt, was riesige Gewinne abwarf. Geld war also reichlich vorhanden, dass in erster Linie in Immobilien und Landbesitz angelegt wurde. Aber als Christ musste man auch etwas für die Armen tun, und so stiftete er für seine armen Augsburger Mitbürger die Fuggerei. Jedenfalls hat er dadurch die soziale Situation in Augsburg entschärft. Das frühe 16. Jahrhundert war ja auch die Zeit der Aufstände und des Bauernkrieges in Deutschland und in Schwaben.

Die Jahresmiete in der Fuggerei lag bei einem Rheinischen Gulden, was etwa dem Wert von 36 Hühnern entsprach und nicht sehr viel war. Allerdings war Jakob Fugger praktisch veranlagt und dachte auch an sein persönliches Seelenheil im Himmel. So mussten die Bewohner Katholiken sein und täglich 1 Glaubensbekenntnis, 1 Ave Maria und 1 Vaterunser für den Stifter und seine Familie beten.

Und so ist es bis heute geblieben. Die Bewohner müssen immer noch Katholiken sein und täglich die 3 Gebete beten, das ist Bedingung für eine Sozialwohnung in der Augsburger Fuggerei. Allerdings beträgt die Jahreskaltmiete für eine 60 Quadratmeter große Wohnung heute nur noch 0,88 Euro. Das ist wirklich preiswert, wenn man es mit dem Mietenwahnsinn in Berlin vergleicht. Die Siedlung besteht heute aus 7 Gassen mit 67 Reihenhäusern zu 2 Wohnungen. Die Verwaltung der Stiftung liegt immer noch in den Händen der Familie Fugger. Es ist schon erstaunlich, dass sich diese Sozialsiedlung 500 Jahre lang in fast identischer Form erhalten hat. Es gibt ein Museum zur Geschichte der Siedlung.


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2021/08/20

Dr. Hans-Albert Wulf
Zu Besuch beim Priester


Der Teufel stand nun bald seit zwei Stunden in einer Menschenschlange vor dem Einwohnermeldeamt. Da er etwas länger in der Stadt bleiben wollte, musste er einen zweiten Wohnsitz anmelden. Als er endlich an die Reihe kam und sein Antragsformular einreichte, fragte ihn der Beamte, welches denn nun eigentlich sein erster Wohnsitz sei. Herrje! Was sollte er denn da nur angeben! Was ist denn um Gotteswillen sein erster Wohnsitz? Der Himmel? Aber dort war er ja bekanntlich rausgeflogen. Außerdem, würde er den Himmel als ersten Wohnsitz eingeben, würde man ihn mit Sicherheit sofort in die Psychiatrie einweisen. Deprimiert verließ er diese Stätte der Bürokratie.

Wo sollte er denn diese Nacht nur schlafen? Er irrte ratlos durch die Stadt und irgendwann spät abends landete er auf einem Friedhof. Zunächst zögerte der Teufel noch, weil er schon immer Angst vor Geistern und Gespenstern hatte, aber er überwand sich schließlich, betrat die Friedhofskapelle und rollte sich zum Schlafen in eine Ecke.

Am nächsten Morgen schlurfte er übernächtigt durch die Straßen. Zu seinem Glück wurde er von einem mildtätigen Priester aufgegriffen und der bot ihm ein möbliertes Zimmer in seinem Pfarrhaus an. Wegen irgendwelcher Mietzahlungen müsse er sich keine Sorgen machen. Er könne ihm ja im Garten und beim Schreiben seiner Predigten helfen. Der Priester fuhr übers Wochenende zu einer Tagung und der Teufel nahm die Gelegenheit wahr und machte es sich im Arbeitszimmer seines Gastgebers bequem. Erstmal nahm er einen kräftigen Schluck Rotwein aus der angebrochenen Flasche, die auf dem Schreibtisch stand.

Auf dem Tisch lag ein schönes silbernes Kruzifix und als er es näher in Augenschein nahm, entdeckte er an der Längsseite des Kruzifixes ein einmontiertes Klappmesser. Wozu um Himmelswillen braucht ein katholischer Priester solch ein Gerät? Um Ungläubige in Schach zu halten? Wohl eher nicht. Dazu ist die Klinge zu kurz. Dann doch wohl nur als harmlosen Brieföffner.

Nachdem der Teufel sich noch einmal Rotwein nachgegossen hatte, widmete er sich den Büchern und Broschüren, die auf dem Schreibtisch des Priesters lagen. Er nahm ein weiteres Mal einen kräftigen Schluck aus der Rotweinflasche und zündete sich dann eine Zigarre aus den priesterlichen Tabakvorräten an. Nachdem er sich einigermaßen von dem Rauch hatte benebeln lassen, fiel seine Aufmerksamkeit auf einen größeren blauen Band mit dem feierlichen Titel "Katechismus der katholischen Kirche". Der Teufel nahm es zur Hand und das Wasser lief ihm im Munde zusammen.

Er hatte ja schon viele katholische Grundsatzwerke ins Visier genommen, aber hier ging es ja direkt ans Eingemachte. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass sich der wahre Kritiker über ein Buch hermacht, so wie sich ein Kannibale einen Säugling zurüstet. Der Teufel nahm sich dies zu Herzen und wollte diesem Vorbild nachfolgen. Allerdings hatte er überhaupt keine Lust, 800 Seiten katholische Vorschriften und Richtlinien durchzuarbeiten. Also begnügte er sich einstweilen mit dem Stichwortregister am Ende des Bandes. Wer und was sind denn nun die Highlights des Katechismus? Dass Gott im Zentrum steht, versteht sich von selbst. Aber dann kommt auch schon fast genauso häufig die Sünde - und dies in allen erdenklichen Spielarten: Ursünde, Sünde als Verführung durch den Teufel, Sündenstrafen, lässliche Sünden, zeitliche und ewige Sündenstrafen, Vielgestaltigkeit der Sünden, Hauptsünden, himmelschreiende Sünde, Unterscheidung zwischen Todsünde und lässlicher Sünde. Sünde aus Bosheit, Sünden gegen den Glauben.

Von soviel Sündentheater musste sich der Teufel erst einmal erholen. Gibt es denn andere Weltreligionen, bei denen die Sünde ähnlich stark im Zentrum steht? Und wie steht es dabei mit dem Teufel? Ist er der Urheber all dieser Sünden? Und was ist dort über die Hölle zu lesen? Glauben die Menschen tatsächlich, dass es sie gibt? Gibt es den Teufel leibhaftig oder ist er nur die Umschreibung des Bösen schlechthin? Lassen wir den katholischen Katechismus sprechen: "Das Böse ist nicht etwas rein Gedankliches, sondern bezeichnet eine Person, Satan, den Bösen, den Engel, der sich Gott widersetzt." "Der Teufel war ein Mörder von Anfang an...denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge. Er ist es, der Satan heißt und die ganze Welt verführt. Durch ihn sind die Sünde und der Tod in die Welt gekommen."

So geballt hatte der Teufel bislang noch nichts über sich selbst und sein Tun gelesen. Und er war geschmeichelt, dass man ihm all dies zutraute. Und er musste schlucken, wenn es rauskommt, dass der Priester ihn, den Leibhaftigen, bei sich beherbergt.

Und wie steht es nun mit der Hölle? "Die Lehre der Kirche sagt, dass es eine Hölle gibt und dass sie ewig dauert. Die Seelen derer, die im Stand der Todsünde sterben, kommen sogleich nach dem Tod in die Unterwelt, wo sie die Qualen der Hölle erleiden, 'das ewige Feuer'." Das ist schwerer Tobak dachte sich der Teufel. "Gottseidank dass ich nie in der Hölle war." Er war ja bekanntlich ohne jeden Umweg vom Himmel direkt auf die Erde gestürzt. Aber anders als in der Prädestinationslehre des Reformators Johannes Calvin ist dem Menschen die Hölle nicht vorherbestimmt. Wir können durch unser Handeln auf Erden selbst entscheiden, ob wir "den ewigen Tod" in der Hölle erleiden wollen.

Nach solch deftiger religiöser Kost machte der Teufel, der am Schreibtisch des Priesters saß, eine kleine Pause. Und als er seine Augen ziellos über den priesterlichen Schreibtisch schweifen ließ, entdeckte er einen weiteren literarischen Leckerbissen. Es war ein schmales graues Heftchen mit dem irrwitzigen Titel "Männerbeichte", in dem der Sünder sich reuevoll und zerknirscht mit seinen schlechten Taten und Gedanken abquälen sollte. Man geht ins Detail: "Freiwillig und bewusst unkeusche Lust in mir erweckt durch Gedanken und Vorstellungen? Mit schlechter Absicht Menschen, Tiere, Bilder betrachtet. Schlechte Reden freiwillig angehört? Mich versündigt durch schlechte Witze?

Unanständig getanzt? Im Ernst etwas Unkeusches tun wollen? Berührungen unkeuscher Absicht an mir selbst vorgenommen? Unkeusches allein getan (Selbstbefriedigung)? Andere zur Unkeuschheit verleiten wollen? Zur Unkeuschheit gezwungen? (Wen?) Unkeusches getan mit anderen: mit Mädchen, Frauen, Männern oder Kindern? Mich und andere durch Zärtlichkeiten in die Gefahr der Sünde gebracht?" Dem Teufel reichte es und er warf die Broschüre mit Widerwillen in den Papierkorb. Großer Gott! Was hatte sich die Kirche nur alles an Sünden ausgedacht? Es fehlten nur noch die Hunde, Katzen und Ziegen.

Auf dem Schreibtisch lag eine Zeitung von der letzten Woche mit den Todesanzeigen und dort war eine Anzeige mit einem Rotstift angemarkert. Und jetzt erinnerte sich der Teufel wieder, dass der Pfarrer, der ja am Wochenende auf einem kirchlichen Seminar weilte, ihn, den Teufel, gebeten hatte, stellvertretend zu dieser Beerdigung zu gehen. Wilhelm Kronacher hatte der Tote geheißen und nach der Zahl seiner Todesanzeigen, musste er ein hohes Tier in der kirchlichen Hierarchie gewesen sein. In einer Stunde sollte die Beerdigungsfeier beginnen. Der Teufel zog schnell die alte Soutane des Priesters an, die an der Garderobe hing, und eilte von dannen.

Als er die Friedhofskapelle betrat, wehte ihm ein schwerer modriger Kellergeruch entgegen. Vorne rechts war der eichene blumengeschmückte Sarg aufgebahrt. Links am Fenster spielte ein älterer Mann auf einem Harmonium getragene Beerdigungsmusik; natürlich das unverwüstliche Largo von Händel.

Bei seinem Eintritt wurde der Teufel zunächst für den diensthabenden Beerdigungspfarrer gehalten. Als der jedoch kurz darauf selbst außer Atem auftauchte, wurde dieses Missverständnis Gottseidank schnell aufgeklärt. Der Teufel verzog sich auf eine der hinteren Bänke und sinnierte vor sich hin. Warum war er denn überhaupt hierhergekommen? Mit dem Toten verband ihn doch gar nichts. Er kannte ihn ja kaum. Ach ja, der Priester, sein Hausherr, hatte ihn darum gebeten. Kronacher war Bischof gewesen und während seiner Amtszeit hatte es einige unangenehme Dinge in seiner Diözese gegeben. Missbrauch von Kindern. Außerdem soll er jahrelang ein Verhältnis mit seiner Haushälterin gehabt haben. Als sich die Fälle von Kindesmissbrauch häuften, genügte es nicht mehr, die Pfarrer, die sich an den kleinen Messdienern vergangen hatten, jeweils in eine andere Diözese zu versetzen. Der Druck der Öffentlichkeit war inzwischen derart angestiegen, dass man sich genötigt sah, ein Gutachten in Auftrag zu geben. Die kirchlichen Würdenträger, vorweg der Erzbischof wollten dieses Gutachten jedoch nicht publik machen, sondern unter Verschluss halten. Doch dies führte dazu, dass die öffentliche Empörung explodierte. Wozu braucht es denn überhaupt solch kleiner knuspriger Jungen in den katholischen Ritualen. Man könnte ja anstatt ihrer altgediente und pensionierte Gemeindemitglieder beiderlei Geschlechts dem Priester im Gottesdienst zur Seite stellen, die damit noch einmal eine sinnvolle Aufgabe im Alter erhielten.

Nachdem die Totenfeier mit der Würdigung des Verstorbenen beendet war, schritt die Trauergemeinde feierlich und gemessen zu den etwas schiefen Klängen des Harmoniums hinaus zum Friedhof. Zuvor hatten sich Freunde und Angehörige ins Kondolenzbuch eingetragen. Der Teufel ließ sich dabei eine Boshaftigkeit nicht entgehen, indem er hineinschrieb "Ich wünsche der Familie des Dahingeschiedenen wunderschöne Erbschaftsstreitigkeiten. Der Leibhaftige" Der Pfarrer stand draußen am Sarg des Verstorbenen und besprenkelte ihn mit einem Schwall von Weihwasser. Wenn es nach der Lehre der katholischen Kirche gegangen wäre, hätte unser Teufel jetzt schreiend auf- und davonstürzen müssen. Denn angeblich fürchtet er ja das Weihwasser wie sonst nichts auf Erden. Darüber musste der Teufel jedoch nur herzlich in sich hineinlachen. Denn das Weihwasser ist ja bekanntlich, sowohl medizinisch als auch spirituell nichts weiter als ein Placedo. Das Weihwasser soll die Menschen vor dem Bösen, also dem Teufel schützen. Und immer wenn sie in eine Kirche gehen, sollen sie sich damit besprenkeln, um dadurch an den Teufel und die drohende Hölle gemahnt zu werden. Der Teufel hatte es sich inzwischen auf einem Grabstein bequem gemacht und wunderte sich, wie abergläubisch die Menschen auch heute noch sind.

Der Sarg wurde in die Grube gelassen und dazu der Satz gesprochen "Wir übergeben den Leib der Erde. Christus, der von den Toten auferstanden ist, wird auch unseren Bruder zum Leben erwecken." Der Pfarrer erinnerte mit einer Bibelstelle an die christliche Hoffnung der Auferstehung. Der Sarg im Grab wurde nun nochmals mit Weihwasser und Weihrauch umnebelt. Beides sind Zeichen für die Taufe und das christliche Leben des Verstorbenen. "Von der Erde bist du genommen und zur Erde kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken." Der Pfarrer bekreuzigte noch einmal den Sarg und warf dann mit einer kleinen Schaufel etwas Erde hinunter und die umstehenden Trauernden taten es ihm gleich. Der Teufel war indessen von all dem Rotwein aus dem Arbeitszimmer seines frommen Gastgebers derartig betüttert, dass er statt die Erde in das Grab zu werfen, in seine Soutane griff und dem Verstorbenen versehentlich das silberne Kruzifix mit dem Klappmesser hinunterwarf. Als er sich dieses Fauxpas inne ward, nahm er seine Beine unter die Arme und suchte geschwind das Weite.

© Dr. Hans-Albert Wulf, August 2021.


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2021/08/17

Freie Ufer für Alle !
Seen und Flüsse müssen öffentlich zugänglich sein.


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Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2013.


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2021/08/13

Zum 150. Geburtstag von Karl Liebknecht

von Dr. Christian G. Pätzold


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Karl Liebknecht um 1911.
Quelle: Wikimedia Commons.


Karl Liebknecht wurde am 13. August 1871 in Leipzig geboren. Er war einer der berühmtesten deutschen Sozialisten und einer der GründerInnen der KPD. Im selben Jahr 1871 wurde auch Rosa Luxemburg geboren, mit der er später eng zusammenarbeitete. 1871 war auch das Jahr der Gründung des Deutschen Kaiserreichs, in dem er sein ganzes Leben verbrachte. Pomp und Gloria des Kaiserreichs haben ihn aber nicht sonderlich beeindruckt. Stattdessen arbeitete er sein ganzes Leben lang gegen den Preußischen Militarismus und war als Internationalist und Pazifist bekannt. Beruflich studierte er Rechtswissenschaften und wurde Rechtsanwalt. Schon damals gab es viele Rechtsanwälte und Publizisten unter den Berufspolitikern.

Karl Liebknecht war der Sohn von Wilhelm Liebknecht (1826-1900), des bekannten Arbeiteranführers im Kaiserreich. Durch diese familiäre Verbindung hatte er schon eine prominente Stellung in der SPD. Seit 1912 war Karl Liebknecht für die Sozialdemokratische Partei (SPD) Mitglied des Deutschen Reichstags. Als 1914 die Finanzierung des 1. Weltkriegs abgestimmt wurde, stimmte er als einziger Abgeordneter im Deutschen Reichstag gegen die Kriegskredite, am 2. Dezember 1914. Er war tatsächlich fast der einzige aufrechte Sozialdemokrat, der im Reichstag noch übrig geblieben war. Alle anderen Abgeordneten waren von der kaiserlichen Kriegspropaganda komplett geistig umnebelt oder eingeschüchtert. Dieser Zusammenbruch der deutschen Arbeiterbewegung war ein eklatantes Beispiel für eine Massenpsychose. Es waren übrigens alles Männer, die für den Weltkrieg abstimmten, denn Frauen durften damals noch keine Abgeordnete sein. Wenn man auf Karl Liebknecht gehört hätte, wären viele Millionen Menschen am Leben geblieben.

1917 gründete er mit Rosa Luxemburg den Kommunistischen Spartakusbund. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht saßen damals wegen ihrer Stellungnahmen gegen den Krieg im Gefängnis, denn der Kaiser sperrte alle Kriegsgegner ein. Am 9. November 1918 rief Karl Liebknecht vom Berliner Schloss aus die "freie sozialistische Republik Deutschland" aus. Ende Dezember 1918 gründeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), da sich die SPD von einer sozialistischen Politik verabschiedet hatte. Während des Spartakusaufstandes im Januar 1919 wurde er in Berlin zusammen mit Rosa Luxemburg von rechtsradikalen Truppen im Auftrag der SPD-Führung um Ebert und Noske gefangen genommen und am 15. Januar ermordet. Karl Liebknecht wurde im Berliner Tiergarten erschossen, Rosa Luxemburg wurde erschlagen und in den Landwehrkanal geworfen.

Im Unterschied zu Rosa Luxemburg war Karl Liebknecht kein marxistischer Theoretiker, sondern eher ein politischer Aktivist, der vor allem durch seinen Antimilitarismus bekannt wurde. Die Gräber von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg befinden sich heute auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin Friedrichsfelde. Jedes Jahr im Januar findet dort die große Demo zu ihrem Andenken statt. Außerdem ist nach ihm das Karl-Liebknecht-Haus in Berlin Mitte benannt.


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2021/08/11


Digital Op Art von Art Kicksuch
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© Art Kicksuch, August 2021.


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2021/08/08


brecht


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2021/08/05


Domenico Losurdo: »Der westliche Marxismus«
Eine Rezension von Andreas Wehr


Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus - wie er entstand, verschied und auferstehen könnte,
PapyRossa Verlag, Köln 2021, 280 Seiten, 19,90 Euro.
ISBN 978-3-89438-694-8

Der im Juni 2018 verstorbene italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo war einer der wichtigsten marxistischen Theoretiker weltweit. 2017 erschien sein Buch »Il marxismo occidentale. Comme nacque, come morì, come può rinascere«. Nun liegt die deutsche Übersetzung mit dem Titel Der westliche Marxismus - wie er entstand, verschied und auferstehen könnte vor. [1]

Darin geht der Autor der Frage nach, wie sich der beispiellose Niedergang einst mächtiger kommunistischer und sozialistischer Bewegungen in Westeuropa erklären lässt. Eine Frage, mit der er sich bereits in früheren Büchern befasst hatte: »Wenn die Linke fehlt - Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg« von 2014, »Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten?« von 2013, sowie in »Stalin - Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende« aus dem Jahr 2012. Manches von dem darin Beschriebenen findet sich im "Westlichen Marxismus..." wieder - nun aber verdichteter, polemischer und philosophisch tiefer durchdacht.

Mit dem Untergang der Sowjetunion und des europäischen sozialistischen Staatensystems ist für Losurdo die Geschichte des realen Sozialismus keineswegs vorüber. Mit der Volksrepublik China existiert weiterhin ein mächtiges Land, das aus einer antikolonialen Revolution hervorging, von einer kommunistischen Partei regiert wird und sich auf dem Weg zum Sozialismus sieht. Und es gibt Vietnam, dessen jahrzehntelangen Befreiungskampf der Autor ausführlich würdigt. Zudem existiert das sozialistische Kuba, das sich seit mehr als 60 Jahren dem brutalen Embargo der USA widersetzt. Der Marxismus des Ostens lebt! [2]

Ganz anders der westliche Marxismus. Über Jahrzehnte wurde über diesen in Debatten, Proklamationen und Büchern von Philosophen, Schriftstellern und Politikern gesprochen, geschrieben und gestritten, ohne dass er irgendeine Chance auf Verwirklichung hatte. Kurz vor dem Untergang der Sowjetunion schöpfte er noch einmal Hoffnung, weil sich das Land des "Roten Oktober" zu reformieren schien. Der Eurokommunismus in Italien, Frankreich und Spanien markierte dann das letzte Aufbäumen des westlichen Marxismus, bevor er - nicht ganz unerwartet - verschied. Die einst einflussreichen kommunistischen Parteien des europäischen Westens sind mittlerweile bis auf wenige zerfallen oder haben sich zu sozialdemokratischen, wenn nicht sogar zu liberalen Parteien gewandelt.

Worin liegen aber die Gründe für diese Auseinanderentwicklung von Ost und West? Ausgangspunkt ist für Domenico Losurdo das Jahr 1917: "Die Oktoberrevolution war zum Sieg gelangt, indem sie im Westen zur sozialistischen und im Osten zur antikolonialen Revolution aufrief." (60) Doch die westliche sozialistische Revolution blieb aus. Ganz anders die antikoloniale Revolution, "die hatte man nie aus den Augen verloren, nun wurde sie in kurzer Zeit unerwartet zentral und vom westlichen Marxismus mit Argwohn betrachtet". (60) "Über die nationale (und koloniale) Frage begann sich in der Epoche des Imperialismus eine spürbare Unterscheidung zwischen westlichem und östlichem Marxismus abzuzeichnen." (59) Losurdo würdigt dabei den Weitblick Lenins: "Die schon bei Lenin selbst mühselige und nicht von Schwankungen freie Erkenntnis von der andauernden und wachsenden Bedeutung der kolonialen und nationalen Frage traf, trotz des Sieges der Oktoberrevolution und ihres sozialistischen und internationalistischen Pathos, auf starke Widerstände in den Kreisen der marxistischen und kommunistischen Linken in Europa." (57)

Grund dafür war, dass sich die westliche Linke am Ende des ersten Weltkriegs in einer besonderen politischen und nicht zuletzt psychologischen Situation befand: Das Massenmorden an den Fronten im Weltkrieg hatte in Europa Millionen Menschen die Niedertracht, Ruchlosigkeit und Brutalität der europäischen imperialistischen Staaten vor Augen geführt und zugleich eindrucksvoll die historische Überkommenheit des Kapitalismus als auch des staatlichen Zwangsapparats gezeigt: Nicht die koloniale oder nationale Befreiung einzelner Länder stand daher auf der Tagesordnung, sondern die Weltrevolution! Und die konnte ihren Mittelpunkt - nach erfolgter Initialzündung in Russland - doch nur im westlichen Europa haben. Die nationale Befreiung der Kolonialländer wurde demgegenüber als nachrangig, ja geradezu illusionär angesehen: "Bewies der 1914 ausgebrochene gigantische Kampf um die Welthegemonie zwischen den gegnerischen imperialistischen Bündnissen nicht die Don-Quichotterie des Versuchs der einen oder anderen unterdrückten Nation, ihre nationale Unabhängigkeit zu erlangen? Was vermochte David gegen Goliath? Wenn sie wunderbarerweise doch dazu gekommen wäre, ihre politische Unabhängigkeit zu erlangen, würde sie doch ökonomisch abhängig bleiben und müsste weiterhin auf die eine oder andere Art die von der einen oder anderen Macht ausgeübte Unterdrückung ertragen. Folglich bestand das wirkliche Problem doch darin, ein für alle Mal, für immer und weltweit dem kapitalistisch-imperialistischen System ein Ende zu setzen." (58)

Mit Ironie polemisiert ein damals noch völlig unbekannter vietnamesischer Student auf dem Gründungsparteitag der Französischen Kommunistischen Partei 1920 in Tours gegen diese eurozentristische Weltsicht: "Genossen, ich wäre gerne gekommen, um mit Euch mitzuarbeiten am Werk der Weltrevolution, aber mit größter Trauer und tiefster Verzweiflung komme ich heute als Sozialist, um gegen die abscheulichen Verbrechen zu protestieren, die in meinem Heimatland begangen werden." (50) Der Redner sollte Jahrzehnte später unter dem Namen Ho Chi Minh Weltgeschichte schreiben.

Das Unverständnis bzw. die Geringschätzung des antikolonialen und auf nationale Befreiung gerichteten Kampfes durchzieht die gesamte Geistesgeschichte des westlichen Marxismus. Domenico Losurdo weist dies in den Werken von mehr als einem Dutzend Philosophen, Schriftstellern und Politikern nach, von Hannah Arendt bis Slavoj Žižek. Er demonstriert dabei sein immenses Wissen und seine souveräne Sicht auf all diese Denker, von denen zwar nur wenige als Marxisten bezeichnet werden können, die aber Einfluss auf den westlichen Marxismus nahmen. Vor allem auf Ernst Bloch geht Losurdo ausführlich ein. In ihm sieht er den Begründer einer "Religion des Westens". Auf einer christlich-jüdischen Tradition aufbauend, schwingen in seinem Werk "nicht selten messianische Motive mit (die Erwartung eines 'Kommunismus', mit dem jeglicher Konflikt und Widerspruch verschwinden sollte, damit eine Art 'Ende der Geschichte')." (258)

Auch Hannah Arendt nimmt im Buch Losurdos eine herausgehobene Rolle ein. Eine Philosophin, die als verfolgte Jüdin anfangs von der emanzipatorischen Ausstrahlung der Sowjetunion fasziniert war, um später aber - im US-amerikanischen Exil - mit der bis heute vorherrschenden Gleichsetzung von Hitlerfaschismus und Sowjetunion als "totalitäre Systeme" schlechthin zu der Kronzeugin des Antikommunismus zu werden. Ihr, aber auch Herbert Marcuse, wirft der Autor des Buches vor, vollkommen verkannt zu haben, dass es sich bei dem gigantischen militärischen Ringen zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion im Kern um nichts anderes als um den Kampf zwischen antikolonialer und nationaler Befreiung einerseits und imperialistischer bzw. kolonialer Versklavung andererseits ging, war es doch das erklärte Ziel Hitlers "für Deutschland ein Kolonialreich auf dem Kontinent errichten zu wollen" (57), das deutsche Indien. Er war es, "der den größten Kolonialkrieg der Geschichte" entfesselte (160). Als Flüchtlinge in den USA konnten bzw. wollten aber weder Arendt noch Marcuse sich eingestehen, dass vieles von dem, was Nazideutschland dabei zur tödlichen Perfektion entwickelte, eine brutale Radikalisierung von Ideologien und Praktiken des westlichen Imperialismus und Kolonialismus war, wie man sie aus Frankreich, Großbritannien und vor allem aus den USA kannte. So hat Hitler die in den USA bis in die 60er Jahre hinein praktizierte rigorose Rassentrennung stets als Vorbild für das Dritte Reich angesehen und die ihr zugrunde liegende Ideologie der "white supremacy" bewundert.

