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im 9. Jahr
Herzlich Willkommen bei kuhlewampe.net. Ein Kultur-Literatur-Gesellschaftskritik-Blog im WWW
Gründer und Herausgeber: Dr. rer. pol. Christian G. Pätzold, Berlin
Kurator für Gesellschaftskritik: Dr. phil. Hans-Albert Wulf, Berlin
Wenn Ihr hier veröffentlichen wollt, schreibt bitte an: post(at)dr-paetzold.info
Kuhle Wampe ist ein Film von Bert Brecht, Slátan Dudow und Hanns Eisler aus dem Jahr 1932.


2023/05/31


vorschau06


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2023/05/27


Anna Seghers zum 40. Todestag
Mainz 19. November 1900 - Ost-Berlin 1. Juni 1983


seghers
Anna Seghers (Netty Reiling).
© Akademie der Künste, Berlin,
Anna-Seghers-Archiv, Fotokartei, Nr. 08.
Mit freundlicher Genehmigung von Anne Radvanyi.


Das Anna-Seghers-Museum schreibt:

"Nach dem Tod von Anna Seghers am 1. Juni 1983 - sie ist auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte neben ihrem Mann beigesetzt - gestaltete die Akademie der Künste der DDR die Adlershofer Wohnung zu einer Gedenkstätte um. Den literarischen Nachlass hatte Anna Seghers der Akademie testamentarisch vermacht, heute betreut ihn das Archiv der Akademie der Künste. Die Tantiemen ihres Werkes kommen, Anna Seghers' Wunsch entsprechend, jungen deutschen und lateinamerikanischen Schriftstellern zugute: Am 19. November, dem Geburtstag der Künstlerin, wird alljährlich der »Anna-Seghers-Preis« verliehen.

In der Gedenkstätte in Adlershof verblieben das Wohn- und Arbeitszimmer mit der wertvollen Bibliothek im Originalzustand. Im Zimmer von László Radványi ist neben den Erstausgaben und einer umfangreichen Sammlung deutscher und fremdsprachiger Belegexemplare eine kleine ständige Ausstellung zu sehen, die einen chronologischen Überblick über wichtige Lebensstationen von Anna Seghers gibt, sowie persönliche Erinnerungsstücke der Schriftstellerin zeigt."


Anna-Seghers-Museum
Wohnung von Anna Seghers
Anna-Seghers-Straße 81
12489 Berlin Adlershof
Dienstag und Donnerstag 10 - 16 Uhr
Eintritt 4/2 Euro.

Bitte vor dem Besuch des Museums anrufen und eine Führung vereinbaren !
Telefon: 030/6774725.


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2023/05/24


Dr. Hans-Albert Wulf
Beethovens Witwe


metronom
Historisches Metronom. Quelle: Wikimedia Commons.


Als wir am nächsten Tag das Bibliotheksgebäude betraten tönte uns aus dem Musikraum energische Klaviermusik entgegen. Da griff jemand ganz gewaltig in die Tasten. Und alles ohne sich ein einziges Mal zu verspielen! Selbst die schwierigsten Läufe wurden virtuos gemeistert. Wir trauten uns nicht, das Spiel zu unterbrechen und hineinzugehen, sondern verharrten andachtsvoll bis der letzte Ton verklungen war. Später wurden wir darüber aufgeklärt, dass da eine ausgewachsene Konzertpianistin und berühmte Tastenvirtuosin am Werke war.

Als sich schließlich die Tür des Musikzimmers öffnete, trat eine hoch gewachsene ältere Dame und mit schlohweißen Haaren und gehüllt in ein graues Seidengewand heraus. Ihren Namen haben wir vergessen. Wir hörten aber, dass man sie ehrfurchtsvoll "Beethovens Witwe" nannte.

In ihrer jahrzehntelangen Pianistinnenkarriere hatte sie sich ausschließlich Beethovens Musik gewidmet und in geradezu religiöser Hingabe seine Werke zelebriert. Weder die Sonaten Mozarts noch die Etüden und Impromptus Chopins oder auch Schuberts und Schumanns Klavierwerke konnten sie dazu verleiten, Beethoven untreu zu werden. Auch wenn sie sämtliche Sonaten Beethovens ihr ganzes Leben lang immer wieder im Konzertsaal gespielt hatte, so hatte sie den Ehrgeiz, die Sonaten nicht allein fehlerfrei, sondern in solcher Vollkommenheit wie der Komponist selbst, wenn er nicht taub gewesen wäre, zu interpretieren.

Immerzu trug sie Noten mit Beethovens Klaviersonaten mit sich herum, die sie von vorne bis hinten mit ihren Bleistiftnotizen verziert hatte. Bevor man sich ans Klavier setzt, pflegte sie zu sagen, müsse man das Notenlesen zur Perfektion gebracht haben. Soviel Zeit sie am Klavier verbracht hatte, so viele Stunden widmete sie den Noten. Immer hatte sie das Sonatenkonvolut bei sich und man könnte sie deshalb getrost zu den Büchernarren hinzuzählen. Manche spotteten, dass ihr das Notenlesen wichtiger sei als Spiel am Klavier selbst. Denn, so pflegte sie zu sagen, jede Interpretation, so perfekt sie auch sei, bedeute ja immer eine Abweichung, wenn nicht gar Verfälschung von Beethovens Musik. Gelegentlich verstieg sie sich deshalb zu dem Satz, wenn man Beethoven gerecht werden wolle, dürfe man ihn überhaupt nicht spielen, sondern nur seine Noten lesen. Aber dies bedeutete dann ja das Ende ihres Pianistinnendaseins. Und auf den Applaus des Publikums, der selbstverständlich nicht ihr, der Pianistin, sondern Beethoven, dem Komponisten gelte, wollte sie nun doch nicht verzichten.

In ihrer Wohnung konnte sie wegen der lieben unmusikalischen Nachbarn nicht mehr regelmäßig üben und deshalb suchte sie mehrmals in der Woche das Musikzimmer der Bibliothek auf. Zumal dort ein ganz vorzüglicher Steinwayflügel stand, den sie jederzeit benutzen konnte.

Einmal trafen wir sie im Erzählcafé und trauten uns, sie anzusprechen und zu ihrer Beethovenmanie zu befragen und sie kam ins Erzählen. Allein mit den späten Klaviersonaten des Meisters habe sie zwei Jahrzehnte ihres Lebens verbracht und immer wieder die Noten akribisch studiert, eingeübt und dementsprechend immer wieder neu interpretiert. Und dies habe nicht ein einziges Mal zu ihrer vollen Zufriedenheit geführt! Denn anders als beispielsweise die Sonaten Mozarts seien Beethovens Spätwerke nur mit allergrößter Anstrengung und Konzentration aufzuführen. Bei einem Konzert mit Beethovens Klaviersonaten verliere sie bis zu vier Kilogramm Gewicht. Das sei etwa so viel, wie ein Schachspieler bei einer Partie um die Weltmeisterschaft einbüßt.

Das allerkomplizierteste Klavierwerk Beethovens, so fuhr sie fort, sei seine berühmte Hammerklaviersonate op. 106, die nach wie vor als unspielbar gelte, weil sie ein irrsinniges Tempo vorschreibt. Die Interpreten stünden mithin bis heute noch immer vor der Alternative, sie fehlerfrei aber zu langsam oder aber in der gebotenen Schnelligkeit aber mit Fehlern zu spielen.

Woher man denn wisse, welches das richtige Tempo bei der Hammerklaviersonate sei, wollten wir wissen. Sie entgegnete, Beethoven habe seine späten Sonaten mit exakten Metronomangaben versehen und hierzu erzählte sie uns folgende kleine Geschichte.

Beethoven sei immer wieder mit den Aufführungen seiner Werke ausgesprochen unzufrieden gewesen. Denn die damals (und auch heute noch) üblichen italienischen Tempobezeichnungen auf den Notenblättern (Allegro, Largo usw.) waren für ihn viel zu ungenau und die Musiker hielten sich nur selten an die gewünschten Tempi. Wenn z. B. in einer Komposition ein schreitendes Andante vorgegeben war, so verschleppten sie es oftmals faul zu einem latschigen und gähnsäumigen Adagio.