Seit Anfang der 1970er Jahre trafen die Ansichten Arendts, wie sie vor allem im dritten Teil ihres Werks Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft dargelegt sind, "auf keinen Widerspruch in Kreisen des westlichen Marxismus, der nun in seinem Endstadium ankam". (166) "Der westliche Marxismus hat es nicht verstanden, sich dieser ideologischen Operation zu widersetzen." (161) Als Beispiel dafür nennt Losurdo das im Jahr 2000 vorgelegte Werk Empire. Die neue Weltordnung von Michael Hardt und Antonio Negri, in dem die beiden Autoren die These Arendts "wonach der Kolonialismus und der Imperialismus den USA fremd gewesen seien, (...) unkritisch wieder aufgenommen" haben. (169)

Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts schien es so, als habe der westliche Marxismus seine Lektion gelernt, indem er den antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungsbewegungen endlich jenen Stellenwert einräumte, den sie verdienen. Es war die Zeit der Solidarität mit der Revolution in Kuba und mit dem Kampf der algerischen Nationalen Befreiungsfront. Vor allem aber war es das Moment der Verurteilung eines von den USA rücksichtslos geführten Krieges, mit dem sie die Herstellung der nationalen Einheit Vietnams unter sozialistischen Vorzeichen verhindern wollten. Auch die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel wurde in jenen Jahren zu einem Thema der westlichen Linken. Später kam die Unterstützung der Sandinisten in Nikaragua hinzu. In jener Zeit bekannte sich mit Herbert Marcuse sogar ein Vertreter der kritischen Theorie zum Antiimperialismus. Losurdo zitiert ihn mit den Worten: "Der Krieg in Vietnam (hat) zum ersten Mal das Wesen der bestehenden Gesellschaft enthüllt' und das heißt 'die ihr innewohnende Notwendigkeit der Expansion und Aggression'". (119)

Doch die Liaison des westlichen Marxismus mit den sich real vollziehenden Kämpfen der Dritten Welt um ihre antikoloniale und nationale Befreiung hielt nur wenige Jahre. Nach den schließlich dort errungenen Siegen erlahmte im Westen das Interesse. Als sich diese Länder "den Mühen der Ebenen" (Bertolt Brecht) gegenübersahen, sie daran gehen mussten, den ökonomischen Aufbau ihrer vom Krieg verwüsteten Länder in Angriff zu nehmen, zogen sich viele westliche Linke desinteressiert zurück. Nicht wenige von ihnen entwickelten sogar eine tiefe Feindseligkeit gegenüber den befreiten Ländern, entsprachen sie doch nicht mehr ihren hehren Idealen.

Mit Unverständnis reagierten diese "schönen Seelen" darauf, dass dort nicht der Staat einfach "abstarb" und jene von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest angekündigte "freie Assoziation" der Produzenten an seine Stelle trat, sondern vielmehr ein starker und autoritärer Staat errichtet wurde, der dem westlichen Verständnis von Zivilgesellschaft und individueller Freiheit wenig Raum ließ. Doch das konnte nicht anders sein, waren doch nur so die antiimperialistischen Revolutionen zu sichern, kam es unter allen Umständen auf die Bewahrung politischer Stabilität an. Mit Befremden wurde zudem registriert, dass viele dieser Länder bei der Gleichstellung der Frauen und der Nichtdiskriminierung sexueller Minderheiten nicht den Standards einiger Länder des Westens entsprachen. Schon gar nicht waren die "schönen Seelen" damit einverstanden, dass diese Staaten nicht ihren Idealen von einer klassenlosen Gesellschaft, errichtet auf gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln, entsprechen wollten, sondern auf marktwirtschaftliche, ja sogar staatskapitalistische Methoden zurückgriffen, um die ökonomische Entwicklung schneller voranzubringen. Erst China, dann Vietnam und schließlich auch Kuba schlugen diese Richtung ein.

In den Augen nicht weniger westlicher Linker waren somit die antiimperialistischen Revolutionen am Ende vergeblich gewesen, hatten nichts Neues unter der Sonne hervorgebracht. Die "Vergeblichkeit" ist aber ein steter Begleiter christlich-jüdischen messianischen Denkens, bekanntlich ist das Reich des Erlösers "nicht von dieser Welt". Nach Domenico Losurdo bedarf es daher des vollständigen Bruchs mit diesem Denken, will der westliche Marxismus wieder auferstehen. Dabei kann er sich an Gesellschaften wie der chinesischen orientieren: "Der Messianismus fehlt (...) weitgehend in einer Kultur wie der chinesischen, die in ihrer tausendjährigen Entwicklung vor allem durch ihre Aufmerksamkeit für die weltliche und soziale Realität gekennzeichnet ist." (258)

Ein so erneuerter westlicher Marxismus wird sich einfügen müssen in die unterschiedlichen Marxismen der Kulturen und Länder der Welt. Er muss Teil des Ganzen werden entsprechend der Hegelschen These, dass das Wahre das Ganze ist.

[1] Die Zahlen in Klammern verweisen auf die entsprechenden Seiten im Buch.

[2] Osten soll hier nicht als geografischer Begriff verstanden werden, liegt doch etwa Kuba bekanntlich westlich von Europa. Schon Antonio Gramsci hatte aber bereits darauf hingewiesen, dass man Marokko politisch und kulturell durchaus zu Recht zum Süden rechnet, obwohl das Land doch westlich von Italien liegt.

Der Text erschien in der Zeitschrift Marxistische Blätter 3_2021.

© Andreas Wehr, August 2021.


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2021/08/02


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Job Garantie statt Langzeitarbeitslosigkeit, statt MAE und statt geschönter Arbeitslosenzahlen vor der Wahl !

Einen Job (mit Sozialversicherung) im Öffentlichen Dienst für alle,
die das möchten !


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2021/07/31

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2021/07/26

Obdachlose in Berlin Steglitz - Housing First !

Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2021


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Den Obdachlosen werden vom Berliner Staat teilweise mit Ungeziefer infizierte Unterkünfte zugewiesen, in denen sie gebissen werden und erkranken.
Manche private Vermieter nehmen und erhalten 70 €uro pro Schlafplatz und Nacht und sind inzwischen schon Millionäre (Obdachlosigkeitsmillionäre) geworden.
Quelle: inforadio vom rbb, 12. Juli 2021.

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2021/07/23

Gründung der Kommunistischen Partei Chinas in Shanghai vor 100 Jahren

von Dr. Christian G. Pätzold


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Stätte des Gründungskongresses der Kommunistischen Partei Chinas in Shanghai
Quelle: Wikimedia Commons. Fotografiert von Pyzhou.


Vor genau 100 Jahren, am 23. Juli 1921, begann der Gründungskongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) in Shanghai. Zu den 13 Anwesenden gehörte auch Mao Zedong (1893-1976), der 1949 in Beijing die Volksrepublik China ausrief. Heute hat die KPCh nach offizieller Angabe 95 Millionen straff organisierte Mitglieder und gilt damit als zweitmitgliederstärkste politische Partei der Welt, nach der indischen Bharatiya Janata Party. 95 Millionen Mitglieder entsprechen etwa 10 % der erwachsenen Bevölkerung. Das ist schon ein hoher Prozentsatz für eine politische Partei und zeigt, dass die Menschen in China relativ stark politisiert sind. Hinzu kommen noch 80 Millionen Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes. Die KPCh hat keine Nachwuchssorgen. Im Gegenteil: Viele wollen Parteimitglied werden und man muss sich aufwändig bewerben, um auserwählt zu werden. Die große internationale Bedeutung der KPCh ist ein triftiger Grund, ihre politische Ausrichtung etwas näher zu betrachten.

Es würde hier zu weit führen, die gesamte ereignisreiche Geschichte der KPCh in den letzten 100 Jahren im Einzelnen nachzuzeichnen, zum Beispiel den Langen Marsch oder den nationalen Befreiungskampf gegen die japanischen Aggressoren oder die Große Proletarische Kulturrevolution oder die zahlreichen ideologischen Wandlungen. Für die heutige Situation in China sind vor allem die letzten 40 Jahre wichtig. Anfang der 1980er Jahre gelangte Deng Xiaoping (1904-1997) zu überragendem Einfluss in der KPCh. Er beendete die sozialistische Politik Mao Zedongs und der Kulturrevolution. Auf Deng geht der kapitalistische und marktwirtschaftliche Kurs in China zurück, der bis heute verfolgt wird. Von Deng wird gern der Ausspruch zitiert: "Egal ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse." Damit wollte er sagen, dass es egal sei, ob Kapitalismus oder Sozialismus herrsche, Hauptsache wir werden reich und wohlhabend.

Kapitalistische Privatunternehmen, sogar ausländische, wurden zugelassen oder regelrecht angeworben, die sich inzwischen zu riesigen Mammutkonzernen entwickelt haben. Es wurden Sonderwirtschaftszonen und Freihandelszonen für kapitalistische Unternehmen aus dem Ausland eingerichtet, in denen Vergünstigungen bestanden. Das neue Wirtschaftssystem Chinas wurde als "Sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Merkmalen" bezeichnet. Tatsächlich hat sich aber wohl eher eine kapitalistische Marktwirtschaft mit staatlicher Lenkung durch die KPCh entwickelt. Oder mit einem Wort: Ein Staatskapitalismus. In diesem Punkt kann ich den Sinologen Prof. Dr. Felix Wemheuer von der Universität Köln anführen: "Die Reformen waren bezogen auf Wirtschaftswachstum sehr erfolgreich, allerdings um den Preis, dass auch die Gesellschaft in China meiner Meinung nach kapitalistisch wurde." (Interview im »Neuen Deutschland« vom 1. Juli 2021).

Was macht den Kapitalismus im heutigen China aus? Es gibt riesige private Konzerne, in denen Menschen ausgebeutet werden. Nach glaubwürdigen Berichten gibt es heute in China mehr Dollar-Millionäre und Milliardäre als in den USA. Die Ungleichheit in den Einkommen und Vermögen wächst immer mehr. Eine Klasse von Superreichen steht einer Klasse von Millionen von armen Wanderarbeitern gegenüber. Dieser Klassengegensatz ist typisch für ein kapitalistisches System. Im Sozialismus und Kommunismus dagegen wird die Gleichheit zwischen den Menschen und eine klassenlose Gesellschaft angestrebt. Weitere kapitalistische Merkmale in China sind die Aktienspekulation an den Börsen und die Immobilienspekulation auf den Wohnungsmärkten sowie riesige leistungslose Einkommen. Hinzu kommt eine grenzenlose Verschmutzung der Umwelt durch Abgase und Industriegifte. All das sind typische kapitalistische Merkmale, jedenfalls kein Sozialismus nach marxistischen Grundsätzen. Die oberste Maxime der KPCh ist: "Dem Volke dienen!" Aber dient es dem Volk, wenn eine kleine Klasse von Millionären und Milliardären das Land für sich gekapert hat? So viel zur Innenpolitik.

Was die Außenpolitik der Volksrepublik China betrifft, so zeigt sie deutliche imperialistische Züge. China versucht, seine Grenzen so weit wie möglich auszudehnen. Es gibt eine Reihe von Grenzkonflikten mit Nachbarstaaten: Den großen Grenzkonflikt mit Indien um Gebiete im Himalaja, in Ladakh und in Arunachal Pradesh, der schon zu militärischen Kämpfen geführt hat. In diesen großen Gebieten haben nie Chinesen gelebt. Außerdem gibt es die Grenzkonflikte mit Vietnam, den Philippinen und Malaysia um große Gebiete im Südchinesischen Meer. Und den Grenzkonflikt mit Japan um Inseln nördlich von Taiwan. Die Ausweitung der eigenen Grenzen ist typisch für eine imperialistische Politik.

Auch die chinesische Politik der "Neuen Seidenstraße", bei der in Asien, Afrika und Europa Infrastrukturprojekte wie Häfen und Straßen gebaut werden, bringt diese Länder oft in finanzielle Abhängigkeiten von China und in eine Überschuldung. Andere Länder werden erpressbar. Das hat sich zum Beispiel bei dem Hafen Hambantota in Sri Lanka gezeigt, der von Chinesen gebaut wurde. Ein weiteres Moment ist die militärische Aufrüstung, die forciert wird. China hat heute die größte Kriegsschiffflotte der Welt. Es hat Flugzeugträger und baut neue Flugzeugträger. Wofür braucht man die wohl? Ständig kreuzen mehrere chinesische Kriegsschiffe im weit entfernten Indischen Ozean. Alle diese Entwicklungen zeigen eine imperialistische Grundtendenz der VR China.

Viel deutet darauf hin, dass es den Führungskadern der KPCh nicht um Sozialismus oder Kommunismus geht, sondern um Nationalismus. Es wird auch offen zugegeben, dass China zu einer Weltmacht und möglichst zum mächtigsten Staat der Erde gemacht werden soll. Der Generalsekretär der KPCh Xi Jinping (geb. 1953) hat sich inzwischen schon zum "Obersten Führer" auf Lebenszeit ernannt, quasi wie der Papst. Das heißt, dass er der Meinung ist, dass er die Weisheit mit Löffeln gefressen hat und sein selbstherrliches Regime gerechtfertigt ist. Xi reitet sehr auf der Begeisterungswelle für die "Wiederbelebung der chinesischen Nation" und betont bei jeder Gelegenheit, dass man ja 1,4 Milliarden Chinesen habe. "Der chinesische Traum", den Xi Jinping verwirklichen will, ist natürlich eine direkte Kopie des American Dream der Einwanderer vom Wohlstand in den USA. Die sozialistischen Begriffe "Internationalismus" und "Klassenkampf" erscheinen in den "Sozialistischen Kernwerten" von Xi Jinping nicht mehr. Die KPCh spricht nicht mehr gern von "Klassen", stattdessen wird von "Schichten" gesprochen. Die KPCh strebt die Vergrößerung der "Mittelschicht" an, zu der angeblich schon 400 Millionen Menschen in China gehören.

Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass der Marxismus heute in China nur noch eine Propagandahülle ist, die aus Gründen der Tradition und der Kontinuität mitgeschleppt wird, gewürzt mit Pekingoper. Die KPCh zitiert heute lieber Konfuzius als Marx und der konfuzianische Beamtenapparat steht für sie an oberster Stelle. Das wird als "Sinisierung und Modernisierung des Marxismus" bezeichnet, von Karl Marx bleibt allerdings nicht mehr viel übrig. Man könnte sagen, dass der westliche Marxismus durch einen östlichen Konfuzianismus ersetzt wurde. Trotzdem gibt es noch sozialistische Reste, wie das staatliche Eigentum an Grund und Boden, das damit der Spekulation entzogen ist. Man fragt sich aber, ob nicht auch bald der Grund und Boden Chinas an Kapitalisten verkauft sein wird.

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2021/07/21

Markus Richard Seifert
Sind Menschen wirklich so?


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Platz am wilden Eber in Berlin Schmargendorf.
Bronze-Plastik von Paul Gruson (1895-1969), 1920er Jahre.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2021.


Im Südwesten von Berlin gibt es einen runden Platz mit Kreisverkehr. Darauf steht ein Bronzedenkmal, das einen lebensgroßen Eber darstellt. Für jene, die des Lesens kundig sind, steht da auch noch ein Schild mit dem Namen des Platzes, er heißt "Am wilden Eber". Einen Platz weiter, die Rede ist vom "Roseneck", Endhaltestelle von mehreren Buslinien, gibt es zwar kein Denkmal, aber immerhin eine kleine, erholsame Grünanlage. Eines Abends, es war in der Zeit meiner Stadtspaziergänge, kam ich dort vorbei und erblickte ein Rudel von Wildschweinen, die dort die Rasenfläche umgruben. In der Nähe von ihnen standen mehrere Menschen, die sich darüber aufregten und laut schimpften. Und da dachte ich: Sind die Menschen wirklich so? Auf dem einen Platz stellen sie einen Bronze-Eber auf, was ja wohl ein Zeichen der Sympathie sein soll. Aber kommt das Schwarzwild dann in natura, dann wird auf diese unschuldigen Tiere geschimpft! Was soll "man" davon halten?

© Markus Richard Seifert, Juli 2021.


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2021/07/18


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2021/07/15

Geraubte Benin-Bronzen im Ethnologischen Museum zu Berlin

Es gibt etwa 400 geraubte Benin-Bronzen in Berlin


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Nigeria, Königreich Benin: Bronzekopf einer Königsmutter Iyoba,
frühes 16. Jahrhundert. Ethnologisches Museum Berlin.
Quelle: Wikimedia Commons. Autor Daderot.


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2021/07/12

Washington Irving, 1783-1859
The Alhambra by Moonlight, 1832


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Der Löwenhof der Alhambra bei Nacht. Quelle: Wikimedia Commons.


I have given a picture of my apartment on my first taking possession of it; a few evenings have produced a thorough change in the scene and in my feelings. The moon which then was invisible has gradually gained upon the night and now rolls in full splendour above the towers, pouring a flood of tempered light into every court and hall. The garden beneath my windows is gently lighted up, the orange and citron-trees are tipped with silver, the fountain sparkles in the moonbeams and even the blush of the rose is faintly visible.

I have sat for hours at my window, inhaling the sweetness of the garden and musing on the chequered fortunes of those whose history is dimly shadowed out in the elegant memorials around. Sometimes I have issued forth at midnight, when everything was quiet, and have wandered over the whole building. Who can do justice to a moonlight night in such a climate and in such a place! The temperature of an Andalusian midnight in summer is perfectly ethereal. We seem lifted up into a purer atmosphere; there is a serenity of soul, a buoyancy of spirits, an elasticity of frame that render mere existence enjoyment. The effect of moonlight, too, on the Alhambra, has something like enchantment. Every rent and chasm of time, every mouldering tint and weather-stain disappears, the marble resumes its original whiteness, the long colonnades brighten in the moonbeams, the halls are illuminated with a softened radiance, until the whole edifice reminds one of the enchanted palace of an Arabian tale.

At such a time I have ascended to the little pavilion called the Queen’s Toilette to enjoy its varied and extensive prospect. To the right, the snowy summits of the Sierra Nevada would gleam like silver clouds against the darker firmament, and all the outlines of the mountain would be softened, yet delicately defined. My delight, however, would be to lean over the parapet of the tocador and gaze down upon Granada, spread out like a map below me, all buried in deep repose and its white palaces and convents sleeping, as it were, in the moonshine.

Sometimes I woul hear the faint sounds of castanets from some party of dancers lingering in the Alameda; at other times I have heard the dubious tones of a guitar and the notes of a single voice rising from some solitary street and have pictured to myself some youthful cavalier serenading his lady’s window, a gallant custom of former days, but now sadly on the decline, except in the remote towns and villages of Spain. Such were the scenes that have detained me for many an hour loitering about the courts and balconies of the castle, enjoying that mixture of reverie and sensation which steal away existence in a southern climate, and it has been almost morning before I have retired to my bed and been lulled to sleep by the falling waters of the fountain of Lindaraxa.


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2021/07/09

Dr. Rudolf Stumberger
Zeitgeist und Gefühl


Dass wir in der Gesellschaft zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Grundstimmungen ausmachen können, habe ich bereits anhand der Studie zur Melancholie dargestellt. Man kann diese Grundstimmung auch mit dem Begriff des Zeitgeistes beschreiben und dieser äußert sich auch in Artefakten, zum Beispiel in Musik, Malerei oder Architektur. Der Beginn des 20. Jahrhunderts fällt auch mit der künstlerischen Strömung des Jugendstils zusammen, er bildet das gefühlsmäßige Gegengewicht zur rationalen Welt der wachsenden Industrie und den Triumphen der Naturwissenschaften. Die Vorkriegszeit - gerne als "gute alte Zeit" kolportiert - mit ihren festgefügten sozialen Strukturen und autoritären politischen Verhältnissen, was bei Etablierten und Kleinbürgern biedermeierliches Behagen hervorrief, endete mit dem Kriegsausbruch 1914. Dieser war begleitet von einer Welle der Begeisterung, der Zeitgeist war ein nationalistischer und entlud sich auf deutscher Seite in Großmachtträumen und Fantasien über die Überlegenheit der deutschen Kultur. Der Militarismus manifestierte sich auf kitschigen Postkarten, auf denen kleine, blauäugige Knaben in Uniform mit Gewehr abgebildet sind, das Hündchen ist auch mit dabei. Eine andere Postkarte zeigt ebenfalls uniformierte Knaben mit der Unterschrift: "Der Soldat ist der schönste Mann im ganzen Staat." So manifestiert sich die offizielle, propagandistische Gefühlskultur zu Beginn des Krieges als eine Mischung aus rührseliger Sentimentalität und nationalistischer Erregung.

Dementsprechend dann auch der tiefe Sturz nach der Kapitulation des deutschen Heeres 1918. Die bisherigen Eliten von Militär und Adel wurden durch die Ausrufung der Republik von ihrem Thron gestoßen, sie verloren ihre sozialen Privilegien, das alte Machtgefüge hatte keine Legitimation mehr, wenngleich auch die konservativen Strukturen durch Gegenrevolution und das zahnlose Agieren der Sozialdemokratie weitgehend erhalten blieben. Für die alten Eliten war dieser Sturz ein traumatisches Erlebnis, das der Therapie bedurfte: Die Dolchstoßlegende, wonach das Heer im Felde unbesiegt, aber durch die Revolution in der Heimat hinterrücks gemeuchelt wurde, steht für die gefühlsmäßige und psychologische Bewältigung der Niederlage, die damit auf den Feind im Inneren, also die linke Arbeiterbewegung, projiziert werden konnte.

Die Zeit der Weimarer Republik war eine zunächst gewalttätige Zeit mit Putschversuchen und Bürgerkrieg im Inneren, die politische Polarisation zwischen rechts und links schlug sich auch in einer gewalttätigen Sprache nieder, die dem Gegner die Vernichtung androhte. Die gesellschaftliche Konsolidierung Ende der 1920er Jahre währte nur kurz, bis zum Taumel der Börsen am schwarzen Freitag 1929. Mit dem Absturz der Wirtschaft kamen auch die Gefühle der Existenzangst und der Unsicherheit wieder. Waren die vorangegangenen "Goldenen Zwanziger" auch eine Zeit der Befreiung von gesellschaftlichen Tabus und eine Hingabe an die Lebenslust, erstickte nun das wirtschaftliche Elend und die weitverbreitete Arbeitslosigkeit emanzipatorische Gefühle: Es ging für viele wieder um das nackte Überleben. Und daraus folgte die Radikalisierung der Menschen, die sich nach weniger unsicheren Verhältnissen sehnten. Der Nationalsozialismus bot ein Gefühlsrepertoire, das für viele attraktiv schien: klare autoritäre Strukturen, Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Feindbilder und Sündenböcke, Aufwertung des eigenen Ichs durch Abwertung der anderen, Unterordnung, Hingabe an etwas Größeres - das Volk, Opferbereitschaft und Sentimentalität. Heimat, Schäferhund, Treue, Zucht und Ordnung sind Bestandteile einer Ideologie, die sich auf der Gefühlsebene durch Fackelmärsche, monströse Parteitagsrituale, Fahnenweihen und Eide auf den Führer manifestierte. Anders als 25 Jahre zuvor gingen die Menschen nicht mit Begeisterung in das Inferno des Zweiten Weltkrieges, doch stellt der langwährende Rückhalt des nationalsozialistischen Regimes teilweise bis zum bitteren Ende durch die deutsche Bevölkerung ein spezielles Kapitel dar. Dass der Widerstand (neben dem eher vergessenen kommunistischen) der Attentäter um Graf Stauffenberg weitgehend alleine stand, macht deren Würdigung in der Nachkriegszeit als Ehrenrettung der Eliten deutlich. Die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges war eine nahezu unbegrenzte Gewaltorgie, die Millionen Menschen in Todesangst und Verzweiflung versetzte. Ihr entsprangen ungezählte seelische Verletzungen, die sich auch in den nachfolgenden Generationen fortsetzten, und dies sowohl in den Familien der Opfer wie der Täter.

Die Nachkriegszeit der 1950er Jahre ist dann wie ein Aufatmen nach Jahren der Anspannung. Der Zeitgeist schwankt zwischen verklärender Heimatidylle, unter der die Leichen der Vergangenheit versteckt werden, und einer optimistischen, der Zukunft zugewandten Haltung. Erstere realisiert sich zum Beispiel in den damals in die Kinos kommenden Heimatfilmen, vom Posthaus im Schwarzwald bis zu Sissi. Sie verkörpern nach den Schrecken des Krieges den Wunsch nach der heilen Welt, die oft in den bayerischen oder österreichischen Bergen stattfindet, der Kinobesuch als Moment des Seelenbalsams. Der Optimismus, der sich in dieser Filmwelt auch präsentiert, gewinnt bauliche Gestalt in der Architektur dieser Jahre. Diese Bauten der 1950er Jahre sind der Gegenentwurf zum nationalsozialistischen, gewalttätigen Größenwahn mit wuchtigen, historisierenden Großbauten und den Betonklötzen der Bunker. Sie zeichnen sich durch großflächige Glasfronten aus, durch die das Tageslicht ins Innere gelangt, durch geschwungene Linien, leichte, grazil anmutende Baukonstruktionen und offene Räume. Sie stehen auch für den Aufbau der Demokratie im Nachkriegsdeutschland. Der Optimismus als eine Grundströmung dieser Zeit (es gibt auch andere wie den Antikommunismus) manifestiert sich in Zukunftsvorstellungen, bei denen die zukünftige Welt quasi selbstverständlich auch eine bessere ist. Der technische Fortschrittsglaube zeichnet Städte, in denen Flugtaxis zwischen den Wolkenkratzern unterwegs sind, träumt von Siedlungen auf dem Mond oder gar Mars und auf dem Meeresgrund, und es wird weder Arbeitslosigkeit noch Kriege oder Grenzen geben. Nach der Dunkelheit des Zweiten Weltkrieges blickt die Welt in das Sonnenlicht der Zukunft. Bis sich erneut Schatten über dieses Wunschszenario schieben, zum Beispiel in Form der atomaren Selbstvernichtung im Konflikt der beiden Supermächte.

Die 1960er und 1970er Jahre sind auch die Jahre des Baubooms, was das Eigenheim anbelangt. In dem "Schaffe, schaffe, Häusle bauen" manifestiert sich die gefühlsmäßige Grundstimmung der Aufbaujahre, die auf einem Fundament von Vollbeschäftigung, wirtschaftlichem Wachstum und Ausbau des Sozialstaates beruht. Es gibt zeitweilig auch Bedrohungen dieser Sicherheit, etwa bei der Kubakrise oder der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy - plötzlich ist wieder die Angst vor einem Krieg lebendig.

Und auf der Grundlage des wachsenden Wohlstands wächst eine neue, gewaltige Grundstimmung heran: die Revolte der Jugend. Das Gefühl, das diese Generation seit Ende der 1960er Jahre erfasst, ist das des Aufbegehrens. Gegen die Kriegsgeneration der Väter. Gegen autoritäre Strukturen und gegen das vorherrschende Ideal von Karriere und materiellen Werten. Gegen den Krieg in Vietnam und gegen Rassismus. Und das Aufbegehren drückt sich auch in der Suche nach neuen Lebensformen aus. Es geht um "Love and Peace", um Erfahrungen mit Drogen, um neue Formen des Zusammenlebens, des Arbeitens und der Kindererziehung. Um neue Paarbeziehungen und eine befreite Sexualität. Es wächst eine neue Gefühlskultur heran, bei der es auch um das Selbstbild von Männern und Frauen geht, wobei letztere für ihre Emanzipation auch auf die Barrikaden gehen. Es ist ein Labor der Gefühle, wenn in Kommunen und Wohngemeinschaften ein neues Zusammenleben jenseits der Kleinfamilie erprobt wird und Gewaltfreiheit ein neues Ideal im Politischen wird.

Diese Grundstimmung der jungen Generation äußert sich quer durch alle Künste: im experimentelle Theater, in der Literatur, im Film und in der Fotografie, in alternativen Zeitschriften und in einer erblühenden Comic-Szene. Vor allem aber äußert sie sich in der Musik - sie wird das Transportmittel der Botschaften dieser Generation. Von den Balladen der Folksänger über jaulende Gitarrensolos bis hin zu den deutschen Liedermachern findet sich in dieser Musik das Lebensgefühl dieser Zeit. Es ist ein Gefühl der Befreiung, des Ausprobierens, der Lebensfreude, des Liebens und des Engagements und steht damit gegen gesellschaftliche Repression und dem Mief kleinbürgerlicher Existenzweise.