Dies sollte sich nach dem Willen des Komponisten grundlegend ändern, fuhr sie fort, als er erfuhr, dass der Instrumentenbauer Johann Nepomuk Mälzel im Jahre 1815 ein sog. Metronom erfunden hatte. Beethoven war so begeistert, dass er für Mälzel eigens ein kleines Loblied komponierte. ("Ta ta ta, lieber Mälzel!", leben Sie wohl!)

Das Metronom, so erklärte sie uns, sei ein mechanisches Gerät, das ähnlich dem Pendelschlag einer Uhr den jeweils eingestellten Rhythmus exakt akustisch wiedergibt. Mit dem Metronom ging es Beethoven vor allem darum, Schludrigkeiten und Verschleppungen im Spiel zu beseitigen. Doch dies gefiel vielen Orchestermitgliedern überhaupt nicht, weil es mehr Arbeit bedeutete. Sie mussten nun genauer und exakter spielen. Aber am allerschlimmsten war es, dass nun auch meist ein schnelleres Tempo diktiert wurde. Das hatte für die Musiker zwar den Vorteil, dass man mit der Arbeit schneller fertig war und sich wieder dem Biertrinken und dem Skatspielen hingeben konnte. Aber es bedeutete andererseits eine höhere Leistungsanforderung. Denn es ist ja auch ein Unterschied, ob ein Sportler die Hundertmeterstrecke in 10 Sekunden oder in 16 Sekunden läuft.

In Überlieferungen aus der damaligen Zeit wurde berichtet, dass sich gegen diese Schnelligkeitszumutungen bald massiver Widerstand der Musiker formiert habe, der geradezu handgreifliche Formen angenommen haben soll. Der Maschinensturm in England sei, so heißt es, offensichtlich das Vorbild für den Kampf gegen das Metronom gewesen. In nur einem Jahr sollen in Wien und Umland 741 Metronome zerstört oder zwangsweise zu Tischuhren umgebaut worden sein. Weitere sollen auf dem Scheiterhaufen ihr Ende gefunden haben.

Ob sich diese Geschichte nun tatsächlich so abgespielt hat, fuhr sie fort, oder den Wunschträumen frustrierter Musiker entstammt, lasse sich heute freilich nicht mehr eindeutig überprüfen. Aber ihr selbst sei, bei aller gebotenen Beethovenwerktreue ihr Metronom mit seinen diktatorischen Tempovorschriften auch schon gewaltig auf die Nerven gegangen. Einmal habe sie es in ihrer Wut gegen die Wand geworfen, so dass es zerbrach. Aber dies solle, so die berühmte Klaviervirtuosin, bitte unter uns bleiben und nicht in die Öffentlichkeit geraten.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Mai 2023.


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2023/05/21


Fliederzeit


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Weißer Flieder (Syringa vulgaris) fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/05/17


Jan Vermeer van Delft, 1632-1675
Das Mädchen mit dem Perlenohrring, 1665


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Das Gemälde »Meisje met de parel« ist mit Öl auf Leinwand gemalt und 45 cm x 40 cm groß.
Quelle: Wikimedia Commons.

Das Bild wird auch "Die Mona Lisa des Nordens" genannt.
Turbane waren im 17. Jahrhundert eine verbreitete Mode, da die Türken nach Europa vordrangen.
Das Bild ist minimalistisch, es gibt keinen Vordergrund und keinen Hintergrund, nur das Portrait.
In der Fachsprache der Kunstgeschichte handelt es sich um ein Tronie Portrait.
Was ist an dem Bild barock? Vor allem die große Perle und der Turban.
So eine große Perle war damals sehr wertvoll, was auf Wohlstand hindeuten soll.
Das 17. Jahrhundert wird das Goldene Zeitalter der Niederlande genannt.

Was ist in dem Bild noch zu entdecken?
Das Sonnenlicht kommt von links, wie in den meisten Bildern von Jan Vermeer.
Die Komplementärfarben Blau und Gelb sind dominant. Diese Farben hat Vermeer öfter verwendet. Zufällig sind das auch die Nationalfarben der Ukraine, und daher wegen des Ukrainekriegs überall heute präsent.
Die Augenbrauen sind ausgezupft, was der damaligen Mode entsprach. Die Kopfhaare sind unter dem Turban versteckt.
Die Augen sind groß und sehen den Betrachter direkt an. Die Nase ist ziemlich lang. Die Lippen erscheinen zu rot, so dass man an Lippenstift denkt.
Durch den weißen Kragen wird das Gesicht hervorgehoben.