Als im November 1989 die Mauer fiel, war dies der Auftakt eines Gefühlspotpourris, vor allem für die Menschen im Osten Deutschlands. Er begann mit Erstaunen und Freudenfeiern und endete 30 Jahre später mit dem "Wutbürger" als weitverbreitetem Gefühlsmuster. Die Bilder rund um die Zeit des Mauerfalls zeigen die emotionale Wucht, mit der dieses Ereignis - das von niemandem, weder politischen Experten noch Geheimdiensten oder Militärs vorausgesehen wurde - die Menschen in der DDR traf. Seien es die Bilder aus der Botschaft der Bundesrepublik in Prag oder der ersten DDR-Bürger, die mit dem Trabbi die innerdeutsche Grenze passierten - sie zeigen den gefühlsmäßigen Mix aus Überraschung und unglaublicher Freude. In diesem Moment wurden all die Wunschträume und Projektionen der Vergangenheit eines eingegrenzten Lebens in der DDR Realität - die Reisefreiheit zum Beispiel nach Italien, das Wohlstandsversprechen des "Klassenfeindes" in der Bundesrepublik, die ganze bunte Waren- und Glitzerwelt des Westens. Die Menschen in der DDR erfasste ein Freudentaumel, wenn auch nicht alle. Freilich wurde dieser Taumel dann im Laufe der Jahre abgelöst durch die Erfahrung sozialer Tristesse, Unsicherheit und Angst - ein Großteil der Industrieanlagen wurde plattgemacht, Werke geschlossen. Die Arbeitslosigkeit stieg und aus den deindustrialisierten Regionen zogen die Jüngeren fort in den Westen. Von dort kamen die "Wessis", die neuen Herren im Lande. Diese Prozesse hatten die massenhafte Entwertung von Biografien zur Folge, viele fühlten sich als Bürger zweiter Klasse. Bei der Einführung von Hartz IV, das eine massive Verschlechterung für Langzeitarbeitslose bedeutete, gingen in Ostdeutschland wieder hunderttausende auf die Straßen, nur diesmal ohne politisch etwas zu bewirken. Zwar wurden mit viel Steuergeld Straßen gebaut und Häuser saniert, aber viele Menschen der ehemaligen DDR, jetzt die neuen Bundesländer, fühlten sich unbehaust.

Die Folgen wurden nach und nach sichtbar. In einer massiven Fremdenfeindlichkeit und dem Aufstieg rechter Gruppen bis hin zu neonazistischen Mordanschlägen zum Beispiel. In Thüringen wählte ein Viertel aller Wähler die AfD. Der Freudentaumel war der tiefen Enttäuschung gewichen und dann über die Jahre zur Wut geworden. Der Wutbürger war eine Manifestation eines neuen Grundgefühls, das quer durch die gesellschaftlichen Schichten ging und sich als Unbehagen an der gegenwärtigen Moderne benennen ließ. Seit rund dreißig Jahren laufen verschiedene dieser Modernisierungsstränge parallel oder verflochten nebeneinander her. Etwa die Politik des Neoliberalismus, wonach jeder am besten sein eigener Unternehmer sein soll, gepaart mit massivem Sozialabbau und forcierter Privatisierung - was einen steten Personalmangel und fehlende Ausstattung zum Beispiel im Gesundheitssystem zur Folge hatte. Zeitgleich zur Einführung von Hartz IV entstand in Deutschland ein Niedriglohnsektor, aus dem heraus eine existenzsichernde Arbeit nicht mehr möglich ist. Die Digitalisierung der Welt verstärkte das Gefühl der Unsicherheit und entwertete Ausbildungen und Berufserfahrung, spaltete zwischen älteren und jüngeren Arbeitnehmern und lässt ganze Branchen taumeln, vom Journalisten bis zum Taxifahrer. Globalisierung und grün-alternative Kulturrevolution führen zu einer neuen kosmopolitischen Klasse als Gewinner, denen traditionelle Milieus der Arbeiter wie auch konservative akademische Gruppen als Verlierer gegenüberstehen. Für den standortungebundenen IT-Spezialisten sieht die Welt anders aus als für den Heizungsbauer, auch für den internationalen Banker und die Fleischfachverkäuferin. Die Flüchtlingskrise von 2015 befeuert die Gefühle der sozialen Verwundbarkeit bei den Globalisierungsverlierern, und die Projektion der Gefühle auf das Flüchtlingsszenario bildet die große Klammer, in der diese Verlierergruppen sich politisch in der AfD wieder finden. Dass die Bevölkerung in Ostdeutschland auf den sozialen Wandel nach dem Systemwechsel besonders empfindlich reagierte, verstärkte diesen Effekt noch weiter.

Im März 2020 wurde die Gesellschaft des Zorns schlagartig ersetzt durch eine Gesellschaft der Angst. In diesem Monat veränderten die politischen Maßnahmen als Antwort auf die Verbreitung des Corona-Virus praktisch über Nacht die Bundesrepublik Deutschland und das Alltagsleben der Menschen.

Der Virus hatte in China seinen Ausgang genommen, im Mittelpunkt der Virus-Infektion stand die Millionenstadt Wuhan. Das Corona-Virus entpuppte sich als mutierte Form bereits bestehender Viren, gegen seine Verbreitung gab es weder eine Impfung noch ein Medikament, die Ansteckungsgefahr gilt aber als größer als bei anderen Viruserkrankungen. Nach und nach sickerte der Ausnahmezustand in China dann auch in die westlichen Medien ein, aber China schien noch sehr weit entfernt. Das dauerte, bis am 27. Januar 2020 in Bayern der erste Fall in Deutschland gemeldet wird. Von da an steigt die Zahl der Infizierten an.

Die Informationen zur Ausbreitung des Virus werden zur Informationslawine. Immer höher steigt die Zahl der Infizierten und in immer mehr Ländern tritt das Virus auf. Aus Italien und Spanien kommen Horrornachrichten mit nahezu versagenden Gesundheitssystemen, täglich hunderter Toter und hilflosen Ärzten. In Deutschland werden in Hinsicht auf eine zu erwartende ähnliche Erkrankungswelle große Teile der Bürgerrechte außer Kraft gesetzt, das Anti-Virus-Management hat die Kontrolle übernommen. Ansammlungen von mehr als zwei Personen werden bestraft.

Mit verblüffender Schnelligkeit und verblüffendem Gehorsam übernimmt die Bevölkerung die Regeln, Familien bleiben in ihren vier Wänden, Schulen, Kitas und Hochschulen sind geschlossen, ebenso wie Schwimmbäder und die meisten Geschäfte, außer Lebensmittelläden, Apotheken und Arztpraxen. Das gesellschaftliche Klima ist das der Angst vor der Erkrankung und um die Entwicklung in die Zukunft. Das Virus wird als ungeheure Bedrohung dargestellt und die Menschen fügen sich angesichts dieser Bedrohung auch den einschneidendsten Maßnahmen. Aber es gibt auch des Gefühl der Solidarität, viele wollen anderen helfen. Die Nation ist in Angst und Schrecken versetzt.

So durchziehen Grundströmungen an Gefühlen die Gesellschaft. Sie entsprechen Ereignissen und der jeweiligen Politik. Soziale und politische Bewegungen können diese Grundströmungen beeinflussen. Auch das Thema Erben ist davon beeinflusst, wie noch zu zeigen sein wird.

© Dr. Rudolf Stumberger, Juli 2021.

Das Kapitel ist mit Erlaubnis des Autors dem Buch entnommen:
Rudolf Stumberger: Wir Nicht-Erben. Kleiner Ratgeber zum Umgang mit tabuisierten Gefühlen. Aschaffenburg 2020. Alibri Verlag.

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2021/07/05

Tagebuch 1973, Teil 51: Calcutta II

von Dr. Christian G. Pätzold


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Souvenirs from India
Eingesammelt von Dr. Christian G. Pätzold, November 1973.


21. Oktober 1973, Calcutta, Sonntag

Morgens waren wir im Kino und haben einen Film aus Kerala in Malayalam gesehen. Es war ein komödiantischer Film über christliche Schifftransportfamilien, der aber mit einem Toten endete. Der Film war gegen den Konsum von Alkohol gerichtet.

Abends waren wir im Planetarium, das angeblich das einzige in Indien sein soll. Es sah so ähnlich aus wie das Planetarium in West-Berlin, vielleicht wurde es von Deutschen erbaut oder zumindest technisch ausgerüstet.

22. Oktober 1973, Calcutta, Montag

Wir haben von dem Aufstand der Naxaliten erfahren, der seit 1967 in West-Bengalen stattfand. Der Name Naxaliten stammt von dem Ort Naxalbari im Distrikt Darjeeling in West-Bengalen, in dem die erste Erhebung stattfand. Die Naxaliten waren eine maoistisch inspirierte Bauernbewegung und Guerillabewegung, die die ausbeuterischen Großgrundbesitzer auf dem Land bekämpfte. Außerdem kämpfte sie gegen die wirtschaftliche Benachteiligung der nicht-hinduistischen Ureinwohner durch das hinduistische Kastensystem, und gegen die Umsiedlung der Landbevölkerung aufgrund von großen Bauprojekten. Die Naxaliten strebten einen marxistischen Staat in Indien an. In West-Bengalen waren aber nicht nur die Maoisten stark, die mit der Volksrepublik China verbündet waren, sondern auch die CPI (Communist Party of India), die auf der Seite der Sowjetunion stand. Der ganze Streit zwischen den russisch orientierten Kommunisten und den chinesisch orientierten Kommunisten ging auf das Jahr 1960 zurück, als sich die Sowjetunion und die Volksrepublik China über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung zerstritten. Von China wurde die sowjetische Führung als revisionistisch verurteilt, weil sie eine friedliche Koexistenz mit dem Imperialismus anstrebte.

Wir haben unsere beiden Rucksäcke im Touristenbüro abgestellt und haben die Student Concession für die Bahnfahrt nach Bombay besorgt. Es war schwierig, ein Taxi zum Bahnhof zu bekommen. Wir sind in die Rushhour geraten.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2021.

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2021/07/02

Tagebuch 1973, Teil 50: Calcutta I

von Dr. Christian G. Pätzold


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Souvenirs from India
Eingesammelt von Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 1973.
Ja, in Kalkutta war ich tatsächlich auf 73 Kilo abgemagert.


18. Oktober 1973, Sewapuri - Calcutta, Donnerstag

Für indische Verhältnisse waren wir vielleicht relativ reich. Aber wir mussten doch sparsam mit unseren Ressourcen umgehen, um durch Indien und um die Welt reisen zu können. Daher haben wir wieder eine Student concession (Studentenermäßigung) für die Bahnfahrt nach Kalkutta beantragt und erhalten, denn wir hatten ja einen Internationalen Studentenausweis, den wir uns schon in Berlin beschafft hatten und der sehr nützlich war. Wir waren ja auch so etwas wie Studenten, denn wir haben die indische Gesellschaft aufmerksam studiert. Eine Platzreservierung war allerdings nicht möglich, wir haben aber trotzdem einen Sitzplatz bekommen. Überall auf den Bahnsteigen sah man heilige Kühe, die die Abfälle der Reisenden auffraßen.

Schließlich waren wir in der Howrah Junction Railway Station angekommen, dem Hauptbahnhof von Kalkutta am westlichen Ufer des Flusses Hugli. Willkommen in Kalkutta! Willkommen in der Hölle auf Erden! Auf dem Bahnsteig lag schon mal eine Leiche. Vor dem Bahnhof lag ein verhungerter Mann in seinem Kot. Keiner machte Bemühungen, die Leichen (oder eher Skelette) wegzuräumen. Das hat mich stark beeindruckt. Tote und halbtote Menschen auf der Straße liegen, das habe ich sonst auf der ganzen Welt nicht gesehen, nur in Kalkutta. Das war ja schließlich kein Kriegsgebiet, sondern der tiefste Frieden in Kalkutta. In ein Kriegsgebiet mit herumfliegender Munition wäre ich sowieso nicht gereist, ich war ja kein Selbstmörder, sondern nur ein wissenschaftlich interessierter Globetrotter. Wenn Kalkutta auch kein militärisches Kriegsgebiet war, so war es doch bestimmt ein gesellschaftspolitisches Kriegsgebiet, das war klar.

19. Oktober 1973, Calcutta, Freitag

Kalkutta liegt übrigens nicht am Ganges, wie man vielleicht denken könnte nach einem bekannten deutschen Schlagerlied von 1960, sondern am Fluss Hugli, der allerdings auch zum großen Flussdelta des Ganges gehört. Der Ganges biegt in einiger Entfernung von Kalkutta hinein nach Bangladesh und fließt von dort in den Golf von Bengalen. Wir waren jedenfalls jetzt in Bengalen, im indischen Bundesstaat Westbengalen, um genau zu sein.

Kalkutta liegt in den Tropen. Ich war jetzt also zum ersten Mal in meinem Leben in den Tropen. Denn Kalkutta liegt knapp unterhalb des Wendekreises des Krebses, der die Grenze zwischen Subtropen und Tropen markiert. Prompt hatte ich mir eine Magen-Darm-Infektion eingefangen, wahrscheinlich von infiziertem Essen oder von Getränken, die mich die nächsten 2 Wochen sehr geschwächt hat. Aber dazu später mehr. Ich war jetzt jedenfalls in der üppigen Welt der Tropen, und sollte es auf meiner Reise bis Hong Kong bleiben, um dann wieder in gemäßigte Länder zu kommen.

Im Touristenbüro haben wir nach einer Unterkunft gefragt. Man hat uns zum Hotel "Modern Lodge" im Moslemviertel verwiesen, das Doppelzimmer für 14 Rupees, eine billige Absteige. Dann sind wir zur Bangladesh High Commission gegangen, da wir überlegt hatten, auch einen Besuch in Bangladesh als nächstes zu unternehmen. Dort sagte uns ein Beamter, dass wir für Bangladesh kein Visum bräuchten. Außerdem erklärte er uns eine komplizierte Reiseroute über Land. Der Flug nach Dacca hätte alternativ 90 Rupees gekostet.

Im Anschluss sind wir zum Max Mueller Bhavan gegangen, so hießen die deutschen Goethe-Institute in Indien. Die Goethe-Institute waren die staatlichen westdeutschen Kulturinstitute im Ausland, um die BRD als Kulturnation zu präsentieren. Max Mueller (1823-1900) war ein deutscher Sprachwissenschaftler, der in Oxford lehrte und sehr angesehen war, da er die alten indischen Sanskrit-Texte herausgegeben und ins Englische übersetzt hatte. Im Max Mueller Bhavan haben wir niemanden getroffen, der sich mit uns unterhalten wollte, haben aber den "Spiegel" gelesen, denn die Goethe-Institute bekamen regelmäßig die Zeitschriften aus Deutschland zugeschickt.

Danach waren wir im Hauptpostamt von Kalkutta, um 2 Päckchen nach Moskau und Berlin abzuschicken, per Schiff, was weniger kostete. Die Päckchen mussten hier besonders aufwändig in Leinen eingenäht und versiegelt werden, wofür es im Postamt besondere Spezialisten gab. Anschließend mussten x Formulare und Erklärungen ausgefüllt werden. Das ganze Prozedere war recht zeitaufwändig und man brauchte Geduld. Aber die Päckchen sind tatsächlich bei ihren Empfängern angekommen.

Kalkutta erschien mir hektisch und nervenaufreibend. Abends haben wir im Chinarestaurant gegessen für 5 Rupees die Platte.

20. Oktober 1973, Calcutta, Sonnabend

Wir haben etwas Sightseeing unternommen: Wir waren im großen und berühmten Indian Museum. Danach waren wir im Victoria Memorial mit alten Bildern von Queen Victoria. Die englische Queen Victoria (1819-1901) war ja seit 1876 auch Kaiserin von Indien, die Engländer waren die Kolonialherren und Kalkutta war der Hauptsitz der britischen Kolonialverwaltung in Indien. Außerdem waren wir in einem nach Nehru benannten Puppenmuseum mit den alten Sagen Ramayana in Schaukästen. Besuch im Zoo.

Wir haben uns entschieden, nicht nach Dacca zu fahren, weil wir dadurch zu viel Zeit verlieren würden und weil es auch kostspielig war. Der Flug kostete 120 Rupees, mit 25 % Studentenermäßigung. Die Reise über Land hätte sehr viele Nerven gekostet. Außerdem hatten wir keine Lust auf noch ein moslemisches Land. Und dann befand sich Bangladesh ja noch in der schwierigen Phase nach dem Unabhängigkeitskrieg. Stattdessen wollten wir als nächstes in die Metropole Bombay fahren.

Wir hatten uns ein Buch mit Kurzgeschichten (in Englisch) von Rabindranath Tagore angeschafft, der 1861 in Kalkutta geboren wurde und 1941 in Kalkutta gestorben ist. 1913 hatte er den Literaturnobelpreis für seine Gedichte erhalten. Ich habe abends eine Kurzgeschichte von Tagore gelesen. Darin wurde deutlich, dass Tagore den traditionellen Kastenvorschriften des Hinduismus kritisch gegenüber stand, obwohl er aus einer reichen Brahmanen-Familie stammte. Tagore hatte das Kastendenken ähnlich scharf abgelehnt wie Mahatma Gandhi. Nach seiner Ansicht sollte niemand diskriminiert werden, weil er zu einer niedrigeren Kaste gehörte. Ich halte Tagores Kurzgeschichten für sehr empfehlenswert. "I don’t care about cast!" Das war natürlich eine mutige Stellungnahme Tagores in einer Gesellschaft, die komplett vom Kastendenken durchdrungen war.



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Rabindranath Tagore und Mahatma Gandhi, 1940.
Quelle: Wikimedia Commons.


Postscriptum zum Namen Kolkata, Juli 2021:

Kolkata ist heute der offizielle Name der Hauptstadt des Bundesstaates Westbengalen in Indien. Calcutta ist der historische englische Name, Kalkutta ist der historische deutsche Name. In der Agglomeration von Kolkata leben heute 14,8 Millionen Menschen. Kolkata ist also eine Megacity.

Mutter Teresa von Kalkutta (1910-1997) war mir damals noch kein Begriff. Sie wurde erst 1979 berühmt, als sie den Friedensnobelpreis für ihre humanitäre Arbeit bekam. Von der katholischen Kirche wurde sie 2016 heilig gesprochen.

Ich sollte noch erwähnen, dass die Bevölkerung in Westbengalen stark zum linken politischen Spektrum neigte. Zwischen 1977 und 2011 regierte im Bundesstaat Westbengalen ununterbrochen die Communist Party of India (Marxist).

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2021.

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2021/06/30

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2021/06/28

dr. christian g. pätzold
im namen des volkes


"im namen des volkes"
sagt der deutsche richter
bevor er arme mieter aus ihrer wohnung räumen lässt
damit der reiche immobilienhai
mehr profit machen kann
ganz schön hinterhältig
tickt das volk wirklich so?

im namen des deutschen volkes
sagt der rassist
in halle und hanau und anderswo
bevor er arme leute wegen ihrer herkunft erschießt
todeslisten werden publiziert
ganz schön mörderisch
tickt das volk wirklich so?

im namen des deutschen volkes
denkt die bundeswehr
wenn sie arme afghanen bombardieren lässt
leichen in der wüste
es sind ja nur asiaten
ganz schön verdorben
tickt das volk wirklich so?

willkommen in der heimat
der tod ist ein meister aus deutschland
im namen des deutschen volkes
grausige klassenjustiz und rassenjustiz
am hindukusch und überall
spitze des kalten eisbergs
tickt das volk wirklich so?


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2021/06/26

Banksy, Street Artist
(Die Identität des Künstlers/der Künstlerin wird geheim gehalten)

Game Changer, 2020


banksy


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2021/06/23


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Hier noch eine aktuelle Meldung der »jungen Welt« vom 2. 6. 2021:
"Phoenix. Im US-Bundesstaat Arizona sollen zum Tod verurteilte Häftlinge künftig mit Zyklon B hingerichtet werden. Dafür wurde extra eine 1946 gebaute Gaskammer wieder in Betrieb genommen. Das schrieben mehrere deutsche Medien am Dienstag. Zuerst hatte am Freitag der britische Guardian darüber berichtet, der im Besitz von Dokumenten der zuständigen US-Behörde ist. Das Gas Zyklon B wurde in den Vernichtungslagern der Nazis eingesetzt."


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2021/06/20

Sonnige Grüße zum Mittsommer !


stonehenge
Die Sommersonnenwende kann man mit den Steinen von Stonehenge/England beobachten.
Quelle: Wikimedia Commons.


Als Mittsommer wird nicht etwa die Mitte des Sommers bezeichnet, wie man denken könnte, sondern der Sommeranfang am 20. Juni. Der Mittsommertag ist der Tag, an dem die Sonne am höchsten über dem Horizont steht. Es ist also der Tag der Sommersonnenwende. Schon lange hat dieser Tag die Menschen in Europa fasziniert und daher gab es auch Feste und Feiern, zum Teil mit Feuern.

Dr. Christian G. Pätzold.

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2021/06/18

"Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug."

Epikur aus Samos, 341-271 vuZ.
Altgriechischer Öko-Theoretiker


epikur
Büste von Epikur, Pergamon Museum Berlin.
Quelle: Wikimedia Commons.


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2021/06/15

Berliner Mietendeckel

Mietenwahnsinn und Verdrängungskrieg herrschen in Berlin.
Die Abschaffung des Berliner Mietendeckels durch das Bundesverfassungsgericht ist ein Schlag ins Gesicht für alle Mieterinnen und Mieter.
Was ist die Demokratie in Berlin wert, wenn die gewählten Abgeordneten nicht mal einen Mietendeckel beschließen dürfen?
Die Mieten sind mit ehrlicher Arbeit oft nicht mehr zu bezahlen.
Wann werden wir endlich in Frieden leben können?


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2021/06/12

Eine neue Greta Thunberg Statue
an der University of Winchester/England
gestaltet von Christine Charlesworth


gretathunberg


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2021/06/08

Buchtipp #3
Washington Irving: »Erzählungen von der Alhambra«

von Dr. Christian G. Pätzold


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Washington Irving: Erzählungen von der Alhambra
Köln 2017. Anaconda Verlag. 367 Seiten.

Hier mal ein Buchtipp, der etwas in die Ferne schweift, sowohl räumlich als auch zeitlich. Das romantische Buch »The Alhambra« von 1832 des amerikanischen Autors Washington Irving (1783-1859) handelt vom Palast der Alhambra in Granada, einer sehr schönen Stadt in Andalusien im Süden Spaniens. Und es erzählt Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit, als die Mauren in Andalusien herrschten. Das war von 711 bis 1492, also fast 8 Jahrhunderte. Die muslimischen Krieger landeten am 30. April 711 in Gibraltar. Und am 2. Januar 1492 wurde Granada von Emir Muhammad XII. an die Katholischen Könige übergeben. Die Geschichten von der Alhambra gehen also weit ins Mittelalter zurück, es sind sagenhafte Geschichten geschrieben im Stil von »Tausendundeine Nacht«.

Um 1830 war die Zeit der Romantik in der Literatur. Die romantischen Schriftsteller waren sehr vom europäischen Mittelalter fasziniert. Das Wort Romantik taucht bei Irving selbst auf. Natürlich fehlt auch die romantische Mondnacht in den Patios der Alhambra bei Irving nicht. Die Erzählungen des Buches haben Titel wie "Die Alhambra im Mondlicht", "Erinnerungen an Boabdil" oder "Sage von den drei schönen Prinzessinnen". Vielleicht hat Washington Irving die Herrschaft der Mauren etwas romantisch verklärt. Aber immerhin konnten die Juden zur Zeit der Mauren einigermaßen friedlich in Andalusien leben. Nach der spanischen Reconquista Andalusiens begann der Terror der katholischen Kirche und der Inquisition. Die Juden wurden sämtlich aus Spanien vertrieben, wenn sie nicht zum Christentum übertraten.

Al-Hambra ist Arabisch und bedeutet "die Rote", wahrscheinlich wegen der leicht rötlichen Farbe der Mauern der Palastburg. Einige Teile des Palastes sind weltberühmt, wie der Löwenhof (Patio de los Leones) oder der benachbarte Garten des Generalife. Die Alhambra ist seit 1984 Weltkulturerbe. Noch ein Tipp für Reisende: Man sollte die Alhambra im Januar besuchen, dann bleibt man von nervenden Touristenströmen verschont und hat die Alhambra fast für sich allein. So kann man die wundervolle maurische Handwerkskunst und Architektur der Alhambra gründlich studieren.

Im Buchumschlagstext heißt es:

"Die Alhambra ist das berühmteste Bauwerk Südspaniens und die einstige Stadtburg der letzten maurischen Herrscher in Al-Andalus. Vier Monate lang lebte dort 1829 der amerikanische Schriftsteller Washington Irving und beschrieb in berauschenden Farben das Land, die Stadt und den Palast, erzählte vom Leben seiner Bewohner, von ihren Geheimnissen und den Legenden vergangener Zeiten. Er schuf ein reiches und bezauberndes Porträt, das zur Wiederentdeckung und Restaurierung der damals schon verfallenden Burg und heute attraktivsten Sehenswürdigkeit Andalusiens wesentlich beitrug."

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2021/06/05

Buchtipp #2
Rudolf Stumberger: »Wir Nicht-Erben«

von Dr. Christian G. Pätzold


stumberger


Rudolf Stumberger: Wir Nicht-Erben. Kleiner Ratgeber zum Umgang mit tabuisierten Gefühlen
Aschaffenburg 2020. Alibri Verlag. 128 Seiten.
ISBN 978-3-86569-329-7.

Dr. Rudolf Stumberger, Soziologe in München, hat ein neues Buch geschrieben: Über das Nicht-Erben, Sozialneid, Neiddebatte, Gefühle und alles was damit zusammenhängt. Vielleicht ist die Stadt München mit ihren protzenden Neureichen und ihren recht teuren Eigentumswohnungen besonders geeignet, eine Studie über dieses Thema zu verfassen. Bücher über das Erben erscheinen zahlreich, Bücher über das Nicht-Erben dagegen kaum. Daher kann man das Buch als etwas Besonderes bezeichnen, das eine Wissenslücke füllt.

Das Buch bietet eine anschauliche und gut geschriebene Geschichte des Erbens und Nicht-Erbens in Deutschland in den letzten 100 Jahren. In erster Linie handelt es sich um ein soziologisches Essay, aber die Psychologie spielt eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Vom Nicht-Erben kommt man schnell zum ideologischen Kampfbegriff des "Sozialneids" und von dort zu einer Psychologie der Gefühle und zu möglichen Reaktionen auf die Gefühle. Von den Gefühlen gelangt Dr. Stumberger schließlich zu einer interessanten Analyse der Wandlungen des Zeitgeistes oder Zeitgefühls in Deutschland in den letzten 120 Jahren.

Dr. Stumberger schreibt: "Neid hingegen ist ein schillernder Begriff, der wissenschaftlich kaum zu greifen ist. Als "Sozialneid" dient er als ideologischer Kampfbegriff zur Diffamierung von Ungerechtigkeitsempfindungen und zur Legitimierung von leistungslosen Vermögen und Einkommen." Das Buch enthält Fotos des Autors sowie ein Literaturverzeichnis.

Im Buchumschlagstext heißt es:

"Eine größere Erbschaft verändert nicht nur das Leben des Erben, indem sie diesem neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung erschließt, sondern wirkt auch auf das soziale Umfeld. Als leistungsloses Vermögen provoziert es bei Nicht-Erben das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit, was dann gerne als "Sozialneid" denunziert wird. Letztlich trägt das Erben zur fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft bei.

Wir Nicht-Erben thematisiert diesen Sachverhalt und die dabei auftretenden "illegitimen Gefühle" der Nicht-Erben. Der Autor untersucht, wie durch das Erben soziale Ungleichheit über Generationen hinweg jeweils neu produziert wird, was unter dem Begriff des "Neuen Erbens" im Nachkriegsdeutschland zu verstehen ist und welche Vorschläge zur Lösung des gesamtgesellschaftlichen Problems existieren. Und das Buch thematisiert die Frage, ob Selbsthilfe-Gruppen für Nicht-Erben sinnvoll sind."

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2021/06/02

Buchtipp #1
Victor Klemperer: »Licht und Schatten«

von Dr. Christian G. Pätzold


klemperer


Victor Klemperer: Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945
Berlin 2020. Aufbau Verlag. 363 Seiten.