Die Farbpigmente für das Ultramarinblau des Turbans stammen aus Afghanistan und waren damals sehr wertvoll.
Die Farbpigmente für das Karminrot der Lippen stammen von den Cochenilleläusen, die auf dem Feigenkaktus in Mexiko lebten.
Das zeigt, dass die Handelsbeziehungen damals schon sehr weit gespannt waren.

Bleibt die Frage, wer das Mädchen auf dem Bild ist?
Manche meinen, dass es die Tochter von Jan Vermeer, Maria Vermeer ist. Das wäre am naheliegendsten.
Jan Vermeer hätte auf die Rückseite der Leinwand schreiben können.
"Das ist ein Bild meiner Tochter Maria Vermeer."
Das hätte ihn nur 1 Minute gekostet. Aber das hat er nicht getan. Maler schreiben in der Regel keine Sätze, sondern malen nur.
Und so wird das Rätsel um die Identität des Mädchens wohl ungelöst bleiben.

Normalerweise hängt das Gemälde im Mauritshuis in Den Haag/Niederlande.
Jetzt ist es aber in der großen Vermeer-Ausstellung im Rijksmuseum in Amsterdam zu sehen, bis zum 4. Juni 2023.
Dort werden 28 der 37 bekannten Werke von Jan Vermeer gezeigt.
Leider ist die Ausstellung schon ausverkauft, weil alle einmal im Leben den ganzen Jan Vermeer sehen wollen.
Aber auf der Webseite des Rijksmuseums gibt es eine ausführliche Tour zu allen Gemälden Vermeers mit vielen Erklärungen. Dadurch erfährt man wahrscheinlich mehr über die Bilder als bei einem Museumsbesuch.
Übrigens lohnt es sich, auch den Spielfilm »Das Mädchen mit dem Perlenohrring« anzuschauen. Der Film ist von dem Regisseur Peter Webber, aus dem Jahr 2003.

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/05/14


Vor 90 Jahren:
Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933
durch die deutschen Faschisten


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Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933.
Quelle: Wikimedia Commons.
Bundesarchiv, Bild 102-14597 / Georg Pahl.


Zur Erinnerung an die Bücherverbrennung hier eine Stellungnahme eines verbrannten Dichters:

»Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.«

Bertolt Brecht


Seht bitte auch den Artikel "Die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933" vom 2017/05/10 auf kuhlewampe.net.


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2023/05/11


Maiglöckchenzeit


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Maiglöckchen (Convallaria majalis) fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/05/07


Dagmar Sinn
150 Jahre Villa Hügel, Teil II
Zur Geschichte der Villa Hügel und ihrer Bewohner


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Manschettenknöpfe aus Draht, Handarbeit von Alfried Krupp,
entstanden während seiner Haft in der Gefängnisschlosserei 1950.
Fotografiert von Dagmar Sinn in der Historischen Ausstellung in der Villa Hügel.


1911 bestand die Firma Krupp 100 Jahre. Man feierte dieses Ereignis jedoch zu Ehren des Firmengründers Alfred Krupp an seinem hundertsten Geburtstag ein Jahr später. Im August 1912 veranstaltete die Firma ein pompöses Fest, das Gustav Krupp von Bohlen und Halbach zur prunkvollen Selbstdarstellung des Konzerns und der Familie nutzte. Kaiser Wilhelm II. war mit den Spitzen von Regierung und Militär selbstverständlich auch unter den Gästen. Die Familie Krupp spendete anlässlich des Jubiläums 14 Millionen Mark, die Jahreslohnsumme von 10.000 Metallarbeitern. Die Firma war auf dem wirtschaftlichen Höhepunkt. Argwöhnisch registrierten die meisten Staaten Europas die imperiale Politik Deutschlands und das Auftreten des Kaisers. Nicht ohne Grund wurde die Firma Krupp mit deutscher Aufrüstung in einem Atemzug genannt. In Deutschland wurde die "Dicke Berta" entwickelt, ein 42 cm-Steilfeuergeschütz und angebliche Wunderwaffe mit hoher Durchschlagskraft. Sie wurde 1914 in Belgien eingesetzt. Woher der Name "Dicke Berta" rührt, ist ungeklärt geblieben.