Victor Klemperer (1881-1960) ist besonders durch sein Buch »LTI« (Lingua Tertii Imperii) über die Sprache des Dritten Reiches bekannt. Dieses Buch hatte er 1947 aus seinen Tagebuchaufzeichnungen zusammengestellt und im Aufbau Verlag herausgegeben. Ebenfalls aus den Tagebuchaufzeichnungen wurde jetzt das Buch »Licht und Schatten« über Klemperers Bemerkungen zu Filmen der beginnenden Tonfilmära zusammengestellt.

Der neue Tonfilm, zunächst in Schwarz-Weiß, hat Ende der 1920er Jahre viele Intellektuelle in Deutschland als neues Massenmedium fasziniert. Zu nennen ist auch Siegfried Kracauer, dessen Filmkritiken der Zeit in der »Frankfurter Zeitung« publiziert wurden. Während Kracauers Kritiken für die Öffentlichkeit geschrieben wurden, sind Klemperers Tagebuchnotizen privater, vermischt mit hellsichtigen Bemerkungen zum Geschehen der Zeit. Klemperer entging als Jude nur knapp dem Holocaust. Zu nennen in der Reihe der Filmbegeisterten ist auch Bert Brecht mit seinem Tonfilm »Kuhle Wampe« von 1932.

Der Aufbau Verlag schreibt zur Entstehung des Buches:

"Erstmals vollständig gedruckt: Victor Klemperers Tagebuchnotizen über seine Kinobesuche zu Beginn der Tonfilm-Ära. Von Anfang an erlebt der Cineast mit, wie die technische Neuerung 1929 in Deutschland Einzug hält. Nicht selten geht er mehrmals pro Woche ins Kino. Zunächst kritisch, lässt er sich schon bald von den neuen Möglichkeiten mitreißen. Von den Nationalsozialisten aber wird das Medium immer weiter vereinnahmt, Klemperer schließlich durch das Kinoverbot für "Nichtarier" 1938 ganz aus den Lichtspielhäusern verbannt. Doch nicht einmal das kann ihn fernhalten. Das leidenschaftliche Bekenntnis eines Kinomanen, der uns den Tonfilm als Spiegel deutscher Geschichte mit allen Licht- und Schattenseiten vorführt."

Zu Klemperers Biografie schreibt der Aufbau Verlag:

"Victor Klemperer wurde 1881 in Landsberg/Warthe als neuntes Kind eines Rabbiners geboren. 1890 übersiedelte die Familie nach Berlin, wo der Vater zweiter Prediger einer Reformgemeinde wurde. Nach dem Besuch verschiedener Gymnasien, unterbrochen durch eine Kaufmannslehre, studierte Klemperer von 1902 bis 1905 Philosophie, Romanistik und Germanistik in München, Genf, Paris, Berlin. Bis er 1912 das Studium in München wieder aufnahm, lebte er in Berlin als Journalist und Schriftsteller. 1912 konvertierte er zum Protestantismus. 1913 Promotion, 1914 bei Karl Vossler Habilitation. 1914/15 Lektor an der Universität Neapel. Hier entstand eine zweibändige Montesquieu-Studie. Als Kriegsfreiwilliger zunächst an der Front, dann als Zensor im Buchprüfungsamt in Kowno und Leipzig. 1919 o. a. Professor an der Universität München. 1920 erhielt er ein Lehramt für Romanistik an der Technischen Hochschule in Dresden, aus dem er 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen wurde. 1938 begann Klemperer mit der Niederschrift seiner Lebensgeschichte "Curriculum vitae". 1940 Zwangseinweisung in ein Dresdener Judenhaus. Nach seiner Flucht aus Dresden im Februar 1945 kehrte Klemperer im Juni aus Bayern nach Dresden zurück. Im November wurde er zum ordentlichen Professor an der Technischen Universität Dresden ernannt. Eintritt in die KPD. 1947 erschien seine Sprach-Analyse des Dritten Reiches, "LTI" (Lingua Tertii Imperii), im Aufbau-Verlag. Von 1947 bis 1960 lehrte Klemperer an den Universitäten Greifswald, Halle und Berlin. 1950 Abgeordneter des Kulturbundes in der Volkskammer der DDR. 1952 Nationalpreis III. Klasse. 1953 wurde er Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Victor Klemperer starb 1960 in Dresden."

Zu Victor Klemperer seht bitte auch die Artikel vom 2018/04/27, 2018/05/28 und vom 2018/06/27 auf kuhlewampe.net.

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2021/05/31

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2021/05/28

Qi Baishi (1864-1957)
Zikade


qibaishi
Quelle: Wikimedia Commons.


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2021/05/24


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2021/05/21

Ingo Cesaro
Künstler Notgeld zum ARTerhalt

Endlich ein Aufruf zum Gelddrucken


coronanotgeld


Seit dem 20. März 2020 zwang der Lockdown Kulturschaffende dazu, nur noch von Einkünften zu träumen. Höchste Zeit auf die Tradition des Notgeldes zurückzugreifen.
Bei Cesaros Einsatz der Handnudel auf Ausstellungen wurde er immer wieder gefragt, ob es möglich wäre, auf dieser Druckpresse auch Geldscheine zu drucken. Natürlich unmöglich.
Oliver Heß aus Coburg hatte die Idee, Geldscheine für 10, 20, 50, 100, 200 und 500 zu gestalten, allerdings ohne Angabe einer Währung. Cesaro beteiligte sich mit "Coronahilfe", "Corona-Notgeld" und "Corona-Nothilfe" im Wert von jeweils 10 an dieser Aktion.

www.ingo-cesaro.de

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2021/05/18

Einbetonierte Cadillacs von Wolf Vostell

von Dr. Christian G. Pätzold


cadillacs
Wolf Vostell: Einbetonierte Cadillacs auf dem Rathenauplatz in Berlin Halensee.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, April 2021.


Auf kuhlewampe.net wurde in den vergangenen Jahren schon öfter über außergewöhnliche Plastiken im Stadtbild von Berlin berichtet, zuletzt zum Beispiel über den »Looping« von Ursula Sax (2020/12/02 auf kuhlewampe.net), auch anlässlich der Feier 750 Jahre Berlin im Jahr 1987 entworfen. Zu diesen besonderen Kunstwerken gehört sicher auch die Plastik, die sich am westlichen Ende des Kurfürstendamms befindet, im Ortsteil Halensee. Dort auf dem Rathenauplatz steht ein bemerkenswertes Etwas, das den ungewöhnlichen Titel "Zwei Beton-Cadillacs in Form der nackten Maja" trägt. Das Etwas aus dem Jahr 1987 stammt von Wolf Vostell (1932-1998), dem vielleicht wichtigsten Berliner Künstler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die nackte Maja ist ein Gemälde von Francisco Goya, das im Prado in Madrid hängt. Man kann sie natürlich auch im Internet bewundern.

Die Skulptur von Vostell war Teil des Skulpturenboulevards zur 750-Jahr-Feier Berlins. Der Skulpturenboulevard reichte vom Rathenauplatz bis zum Wittenbergplatz und umfasste 7 Skulpturen, von denen drei noch heute stehen. Vostell wollte den "24-stündigen Tanz der Autofahrer ums Goldene Kalb" entlarven. Die erbosten Autofahrer stellten daraufhin einen Trabi auf den benachbarten Grünstreifen. Heute steht der Trabi nicht mehr da, die Cadillacs aber sind geblieben.

Der Name Rathenauplatz ist eigentlich hochgestapelt. Denn der Platz ist nicht mehr als eine vom Verkehr umtoste Insel. Auch das ist noch zu poetisch ausgedrückt. Wenn man sich mit Autoabgasen und Feinstaub benebeln möchte, dann ist das der richtige Ort. Vostell wollte uns mit dieser Realität konfrontieren und die Frage stellen: Warum? Beziehungsweise: Warum nicht? Vostells Plastik ist eine Erinnerung an unsere Steuermilliarden, die für Betonpisten ausgegeben wurden. Sie ist eine Kritik an einer selbst verschuldeten Umwelt, die den Menschen schadet. Es ist wichtig, dass Vostell dieser kritische Blick auf die Realität gelang. Viele Künstler reden von Gesellschaftskritik, aber nur wenige bekommen sie auch wirklich hin. Wolf Vostell war einer der Wenigen. Vostells Kunst ist eine, die sich mit der Gegenwart des 20. Jahrhunderts auseinandersetzte, und das war gar nicht so oft zu finden, wie man denkt. Entsprechend heftig waren die Reaktionen der Autofetischisten. Es ist ein kleines Wunder, dass diese wichtige Plastik heute noch steht.

Die starke Wirkung der Plastik kommt auch durch den Widerspruch zwischen den eigentlich mobilen Autos und dem starren Beton zustande. Cadillacs waren das traditionelle Status-Symbol der amerikanischen Manager. Hier sind sie aus dem Verkehr gezogen, der Kapitalismus ist zum einbetonierten Museumsstück geworden. Seit den 1960er Jahren gelang es Vostell immer wieder, mit Bildern zu provozieren und zu schockieren. So verwendete er beispielsweise die Fotomontage ähnlich wie Robert Rauschenberg. Er war an Kunstströmungen wie der Décollage, dem Nouveau Réalisme, den Happenings und der Fluxus-Bewegung beteiligt. Mit allen diesen Verfahren wollte er das Bewusstsein für eine kritische Betrachtung der Realität schärfen. Zu seinen Weggefährten zählten Joseph Beuys und Nam June Paik.

Daher ist der Rathenauplatz an der Stadtautobahn genau der richtige Ort für die Betoncadillacs, um einmal nachzudenken. Obwohl, man könnte sie auch auf den Viktoria-Luise-Platz stellen.

Literatur:
Mercedes Vostell: »Vostell - Ein Leben lang. Eine Werkbiographie«, Berlin/Kassel 2012.


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2021/05/14

Zum 250. Geburtstag von Robert Owen
Newtown/Wales 14. Mai 1771 - Newtown 17. November 1858

von Dr. Christian G. Pätzold


owen
Robert Owen nach einem Ölgemälde von William Henry Brooke, 1834.
Quelle: Wikimedia Commons.


Robert Owen war ein britischer Unternehmer und Frühsozialist, der für die Geschichte des Sozialismus von großer Bedeutung war. Im Jahr 1800 wurde er Miteigentümer der Baumwollspinnerei seines Schwiegervaters im schottischen New Lanark in der Nähe von Glasgow. Er wandelte das Unternehmen in eine Musterfabrik um, indem er die Wohnverhältnisse und die Arbeitsbedingungen der Arbeiter verbesserte und einen Kindergarten und eine Schule für die Arbeiterkinder einrichtete. Seine Pläne zur Verbesserung der Lage der Arbeiter und der Gesellschaft im Allgemeinen legte er in seiner ersten Schrift »A New View of Society«, London 1812, dar. Er setzte sich für ein Verbot der Kinderarbeit, für kürzere Arbeitszeiten und für staatliche Unterstützung für die Arbeitslosen ein. Außerdem entwickelte er Pläne zu Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter, wie Genossenschaften, Konsumvereine bis zu Gemeinschaftssiedlungen.

Im Jahr 1825 ging er nach Amerika, um die kommunistische Genossenschaft New Harmony in Indiana zu leiten, die er von dem deutschen Pietisten Johann Georg Rapp gekauft hatte. Das Modell in New Harmony scheiterte jedoch schon 1828 an Meinungsverschiedenheiten zwischen den Teilnehmern. 1829 kehrte er nach England zurück. In Amerika hat sich in der folgenden Zeit gezeigt, dass nur die Kommunen einen längeren Bestand hatten, die einen starken ideologischen Zusammenhalt besaßen, insbesondere die religiös fundierten Kommunen wie die Mennoniten und die Amischen.

In London und Birmingham entwickelte er 1832 den Plan einer Arbeitsbörse, bei der Produkte auf Grundlage der zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeitszeit getauscht wurden. Auch dieser Versuch scheiterte schon 1834 und musste wieder aufgegeben werden.

In der ökonomischen Theoriegeschichte wird Robert Owen (zusammen mit William Thompson, 1775-1833, Thomas Hodgskin, 1787-1869, und John Francis Bray, 1809-1897) zu den Ricardianischen Sozialisten gezählt, die sich auf die Arbeitswertlehre des englischen Ökonomen David Ricardo (1772-1823) beriefen. Um die Ausbeutung der Arbeiter zu umgehen, setzten sie sich für die Einrichtung von Arbeitstauschbörsen ein. Unter Ausschaltung des Geldes sollten in den Arbeitsbörsen gleiche Arbeitsquanten gegeneinander getauscht werden. Owen musste erfahren, dass es sehr schwierig bis unmöglich ist, eine Parallel-Währung neben dem offiziellen staatlichen Geld zu etablieren. Das funktioniert eigentlich nur vorübergehend lokal als Not-Geld während einer Hyperinflation wie 1923 in Deutschland. Auch wenn die praktischen Versuche der Ricardianischen Sozialisten scheiterten, so war doch ihre Kritik des Kapitalismus später von großem Einfluss auf Karl Marx.

Die Bedeutung von Robert Owen besteht auch darin, dass seine Ideen zur Gründung von Produktivgenossenschaften führten. Durch Arbeitergenossenschaften sollte das kapitalistische System überwunden und in ein sozialistisches System verwandelt werden. Er soll auch um 1835 das Wort Sozialismus geprägt haben. Für alle Menschen, die heute in Genossenschaften arbeiten, ist der 250. Geburtstag von Robert Owen ein großer Feiertag.

Wenn man an Robert Owen denkt, dann sollte man auch seine zeitgenössischen französischen Geistesverwandten Charles Fourier und Saint-Simon nennen.

Zu seinen Büchern zählen:
A New View of Society, London 1812.
Observations on the Effect of the Manufactoring System, London 1817.
The Book of the New Moral World, London 1842.
The Life of Robert Owen written by himself, London 1857.


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2021/05/12

Zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys
Krefeld 12. Mai 1921 - Düsseldorf 23. Januar 1986


beuys
Joseph Beuys: La rivoluzione siamo Noi.
Das Bild von Beuys ist durch das diesjährige Hintergrundbild von kuhlewampe.net inspiriert:
Il Quarto Stato von Giuseppe Pellizza da Volpedo.


Zu Joseph Beuys seht bitte auch die Artikel:
"Das Kapital (1980) im Hamburger Bahnhof" (2016/07/23),
"Beuys. Ein Dokumentarfilm von Andres Veiel" (2017/06/25) und
"7.000 Eichen in Kassel" (2017/08/17) auf kuhlewampe.net.


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2021/05/10

Heinrich Kley (1863-1945)
Die Kruppschen Teufel, 1911-1914, Detail


kruppscheteufel
Das Ölgemälde »Die Kruppschen Teufel« von Heinrich Kley befindet sich laut Wikipedia
im Westfälischen Landesmuseum für Industriekultur in der Henrichshütte in Hattingen.


Es waren einst vier junge Teufel, die lebten frohgemut und guter Dinge vor sich hin. Da sie sich aber zum Ärger der anderen Höllenbewohner oft sehr lümmelhaft aufführten und auch sonst etwas absonderliche Ansichten über die Welt vertraten, wurde es den anderen Insassen irgendwann zu bunt und sie schmissen die vier Rüpel aus der Hölle. Und nun irrten die Vier verloren und schlechtgelaunt durch die Lande und wussten nichts mit sich anzufangen. Es fehlte ihnen die warme und wohlige Atmosphäre der Hölle; stattdessen standen sie nun draußen im Regen und froren. Da kam ihnen ein Ritter auf einem klapprigen Gaul entgegen. Und den fragten sie, ob er nicht eine Hölle für sie wüsste. Der Ritter wies nach Norden und verschwand dann wortlos. Also marschierten sie hoffnungsfroh gen Norden und erreichten nach einigen Tagen die Stadt Essen. Und hier kamen sie zu einer riesigen Fabrikhalle der Firma Krupp, in der es ohrenbetäubend krachte und wilde Flammen emporloderten. Die vier Teufel waren begeistert. Endlich! Hier hatten sie ihre Hölle auf Erden. Monströs machten sie sich in der Kruppschen Höllenhalle breit, betranken sich und hinderten die Menschen am arbeiten.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Mai 2021.


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2021/05/07

Markus Richard Seifert
Mein Urgroßvater, das Berliner Lehrer-Verzeichnis und ich


nawrotzki
Friedrich Nawrocki


Zukunft ist Herkunft, sagte mal jemand zu mir. Und genauso sehe ich das auch. Mütterlicherseits komme ich aus einer Berliner Lehrerfamilie, die ursprünglich in den ehemaligen deutschen Ostgebieten zwar nicht begütert, aber immerhin doch beheimatet gewesen ist. Sie hießen Nawrocki, was soviel wie "Heimkehr" bedeuten soll. Der Vater meines Urgroßvaters war dort Dorfschulmeister in Groß Kruschin im Landkreis Stuhm, Provinz West-Preußen. Wie viele Bildungsbürger waren sie vom Westen geprägt. Und so kam und geschah es, dass sie zuerst Preußen und dann Deutsche geworden sind.

1905 zog mein Urgroßvater Friedrich Nawrocki (1864-1948) zusammen mit seinem Bruder Karl nach Berlin. Dort war er nun nicht mehr ein einfacher Dorfschulmeister, sondern wurde Volksschulrektor (Schule mit 8 Klassen). Aus dem Osten kommend siedelte er sich im Osten der damaligen Reichshauptstadt an, nämlich im Berliner Bezirk Pankow, Ortsteil Französisch Buchholz, um genau zu sein. Da die Berliner seinen Namen penetrant falsch aussprachen, ließ er dessen Schreibweise ändern und nannte sich fortan Nawrotzki. Er begründete die Tradition unserer Lehrerfamilie, denn immerhin sind zwei seiner Söhne auch Lehrer geworden. Sein ältester Sohn Walter wurde Realschulrektor. Und sein drittgeborener Sohn mit Namen Edgar ("Exchen") wählte als Zweitberuf ebenfalls den eines Realschullehrers, nachdem er vorher bis 1945 Abteilungsleiter bei IG Farben gewesen war. Aber auch in der nächsten Generation setzte sich der Schuldienst fort: Zwar wurde sein jüngster Sohn nicht Lehrer, sondern Drogist. Aber dessen Sohn wiederum - Jürgen mit Namen - wurde schließlich Oberstudiendirektor, also Rektor an einem Gymnasium.

Sogar ein Photo habe ich von meinem Urgroßvater Friedrich Nawrotzki, welcher laut eigener Aussage Pantheist gewesen sein soll - also ein Mensch, für den nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen ein Teil der göttlichen Schöpfung sind. Streng und ein bisschen "fernhinsinnend" (frei nach Friedrich Dürrenmatt) blickt er darauf in die Weite, vielleicht gerade den langen Weg seines Lebens überdenkend. Er war ein strenger Mann. Einmal, als sein jüngster Sohn Günther bei Tisch zu reden wagte, gab er ihm eine Ohrfeige, dass der Junge sich unter dem Tisch wieder fand. Außerdem besaß er eine Gartenlaube, denn er gehörte noch zu jenen Lehrern, zu deren Ausbildung die Obstbaumzucht gehörte. Übrigens war er nicht nur der Vater seiner Söhne, sondern in der Schule auch noch ihr Lehrer - ein Lehrer allerdings, der zu seinen Söhnen wahrscheinlich besonders streng gewesen ist.

In dem BERLINER LEHRER-VERZEICHNIS von 1929, das ohne mein Zutun im Jahre 2020 in meine Hände fiel, habe ich über diesen Mann den folgenden Eintrag gefunden: Nawrotzki, Fritz - Buchholz, Pasewalker Straße Nr. 113 - geboren am 10.10.1864 - Seminarort: Löbau - Abgangsjahr: 1885, Ruhestandsjahr: 1924.

© Markus Richard Seifert, Mai 2021.


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2021/05/04

Wolfgang Weber
Stürz den Becher


stoertebeker
Claas Störtebeker Denkmal von Hansjörg Wagner in Hamburg
auf dem Großen Grasbrook, dem vermuteten Hinrichtungsort.
Quelle: Wikimedia Commons. Fotografiert von Palauenc05.


"Störtebeker und Gödecke Micheel
de roveden beide to gliken deel
to water un ok to lande" (3)
Störtebeker und Gödeke Michels raubten zu gleichen Teilen, zu Wasser und zu Land. Die Likedeler, Gleichteiler oder Vitalienbrüder, waren eine Gruppe von Seefahrern. Einer ihrer Anführer war Störtebe(c)ker, Vorname: Klaus, Klaas oder Claas, auch bekannt als Nikolaus Storzenbecher, stürz den Becher. Unklar auch seine Herkunft, geboren in Wismar, vielleicht auch bei Verden (Aller), jedenfalls im Jahr 1360.

"Vor 600 Jahren ward er geboren
Ein großer Pirat zu sein
Er war stolz und stark und hatte Mut
Und er wurde ein zweiter Robin Hood." (4)
Großer Pirat zu sein, war seine Bestimmung. Er war stolz, stark, mutig wie Robin Hood im Sherwood Forest, für die Armen, gegen die Reichen. Störtebeker sein Name, stürz den Becher. Wir, seine Brüder, besegeln das ganze Meer, von Helgoland bis Rügen. Hier und jetzt, stürz den Becher. Alle wissen um unser Tun, dreist, selten schlecht, Piraten sind wir. Schiffe heißen nach ihm "Störtebeker": Fisch- und Ausflugsdampfer, Motor- und Schulboote und -schiffe sowie ein Versuchsboot der Bundesmarine.

Wie auch bei Till Eulenspiegel sind seine genauen Lebensumstände ungeklärt, wie er hieß, wie sich sein Name schrieb, ob er wirklich der war, für den man ihn hielt, vieles ungewiss, so bilden sich Legenden und Mythen. Becher trank er mit einem einzigen großen Schluck aus, Störtebeker eben, stürz den Becher, immerhin vier Liter, so sagt man.
"Störtebecker sprach sich allzuhand:
Die Wester-See ist mir wohlbekannt
viel Geld will ich uns holen;
die reichen Kaufleut von Hamburg
sollen uns das Gelag bezahlen." (2)

Festspiele mit seinem Namen gibt es zwei. Das eine auf Rügen, Jahr für Jahr, in Ralswiek, zum 25. Mal im Jahr 2017. Der "Nordkurier" meldete kurz zuvor: Sturz vom Esel, die Festspiele müssen ohne "den bekannten Schauspieler Volker Zack Michalowski" auskommen, der hat sich den linken Arm gebrochen. Nun, ich las seinen Namen damals zum allerersten Mal, er hätte einen sächselnden Bettelmönch spielen sollen. Ersetzt wurde er durch Philipp Richter aus Dresden. Alle drei Jahre findet eine plattdeutsche Version in Marienhafe im Störtebeker Land, Kreis Aurich statt, in Ostfriesland also, nicht weit von Emden entfernt.

Am 22. April 1401 war’s, Störtebeker strandete mit seinen Mannen vor Helgoland, stürz den Becher, und ward festgenommen mitsamt seinen Gefährten. Auf der "Bunten Kuh" aus Flandern wurden sie nach Hamburg gebracht, alle dreiundsiebzig, enthauptet von Henker Rosenfeld. Der Legende nach hätte er gerne noch mehr enthauptet, darunter den versammelten Rat der Stadt Hamburg. Daraufhin wurde der Henker ebenfalls geköpft. An diesem Tag verlor Störtebeker seinen Kampf, seinen Kopf, seine Leute, sein Leben, stürz den Becher.
"Jeder weiß von unseren Taten
Sie sind dreist und selten schlecht
Denn wir sind Piraten
Und das ist unser gutes Recht" (5)
"Haifisch" hieß sein Schiff, stets bereit für die große Fahrt. Störtebeker unvergessen bis zum heutigen Tag. Auf dein Wohl, stürz den Becher!

Quellen:
1) Wikipedia Artikel: "Klaus Störtebeker"
2) Volkslied: "Störtebecker-Lied (Störtebecker und Gödeke Michael)"
3) Achim Reichel 1977: "Das Störtebecker Lied" (plattdeutsche Kurzfassung von 2)
4) Slime 1983: "Störtebeker"
5) In Extremo 2016: "Störtebeker"

© Wolfgang Weber, Mai 2021.


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2021/05/01

Sonnige Grüße zum 1. Mai !


erstermai

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2021/04/30

vorschau05

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2021/04/29

Dr. Wolfgang Endler
Als Beleg für eine überraschend positive Sichtweise
hier (m)ein Aphorismus aus der Rubrik
Prima Klima von Lima bis Fukushima
Aphoristische AssoZiationen von Algenpest bis Zyklon


Unerwartete
Chance

Klimaveränderung
ist keine Katastrophe
schafft sie doch
mehr Raum
für Rufer
in der
Wüste

© Dr. Wolfgang Endler, April 2021.
www.wolfgang-endler.de


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2021/04/27

500. Todestag von Fernão de Magalhães

von Dr. Christian G. Pätzold


victoria
Magellans Schiff Victoria, das die erste Erdumseglung 1519-1522 schaffte.
Quelle: Wikimedia Commons.


Fernão de Magalhães oder Ferdinand Magellan auf Deutsch war ein portugiesischer Seefahrer, der um 1480 in Sabrosa bei Vila Real in Nord-Portugal geboren wurde. Gestorben ist er vor genau 500 Jahren am 27. April 1521 im Kampf mit Eingeborenen auf der Philippineninsel Mactan bei Cebu. In die Geschichtsbücher ist er als Entdecker der Magellan-Straße an der Südspitze Süd-Amerikas eingegangen, und als der Seefahrer, der die erste Erdumseglung begann, auch wenn er das Ende nicht selbst erlebte. Die erste Weltumseglung dauerte zwei Jahre, elf Monate und zwei Wochen vom 20.9.1519 bis 6.9.1522.

Magellan sollte im Auftrag des spanischen Königs Karl V. den Westweg nach Asien finden, wobei es besonders um den Weg zu den Gewürzinseln der Molukken ging, da sich mit Gewürznelken ein großer Gewinn in Europa machen ließ. Den Ostweg zu den Molukken hatten die Portugiesen für sich monopolisiert. Am 20. September 1519 verließ Magellan mit fünf Schiffen und 237 Mann Besatzung den Hafen von Sanlúcar de Barrameda. Im Januar 1520 stellte er fest, dass der Rio de La Plata keine Durchfahrt zum Pazifik ist, sondern nur eine Flussmündung. Bei der Weiterfahrt entlang der Ostküste Patagoniens entdeckte er im Oktober 1520 die Magellan-Straße zwischen dem Südende Süd-Amerikas und Feuerland. Den anschließenden Ozean, in den er am 8. November 1520 unter Kanonendonner einsegelte, nannte er Stiller Ozean (Mar pacifico), da er auf der Überfahrt von drei Monaten keinen Sturm erlebte.

Am 16. März 1521 erreichten er und seine Mannschaft als erste Europäer die Philippinen, die den östlichsten Punkt des arabischen Handelsbereichs bildeten. Bei dem Versuch, das Christentum mit Gewalt bei den Eingeborenen einzuführen, kam Magellan am 27. April 1521 im Kampf mit den Eingeborenen auf den Philippinen ums Leben. Er hätte sich besser um die Gewürznelken kümmern sollen und nicht so sehr um die Ausbreitung des Christentums. Aber die Konquistadoren sollten nicht nur Gewürze und Edelmetalle nach Europa holen, sondern auch die Heiden missionieren, denn die katholische Kirche war damals sehr mächtig und wollte Erfolgsmeldungen.

Über Magellans Tod ist bei Wikipedia zu lesen:
"Nachdem sie die dringend benötigten Vorräte aufgenommen hatte, segelte Magellans Flotte weiter zu den Philippinen und erreichte am 16. März 1521 die Insel Homonhon. Zu dieser Zeit waren noch 150 Seeleute am Leben. Mit Hilfe seines Sklaven Enrique als Dolmetscher konnte Magellan mit dem Fürsten von Limasawa, Raja Kolambu, Geschenke austauschen. Kolambu geleitete die Spanier auf die Insel Cebu, wo es ihnen gelang, den Fürsten von Cebu, Raja Humabon, und viele seiner Untertanen zum Christentum zu bekehren. Auch Cebu unterwarf sich dem König von Spanien. Der Häuptling Lapu-Lapu auf der Nachbarinsel Mactan lehnte jedoch eine spanische Oberherrschaft und Missionierung ab. Daraufhin versuchte Magellan, Lapu-Lapu und sein Dorf militärisch zu unterwerfen.
Doch der Angriff am 27. April 1521 auf Mactan scheiterte: Die Spanier wurden trotz ihrer Feuerwaffen von den Einheimischen noch am Ufer zurückgedrängt und hatten mehrere Gefallene zu beklagen. Auch Magellan kam ums Leben. Den Berichten seines Chronisten Antonio Pigafetta zufolge kämpfte er noch im Wasser stehend als einer der letzten, um den Rückzug seiner Leute zu decken. Ein vergifteter Pfeil habe seinen Oberschenkel durchbohrt; kurz darauf sei er von zwei Lanzenstößen niedergestreckt worden, wobei einer ihn im Gesicht, der andere unter dem rechten Arm verwundete.
Bald nach dem misslungenen Angriff auf Mactan sagte der Fürst von Cebu sich vom Christentum los und lockte die Europäer in eine Falle. 35 von ihnen kamen ums Leben. Die übrigen konnten knapp entkommen, doch waren sie nun so wenige, dass sie die Concepción versenkten und die Überlebenden auf die Trinidad und Victoria verteilten."

Unter der Leitung von Juan Sebastián de Elcano wurde die Fahrt zu den Molukken fortgesetzt, die der Ursprung der in Europa so sehr begehrten Gewürze waren. Dort handelten sie von den Eingeborenen einige Gewürze ein. Danach durchquerten sie den Indischen Ozean, fuhren um das Kap der Guten Hoffnung und kamen am 6. September 1922 wieder in Spanien an. Von den ursprünglichen 237 Männern kamen mit der Victoria nur noch 18 kranke und ausgemergelte Seeleute in Spanien an, die die vollständige Erdumseglung geschafft hatten. Unter den ersten 18 Weltumrundern war auch ein Deutscher, Hans aus Aachen.

Durch die erste Erdumseglung in der Geschichte war zum ersten Mal praktisch nachgewiesen worden, dass die Erde eine Kugel ist. Die Bedeutung der Entdeckungen von Magellans Expedition ist in eine Reihe mit denen von Christoph Kolumbus und Vasco da Gama zu stellen. Eine Beschreibung der Fahrt ist von dem mitreisenden Italiener Antonio Pigafetta überliefert: »Primo viaggio intorno al globo«.

Magellans Expedition brauchte für die Erdumseglung fast 3 Jahre. Heute 500 Jahre später haben die High-Tech-Segler der Vendée Globe 2020/21 die Erdumseglung non-stop in 80 Tagen geschafft. Ist das Fortschritt?


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2021/04/24

Rudolph Bauer: Ibiza, 1994


ibiza
Acryl auf Pressplatte. 70 x 100 cm.
© Prof. Dr. Rudolph Bauer, April 2021.
www.rudolph-bauer.de


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2021/04/21

Dr. Hans-Albert Wulf
Der Teufel auf der Couch


Der Teufel war nervlich stark mitgenommen. Der Stadttrubel mit all den neurotischen Menschen war ihm gewaltig aufs Gemüt gegangen. All diese Hektik mit ihren griesgrämigen Leuten bekam ihm überhaupt nicht. Vielleicht aber passte er auch nicht richtig in diese Welt. Mit Sicherheit war er eine Art teuflischer Stadtneurotiker und er suchte deshalb einen Therapeuten auf, um sich helfen zu lassen.

Psychotherapeuten sollte man immer reinen Wein einschenken. Und zunächst musste er sich vorstellen und seinen Namen sagen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Also kurz und gut: "Ich bin der Teufel." Der Psychotherapeut lehnte sich in seinem Sessel zurück und schmunzelte. Schon wieder solch einer. Kürzlich hatte ich einen Napoleon und davor den Papst. Und jetzt also den Teufel höchstpersönlich. Da könne er leider nicht helfen. Das sei ihm eine Nummer zu groß, zumal er sich mit schizophrenen Phänomenen nicht besonders gut auskenne und er auch eine solche Therapie bei der Krankenkasse nicht abrechnen könne. So behauptete er jedenfalls. Er könne ihm aber gerne einen kompetenten Kollegen in der St. Hedwig-Psychiatrie empfehlen. Der könne ihm sicherlich seinen Teufelswahn nachhaltig austreiben.

Der Teufel war einigermaßen deprimiert, bedankte sich für den Rat, der ihm allerdings überhaupt nicht weiterhalf. Er ist nun mal selbst der Teufel. Und es hatte deshalb überhaupt keinen Sinn, ihm den Teufel austreiben zu wollen. Also ging er zu einem Psychoanalytiker in der St. Hedwig-Psychiatrie und der bat ihn, sich zunächst auf die Couch zu legen und sich an seine Kindheit zu erinnern. "Erzählen sie mir von Ihrer Mutter." Der Teufel lag geschlagene 10 Minuten schweigend auf der Couch und dann holte er tief Luft. "Meine Mutter habe ich nie gekannt. Gott, mein Vater, hatte sie kurz nach meiner Geburt ins Abseits befördert. Sie wurde von ihm verstoßen, weil sie sich sonst möglicherweise als unliebsame Konkurrenz zu Gottes männlichem Alleinvertretungs- anspruch hätte aufschwingen können."

Der Therapeut hörte sich den Sermon des Teufels an, seufzte und verabschiedete nach 45 Minuten seinen Patienten. Im Sessel sitzend dachte er über seinen neuen etwas komplizierten Fall nach. Ödipus war ja hier wohl nicht im Spiel. Die Familienaufstellung hatte hier offensichtlich eine andere Struktur. Da war zum einen der machtbesessene Gott, der Chef von allen, gegen den keiner ankam. Zum anderen waren hier des Teufels Brüder, die Erzengel, die sich immer mal wieder in einem heillosen Konkurrenzkampf verhedderten. Allen voran der machtlüsterne Erzengel Michael, der mehr noch als die anderen bestrebt war, bei Gott die erste Geige zu spielen. Er war ein durch und durch opportunistischer und intriganter Kerl. Gott hätte ihn längst aus dem himmlischen Machtzentrum verbannen sollen. Aber Gott selbst war ja selbst bekanntlich schon lange auf dem absteigenden Ast. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche hatte ihn sogar ohne Umschweife für tot erklärt. Doch wie auch immer, er war schon lange nicht mehr der allmächtige Herrscher der Welt, sondern hatte sich in einen inkontinenten, triefenden Greis verwandelt. Und auch wenn er noch auf seinem Thron im Zentrum der himmlischen Gefilde saß, so tanzten doch die Erzengel auf seiner Nase herum und bestimmten die himmlische Agenda.

In der nächsten Therapiesitzung bat der Psychotherapeut den Teufel, sich wieder auf die Couch zu legen und den Traum seiner letzten Nacht zu erzählen. Der Teufel versenkte sich und grübelte eine Weile. Er habe sich in einem finsteren Gebäude befunden, in dessen Mitte eine steile Wendeltreppe nach unten führte. Und er sei dann wie von einem inneren Sog getrieben diese Treppe hinunter gestiegen. Gottseidank gab es ein Geländer, an dem er Halt fand. Ohne dieses Geländer, so erzählte er weiter, wäre er unweigerlich sofort in die Tiefe hinabgestürzt. Doch so konnte er Schritt für Schritt hinuntersteigen. Und mit jedem Schritt hinunter wurde es immer heißer, so dass er beschloss, umzukehren. Doch dann sei er erwacht und froh, dass dieser bedrohliche Gang in die Tiefe nur ein Traum war.

Was ihm denn dazu einfalle, wollte der Psychotherapeut wissen. Das sei in seinem Fall doch vollkommen klar, erwiderte der Teufel, dass es die Hölle war, in der sich die sündigen Insassen für ewige Zeiten in der glühenden Hitze quälen mussten. Der Therapeut betätigte sich als gelernter Maieutiker oder Geburtshelfer und zog dem Teufel aus der Nase, was er gerne hören wollte. Die Hölle, so der Psychotherapeut, sei sicherlich ein Bild für sein Unbewusstes. Und dort hinab steige er mit Hilfe des therapeutischen Geländers. "Das ist doch Blödsinn" entgegnete der Teufel aufgebracht. "Das hat mit meinem Unbewussten nichts zu tun. Das ist schlicht die Hölle und sonst nichts. Und überhaupt, was soll denn das Unbewusste eigentlich sein. Mein Traum über diese drohende Horrorvision hat ausschließlich mit der Hölle zu tun. Und zwar nicht mit irgendeiner Hölle, sondern der speziellen Hölle, welche der Generalsekretär Gottes, der sog. Erzengel Michael, der Oberbürokrat, für ihn reserviert habe. Doch das habe ich gerade noch verhindern können, indem ich bei meinem Himmelssturz nicht in der Hölle, sondern im Nördlinger Ries in Süddeutschland gelandet bin. Die Machtbasis des Erzengels Michael, so fuhr er fort, wurde immer größer. Aber wir anderen Erzengel haben zunächst gar nicht richtig bemerkt, wie er sich immer mehr an Gott herangewanzt hatte. Schließlich hat er sich zum Kommissar für ideologische Abweichungen aller Art aufgeschwungen. Und um mich zu entmachten, hat er mich als Anführer aller Renegaten im Himmel und auf Erden diffamiert. Ein ausgesprochen anmaßender und machtlüsterner Kerl. Allein sein Name ist schon eine einzige Provokation. Michael heißt im Hebräischen "Wer ist wie Gott"? Donnerwetter! Eine Nummer kleiner ging es wohl nicht?!"

Der Teufel wandte sich wieder an den Therapeuten. "Ihr Seelenklempner mit eurem psychologischen Kauderwelsch geht mir sowieso gründlich auf die Nerven. Immer kommt ihr mit eurem blöden Ödipuskomplex. Ich aber hatte nie ein Problem mit meinem Vater Gott. Und meine Mutter ist mir nicht einmal bekannt, für die ich wie einst Ödipus meinen Vater hätte umbringen können. Wie wäre es aber z.B. mit einem Bruderkomplex? Ach ja, den Geschwisterkomplex gibt es ja bei euch auch irgendwo. Aber so richtig erforscht ist er in der Psychoanalyse wohl noch nicht. Außerdem trifft dieser Komplex bekanntlich auf mich nicht zu. Denn zu meinen anderen Brüdern Uriel und Gabriel habe ich ja kein schlechtes Verhältnis." Behauptete er. "Nur der Machtbolzen Michael ist mein Problem."

All diese konfusen Reden des Teufels begannen den Psychotherapeuten zu langweilen. Außerdem sah er die Gefahr, dass der Teufel sein Psychotherapiekonzept durcheinander bringen könnte und deshalb legte er ihm nahe, die Therapie zu beenden. Das werde er auch tun, polterte der Teufel beleidigt los, und zwar auf der Stelle. Und er stürzte hinaus und ließ nur seinen Schwefelgeruch im Zimmer des Therapeuten zurück.

© Dr. Hans-Albert Wulf, April 2021.


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2021/04/18

Wolfgang Weber
Auf den Spuren der Steine

(Textetisch: Lapidarium)


zille
Heinrich Zille steht August Kraus Modell für die Büste des Ritters Wedigo von Plotho
in der Puppenallee, um 1900.


Dies vorab, damit diese lateinischen Brocken gleich aus dem Weg geräumt sind:

Lapis, Stein, Plural lapides
Lapislazuli, blauer Stein
lapidarius, in Stein gehauen
lapidar, lakonisch, einsilbig, kurz und bündig, wuchtig, kraftvoll
Lapidarium, Haus der Steine, Steinsammlung

Nun kann es losgehen, mit Geistesblitzen und Assoziationen. Wo und wie fange ich an?

Da war doch mal irgendwo in Kreuzberg ein Lapidarium am Landwehrkanal, ich meine genau einmal war ich da, vielleicht noch maximal ein zweites Mal, es gab ein experimentelles Kulturprogramm, lang lang ist’s her. Ganz bestimmt ohne Lang Lang, den berühmten Pianisten aus China. Ich erinnere mich dunkel an Flöten, bestimmt waren Percussion und Klavier, gesprochene oder gesungene oder rezitierte Texte dabei. Aber ich erinnere mich nicht daran, wann genau das war. Sag mir quando, sag mir wann.

Dies war das allererste Pumpwerk für Abwasser in Berlin, erbaut im Jahre 1876. Baudenkmal ist dieses Gebäude seit 1977. Der Berliner Senat verwahrte an diesem Ort von 1978 bis 2009 alte Steine, nämlich so genannte Denk- und Standmale.

Sie kamen zum Beispiel von der Schlossbrücke, der Siegesallee, aus dem Tiergarten. Am originalen Standort verblieben Repliken (etwas banaler gesagt: Stellvertreter oder Platzhalter). Die acht Figuren der Schlossbrücke kehrten 1981 dorthin zurück. Diejenigen der Siegesallee sind inzwischen in einer Dauerausstellung der Zitadelle Spandau untergekommen: Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler.

Hier am Halleschen Ufer 78 ist jetzt der Hauptsitz der Firma Boros GmbH aus Wuppertal, Agentur für Kommunikation, benannt nach ihrem Gründer Christian Boros, der auch Kunstsammler ist. Wenn ich richtig informiert bin, ist es jetzt eher ein Ort für geladene Gäste.

Bereits 2003 hatte Boros den Luftschutzbunker Albrechtstraße / Ecke Reinhardtstraße gekauft, der zuvor unter dem Namen Bunker ein angesagter Technoclub war, dort legten DJs der Richtungen Gabba, Hardtrance, House, Breakbeat auf.

Der Lapidarien gibt es viele, in Berlin und andernorts. Ein weiteres befindet sich im Prenzlauer Berg nördlich des Senefelder Platzes am Jüdischen Friedhof, Schönhauser Allee 23 bis 25. Im Jahr 2005 eröffnet, bietet es 64 Grabmalen Unterschlupf, deren ursprüngliche Standorte nicht mehr zuzuordnen waren, Opfer von Verfolgung durch Nazis und von Kriegswirren. Folgerichtig ist dieses Lapidarium als Teil der Friedhofsmauer konzipiert. Ein Besuch ist nur mit vorheriger Genehmigung der Jüdischen Gemeinde möglich.

Dann ist da noch der Steinplatz in Charlottenburg, ein gutes Programmkino war dort ansässig. Benannt nach dem Freiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, kurz Freiherr vom Stein, Staatsmann und Reformer in Preußen. Rudi Dutschke lernte im Café Steinplatz seine spätere Frau Gretchen Klotz kennen. Das war 1964. Ein Lapidarium wird man vergeblich suchen.

Neben der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße befindet sich jedoch tatsächlich eines. Lapidarien müssen nicht ausschließlich lapidar sein. Dieses bietet nicht nur Steine, nämlich Beton-Fundamente, sondern auch Stacheldraht und Grenzpfähle, alles aus der Zeit der deutschen Teilung.

Im Köllnischen Park neben dem Märkischen Museum werden im Lapidarium und auch im Park Steine von nicht mehr existenten Gebäuden präsentiert: Etwa vom alten Berliner Rathaus in der Spandauer Straße.

Oder die Sandsteinskulptur von Herkules, auch bekannt als Herakles, im Kampf mit dem Nemeischen Löwen. Dieser unverwundbare Löwe aus der griechischen Mythologie fiel Menschen und Tiere an. Die erste der zwölf Arbeiten des Herakles bestand darin, das Fell dieses Löwen zu erbeuten.

Der Fussballtrainer Otto Rehhagel bekam in seiner griechischen Zeit, 2001 bis 2010 den Spitznamen Rehakles verpasst. Offenbar weil ihm übermenschliche Kräfte zugeschrieben wurden. Superman in Hellas.

Es fehlt nur noch der Sprung zum Ende des Textes: ganz lapidar: Ende.

© Wolfgang Weber, April 2021.


rudi
Rudi Dutschke und Gretchen Klotz.


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2021/04/15

Früchte der Lampionblume


lampionblume
Blütenkelche und Früchte der Lampionblume im Dezember.
Fotografiert von © Ella Gondek.


Die Lampionblume (Physalis alkekengi) gehört zur botanischen Gattung der Blasenkirschen (Physalis) in der Familie der Nachtschattengewächse (Solanaceae). Sie ist in vielen Gärten zu finden und breitet sich durch ihre unterirdischen Rhizome aus. Der Name Lampionblume kommt von den wie Lampions aussehenden Blütenkelchen, die die Früchte enthalten. Die Blütenkelche sind zuerst grün und im Herbst leuchtend orange gefärbt. Im Winter werden die Blütenkelche zu filigranen Netzen, in denen sich die roten kugeligen Früchte befinden. Die Früchte sind nicht essbar. Aber die Blütenkelche mit den Früchten ergeben dekorative Trockenblumen, wenn man Ikebana in der Wohnung mag. Es gibt auch eine Verwandte der Lampionblume, die Kapstachelbeere oder Andenbeere (Physalis peruviana), deren Früchte essbar sind und in Supermärkten angeboten werden.

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2021/04/12

Markus Richard Seifert
Ein Blasenstein schreibt Geschichte


napoleon3
Kaiser Napoleon III. von Frankreich (1808-1873).
Nach ihm und seinem Onkel Napoleon I. ist die Regierungsform des Bonapartismus benannt.
Gemälde von Adolphe Yvon, 1868. The Walters Art Museum, Baltimore/Maryland/USA.
Quelle: Wikimedia Commons.


Der 1.September 1870: Eine Schlacht bei Sedan im deutsch-französischen Kriege, die mit einer französischen Niederlage endet und bei der sogar Kaiser Napoleon III. in Gefangenschaft gerät. Wodurch kam es dazu? Etwa durch das Genie des Generals von Moltke, der den Schlachtplan entworfen hatte? Oder durch die politische Kunst eines Otto von Bismarck, des späteren Reichsgründerkanzlers? Oder durch das preußische Zündnadelgewehr ("Dreyse")? Auch das nicht, denn das französische Chassepotgewehr war durchaus eine ebenbürtige Waffe in damaliger Zeit. Wodurch also dann?

Durch einen Blasenstein, den Kaiser Napoleon der Dritte (der Neffe des kühnen Korsen Napoleon Bonaparte) schon viel zu lange in seinem Körper getragen hat. Denn dieser schwächte ihn und das Morphium, das er gegen die Schmerzen einnehmen musste, tat ein Übriges, denn es betäubte ihn ganz offensichtlich. Jeder einfache Soldat wäre mit einer solchen Krankheit ins Krankenrevier gekommen. Aber ein Kaiser, der ist doch unersetzlich! Oder etwa nicht??

Felix Schlagintweit (1868-1950), eigentlich gar kein Historiker, sondern "nur" ein urologischer Mediziner, hat diese Zusammenhänge in seinem biographischen Roman »Kaiser Napoleon III., Lulu und Eugenie« sehr einfühlsam beschrieben. Auch die Steinoperation, an der der Kaiser dann im englischen Exil gestorben ist. Ein medizinischer Eingriff, vorgenommen von dem Leibarzt der Königin Victoria, einem gewissen Sir William "Willi" Gull, von dem das ebenso unbestätigte wie auch unwiderlegte Gerücht umging, er sei im Jahre 1888 "Jack the Ripper" gewesen. Übrigens war noch ein anderer Arzt an dieser Operation beteiligt, nämlich Sir Henry Thompson, der angeblich dafür verantwortlich gewesen sein soll, dass die Narkose mittels Chloroform (warum denn nicht Äther?) wohl etwas überdosiert gewesen ist.

Allerdings war schon 1859 in der Schlacht bei Solferino verschiedentlich bemerkt worden, dass Napoleon III. im Gegensatz zu seinem großen Onkel und Vorbild kein Feldherrentalent hatte. Er selbst soll über sich gesagt haben: "Ich regiere ein Land wie ein kluger Kaufmann!" Es war übrigens jener Krieg, in dem der Schweizer Henri Dunant das Rote Kreuz gegründet hat. Ein Blasenstein schrieb Geschichte? Vielleicht.

© Markus Richard Seifert, April 2021.

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2021/04/09

Zum indischen Kastensystem

von Dr. Christian G. Pätzold


Das Wort Kaste stammt von dem portugiesischen Wort casta für Geschlecht oder Rasse. Als die Portugiesen im frühen 16. Jahrhundert auf dem Seeweg nach Indien kamen, um den lukrativen Gewürzhandel in ihre Hand zu bringen, kannten sie das System der Heirat innerhalb der eigenen gesellschaftlichen Schicht von ihren eigenen portugiesischen Adelsgeschlechtern. Sie haben daher das Wort casta verwendet, im Indischen heißen die Kasten Varnas. Die ursprüngliche Bedeutung von Varna ist Farbe, da den 4 Hauptkasten Farben zugeordnet sind, den Brahmanen zum Beispiel die Farbe Weiß, den Shudras die Farbe Schwarz. Die Engländer haben dann das Wort casta von den Portugiesen als cast übernommen, das im Deutschen zu Kaste wurde. Das indische Kastensystem besteht aus 4 Hauptkasten (Varnas): Die Brahmanen (Priesterkaste), die Kshatriyas (Kriegerkaste), die Vaishyas (Händlerkaste) und die Shudras (Arbeiterkaste).

Das indische Kastensystem, in dem die einzelnen Menschen und ihre Nachkommen in verschiedene soziale Gruppen und Berufe eingeteilt werden, erscheint den heutigen Europäern vielleicht seltsam. Im Kastensystem haben die einzelnen Menschen qua Geburt einen höheren oder niedrigeren Status. In Europa wird heute jeder Mensch der Theorie nach als gleichberechtigt angesehen und er kann das machen und arbeiten, was er will. Aber vor 1.000 Jahren gab es im mittelalterlichen Europa ein System namens Ständeordnung, das ganz ähnlich wie das indische Kastensystem funktionierte. Die Menschen waren damals in die Stände des Klerus, des Adels und der Bauern und sonstigen Arbeiter eingeteilt. Die einzelnen Menschen und ihre Nachkommen wurden in einen Stand und Beruf (Zünfte) hineingeboren und mussten dort ihr Leben lang bleiben. Diese Ständeordnung findet sich zum Beispiel in einem Text von Adalberon, Bischof von Loan in Frankreich, um das Jahr 1000. Er spricht dort von den Ständen des Klerus (oratores), des Adels (bellatores) und der Bauern (laboratores).

Dieses mittelalterliche Ständesystem des Ancien Regime wurde erst mit den bürgerlichen Revolutionen seit dem 18. Jahrhundert in Europa abgeschafft. Daher ist das indische Kastensystem vielleicht auch eine gesellschaftliche Organisationsform, die sich mit der modernen Entwicklung allmählich auflösen wird.

Worin besteht der Zusammenhang zwischen indischem Hinduismus und indischem Kastensystem? Das Kastensystem ist eine jahrhundertealte gesellschaftliche Organisationsform, die jeden Menschen in eine der 4 Hauptkasten und in die niedrigste Gruppe der Unberührbaren, die unterhalb des Kastensystems steht, einteilt. Die oberste Kaste bilden die Priester oder Brahmanen. Unterhalb des Kastensystems stehen die Unberührbaren, im Englischen Untouchables genannt, im Indischen Dalits. Die Dalits umfassen etwa ¼ der heutigen indischen Bevölkerung und müssen die unbeliebtesten Arbeiten ausführen. Die Hauptkasten wiederum sind in hunderte von Unterkasten unterteilt. Damit ergibt sich eine komplette Rangordnung der einzelnen Menschen.

Der Hinduismus dagegen ist eine Religion, die sich hauptsächlich mit der Geschichte der Götter beschäftigt. Der Hinduismus hat jedoch nie die Berechtigung des Kastensystems in Zweifel gezogen. Da die übergroße Mehrheit der Inder sowohl Anhänger des Hinduismus als auch des Kastensystems sind, kann man durchaus von einem hinduistischen Kastensystem sprechen. Die Gesellschaftsordnung des Kastensystems und die Religion des Hinduismus sind einfach sehr eng miteinander verwoben. Das unterscheidet den Hinduismus grundsätzlich vom Christentum und vom Islam, in denen die einzelnen Gläubigen eher als gleichberechtigt angesehen werden können.

Nach Aussage von Wikipedia befindet sich die älteste Erwähnung des indischen Kastensystems in dem hinduistischen Text Rigveda. Damit ist man in einer Zeit vor 4.000 Jahren. Danach ist das Kastensystem in Nord-Indien entstanden, indem 3 gesellschaftliche Gruppen voneinander unterschieden wurden: Die Priester, die Krieger, und das gemeine Volk. Es handelte sich also um dieselben Kasten, die auch in der mittelalterlichen europäischen Ständeordnung unterschieden wurden.

Mit der Zeit wurde es üblich, dass diese 3 Gruppen nur untereinander heirateten und dass sich der Status der Gruppe verfestigte. Außerdem fächerten sich die Kasten in Indien immer mehr auf in zahlreiche Untergruppen. Im Radio habe ich gehört, dass heute noch 95 % der Inder innerhalb der eigenen Kaste heiraten sollen. Das Kastendenken scheint noch sehr stark verwurzelt zu sein.

Das indische Kastensystem ist erstens eine ethnische Differenzierung (eingewanderte Arier versus Ureinwohner), zweitens eine soziologische Differenzierung (höherer oder niedrigerer Status in der Gesellschaft), drittens eine ökonomische Differenzierung (Berufszugehörigkeit qua Abstammung, ökonomische Privilegien) und viertens eine religiöse Differenzierung.

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2021/04/05

Tagebuch 1973, Teil 49: Sewapuri / Gajepur

von Dr. Christian G. Pätzold


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Häuser und Vieh einer reichen Familie im Dorf Gajepur bei Sewapuri in Nord-Indien.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, 17. Oktober 1973.


17. Oktober 1973, Sewapuri/Gajepur, Mittwoch

Der rasante Bevölkerungsanstieg war ein großes Thema in Indien. Wir sind zur Family Planning Beratungsstelle in der Nähe gegangen und haben mit einem Arzt gesprochen. Er sagte uns, dass von den 62 Familien im Dorf Ghosila 15 Familien die öffentliche Familienplanung nutzten, die anderen würden Verhütungsspray oder Kondome im offenen Markt kaufen. Von der Familienplanung gab es keine Anti-Baby-Pillen, es wurden nur Spiralen oder die Sterilisation angeboten. Kondome wurden kostenlos ausgegeben. Der Arzt meinte, die Familienplanung gehe nur langsam voran.

Wir erfuhren, dass im November/Dezember 1973 ein Pockenausrottungsprogramm in Uttar Pradesh geplant ist, bei dem 1 Woche nach Fällen gesucht wird, anschließend wird 3 Wochen lang geimpft, danach wieder 1 Woche Suche nach Fällen und so weiter. Andere Epidemien waren aktuell Windpocken (chickenpox), Cholera, Pest (plague) und Malaria. Auch Lepra war weit verbreitet.

Wir haben noch ein weiteres Dorf in der Nähe besucht, Gajepur. Die Familien dort umfassten jeweils 5 bis 20 Mitglieder. Auch dort haben wir eine Statistik der Kastenzugehörigkeit erhalten. Daraus war ersichtlich, dass in dem Dorf überwiegend Brahmanenfamilien lebten.

14 Brahmanenfamilien (upper cast)
1 Shopkeeperfamilie (Ladenbesitzer, middle cast)
1 Blacksmithfamilie (Schmied, lower cast)
4 Washermen (Wäscher, lower cast)
5 Kunby cast (Landarbeiter, lower cast)
= 25 Familien-Häuser.

In der Bibliothek des Gandhi Ashrams hing jeweils 1 Bild von Lenin und Engels an der Wand, als einzige Europäer, neben Bildern von Mahatma Gandhi und anderen indischen Persönlichkeiten. Es hat mich gefreut, ein Bild von Friedrich Engels im hintersten indischen Dorf zu sehen. Und zwar nicht aus nationalistischen Gründen, weil Engels ein Deutscher war, sondern wegen der großen Verdienste von Engels für den Fortschritt der Menschheit.