Die "Kanonenstadt" war stolz auf ihre Waffenproduktion. Während des Ersten Weltkrieges hatte die Friedrich Krupp AG mittlerweile rund 167.000 Beschäftigte. Viele Frauen und Kriegsgefangene wurden eingesetzt. Mit dem Rüstungsplan "Hindenburgprogramm" von 1916 entstanden neue ausgedehnte Fabrikanlagen.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 musste Krupp die Zerstörung der meisten Fabrikanlagen und Maschinen akzeptieren. Der Friedensvertrag von Versailles verbot künftig fast die gesamte Rüstungsproduktion. Unter der Hand kooperierte der Konzern aber mit Firmen aus dem Ausland, die Waffen nach Krupp'schen Plänen und Ingenieuren produzierten. Um die Arbeiter weiter zu beschäftigen, wandte sich Krupp neuen zivilen Fabrikationszweigen zu. Herstellung und Verarbeitung von Stahl blieb aber der wichtigste Geschäftsbereich. Es wurden Lastwagen, Lokomotiven und Bagger, aber auch beispielsweise medizinisches Gerät aus Edelstahl produziert. Ab Mitte der 20er Jahre wurden aber auch Pläne für Panzer entwickelt, getarnt als landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge. Trotzdem musste die Firma mit der Inflation, mit der Weltwirtschaftskrise und Massenentlassungen kämpfen.

Die Rolle als Waffenschmiede Deutschlands übernahm Krupp auch im 2. Weltkrieg. Wieder wurden Geschütze, Panzerteile und U- Boote produziert. Gustav Krupp von Bohlen und Halbach leitete das Unternehmen bis 1943, als er krankheitsbedingt ausscheiden musste. Mehr als 30 Jahre steuerte er die Firma in den wechselvollen Zeiten des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und der Hitlerdiktatur. Zunächst hatte er den Nationalsozialisten skeptisch gegenüber gestanden. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begrüßte er die wirtschaftliche Stabilisierung und die wieder erlangte außenpolitische Stärke Deutschlands. Als Konservativ-Nationaler arrangierte er sich schließlich, auch aus steuerlichen Gründen, mit dem NS-Regime. Immerhin blieben Vorstand und Aufsichtsrat frei von Parteifunktionären.

Alfried von Bohlen und Halbach (1907-1967), sein ältester Sohn und Nachfolger, war da unbekümmerter. Von ihm wissen wir, dass er 1931 förderndes Mitglied der SS wurde. In der Familie Krupp war das Regatta-Segeln Tradition, und er gewann mit der Familienyacht "Germania III" und seiner Crew bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin Bronze in der 8 Meter Bootsklasse von Rennsportyachten. Wie viele Krupps hatte er auch künstlerische Talente und war ein begeisterter Fotograf. Von Jugend an wurde er hart auf die Unternehmens-Nachfolge vorbereitet. Nach seinem Ingenieurstudium in München, Berlin und Aachen trat er 1935 in die Firma ein.1938 wurde er Mitglied in der NSDAP. 1943, mitten im Krieg, musste er die Nachfolge antreten. Um die Sollzahlen des Rüstungsministeriums zu erfüllen, wurden Arbeiter aus dem Ausland beschäftigt. Viele Kriegsgefangene aus dem Osten, Verschleppte, auch Häftlinge aus Konzentrationslagern schufteten unter unmenschlichen Bedingungen für die Firma. Etliche Pässe von ganz jungen Männern und Frauen sind erhalten.

Nach Kriegsende wurde er als Alleininhaber des Konzerns 1945 zusammen mit elf Krupp Direktoren von einem US-Militärgericht als Kriegsverbrecher zu 12 Jahren Haft verurteilt wegen Plünderung besetzter Gebiete und Beschäftigung von Zwangsarbeitern. Sein gesamtes Vermögen wurde konfisziert. Sein verhandlungsunfähiger Vater entging einer Bestrafung. Ein Großteil der Kruppwerke wurde demontiert.