Der Manager des Shri Gandhi Ashrams in Sewapuri, Mr. Ram Suremanrai, hat uns sehr bei unserem Besuch dort geholfen.

Postscriptum zur Bevölkerungsentwicklung in Indien, April 2021:

Um die Armut der Bevölkerung zu mildern, gab es damals in den 1970er Jahren in Indien eine staatlich geförderte Familienplanung (Family Planning). Die Zahl der Kinder pro Familie sollte reduziert werden, um mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und Infrastruktur hinterher zu kommen. Tatsächlich war es nicht selten, dass eine Familie 5 oder 10 oder noch mehr Kinder hatte. 1973 hatte Indien etwa 600 Millionen Einwohner. Heute 50 Jahre später hat Indien etwa 1.400 Millionen Einwohner. Das ist mehr als eine Verdoppelung der Einwohnerzahl in 50 Jahren. Im Vergleich dazu ist in Deutschland die Bevölkerungszahl in den letzten 50 Jahren nahezu gleich geblieben. 1973 hatte Deutschland (BRD und DDR) etwa 77 Millionen Einwohner, heute etwa 83 Millionen Einwohner.

Der Bevölkerungsanstieg in Indien führte dazu, dass in Indien viel mehr Menschen auf einem Quadratkilometer leben als in Deutschland. Im Jahr 2020 gab es in Deutschland 233 Einwohner pro Quadratkilometer, in Indien 407 Einwohner pro Quadratkilometer. Die hohe Bevölkerungsdichte in Indien führt zu einem hohen Stress auf das Ökosystem. Die Luftverschmutzung in den indischen Millionenstädten durch Industrieabgase und Verkehr ist ja weltbekannt. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass die indische Politik der Familienplanung zur Stabilisierung der Bevölkerung krachend gescheitert ist. Man muss sich Sorgen machen, dass die wunderschöne indische Natur mit ihren wilden Elefanten, wilden Tigern, wilden Löwen und wilden Panzernashörnern bald verschwinden könnte. Es gibt zwar Naturschutzgebiete in Indien, aber die sind nur sehr klein.

Im Vergleich mit dem indischen Family Planning war die 1-Kind-Politik der Volksrepublik China seit 1980 etwas erfolgreicher. 1973 hatte China etwa 880 Millionen Bewohner, heute etwa 1.400 Millionen Bewohner. Um die Bevölkerungszahl in China zu stabilisieren, wurde im Jahr 2015 die 1-Kind-Politik von der 2-Kind-Politik abgelöst. Seit 2020 gilt sogar die 3-Kind-Politik.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2021.

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2021/04/02

Tagebuch 1973, Teil 48: Sewapuri / Ghosila

Dr. Christian G. Pätzold


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Dorflandschaft in Nord-Indien bei Varanasi. Reisanbau, Zuckerrohranbau.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, 16. Oktober 1973.


16. Oktober 1973, Sewapuri/Ghosila, Dienstag

Wir haben das Dorf Ghosila besucht, ein Nachbardorf von Sewapuri. Die Hauptprodukte dort waren Reis und Zuckerrohr. Das Zuckerrohr wurde in einer Presse zermalmt, der heraustretende Sirup wurde gekocht, getrocknet, geknetet und war dann haltbar und galt als gesundheitsfördernd. Viele Familien hatten ein Gemeinschaftshaus mit einer Frau als Oberhaupt, wo die Vorräte gelagert und die Speisen zubereitet wurden, daneben ein kleineres Haus, in dem die Männer schliefen. Geheiratet wurde außerhalb des Dorfes nur mit Einwilligung der Eltern. Der Ehemann ging ins Dorf seiner Frau und holte sie in sein Dorf. Früher war der Ehemann vielleicht nach Mutterrecht im Dorf, in der Gens der Ehefrau verblieben.

Irgendwie sind wir auf das Kastensystem zu sprechen gekommen. Es stellte sich heraus, dass der Dorfvorsteher, der uns herum führte, genau Bescheid wusste, wer zu welcher Kaste gehörte. Das Kastensystem schien sehr lebendig zu sein. Von ihm erhielten wir die folgende Statistik, die zeigte, dass in dem Dorf Ghosila mehrheitlich die Kriegerkaste der Kshatriyas lebte:

The cast of village Ghosila:
1) Brahmans 5 families
2) Kshatriyas 35 families
3) Lower Cast and Untouchables
A) Raja Bhar (Agriculture laborers, Landless) 5 families
B) Carpenters 5 families
C) Harijans (Leather workers mainly) 12 families
Total: 62 families
Total population of Ghosila proper is 560 persons.
(Anmerkungen:
Raja Bhar sind ein Stamm von Ureinwohnern, die schon vor der Einwanderung der Arier dort lebten.
Harijans (Kinder Gottes, von Mahatma Gandhi so genannt) wurden auch Unberührbare (engl. Untouchables) genannt. Sie selbst nennen sich Dalits. In der indischen Verwaltungssprache auch Scheduled Tribes genannt. Ethnisch handelt es sich um indische Ureinwohner. In der Kastenrangordnung stehen sie unter den 4 traditionellen Kasten.)

In der indischen Tradition gibt es eine Rangordnung mit 4 Kasten (Varnas), die man kennen muss, um in der indischen Gesellschaftsordnung durchzublicken:
1) Brahmanen: Die oberste Kaste der Priester, Gelehrten, Lehrer, Beamten und Philosophen. Sie haben den höchsten Status und das höchste Ansehen. Viele Leute, die wir kennen lernten, waren Brahmanen, sie hatten bessere Posten, sprachen auch Englisch, und hatten mehr Bildung genossen. Premierministerin Indira Gandhi kam aus der Brahmanen-Kaste. Von der Abstammung her sind sie am nächsten mit den eingewanderten Ariern verwandt.
2) Kshatriyas: Die traditionelle Kriegerkaste und Kaste der Herrscher und Könige ist die höhere Kaste.
3) Vaishyas: Die traditionelle Händlerkaste wird auch als mittlere Kaste bezeichnet. Mahatma Gandhi stammte aus der Vaishya-Kaste.
4) Shudras: Die niedrigste Kaste im Kastensystem bilden Menschen, die meist Handwerker oder Landlose sind.

Wasserbüffel und kastrierte Bullen nutzte man zur Feldarbeit, Kühe waren heilig und wurden nur zum Milchgeben genutzt. Reiche Familien hatten ein Pferd, ein Kamel für den Transport von Lasten, außerdem Ziegen, Schafe, Hühner, einen Fischteich. In einer Familie wurden Steckdosenkeramikeinsätze produziert. Es gab eine Grundschule, und einen kleinen Laden mit Bidys (Beedi, indische Zigaretten), Salz, Zucker, Seife, Gewürzen, Korn. (Die Bidys stehen hier an erster Stelle, weil ich sie auch gern in großen Mengen geraucht habe). Jedes Dorf hatte einen gewählten Präsidenten. Streitigkeiten wurden von der Dorfversammlung geregelt. Erst wenn es dort keine Klärung gab, wurde die staatliche Judikative eingeschaltet.

Die Familien platzten vor Leuten, überall wurde angebaut, aber das Land gab nicht mehr Arbeit her. Manche Söhne waren als Taxifahrer in Bombay unterwegs, durften aber ihre Frauen auf Anordnung des Familienoberhaupts nicht mitnehmen, damit die ganze Familie unterstützt wurde. 1 Brunnen wurde von 3 bis 4 Familien genutzt, offene Brunnen. Die Tempel wurden täglich oder an Festtagen besucht. Kunstdünger war dieses Jahr nicht erhältlich. Elektrizität war vorhanden und lief. Es gab eine Getreidemühle und eine Ölmühle. Die Harijans lebten im Dorf getrennt von den anderen Bewohnern, man durfte nicht mit ihnen essen oder sie heiraten. Die Brahmanenfrauen arbeiteten nicht auf dem Feld, nur im Haus. Soviel zum Dorf Ghosila.

Zurück im Shri Gandhi Ashram haben wir noch die Kleinindustrie besichtigt: Es gab eine Papiermühle für Dokumentenpapier, Büttenpapier. Außerdem eine Schuh-Sandalen-Produktion. Eine Holzspinnmaschinen-Unit. Eine Weberei-Unit für Baumwolle mit zirka 20 Webstühlen. Außerhalb des Gandhi Ashrams gab es ebenfalls Kleinindustrie, eine Töpferei für Tassen, eine Obst- und Gemüsekonservenfabrik, zum Beispiel Tomatensaft. Es gab eine Stoffdruckerei und Stofffärberei. Eine Seifenproduktions-Unit. Eine Tischlerei. Eine Streichholzherstellung. Das Einkommen der Arbeiter lag bei 3 bis 5 Rupees am Tag (etwa 1 DM), die Manager verdienten 200 Rupees im Monat, andere Festangestellte 100 bis 150 Rupees. In der Streichholzfabrik arbeiteten die Kinder im Stücklohn. In der Weberei wurden gerade Leute aus Assam ausgebildet. Ich habe das vielfältige Bemühen gesehen, durch verschiedene Kleinproduktionen und Handwerk für die Dorfbewohner Arbeit und Einkommen zu schaffen. Die armen Dorfbewohner brauchten wirklich jede Paisa. Es gab viele Menschen und man sah die allgegenwärtige Suche nach Verdienstmöglichkeiten im Land am Ganges.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2021.

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2021/03/31

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2021/03/29

Heinrich Heine, 1797-1856
Weberlied, 1844


Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie Hunde erschießen läßt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt
Wir weben, wir weben!

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht -
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben!


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2021/03/26


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2021/03/23

Online Schmökern: 20 Jahre Wikipedia

von Dr. Christian G. Pätzold


wikipedia
Quelle: Wikimedia Commons


Vor ein paar Jahren erschien eine kleine Folge "Online Schmökern" auf kuhlewampe.net. Es ging darum, auf interessante Webseiten aufmerksam zu machen, in deren Archiven man fast endlos schmökern und stöbern kann. Damals erschienen Hinweise auf Illustrierte Magazine der 1920er Jahre, auf das Archiv mit den Tagebüchern von Erich Mühsam, die von Jörg Sundermeier herausgegeben wurden, sowie auf das Archiv der »Weltbühne« aus der Weimarer Zeit, alles Open Access.

Diese Folge möchte ich jetzt fortsetzen mit einer Empfehlung von Wikipedia, der freien Enzyklopädie, von manchen auch als das 8. Weltwunder bezeichnet. Wikipedia bietet nicht nur fast unendlichen, frei zugänglichen Stoff zum Schmökern und Dazulernen, sondern hat dieser Tage auch 20. Geburtstag. Denn die englische Wikipedia wurde am 15. Januar 2001 online gestellt, die deutsche Wikipedia folgte nur wenig später im März. Einer ihrer Mitgründer ist der bekannte Jimmy Wales. Wikipedia ist nichtkommerziell und finanziert sich durch Spenden. Die Wikipedia gibt es, Stand Januar 2021, in 306 Sprachen. Die größte Wikipedia ist die englische Wikipedia mit 6,2 Millionen Artikeln! Die deutsche Wikipedia steht an 4. Stelle mit 2,5 Millionen Artikeln! Das reicht, um ein Leben lang mit kostenlosem Schmökern zu verbringen. Danke an Jimmy Wales und an die vielen tausende AutorInnen!

Die Wikipedia wird von der Wikimedia Foundation mit Sitz in San Francisco/California betrieben. Die Besonderheit von Wikipedia ist, dass alle Menschen an der Enzyklopädie mitarbeiten und Artikel von ihrem Rechner aus schreiben und publizieren können. Dadurch fließt das Wissen von Tausenden von Menschen ein. Na gut, manche Artikel sind sprachlich und stilistisch vielleicht etwas holprig, aber das kann man ja noch verbessern.

Als Beispiel für den Nutzen und die Wissensfülle der Wikipedia kann ich den Baum des Jahres 2021, die Ilex, anführen, über die im Februar auf kuhlewampe.net berichtet wurde. Wenn man bei Google "ilex wiki" eingibt, erhält man gleich als ersten Treffer den Wikipedia-Artikel über die botanische Gattung Ilex. Dort erfährt man, dass die Ilex zur Familie der Stechpalmengewächse (Aquifoliaceae) gehört und dass es 600 Arten Ilex gibt. Man findet dort auch viele weitere Informationen, zahlreiche Links zu weiteren Artikeln und gute Fotos. Wenn man sich für die Europäische Ilex (Ilex aquifolium L.) interessiert, kann man den entsprechenden Link anklicken.

Ich habe in den letzten Jahren oft unter anderem nach einzelnen Pflanzenarten bei Wikipedia gesucht und bin fast immer fündig geworden. Trotzdem gibt es noch tausende Pflanzenarten, die noch keinen eigenen Wikipedia-Artikel haben. Für engagierte Botaniker gibt es also noch viel zu tun. Viele Artikel können noch geschrieben werden. Aber natürlich wird das Artikelschreiben immer komplizierter, denn die einfachen Artikel wurden schon geschrieben.

So umfangreich wie die Botanik sind auch viele weitere Wissensgebiete in der Wikipedia vertreten, zum Beispiel die Geschichte, die Kunstgeschichte, die Geographie, die Politik, die Soziologie, die Ökonomie oder Biographien. Ich habe in den vergangenen 20 Jahren auch oft in diesen Wissensgebieten Artikel gelesen. Und auch schon mal 5 Euro an Wikipedia gespendet, denn ein paar Kosten für die Technik fallen ja immer an.

Es ist schön zu sehen, dass heute das gesamte Wissen der Welt allmählich für alle Menschen kostenlos in der Cyber Galaxis gesammelt und zur Verfügung gestellt wird. Wie schwierig und zeitaufwändig war es früher im Gutenberg-Zeitalter, an Wissen zu kommen. Oft brauchte man einen ganzen Tag, um an eine klitzekleine Information zu kommen. Man musste zu Bibliotheken zu den Öffnungszeiten gehen, womöglich eine Benutzungsgebühr bezahlen und dann hoffen, dass man das richtige Buch mit der gesuchten Information auch findet. Wenn man heute etwas wissen möchte, dann lohnt es sich sehr, in der Wikipedia zu schmökern.

Das Wort Wikipedia ist zusammengesetzt aus dem hawaiischen Wort wiki schnell und dem Wort Enzyklopädie. Wikipedia bedeutet also schnelle Information.


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2021/03/20


Heute ist Frühlingsanfang !


primavera
Sandro Botticelli (1445-1510), La Primavera, um 1482.
Detail: Flora, Chloris und Zephyr.
Firenze, Galleria degli Uffizi.


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2021/03/18

Ausrufung der Pariser Commune vor 150 Jahren

von Dr. Christian G. Pätzold


Vor genau 150 Jahren, am 18. März 1871, wurde die Pariser Commune (La Commune de Paris) von den Arbeitern ausgerufen. Mit diesem Namen wurde der revolutionäre Pariser Stadtrat bezeichnet, der die französische Hauptstadt nach sozialistischen Grundsätzen verwaltete. Die Pariser Commune bestand vom 18. März 1871 bis zum 28. Mai 1871 (72 Tage), als sie von konterrevolutionären französischen Regierungstruppen in der Blutwoche des Mai besiegt wurde. Damals starben in den Straßenkämpfen etwa 20.000 KommunardInnen.

Die Zeit für die Commune war zunächst günstig, denn es war gegen Ende des deutsch-französischen Krieges 1870/71, als die bürgerliche französische Regierung in Versailles schwach war und die deutschen Truppen keine Lust hatten, Paris zu stürmen, weil sie hohe Verluste befürchteten. Im Mai aber waren sich die vorherigen Feinde, die französische Regierung und die deutsche Regierung, einig, dass man die Sozialisten in Paris auf jeden Fall ausrotten müsse. Bismarck war dabei sehr hilfreich. Er erlaubte die Vergrößerung der französischen Regierungstruppen und entließ französische Kriegsgefangene.

Die Pariser Commune spielt in der Geschichte des Sozialismus eine große Rolle. Sie war das Vorbild für das Rätesystem und für die spätere Sowjetunion, die von 1917 bis 1990 (72 Jahre) existierte. Für Karl Marx war die Pariser Commune die erste sozialistische Revolution, er schrieb darüber das Buch »Der Bürgerkrieg in Frankreich«. Berühmte sozialistische Dekrete der Commune waren die Annullierung aller Mietrückstände, ein Nachtbackverbot zum Schutz der Arbeiter in den Bäckereien, die Konfiszierung von kirchlichem Ordensbesitz, die Trennung von Kirche und Staat, die Abrufbarkeit von Beamten, die Emanzipation der Frauen. Fabriken, die von Unternehmern stillgelegt worden waren, sollten von in Kooperativgenossenschaften zusammengeschlossenen Arbeitern fortgeführt werden.

Das Rätesystem der Pariser Commune ist das klassische sozialistische Regierungssystem, bei dem die Macht von Vertretern der Arbeiter ausgeübt wird. Dadurch soll der Sozialismus durchgesetzt werden. So wurden zum Beispiel in der Oktoberrevolution von 1917 in Russland Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte eingerichtet, die auf Russisch Sowjets genannt wurden. Daher stammt auch die Forderung der Kommunistischen Parteien: Alle Macht den Räten! Aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der deutschen Novemberrevolution stammt auch die deutsche Institution der Betriebsräte, die allerdings nur noch ein ganz schwaches Gespenst der wirklichen Räte sind und nicht mehr viel zu sagen haben.

Eine Gedenkstätte für die ermordeten Kommunarden ist der große Friedhof Père Lachaise im Osten von Paris. Dort befindet sich der Mur des Fédérés, an dem 147 Kommunarden am 28. Mai 1871 erschossen wurden. Zum Gedenken an die Pariser Kommune und an die Märzrevolution von 1848 veranstalteten die Arbeiter im Deutschen Kaiserreich an jedem 18. März eine Märzfeier. Bei der Märzfeier wurde eine Gedenkrede gehalten und Arbeiterlieder wurden gesungen. In Berlin gibt es noch den Platz des 18. März am Brandenburger Tor und die Straße der Pariser Kommune im Bezirk Friedrichshain, die an die Revolutionen vom 18. März 1848 in Berlin und vom 18. März 1871 in Paris erinnern. Im ostberliner Bezirk Friedrichshain war 1971 das neue Gebäude des »Neuen Deutschland«, der Parteizeitung der SED, gebaut worden. Entsprechend sollte auch die Straße einen sozialistischen Namen haben und so kam man zum 100. Jahrestag auf Straße der Pariser Kommune. Davor hieß die Straße Fruchtstraße, da dort ursprünglich Landwirtschaft betrieben wurde.


parisercommune
Briefmarke DDR 1971.


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2021/03/14


Forsythienfrühling


fruehling
Forsythienblüte fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold


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2021/03/11


10 Jahre Fukushima/Japan


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11. März 2011
Kernschmelzen in 3 Reaktorblöcken des Atomkraftwerks Fukushima in Japan
nach einem schweren Erdbeben und einem Tsunami.
Quelle: Wikimedia Commons.


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2021/03/08

Für keltische Feinschmecker:

Der Ort Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch in Wales
ist sehr schwierig auszusprechen


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2021/03/05

Zum 150. Geburtstag von Rosa Luxemburg
Geboren in Zamość/Kaiserreich Russland am 5. März 1871 -
ermordet in Berlin am 15. Januar 1919

Dr. Hans-Albert Wulf
"Die beiden letzten Männer der deutschen Sozialdemokratie!"


rosa
Rosa Luxemburg


Rosa Luxemburg wurde am 5. März vor 150 Jahren geboren. Gestorben ist sie am 15. Januar 1919. Erschlagen von Mördern einer rechtsradikalen Kampftruppe. Rosa Luxemburgs Leben war ein einziger Kampf. Symptomatisch hierfür ist die Kontroverse um den Massenstreik als revolutionärem Kampfmittel. In dieser Frage grenzte sich Rosa von verschiedenen Fronten ab. Zum einen von den Anarchisten, die ohne jede Rücksicht auf die jeweils aktuellen politischen Rahmenbedingungen gleichsam in einem amateurhaften Blindlingsdrauflos von hier auf heute politische Massenstreiks zum Sturze der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung proklamierten.

Der diametrale Gegenpart zu einer solchen Revolutionsromantik waren die mit der SPD verbundenen deutschen Gewerkschaften, die ihre Aufgabe darauf beschränkten, die ökonomische Lage ihrer Mitglieder mit begrenzten Streiks zu verbessern. Mit politischen Streiks könnten sie ihre gesellschaftliche Stellung und Machtposition aufs Spiel setzen, so fürchteten sie.

Mit dem Begriff Massenstreik im Sinne von Rosa Luxemburg ist kein einfacher ökonomischer Streik gemeint, sondern eine möglichst flächendeckende Arbeitsniederlegung mit einer offensiven politischen Zielsetzung. Vorbild hierfür waren für Rosa Luxemburg und die Genossen des linken Flügels der SPD die Massenstreiks in der russischen Revolution 1905. In der deutschen Sozialdemokratie gab es zur gleichen Zeit auf dem Parteitag 1905 in Jena immerhin ein kleines Zugeständnis. Hier wurde ein Antrag verabschiedet, der den Massenstreik als defensives Kampfmittel bei politischen Angriffen der Herrschenden befürwortete. Aber dies hieß noch lange nicht, dass der Massenstreik als revolutionäres, also offensives Kampfmittel akzeptiert wurde. Doch auch dieser Beschluss wurde bereits ein Jahr später auf dem Reichsparteitag der SPD 1906 in Mannheim dahingehend aufgeweicht, dass Massenstreiks grundsätzlich nur mit der Zustimmung der Gewerkschaften stattfinden durften. Und so gaben die Gewerkschaften den reformistischen Ton in der deutschen Arbeiterbewegung an. An offensive politische Streiks wie in Russland 1905 war damit nicht mehr zu denken. Der von Rosa Luxemburg repräsentierte linke Flügel der SPD geriet damit immer mehr in die Defensive und die Mehrheits-SPD machte immer mehr mit dem bestehenden kapitalistischen System ihren Frieden und diese opportunistische Grundhaltung fand bekanntlich einen Höhepunkt 1914 mit der Bewilligung der Kriegskredite zur Finanzierung des 1. Weltkrieges durch die SPD.

Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und die anderen Akteure des linken Flügels der SPD waren angewidert von solch einer reformistischen und revisionistischen Politik und hierzu gibt es eine kleine Geschichte: Rosa Luxemburg und Clara Zetkin befanden sich einmal auf einer Tagung der SPD-Führung. Und da sie die pflaumenweichen Reden ihrer SPD-Mannen nicht mehr anhören wollten, gingen sie hinaus und machten einen Spaziergang. Drinnen habe man sich, so hieß es nach ihrer Rückkehr, Sorgen gemacht, wo sie denn wohl geblieben seien und ob ihnen möglicherweise etwas zugestoßen sei. Man habe schon gewitzelt, was dann wohl auf ihrem Grabstein geschrieben stehen würde. Darauf erwiderte Rosa : "Warum nicht einfach: Hier ruhen die beiden letzten Männer der deutschen Sozialdemokratie!"

© Dr. Hans-Albert Wulf, März 2021.


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2021/03/02

Markus Richard Seifert
Arbeiten im Home Office


Als er mal wieder arbeitslos war (und da er keine Ausbildung hatte, war er das immer mal wieder), wurde ihm von seinem zuständigen Jobcenter (dem früheren Arbeitsamt) ein Zusatzjob angeboten, eine so genannte oder auch MAE-Stelle mit seit 2019 ZWEI €uro pro Stunde und 6 Stunden pro Tag. Aber was ist eine MAE? MAE bedeutet Mehraufwand, besagt also, dass ein Berufstätiger Mehraufwand hat, zum Beispiel für eine Monatskarte für seinen Weg zur Arbeit. Was ist also ein MAE-ler?? Ganz einfach gesagt - ein berufstätiger Arbeitsloser! Genau so wie ein so genannter "Aufstocker".

Und zwar im Rathaus Schöneberg zu Berlin. Dort gab es nämlich eine Dauer-Ausstellung mit dem Titel WIR WAREN NACHBARN, wo ausgewählte Biographien von jüdischen Mitbürgern dokumentiert wurden, die während der Zeit der NS-Diktatur verfolgt worden waren. Prominente wie der Physiker Albert Einstein oder Walter Benjamin waren dort friedlich vereint mit vielen so genannten "kleinen Leuten" aus dem Volke, die auch jüdische Leute gewesen sind. Und da der Tresen (mit einem kleinen Büchertisch) schon mit drei Mitarbeitenden besetzt war, so erhielt er eine Stelle im so genannten Home Office, durch Recherche-Arbeiten dieser Ausstellung von zu Hause aus zu dienen. Übrigens nicht, weil er den CORONA-Virus gehabt hätte, der damals (man schrieb übrigens das Jahr 2020) weltweit sein Unwesen trieb. Deshalb bestimmt nicht!

So war also seine Wohnung sein Büro und Arbeitsplatz geworden! Kurz war sein Weg zur Arbeit, nämlich vom Schlafzimmer einmal über den Flur in sein Wohnzimmer, was nun auch sein Arbeitszimmer geworden ist. Natürlich hatte er auch offizielle Arbeitszeiten, die er auf einem Arbeitszeit-Nachweis zu dokumentieren hatte, inklusive seiner täglichen Tätigkeiten. Und ebenso natürlich war es, dass er diese Zeiten nicht immer einhielt, sondern "Gleitzeit" arbeitete, denn das merkte ja doch keiner. Allerdings - arbeiten musste er wirklich, weil Ergebnisse abverlangt wurden.

Zuerst bekam er den Auftrag, im Internet den Roman »Das Mädchen von Lagosta« herauszusuchen. Dieser war allerdings nicht als Buch, sondern nur als Fortsetzungsroman in der Zeitung "Innsbrucker Nachrichten" erschienen (1931/1932). Autorin war eine gewisse Dora Sophie Kellner, Ex-Frau von Walter Benjamin. Weitere Aufgaben folgten. Seine Aufträge erhielt er in der Regel per Telefon.

Nebenbei bemerkt war sein juristischer Arbeitgeber (sprich: Beschäftigungsträger) jener Verein mit Namen Kulturring e.V., für den er schon einmal in der Zeit von 2009 bis Januar 2013 in einer sozialen Bücher-Stube mit Namen Medien-Freund gearbeitet hatte. Und offiziell war er dem Medien-Freund Schöneberg als "Heimarbeiter" zugeteilt worden, wo er am Monatsende seinen Arbeitszeitnachweis abzugeben hatte.

Hatte es Vorteile, im Home Office zu arbeiten? Ja, durchaus, denn ein Teil des Mehraufwandes (MAE) fiel dadurch weg - so zum Beispiel das Waschen und Rasieren oder die Monatskarte, die er für seinen Weg zur Arbeit in dieser Zeit eigentlich gar nicht brauchte. Und die Nachteile?? Ja freilich, er benutzte seinen privaten Computer und nutze ihn ab dabei. Denn ein Arbeitgeber spart durchaus dadurch, dass er seine Mitarbeiter zu Hause arbeiten lässt. Aber andererseits hat ein home-office-worker einige Freiheiten mehr, die er nicht hätte, wenn seine Vorgesetzten im Nebenzimmer säßen! Und auch ein Telefon-Kontakt garantiert natürlich keine vollständige Kontrolle. Allerdings - ein Arbeitgeber stellt normalerweise die "Produktionsmittel" zur Verfügung, aber er benutzte seinen ganz privaten PC für diese Arbeit.

Ist das Model "Home Office" neu - vielleicht sogar ein Kind der aktuellen "Corona-Krise"?? Nein, durchaus nicht. Ein besonders bekanntes Beispiel waren die Schlesischen Weber, also die so genannten Hausweber, über die schon der Dichter Heinrich Heine ein Gedicht und der Dramatiker Gerhart Hauptmann ein Theaterstück geschrieben haben. Und sogar der Reiseschriftsteller Karl May, welcher in diesem Milieu der Hausweber aufgewachsen ist, hat einen Schmugglerkrimi mit dem Titel »Das Buschgespenst« über das Elend der Hausweber, die Heimarbeiter waren, geschrieben. Wobei ich die Frage, ob das Produktionsmittel eines Webstuhls nun das Eigentum des Arbeitgebers ("Verleger") war oder seines Auftragsarbeiters bisher leider noch nicht zu klären vermocht habe. Kurz gesagt: Ein Heimarbeiter ist ein Mensch, bei dem das Wohnzimmer zu seiner Arbeitsstätte wird.

© Markus Richard Seifert, März 2021.


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2021/02/28

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2021/02/26

"Glauben und Wissen verhalten sich wie die zwei Schalen einer Waage:
in dem Maße, als die eine steigt, sinkt die andere."


Arthur Schopenhauer (1788-1860)
Aphorismen zur Lebensweisheit


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2021/02/23


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2021/02/20

Rudolph Bauer
Schimpf und Schande


schmähworte lauten dieser tage
asylant und armutsplage
lämmerschächter pazifist
dealer roma terrorist

oben auf den rufmordlisten
auch das schimpfwort kommunisten
rote socke roter zeck
autonomer bullenschreck

gleichzusetzen pädophilen
grundschullehrern und senilen
rentnern omas und dementen
die in pflegeheimen enden

ein drohwort ist antisemit
genutzt vor allem und damit
kritik verstummt und schweigt
wenn sie auf die regierung zeigt

die palästinas land besetzt
gegen die muslime hetzt
hochgerüstet bibelfest
todesstreifen bauen lässt

schmach gilt auch dem flüchtlingsheer
das man jagt mit tötungsdrohnen
orbitalen kampfspionen
und ersäuft im mittelmeer

diese flüchtlingsexistenzen
an europas frontex-grenzen
fliehen vor den killerwaffen
die sich solche dort beschaffen

welche mit den reichen ländern
handel treiben statt zu ändern
die strukturen wo sie leben
statt den armen brot zu geben

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, Februar 2021.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors dem Buch entnommen:
Rudolph Bauer: Zur Unzeit, gegeigt. Politische Lyrik und Bildmontagen.
Hamburg 2020. tredition. ISBN 978-3-347-06297-9.


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2021/02/17

Baum des Jahres 2021: Ilex

von Dr. Christian G. Pätzold


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Ilex aquifolium (Europäische Stechpalme).
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Dezember 2020 in Berlin.


Im vorigen Jahr war die Robinie der Baum des Jahres in Deutschland. Seht bitte den Artikel vom 2020/06/02 auf kuhlewampe.net. Der Baum des Jahres 2021 ist die Ilex, ein Strauch oder Baum, über den sich viel erzählen lässt. Das fängt schon bei ihrem Namen an. Die Ilex ist ein lateinischer Name, und da bei den alten Römern alle Bäume weiblich waren, bevorzuge ich die weibliche Namensform. Im Deutschen kann man aber auch der Ilex sagen. Überhaupt gibt es bei der Ilex weibliche und männliche Bäume. Natürlich haben nur die weiblichen Bäume rote Früchte. Die Ilex wird im Deutschen auch Stechpalme genannt, was irreführend ist, da ihre Blätter zwar teilweise Stacheln haben, die Ilex ist aber keine Palme. Palmen überleben keinen Frost, daher wachsen in Deutschland keine Palmen, jedenfalls nicht an stark frostigen Orten. An Stelle der biblischen Palmwedel verwendete man früher zu Ostern immergrüne Ilexzweige und so entstand der Name Stechpalme. Es gibt noch zahlreiche weitere Namen für die Ilex: Hülse, englisch Holly (siehe Hollywood), Hülsdorn, Dören, in Österreich auch Schradler.

Da die Ilex immergrün ist, kann sie auch im Winter bei frostfreiem Wetter ihre Photosynthese aufrechterhalten. Dieser Vorteil zeigt sich auch darin, dass die Ilex sehr schattentolerant ist und auch unter hohen Laubbäumen wächst, wo sie im Sommer kaum Licht bekommt. Wenn die Laubbäume im Winter ihre Blätter abgeworfen haben, kann die Ilex mit der Photosynthese beginnen. Die Ilex ist auch sehr schnittverträglich, das heißt sie überlebt es meist sehr gut, wenn man ein paar Zweige abschneidet.

In Berlin und Brandenburg ist die Ilex nicht heimisch, da es ihr hier zu kalt und zu trocken ist. Trotzdem wurde sie oft in Vorgärten angepflanzt und entwickelt sich dort sehr gut. Lieblingsbiotope der Ilex sind Irland und England mit einem milden und feuchten atlantischen Klima. Es lohnt sich, eine weibliche und eine männliche Ilex anzupflanzen, wenn man den Platz hat. Dann kann man sich an schönen immergrünen Bäumen mit auffälligen roten Früchten erfreuen, besonders in der Winterzeit. Die Zweige sind auch eine beliebte Weihnachtsdekoration, besonders in England und den USA.

Die europäische Ilex aquifolium ist nur eine Art von etwa 600 Arten in der botanischen Gattung Ilex. Interessant ist zum Beispiel auch Ilex paraguariensis, aus deren geschnittenen und getrockneten Blättern das argentinische Nationalgetränk Mate hergestellt wird. Mate-Tee enthält Koffein und ist inzwischen auch in Deutschland zu einem Modegetränk geworden.

Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Stechpalme
https://www.baum-des-jahres.de/stechpalme/


ilex2
Heterophyllie bei Ilex aquifolium.
Quelle Wikimedia Commons.


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2021/02/14

Für die Ohren und den Kopf

Domenico Scarlatti (1685-1757)
Cembalo Sonata K 119

3 Minuten 5 Sekunden. Recorded by John Sankey. Quelle: Wikimedia Commons
(Bitte mit Kopfhörer hören für vollen Klang)





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2021/02/11


punkte


Statt Hartz IV, Armut, Existenzangst und Schikane
Für freie Menschen ! Nie mehr Sklaven des Jobcenters !

Für ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) von 1.300 Euro
im Monat für Alle (Stand 2021)

Es ist schon alles von Ökonomen durchgerechnet und finanzierbar.


punkte


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2021/02/08

Markus Richard Seifert
Erlebnis einer Lesung

(Angeregt durch das Gedicht »Sozusagen in der Fremde« von Erich Kästner)


Nein, dieses war KEIN Publikum.
Jedenfalls NICHT FÜR MICH.
Sie saßen alle so schrecklich stumm
... und waren höchstens höflich.

KEIN Beifall und KEIN Kommentar.
Ihm war, als sei GAR KEINER DA.
Doch war er umgeben von Leuten,
deren Schweigen schwer zu deuten.

Doch - manchmal gab es ein bisschen Applaus
... so mit der Hand auf den Tisch.
Der hörte dann aber bald wieder auf
... und war wohl meist höflich.

Und neben mir, da hat einer gesessen
... den hab' ich von früher gekannt.
Den fragte ich, ob er mich vergessen
... und reichte ihm die Hand.

Er sagte nein - natürlich nicht.
Er erinnere sich - durchaus an mich.
Doch weil ihm dies selbstverständlich schien
... BEGRÜSSTE er - MICH NICHT
(So hat er ZU MIR GESAGT)

Da ging ich fort von diesem Tisch,
vom Publikum, das mich NICHT SAH.
Ging fort und WEINTE BITTERLICH
über Zuhörer, die mir NICHT NAH
(Ich hätte sogar Kritik ertragen,
aber nicht - dieses Schweigen)

© Markus Richard Seifert, Februar 2021.

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2021/02/05

art kicksuch
blaues brauen


artkicksuch01
© Art Kicksuch, Februar 2021.


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2021/02/02

Wolfgang Weber
Lesung im Supermarkt

zunächst die Urfassung 2011, dann ein update 2012, schließlich der Versuch einer
Rekonstruktion des in der Textbar Vorgetragenen


halloren1
Hallorenkugeln. Quelle: Wikimedia Commons.


1) Urfassung

Sonnabend Abend / gehe zur Lesung / weiß gar nicht / ob sie überhaupt / stattfindet / oder ob noch / Sommerpause / oder Herbstpause / ist

der Rollladen / an der Eingangstür / ist heruntergezogen / keiner ist da / nicht einer

also gut, dann mache ich / etwas ganz anderes / und gehe / wieder nachhause / komme / vielleicht / nächste Woche wieder / vielleicht ist dann die Lesung

auf dem Weg nachhause / ist ein Supermarkt / ich gehe / also / mit meinen beiden Manuskripten / in den Markt / und biete meine Dienste als / frei schwebender / frei schaffender / frei schwimmender / frei denkender / Autor an

mit anderen Worten / ich / biete eine freiwillige / Autorenlesung an / also / für mich ist sie freiwillig

alle müssen zuhören / die im Supermarkt sind / denn ich habe ein Megaphon dabei / keiner entkommt / mir

die Schlangen / an den Kassen / sind lang / außergewöhnlich lang / und / ich / habe nur ganze / zwei Texte dabei

wie / ich / höre / sind mehrere Mitarbeiter / des Marktes / krank / und die kurzfristig angerufenen Aushilfen / hätten noch eingearbeitet werden / müssen und sollen

also / was mache / ich / jetzt / werde / ich / langsamer / variiere / ich / beim zweiten Vorlesen / oder improvisiere / ich / und erfinde aus dem Stegreif / die Geschichte eines Autors / der zu einer regelmäßig stattfindenden Lesebühne / zu Fuß anreiste / diese aber verschlossen vorfand / wegen Sommerpause / obwohl vor kurzem / Herbstanfang war / dieser Autor / wollte nicht / schnurstracks / unverrichteter Dinge / nach Hause gehen / sondern ging spontan / in den nächsten Supermarkt / sprach zum Personal / und den anwesenden Kunden:

ich / bin / Euer / Autor / und lese jetzt / aus meinem / riesengroßen Werk / zwei kleine Kostproben / also / engagiert / mich / meine / Gage sei / ein Schlemmerfilet / ich / lese solange noch / ein Kunde im Laden ist

meine / beiden Texte / 10 Minuten in der S-Bahn und Der Sprinter / wechseln sich ab / mit diesem Text / Lesung im Supermarkt / durch die ständige Wiederholung / immer weiter perfektioniert / optimiert

wie sieht es aus? / die Kunden flüchten doch nicht etwa / vor / meiner / Lesung im Supermarkt / aus dem Supermarkt / besser wäre es / sie flüchteten / erst nach der Lesung / mit ihren Waren / ich / gehe mal davon aus, dass sie diese / ordnungsgemäß / bezahlt haben / oder / waren die Leute / an der Kasse / bei der für sie / ach so interessanten Lesung / eingeschlafen / & haben alles & alle / durchgehen lassen / ganz ohne Treueherzen

wer weiß / ich / habe bei der Lesung / nicht / darauf / geachtet / ich / hatte ja / schon genug / damit zu tun / alleine / einen ganzen Abend / zu bestreiten

mein / Mitstreiter / hatte sich nämlich / beizeiten / aus dem Staub / gemacht / halt / ein Schnitzer im Plot / der Mitstreiter / taucht / hier an dieser Stelle / erstmals auf / er war trotzdem mit dabei / ich / habe ihn nur nicht erwähnt / also er hatte sich aus dem Staub gemacht / das sagte ich schon / wenn ich etwas zweimal sage / ist es mir wichtig

im übrigen / finde / ich / meine / Texte / besser / als die seinigen / umgekehrt / war / er / von / meinen / Texten / weniger angetan / als von seinen / aber das ist normal

was wäre das / für ein Auftritt geworden / an Kasse eins / ich / an Kasse zwei / er / erst gleichzeitig / im Chor / mit zwei verschiedenen Texten / später im Wechsel

gerade ruft / eine weitere Autorin aus / ich geh mal schnell nachhause / Texte holen / Schnitzer Nummer zwei / die Autorin taucht hier aus dem Nichts auf / sie / war die ganze Zeit im Lager versteckt / sie / kommt schnell wieder / mit einem von ihr geschriebenen Buch / aus dem / sie / nun vorliest / wir / sind gerettet / sie / liest und liest und liest / dann wieder ich und ich und ich / danach er und er und er / er / ist gerade / zurückgekehrt / manche sehen / ihn zum ersten Mal

der Umsatz steigt / es spricht sich im Kiez herum / immer mehr Kunden kommen / die Schlangen werden lang und länger / fast wie bei der MOMA-Ausstellung / spontan wird beschlossen / wir machen die ganze Nacht durch / sowohl / Marktleitung / als auch / Autoren / sagen das

ich / eile gegen Mitternacht / nachhause / ich schreibe dies mehrere Tage später / ebenfalls gegen Mitternacht / ich eile also nachhause / und bringe Nachschub zum Lesen mit

noch eine spontane Entscheidung / der Marktleitung nämlich / wir machen das / jetzt einmal im Monat sonnabends / und ein richtiges Honorar / gibt es dann auch / große Freude bei den drei Autoren / sie er und ich / wir laden jetzt / jedes Mal / ein bis zwei Gäste ein

Musik gibt es auch / das reicht von / heavy metal / über / speed folk / über / crossover / über / freie Improvisation / über / psychedelic-art-krautrock / über / singer songwriter / bis / independent rock / und beatboxing Yoshi / & Alexander on guitar / aber nicht alles an einem Abend

es spricht sich herum / nach einem halben Jahr / kommen so viele Neugierige / dass der Supermarkt es sich neuerdings leisten kann / 5 € Eintritt für die Lesung zu verlangen / Geld stinkt nicht / dafür gibt es einen Sechserträger Bier / pro Person

die anderen Lesungen / im Umkreis von einer Stunde Fahrzeit / mit der BVG oder S-Bahn / haben deutlich weniger Zulauf als früher / oder sie wählen gleich / wenn sie schlau sind / einen anderen Wochentag

das Spektrum der Texte / ist sehr breit / es geht um / das Lesen / das Schreiben / das Wandern / das Reisen / um Autoren / und vieles andere mehr

der Andrang der Autoren / die hier lesen wollen / ist derart groß / dass wir eine Warteliste einführen müssen / jeder Gast darf eine halbe Stunde beanspruchen / schließlich ist es ein langer Abend / bis 4 Uhr nachts / wilde Zeiten im *.* (Sternpunktstern) / dem Autor / ich / ist der Laden bekannt

ich / glaube / die Straßenbahn / fährt die ganze Nacht lang / sowieso / nicht extra für uns / in jedem zweiten Zug sind Reklameflächen gemietet / für die Lesung im Supermarkt / so dass immer wieder Neulinge / dazu kommen / die sich an der Kraft des Wortes berauschen / und auch an den erwähnten sixpacks / danach fahren sie mit der Straßenbahn / wieder zurück / und müssen vielleicht / noch irgendwo umsteigen / aber das ist eine andere Geschichte

manche / kommen auch immer wieder / die Stammgäste / die sind / uns / besonders lieb / eben weil sie bekannte Gesichter sind / weil sie bekannte Ohren haben / die aber nicht nur das altvertraute brauchen / sondern sich / immer wieder auf etwas neues / ungewohntes / frisches / freuen / sonst wäre es ihnen langweilig / aber / er sie und ich / brauchen das auch / nicht nur die Dauerbrenner / etwas neues, überraschendes / muss jeden Abend dabei sein

wer hier im Supermarkt / lesen kann / ohne Anlage, ohne Technik und all den Schnickschnack / der schafft es überall

oder international gesagt / if you can make it in New York / you can make it anywhere (Frank Sinatra)

es gab anfangs nur das Megaphon / das aber die Texte stark verfremdet / und deshalb nur selten eingesetzt werden kann / der Sound ist einfach zu knarzig

als alles finanziell gut lief / haben wir High End Technik eingesetzt / aber nicht gekauft / nur gemietet / wir / sind ja nicht verrückt / die Firma heißt übrigens / rentaloudspeaker.com

das Ordnungsamt / hat dem Supermarkt / den Einsatz von Dixi-Toiletten / verordnet / die Toiletten stehen draußen / es werden tatsächlich Wartenummern ausgegeben / die Geräte dafür sind Leihgabe des Arbeitsamtes / wenn es einer eilig hat / werden Nummern getauscht

jetzt wo der Laden so gut läuft / müssen die Autoren / sie ich und er / ihre Honorare auch ordnungsgemäß versteuern / leider bleibt dann / nicht so viel über / von der an sich großzügigen Gage

die Reihe läuft noch weiter / den Autoren geht es gut / sie freuen sich / über die Aufmerksamkeit des Publikums / das immer zahlreicher erscheint / darf man das Kult nennen ?

die Autoren bereiten sich schon / auf die nächste Runde / in vier Wochen vor / wenn es wieder heißt / Lesung im Supermarkt

übrigens gehört / diese Bühne / der Bewegung / Occupy Penny / an / daher hat sich diese Bühne den Namen / Süpermercado Occupado / gegeben

Location Scouts / suchen für Film oder Fernsehen / Orte, die z.B. für / Lesebühnen geeignet sind / und darüber hinaus für Dreharbeiten

ein Film könnte / z.B. die Geburt einer neuen Lesebühne schildern / & die Intrigen / hinter den Kulissen / der nächste Coup ist es / eine real existierende Lesebühne in einen Film einzubauen / die Filmhonorare sind üppig oder waren es einmal / schließlich sind die Autoren / auf der Lesebühne / die Hauptpersonen / gleich nach dem Publikum

eine weitere Aufgabe für Location Scouts / ist es / einen Waschsalon zu finden / oder einen Ort zum Waschsalon umzubauen / der als Kulisse für eine Lesebühne im Film dienen soll

bis zur nächsten Lesung im Supermarkt Süpermercado Occupado / sie er & ich

2) update 01/2012

der von der Lesebühne / Süpermercado Occupado / besetzte Supermarkt / war wegen Umbau vor kurzem eine Woche lang geschlossen

die Nutzung als Lesebühne / ging offenbar dem Supermarkt an die Substanz

im Augenblick ist es noch unklar / ob die Lesebühne / Süpermercado Occupado / dort weitermachen kann / oder ob sie wie so viele Bühnen / sich einen neuen Ort suchen muss / aber den Namen mitnimmt

so oder so

bis bald / sie er und ich

3) partielle Rekonstruktion für die Textbar 08/2020: Lesung in der Kaufhalle

gehe zur Lesung / weiß nicht / ob sie überhaupt stattfindet / es ist ein Versuch / das erfolgreiche Modell aus dem Wedding / Lesung im Supermarkt / zu exportieren als Lesung in der Kaufhalle

gehe in die Kaufhalle / biete meine Dienste an / alle müssen mir zuhören / ob sie wollen oder nicht / ich habe ein Mikro dabei / niemand entkommt mir

lange Schlangen an den Kassen / und ich habe nur zwei Texte in der Tasche / einen im Handy / mehrere Mitarbeiter erkrankt / Aushilfen mäßig motiviert

also was tun / ich werde langsamer / was mir schwerfällt / variiere und improvisiere / aus dem Stegreif / die Geschichte eines Autors / der in der Kaufhalle lesen / soll will oder muss / mit der S Bahn angereist zur Welttournee / Endstation Ahrensfelde / trotzdem in Berlin

also sprach er / der weitgereiste Autor / aus seinem riesengroßen Werk / zwei klitzekleine Kostproben / seine Gage sei ein Broiler / er wurde an der Kasse platziert / und las im Wechsel mit / einer überraschend aufgetauchten Dichterin aus der Textbar

der andere Mitstreiter hatte sich nicht aus dem Staub gemacht / er war gar nicht erst erschienen / Schwund ist immer

auch hier stieg der Umsatz / in der Kaufhalle / bei jeder wöchentlichen Wiederholung / immer wieder sonntags / Honorar in Naturalien / Hallorenkugeln und Köstritzer Schwarzbier

Musik die Titelmelodie vom Sandmännchen / ja wir nehmen Eintritt / der Andrang von Publikum und lesen wollenden Autoren ist riesengroß / viele nehmen weite Wege auf sich / es lohnt sich

wer hier in der Kaufhalle lesen kann / ohne Anlage und Technik / der schafft es überall / if you can make it in New York / you can make it anywhere (Frank Sinatra)

der oder die kann sogar in der Textbar lesen

etwa so könnte es gewesen sein

© Wolfgang Weber, Februar 2021.

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2021/01/31

vorschau02

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2021/01/27

Für die Ohren und den Kopf

Arcangelo Corelli (1653-1713)
1 Satz aus einer Triosonata

1 Minute 34 Sekunden. Quelle: Wikimedia Commons
(Bitte mit Kopfhörer hören für vollen Klang)





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2021/01/24

Pieter Bruegel der Ältere (1525-1569)
Die Jäger im Schnee, 1565


bruegel
Pieter Bruegel der Ältere (1525-1569)
Die Jäger im Schnee, 1565. 117 x 162 cm. Kunsthistorisches Museum Wien.
Quelle: Wikimedia Commons
Eine gute und ausführliche Beschreibung des Winterbildes gibt es bei Wikipedia.
Heutzutage sind die Winter wegen des Klimawandels nicht mehr so weiß.
Bruegels Bild war das erste große Winterbild in der europäischen Kunstgeschichte.


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2021/01/21

Der Beginn der modernen Ökologie-Bewegung vor 50 Jahren

von Dr. Christian G. Pätzold


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Erde
Quelle: Wikimedia Commons


Die alte Ökologiebewegung entstand in Deutschland um 1900. Sie wurde auch Lebensreformbewegung oder Jugendbewegung genannt. Sie wollte der ungesunden Industriegesellschaft etwas Natürliches entgegensetzen. Zum Beispiel wurde im Mai 1893 in Oranienburg nördlich von Berlin die Siedlungsgenossenschaft Obstbaukolonie Eden gegründet. Damit sollten Ideen der Lebensreform wie Bodenreform, Siedlungsbewegung, Vegetarismus, Antialkoholismus, Naturheilverfahren und Arbeit in der Natur in die Praxis umgesetzt werden. Ziel war eine naturnahe Lebensgestaltung. In der Obstbaukolonie Eden wurde vor allem Obst angebaut, aus dem Obstsäfte gepresst wurden. Die Lebensreformer sahen sich mehrheitlich auf einem Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der manchmal als liberaler Sozialismus bezeichnet wurde. In reduzierter Form existiert die Obstbaukolonie Eden noch heute.

Wie schön wäre die deutsche Geschichte gelaufen, wenn man der Lebensreform gefolgt wäre. Stattdessen kamen Wilhelminischer Militarismus, Weltkrieg I, Kapitalismus, Faschismus, Weltkrieg II und wieder Kapitalismus.

Um 1970 wurde allmählich klar, dass die Revolution von 1968 gegen die autoritäre Spießergesellschaft der Nazigeneration und gegen ihr kapitalistisches Wirtschaftssystem mehr oder weniger gescheitert war. Die revolutionären Kräfte waren einfach zu schwach gewesen, zumal die ArbeiterInnen auf der Seite der Kapitalisten standen. Aber zu Beginn der 1970er Jahre kam ein neues spannendes Thema in den Fokus: Der Umweltschutz. Vielen war klar, dass der Kapitalismus auf der Ausbeutung und Zerstörung der Natur beruhte und dass die Erde bald ruiniert wäre, wenn das Wirtschaftswachstum so weiter gegen würde. Die Themen Umweltschutz und Ökologie waren ideal, um den Kapitalismus zu kritisieren und seinen Zusammenbruch vorherzusagen. Die Ausbeutung der Natur war übrigens schon Karl Marx und Friedrich Engels zur Mitte des 19. Jahrhunderts ganz klar. Nur gab es damals noch verhältnismäßig viel Natur. Daher legten sie ihren Fokus auf die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

1971 wurde Friends of the Earth (FoE) gegründet, eine internationale Umweltschutzorganisation mit Ortsgruppen in vielen Ländern. In Deutschland ist der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) die lokale Organisation. Ebenfalls 1971 wurde Greenpeace in Vancouver/Canada gegründet, ursprünglich als Protest gegen Atombombentests in Alaska. Es kamen viele Kampagnen hinzu, etwa gegen den Walfang, gegen die Überfischung der Meere, gegen die globale Erderwärmung, gegen die Atomenergie oder gegen Gentechnik.

1972 erschien dann das epochale Buch »Die Grenzen des Wachstums« von Dennis Meadows und weiterer Autoren. Im Untertitel: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Vielleicht war es das wichtigste Buch des ganzen 20. Jahrhunderts. In dem Buch wurde ganz klar gemacht, dass ein Wirtschaftssystem, das auf ständigem Wachstum beruht, nicht dauerhaft sein kann, weil die Ressourcen der Erde begrenzt sind. Der Verbrauch der Bodenschätze und natürlichen Ressourcen steigt an, der produzierte Müll wird immer mehr, die Anzahl der Weltbevölkerung steigt exponentiell, und wird bald 10 Milliarden Menschen umfassen. Ein exponentielles Wachstum in einem begrenzten Ökosystem führt aber unweigerlich zum Zusammenbruch. Diese zentrale Botschaft wird bis heute von den verantwortlichen Politkern ignoriert, die ständig das Mantra des Wirtschaftswachstums und der Produktionssteigerung singen. Sie müssen die Fakten und die Wissenschaft ignorieren, damit ihr Weltbild nicht kollabiert. Sie diffamierten Dennis Meadows als Weltuntergangsapostel und Nostradamus unserer Zeit.

Das gute Leben geht nicht darum, immer mehr zu produzieren und immer mehr Profit anzuhäufen. Das ist eine Messi-Mentalität. Es geht darum, ökologisch gute, dauerhafte Dinge zu produzieren, die die Menschen brauchen.

Das waren die Ausgangspunkte der modernen Ökologiebewegung vor 50 Jahren, der sich damals viele junge Leute anschlossen. Zuerst entstand die internationale Anti-Atomkraft-Bewegung, die in den 1970er und 1980er Jahren viele Protestaktionen gegen den Bau und Betrieb von Atomkraftwerken durchführte, in Deutschland zum Beispiel in Gorleben und Brokdorf mit Massendemonstrationen. 1986 ereignete sich die Atomkatastrophe von Tschernobyl in der Ukraine, bei der viele Menschen starben und große Landstriche radioaktiv verstrahlt wurden.

Das Thema Ökologie war in Deutschland stark genug, dass sich daraus um 1980 herum eine ganz neue Partei entwickeln konnte: Die Grünen. Was folgte dann? Die politischen Grünen haben sich bis heute 40 Jahre lang gehalten, teilweise als Koalitionspartner von SPD und CDU mit stark abgespeckter Agenda. Heute ist es für die Grünen ein Erfolg, wenn sie einen Fahrradweg durchsetzen können. Aber es gab auch positivere Entwicklungen, so entstanden beispielsweise ganze Ökodörfer in Deutschland.

In den 1990er Jahren wurden die Begriffe Nachhaltigkeit und Sustainability zu internationalen Schlagwörtern, in der Folge der großen Umweltkonferenz in Rio de Janeiro im Jahr 1992. Nachhaltigkeit besagt nichts weiter als die Wahrheit, dass nur eine Kreislaufwirtschaft, die die Natur erhält, dauerhaft funktionieren kann. Aber das wollten viele Akteure in Politik und Wirtschaft nicht hören. In den 2000er Jahren entwickelte sich dann die Klimadebatte, die vor einer Überhitzung der Erde warnte. Durch die Erdüberhitzung ist das Leben auf der Erde direkt bedroht. Auch das wollten viele nicht hören. Die Reaktion der Klimawandelleugner war: Alles bestreiten, die Wissenschaft ignorieren, so weiter machen wie bisher, nach uns die Sintflut. Hinzu kam ein gigantischer Angriff auf die Biodiversität mit der Vernichtung der Wälder in Brasilien, Indonesien oder Indien. Dadurch sterben viele Pflanzenarten und Tierarten aus. Zu wenige Menschen machen sich Gedanken über den Planeten Erde. Und zu wenige Menschen haben einen Plan, wie die Erde in 200 Jahren aussehen soll.

Das war so ungefähr die Geschichte unserer Generation in den letzten 50 Jahren. Heute gibt es eine neue junge Generation, die uns Hoffnung machen kann. Angefangen mit Greta Thunberg in Stockholm hat Fridays For Future die Bewegung neu gestaltet. Eine weitere Bewegung ist Extinction Rebellion. Ökologie Reloaded, um die Erde zu retten.

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2021/01/18

Rudolph Bauer
Deutsches Narrativ

nach dem kaiserreich
und dem weltkrieg
kurzzeitig die räte
weimarer republik
dann hitler

ordnungsfanatischer aufstieg
der kleinbürger
an der seite von mordgenerälen
die freikorps
dann hitler

der wolf homo homini
lupus frei gegeben
zum abschuss
tötungslager
weltkrieg zwo

das reich kapituliert
durch berlin eine mauer
bis ein teil zerfiel
wieder vereint
im vorkrieg erneut

© Prof. Dr. Rudolph Bauer, Januar 2021.

Das Gedicht ist mit Erlaubnis des Autors dem Buch entnommen:
Rudolph Bauer: Zur Unzeit, gegeigt. Politische Lyrik und Bildmontagen.
Hamburg 2020. tredition. ISBN 978-3-347-06297-9.


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2021/01/14

Buchtipp: »Erst im Nachhinein«
Eine neue Internationale Haiku-Anthologie aus Kronach
Herausgegeben von Ingo Cesaro


haikus


Ingo Cesaro hat im Oktober 2020 eine neue Haiku-Anthologie herausgegeben: »Erst im Nachhinein«. Es geht in einem weiten Sinn um Erinnerungen. Man findet dort fast alles, was es zum Thema Erinnern zu sagen gibt. Erinnerungen an die Kriegszeit, die Sommerzeit, die Kindheit, die Jugendzeit, die Maikäfer, die goldenen Zeiten, an Damals. Über die Gedichtform der Haikus war schon in dem Artikel vom 2020/10/17 berichtet worden.

Die Haikus des Buches wurden wieder aufwändig im Handsatz gesetzt und im Buchdruck auf Werkdruckpapier im Japanblock gedruckt. Alles wurde in Narbenkarton mit Durchstichbindung gebunden. Die nummerierte und signierte Auflage liegt bei 400 Exemplaren. Die Bücher können unter folgender Adresse bestellt werden:

NEUE CRANACH PRESSE KRONACH, Joseph-Haydn-Straße 4, D 96317 Kronach.
Mail: ingocesaro@gmx.de.

Das Buch enthält insgesamt 348 Haikus. Hier folgen einige Haikus des Buches als Beispiele:

Fund im Tagebuch
zwischen vergilbten Seiten
gepresste Blüten

Vera Simlinger, Wien/Austria


Der Weide entlang
leuchten in meinen Träumen
Sumpfdotterblumen

Ingrid Töbermann, Berlin


Was war, wird nie mehr
Kommen - Wirklich? Geschichte
Wiederholt sich oft

Bernhard Schauder, Gräfelfing


Erinnerungen -
kostbare Schätze, vor dem
Vergessen bewahrt.

Dieter Klawan, Ahrensberg


Die Erinnerung
Trügt, dank einer Gauklerin
Namens Nostalgie.

Friedrich Ach, Nürnberg


alter Apfelbaum -
Knospe für Knospe wieder
kommt meine Kindheit

Dorota Pyra, Danzig/Polen
Deutsche Fassung: Malgorzata Ploszewska


Äpfel aufgereiht
auf dem Obstlagerboden
Düfte der Kindheit

Reinhard Lehmitz, Rostock


Ich erinnere
mich, als ich alles konnte
und jetzt kaum etwas

Zoran Nikolic Mali, Dakus/Serbien
Deutsche Fassung: Dragan J. Ristic


Erst im Nachhinein
wird die vergangene Zeit
zur guten alten

Norbert Autenrieth, Cadolzburg


Im Winter Honig
zum Frühstück. Ich denke der
Bienen im Sommer.

Artur Kolditz, Bolanden

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2021/01/11

Wolfgang Weber
Opa und die Tiere

(TextBar Thema: Kleine Fische)


frettchen
Kaninchenjagd mit Frettchen. Quelle: Wikimedia Commons.


Fische? Da fällt mir mein Opa ein, er war Tierarzt mit Leib und Seele, hatte in den Dreißigern eines der ersten Autos und auch eines der ersten Telefone auf dem Land zwischen Halle und Eisleben. Er brauchte das Auto, um zu den großen Tieren zu kommen, die seine Patienten waren, Kühe und Pferde etwa. Meine Mutter, die älteste von den fünf Kindern, begleitete ihn oft bei diesen Fahrten. Meine Oma telefonierte ihm oft hinterher, um ihm weitere Fälle anzukündigen. Er war oft lange unterwegs und sehr hilfsbereit.

Studiert hatte er dafür Veterinärmedizin, nämlich in der großen Stadt Berlin und auch in Hannover. Da seine Altersvorsorge als selbständiger Mediziner in der DDR nichts wert war, zog er um und arbeitete schweren Herzens am Schlachthof in der Stadt Gera, um wenigstens noch etwas für seinen Lebensabend zu erarbeiten.

Dort in Gera besuchten meine Mutter, meine Schwester und ich, regelmäßig meine Großeltern. Später, nach den Ostverträgen, kam dann mein Vater (Lehrer) auch mit nach Thüringen. Auf dem Dachboden gab es viele Bücher aus alten Zeiten. Im Wohnzimmer auf einem Tisch lag ein Atlas von Haack, als Handatlas benannt, dieser war riesengroß und schwer. Jedes Mal, wenn ich in Gera war, schaute ich hinein, Reisen mit dem Finger auf der Landkarte, auch die thematischen Landkarten fand ich hochinteressant, Industrie, Landwirtschaft, Bewaldung, Bevölkerungsdichte und mehr.

Tiere gab es auch, ein rundes oder ovales Bassin mit Goldfischen draußen im Garten, einen großen Hund, Brieftauben, Kaninchen. Das Haus liegt am Hang, denn Gera befindet sich inmitten eines ausgedehnten Talkessels. Ging man an der Straßenseite hinein, befand man sich im Parterre, Vorratsräume mit vielen vielen Gläsern voll des Eingemachten, verschlossen mit Gummiringen, vakuumdicht, eingeweckt, eingekocht: Marmelade, Obst, Gemüse.

Kam man von oben, also von der Rückseite, ging man zuvor draußen eine Treppe nach oben, die sich zwischen dem Haus und der Garage befand. Ich glaube, die Garage wurde erst später gebaut, denn sie befindet sich ganz am Rand des Grundstücks und war nur für wahre Fahrkünstler erreichbar. Kam man also von oben in dieses Haus am Hang, dann waren die Wohnräume, ebenfalls, im Parterre, die Vorratsräume von hier aus gesehen im Keller wie auch die Waschküche.

Im oberen Parterre waren die Wohnräume, dort waren auch mehrere große Aquarien, mit Pflanzen, Kies und Fischen natürlich, Opa verweilte oft vor den Guppys und Schwertfischen und beobachtete sie. Den Fischen und all den anderen Tieren ging es gut, mein Großvater war ja Tierarzt. Treppen, viele steile Treppen, drinnen und draußen, gar nicht so einfach für Oma mit ihren Beinen. Noch weiter oben dann der Dachboden, auf dem Weg dahin die Zimmer meines Cousins und meiner Cousine, zusammen mit meinem Onkel und meiner Tante waren sie nach Gera gezogen, um bei meiner Oma zu sein und sie nach Opas Tod zu unterstützen.

Wie sagte mein Cousin immer beim Kartenspiel: Bube Dame König As, ei so macht das Leben Spaß. Es gab einen Kachelofen in der Stube mit einem Fach, in dem man Bratäpfel schmoren lassen oder Wasser erwärmen oder auch sich den Rücken wärmen lassen konnte. Einmal sprach ein Nachbar mit uns und sagte: Ach diese Ähnlichkeit. Gefragt: Mit wem denn? Das wusste er nicht. Jemand anders sagte: Da kommt der Porsche. Nämlich der Bursche. Gera liegt in Thüringen. Mein Onkel sprach von Guck und Horch. Wisst Ihr, was er meinte. Ich schon.

Gab es auf dem Grundstück noch andere Tiere außer: Fische draußen und in den Aquarien, außer dem großen Hund, den Tauben und Kaninchen, gab es noch mehr? Am Ort der Landtierpraxis war der große Hund in der Tat fast immer ein Schäferhund, bestätigt meine Mutter. Die Dackel, die mein Onkel züchtete, waren jedenfalls im Zwinger. Beim vierten Wurf mussten alle Welpen Namen mit D bekommen. Meine Schwester sagt: Nein, einen Schäferhund gab es nicht, aber natürlich die Dackel. Der Zwinger wurde offenbar für diese erbaut. Also war der große Hund in Gera doch eher eine Dackel, wie sagt man, Dackelfamilie womöglich.

Aber vielleicht hatte mein Onkel, der ja auch Jäger war, ein Frettchen, sagt meine Schwester. Im Lexikon lese ich: Albinoform des Europäischen Iltis, wird in Europa hauptsächlich zur Kaninchenjagd eingesetzt, hmmm. Ich rufe noch mal meine Mutter an, ja, sagt sie, ihr Bruder hatte ein Frettchen, sie hat nur nicht daran gedacht, es war in einem kleinen Käfig, ähnlich wie für Kaninchen.

Update: Meine Mutter hat mit meiner Cousine gesprochen. Also: Zuerst war tatsächlich ein Schäferhund in dem Zwinger, danach wünschte sich mein Cousin einen Dackel, der dort im Zwinger lebte, und schließlich fing mein Onkel an, Dackel zu züchten.

Ja, mein Opa war Tierfreund, Großtierpraxis in den Dreißigern auf dem Land, dann Schlachthof in der Bezirkshauptstadt Gera, auch große Tiere, bestimmt hat es ihm widerstrebt, dort zu arbeiten. Kleine und etwas größere Fische draußen im Bassin und drinnen in den Aquarien, zur eigenen Freude und zur Freude aller, die dort wohnten oder zu Besuch kamen. Silberfische hoffentlich nicht. Mir kamen die Aquarien als Jugendlicher sehr groß vor, was Mutter mir bestätigt. Kleine Fische, große Aquarien.

© Wolfgang Weber, Januar 2021.

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2021/01/08

Tagebuch 1973, Teil 47: Varanasi / Sarnath

Dr. Christian G. Pätzold


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Löwenkapitell von König Ashoka, Sandstein, um 250 vor unserer Zeit.
Im Sarnath-Museum bei Varanasi. Das Kapitell ist das National-Emblem von Indien.
Quelle: Wikimedia Commons. Author: Chrisi1964.


14. Oktober 1973, Varanasi/Sarnath, Sonntag

Ich habe eine Busrundfahrt mitgemacht zur archäologischen Stätte Sarnath, die etwas außerhalb von Varanasi liegt. Dort habe ich den Platz gesehen, an dem Buddha (Siddhartha Gautama) seine erste Predigt über die Vier edlen Wahrheiten an seine Jünger gehalten hat. Das war um 500 vor unserer Zeitrechnung. Ich habe auch das archäologische Sarnath-Museum besucht, das zahlreiche buddhistische Skulpturen aus der Zeit von König Ashoka um 250 vor unserer Zeitrechnung beherbergt, die in Sarnath ausgegraben wurden. Es handelte sich also um ein archäologisches Museum, das sich direkt am Fundort befindet. König Ashoka beherrschte damals fast ganz Indien und hat die Ausbreitung des Buddhismus sehr gefördert.
Das berühmteste Ausstellungsstück im Sarnath-Museum ist das Löwenkapitell von König Ashoka, das das Nationalemblem von Indien ist. Es besteht aus 4 Löwen, die in die 4 Himmelsrichtungen blicken und die Ausbreitung des Buddhismus in alle Richtungen symbolisieren sollen. Darunter sind 4 Tiere abgebildet: Büffel, Pferd, Löwe und Elefant, die bestimmte Tugenden symbolisieren sollen. Außerdem ist ein Rad mit 24 Speichen zu sehen, das für die 24 Inkarnationen von Buddha stehen soll. Den unteren Teil des Kapitells bildet eine Lotosblume. Der Buddhismus hat sich von Nord-Indien aus besonders nach China, Japan und nach Südostasien ausgebreitet. Ich habe in Sarnath etliche tibetische Mönche gesehen, die wahrscheinlich mit dem Dalai Lama aus Tibet nach Indien geflüchtet waren und jetzt hier lebten.
Weitere Attraktionen in Sarnath waren eine Stupa mit Swastikaornamenten, außerdem ein neu erbauter buddhistischer Tempel mit einem goldenen Buddha und Fresken eines japanischen buddhistischen Malers. Auch habe ich den Abkömmling des Baums (eine Pappel-Feige) gesehen, unter dem Buddha in Bodhgaya erleuchtet wurde.

In Varanasi wimmelte es nur so von Religionen und Ideologien. Es gab Hindus, Buddhisten, Moslems, Christen, Jainisten, Hippies, nackte Asketen, Fakire, Kommunisten, um nur einige zu nennen. Und ich als Materialist mitten drin. Jeder konnte in dem allgemeinen Chaos, das irgendwie funktionierte, glauben, was er wollte. Die Jainisten waren besonders originell, überzeugte Vegetarier. Ihre Ethik bestand darin, keinem Lebewesen Leid anzutun. Daher trugen einige von ihnen einen Mundschutz, damit sie nicht versehentlich eine Fliege verschluckten. Andere fegten vor ihren Schritten den Fußboden, damit sie nicht aus Versehen eine Ameise erdrückten. Sie aßen auch kein Gemüse, das unter der Erde wuchs, wie Zwiebeln oder Kartoffeln.

Heute fiel in Varanasi mal wieder, wie jeden Tag, der Strom aus. Es gab einen Streik der Elektrizitätsarbeiter, mit Unbrauchbarmachen von Leitungen, dem Brand ganzer Stationen. Ich habe heute auch 2 Elefanten gesehen. Hammer und Sichel sah man oft an den Hauswänden. Die Leute lebten in großem Elend, das war klar, zumindest nach europäischen Maßstäben.

15. Oktober 1973, Varanasi - Sewapuri, Montag

Heute sind wir von Varanasi aus mit einem Personenzug eine ¾ Stunde nach dem Dorf Sewapuri gefahren. Zuerst wollte man am Bahnhof nicht glauben, dass wir dahin fahren wollten, und als wir ankamen zweifelte man ebenfalls, dass wir richtig ausgestiegen waren. Anscheinend waren dort noch nie Ausländer angekommen. Sewapuri war ein Dorf, in dem es ein Gandhi Ashram gab, das heißt eine Art Musterdorf, das nach den Ideen von Mahatma Gandhi, dem Begründer des modernen Indien, betrieben wurde. Mr. Dubey, der aus dieser Gegend kam, hatte uns den Tipp mit dem Dorf gegeben, nachdem wir ihm gesagt hatten, dass wir auch gerne etwas vom indischen Landleben kennen lernen wollten. Vom Bahnhof aus hat man uns zum Gandhi Ashram geschickt, das 1946 gegründet wurde. Die Arbeitslosigkeit der Landbevölkerung sollte durch Kleinindustrie ausgerottet werden, das heißt durch viel Handarbeit. Es war die Ansicht von Gandhi, dass jeder Inder seinen eigenen Webstuhl haben sollte. Außerdem war es das Ziel, das Analphabetentum auszurotten.

Der Manager des Gandhi Ashram hat uns ein Zimmer zur Verfügung gestellt und uns noch abends herumgeführt. Einige Angestellte des Ashrams kamen aus den Nachbardörfern. Sie hatten sogar eine Highschool für Mädchen. Abends haben alle in der Versammlungshalle gebetet. Das Abendessen war schlicht: Es bestand aus Brot, Reis, Erbsenpaps und Kartoffeln, dazu gab es Wasser. Dieses Essen gab es dreimal am Tag, was schon ein Luxus war und unerreichbar für normale Dörfler. Die Leute im Ashram aßen nur vegetarisch und rauchten nicht. Weibliche Kühe waren für sie heilig und wurden nicht gegessen. Die Milchabgabe lag bei 2 bis 5 Liter pro Tag, wenn sie Milch gaben. Ziegen und Hühnchen wurden allerdings von einigen Dörflern, besonders der niedrigen Kasten, gegessen. "Killing of cows is prohibited in India."

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2021.

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Briefmarke: Mahatma Gandhi.

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2021/01/05

Tagebuch 1973, Teil 46: Varanasi (Uttar Pradesh)

Dr. Christian G. Pätzold


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Lord Krishna als Butterdieb.


12. Oktober 1973, Agra - Varanasi, Freitag

Über Nacht sind wir im völlig überfüllten Zug von Agra nach Varanasi gefahren. Mitten in der Nacht mussten wir umsteigen, wodurch wir, nachdem wir uns im ersten Teil der Reise einen Platz organisiert hatten, auch mit Hilfe der Inder, in ein schon völlig überfülltes Abteil kamen. Man konnte kaum stehen. Überhaupt waren die Züge in Indien meistens überfüllt.
Um 1 Uhr morgens hat ein Moslem vor meinen Füßen im Zug gebetet, nachdem er mit einem Kompass Mekka ausgemacht hatte, Mützchen aufgesetzt, Tuch auf dem schmalen Zugflur ausgebreitet und sich die Hände gewaschen. Er war etwa 25 Jahre alt. In Nord-Indien gab es viele Moslems. In den Zügen gab es Extra-Abteile für Moslemfrauen, die völlig verschleiert dort von ihren Männern hingebracht wurden.

Tee wurde auf den Bahnhöfen in kleinen Wegwerfschalen aus Ton für 25 Paisas (etwa 5 Pfennig) verkauft. Der Tee auf den Stationen wurde durch lautes Ausrufen angeboten, das fast so klang wie Glockenläuten. "Tschaiii, tschaiii" in vielen verschiedenen Tonlagen. Auch zahlreiche Speisen wurden angeboten und in die Zugabteile gebracht. Ich war mir aber nicht so sicher, ob der Tee und die Speisen gesundheitlich ganz unbedenklich waren.
Der Zug hielt an den Bahnhöfen von Etawah, Kanpur, Fatehpur, Allahabad und Mughal Sarai. Mughal Sarai war der Bahnhof für Varanasi, das am anderen Ufer des Ganges liegt. Varanasi am Fluss Ganges im Bundesstaat Uttar Pradesh wird auch Benares genannt. Varanasi ist die heiligste Stadt des Hinduismus. Wer den Hinduismus kennen lernen möchte, sollte nach Varanasi kommen.

In Mughal Sarai haben wir ein Taxi bekommen und sind für 2 Rupees die 15 Kilometer über den Ganges nach Varanasi gefahren. Mehrere Leute teilten sich das Taxi. In Varanasi haben wir das Hotel Chandra für 20 Rupees das Zimmer pro Nacht gefunden.

13. Oktober 1973, Varanasi (Benares), Sonnabend

Ich habe in der Zeitung gelesen, dass im September in Rajasthan 2 Witwenverbrennungen in Anwesenheit und unter Applaus von Tausenden von Leuten stattgefunden haben. Es gab keine Verhaftungen. Das war auch so eine traditionelle indische Unsitte, dass man die lebendigen Witwen verbrannte, wenn ihre Männer gestorben waren.

Gegen Abend sind wir für 2 Rupees mit einem Boot auf dem Ganges gefahren, zu den berühmten Plätzen, an denen die Leichen auf dem Ganges verbrannt wurden. Die Frauenleichen waren in rote Tücher gekleidet, die Männerleichen in weiße Tücher. Die Verbrennung kostete 40 Rupees (etwa 10 DM). Vielleicht galt die Verbrennung auf dem heiligen Ganges als besonders günstig für das nächste Leben. Die Gegend an den Verbrennungsplätzen erschien mir aber nicht besonders schön, die Häuser am Ganges waren dreckig etc. Auch war es für die Umwelt wahrscheinlich nicht besonders günstig, die Asche der Toten in den Ganges zu kippen.

Abends hörten wir von irgendwoher Musik, und als wir hinliefen, um zu sehen, was da los war, gerieten wir auf eine Hochzeit, in die wir sofort integriert wurden. Eine Hochzeit kostete den Brautvater in der Mittelschicht 10.000 bis 30.000 Rupees für das Fest, die Ausstattung und den Haushalt (etwa 5.000 DM). Die Hochzeit war arrangiert, zwei Häuser wurden gemietet, außerdem eine Kapelle und 6 Lichtträger. Der Bräutigam und seine Verwandten zogen von seinem Haus zum Brauthaus, der Bräutigam auf einem Pferd sitzend. Zwischendurch wurde Halt gemacht, um zu tanzen. Die Kapelle spielte dazu „We shall overcome“ und andere westliche Hymnen. Auch wir sollten mittanzen und alle waren begeistert, als wir es taten. Am Haus der Braut sangen die beiden Parteien abwechselnd in Anwesenheit des Gurus und beteten dann, der Guru mit Geldscheinen in den Händen. Wir bekamen Jasmingebinde um den Hals, waren somit echte Blumenkinder, und durften beim Hochzeitsessen mitessen. Nach der Sitte durften die Brautverwandten nicht mitessen, sondern mussten die anderen bedienen. Der Vater der Braut stöhnte, weil er so viele Töchter hatte, was sehr teuer war. (Daher gab es in Indien die Unsitte, Mädchen als Babys zu töten, um die Kosten für die Aussteuer zu sparen).

Eine Hindukaste der Milchmelker machte schon den ganzen Tag (insgesamt wollten sie wohl 3 Tage aushalten) über Lautsprecher Hare Krishna Hare Rama Musik und schmiss mit Rauchbomben, direkt gegenüber vom Hotel. Der Manager des Hotels war Christ und hatte überhaupt kein Verständnis und starke Kopfschmerzen. Ein Hotelangestellter sagte uns, dass die Schuhmacher auch eine schöne Band hätten und kifften.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2021.

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2021/01/01

Danke dass ihr kuhlewampe.net besucht !
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Das Jahr 2020 hat sich sehr speziell entwickelt. Vor einem Jahr begannen die 20er Jahre schon nicht gut. Im Januar lag eine diffuse düstere Stimmung in der Luft, die Menschen in Berlin erschienen mir hypernervös und aggressiv zu sein. Wahrscheinlich hatten sich viele etwas für das neue Jahr oder das neue Jahrzehnt vorgenommen und wollten es jetzt am besten sofort realisieren. Ich dachte daran, dass die Erdüberhitzung zuschlagen würde. Tatsächlich war es ein sehr milder Winter, der erste Winter in Berlin ohne Schnee. Aber dann kam es noch schlimmer. Im März kam plötzlich das Corona-Virus.
Das InfoRadio in Berlin hatte zwar schon im Dezember 2019 ein neues Virus gemeldet, das in Wuhan in China aufgetaucht war. Aber für mich war nicht absehbar, dass sich das Virus so schnell weltweit ausbreiten würde, dass so viele Menschen sterben würden und dass die Weltwirtschaft einen tiefen Einbruch erleben würde. Die ersten beiden Corona-Toten in Deutschland gab es in Nordrhein-Westfalen am 9. März 2020. Dann kam der erste Corona-Lockdown, in dem fast alle Läden und die Schulen geschlossen wurden.

Durch die Ausgangssperre war die Stadt im März und April plötzlich ruhig und wie eingefroren. Autos fuhren nur spärlich. Das Radfahren war angenehm. Die Hektik vom Januar war einer Schläfrigkeit gewichen. Alle mussten ihre Planungen für das neue Jahr auf Eis legen. Sogar sämtliche Gottesdienste wurden von der CDU verboten, was man vorher kaum für möglich gehalten hätte. Viele Selbständige hatten kein Einkommen mehr und mussten von ihren Reserven leben. Der Mietendeckel war zum Glück noch ziemlich knapp vor Covid-19 (Corona Virus Disease 2019) vom Berliner Abgeordnetenhaus im Februar beschlossen worden. Daher war wenigstens nicht mit Mieterhöhungen zu rechnen, eine Seuche weniger.
Während das Corona-Virus in der analogen Welt wütete, war die digitale Welt ziemlich unbeeindruckt, denn Fledermausviren interessieren sich nicht für Bits and Bytes. Durch die Pandemie hat das Internet im Corona-Jahr eine zusätzliche Wichtigkeit erhalten. Viele Menschen mussten im Homeoffice online arbeiten. Und viele waren zu Hause in Quarantäne und haben sich die langweilige Zeit im weltweiten Netz vertrieben. Es gab viele neue Streaming-Angebote in den Mediatheken, auch kulturell interessante Sachen, nicht nur kommerziellen Müll. Es wird geschätzt, dass gegenwärtig etwa die Hälfte der Menschen auf der Welt einen Zugang zum Internet hat. Das wären über 3 Milliarden Menschen. Alle die Deutsch lesen können, können auch kuhlewampe.net im Internet frei betrachten und studieren. Das ist doch schon ein großes potentielles Publikum.

Aufgrund von Corona sind kulturelle Live-Veranstaltungen in Berlin so gut wie komplett ausgefallen. Auch die Museen mussten schließen. Viele kreative Menschen haben finanziell erheblich gelitten. Auch wichtige Demos wurden abgesagt, wie die 1. Mai Demo, der Karneval der Kulturen und der Christopher Street Day. Die Klimakrise, die Wohnungskrise, die Armutskrise waren plötzlich verschwunden. Es gab nur noch die Coronakrise.
Die großen Privatunternehmen und der Markt, die heiligen Kühe des Neoliberalismus, wurden plötzlich mit vielen Milliarden Euro vom Staat subventioniert und vor der Pleite gerettet. Der Klimaverseucher Lufthansa zum Beispiel erhielt 9 Milliarden Euro vom Bundesfinanzminister, obwohl das ganze Unternehmen nur 4 Milliarden Euro wert ist. Auch Luftverseucher TUI erhielt etliche Milliarden und so weiter. Die kapitalistischen Politiker, die immer das Loblied des freien Marktes und der schwarzen Null gesungen hatten, als sie etwas für die Armen tun sollten, wollten mit aller Macht verhindern, dass ihr morscher Kapitalismus krachend zusammenbricht. Die zusätzlichen Staatsschulden muss dann die Bevölkerung mit ihren Steuern und mit Inflation zurückzahlen.

Im Sommer legte das Virus eine kleine Verschnaufpause ein, aber Ende August nach den Sommerferien begann die 2. Welle. Viele Urlauber hatten das Virus aus dem Urlaub mit nach Deutschland gebracht. Die Zahl der Infizierten stieg exponentiell. Die Arbeitslosenzahlen und die "Kurzarbeiter"-Zahlen erreichten ebenfalls astronomische Höhen. Finanziert wurde das Programm zur Stabilisierung des Hamsterradsystems durch die Gelddruckpresse, die Tag und Nacht auf Hochdruck lief.
Jetzt an Neujahr 2021 scheint ein Ende der Pandemie in ein paar Monaten absehbar zu sein, denn es ist gelungen, einige Impfstoffe gegen das Virus zu entwickeln.

kuhlewampe.net ist jetzt im 7. Jahr und da wurde wie immer im Januar der Bildhintergrund neu tapeziert. An Stelle der Wildrosen vom letzten Jahr seht ihr nun das Gemälde »Il Quarto Stato« von Giuseppe Pellizza da Volpedo (1868-1907) aus dem Jahr 1901.

Ich möchte allen Kreativen danken, die im schwierigen Jahr 2020 so viel zu kuhlewampe.net beigetragen haben:
Prof. Dr. Rudolph Bauer, Luke Sonnenglanz, Ingo Cesaro, Manfred Gill, Dr. Jörg Später, Dr. Hans-Albert Wulf, Markus Richard Seifert, Wolfgang Weber, Dr. Rudolf Stumberger, Ella Gondek, Sabine Rahe, Peter Hahn & Jürgen Stich, Dr. Karin Krautschick, Art Kicksuch und Jenny Schon.

Nach wie vor würde sich kuhlewampe.net über eure Kommentare im Kommentarfeld sehr freuen. Die AutorInnen und KünstlerInnen brauchen ja immer etwas Feedback zum Überleben.
Bleibt weiter gesund!

Dr. Christian G. Pätzold.


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