Gustav und Bertha Krupp wurden 1946 die Ehrenbürgerrechte der Stadt Essen aberkannt. Das im Krieg kaum beschädigte Anwesen der Villa Hügel diente ab 1945 als Sitz der alliierten Kohlekommission mit fast 1.300 Mitarbeitern. Im Juli 1952 wurde es der Familie zurückgegeben, die es jedoch nie wieder als privaten Wohnsitz nutzte.

1951 wurde Alfried Krupp begnadigt, erhielt sein Vermögen zurück und durfte ab 1953 wieder die Leitung der Firma übernehmen. Die Stadt Essen lag ebenso wie die Firma Krupp in Trümmern, und die Überlebenden waren auf die "Waffenschmiede der Nation" nicht gut zu sprechen. Es war ein Glücksfall, dass Alfried Krupp 1952 den Manager Bertold Beitz für den Wiederaufbau zu seinem Generalbevollmächtigten machte, anstelle wie zunächst geplant, die Firma zu verkaufen. Beitz stammte aus Pommern, war aktiver Kriegsteilnehmer und rettete durch eine List vielen hundert Juden das Leben. Er schlug der Familie vor, das Areal der Villa Hügel für Kunstausstellungen zu nutzen. Die Essener wollten aber vor allem nach der Freigabe die privaten Wohnräume der Familie Krupp mit allem Luxus kennen lernen und besichtigen. In den 1960er Jahren wurde dann nicht zuletzt durch Bertold Beitz der Ruf der Familie besser. Da es nach dem Krieg wenige repräsentative Adressen in der noch jungen BRD gab, wurde gerne von den Räumlichkeiten für eingeladene Staatsoberhäupter Gebrauch gemacht. Später hatten dann auch Kunstausstellungen im angegliederten Kleinen Haus der Villa Hügel Erfolg. Die überflüssig gewordenen Wirtschaftsgebäude und Wohnhäuser im Umkreis der Villa wurden im Zuge der neuen Nutzung abgetragen. Der Hügelpark erhielt engere Grenzen, die äußeren Teile wurden als Krupp- bzw. Stadtwald öffentlich zugänglich.

Arndt von Bohlen und Halbach (1938-1986), der einzige Sohn, der 1938 in Berlin-Charlottenburg geboren wurde, war zunächst als Firmenerbe und Nachfolger vorgesehen und studierte in Freiburg und München Betriebswirtschaft und Jura. Da er wenig Neigung und Eignung hatte ("arbeiten, das hat mir gerade noch gefehlt") überzeugte ihn Bertold Beitz, auf sein Erbe gegen Zahlung von 2 Millionen DM Unterhalt jährlich zu verzichten. So wurde der Weg in die gemeinnützige Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung frei, das Vermächtnis des letzten Alleininhabers. Seit 1968 fördert die Krupp Stiftung als größte Aktionärin der heutigen thyssenkrupp AG gemeinnützige Projekte aus Wissenschaft und Kultur, Bildung, Gesundheit und Sport.

1999 fusionierte die Firma Krupp mit Thyssen zur thyssenkrupp AG. Sie hat heute in 48 Ländern 96.000 Mitarbeiter und ist vielseitiger Zulieferer für Maschinen- und Industrieanlagen, Schiffbau, Luftfahrt, Automobilindustrie, Energieerzeugung und Verteilung, Technologiepartner in den wichtigsten Öl- und Gaswerken. Als Rüstungsunternehmen baut thyssenkrupp aktuell vor allem U-Boote und Kriegsschiffe.

Quellen:
Historische Ausstellung Krupp - Villa Hügel in Essen
Historisches Portal Essen
www.planet-wissen.de

© Dagmar Sinn, Mai 2023.


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Der Saal im ersten Stock der Villa Hügel.
Foto von © Dagmar Sinn, April 2023.


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2023/05/04


Dagmar Sinn
150 Jahre Villa Hügel, Teil I
Zur Geschichte der Villa Hügel und ihrer Bewohner


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Die Villa Hügel der Familie Krupp in Essen, fotografiert von der Baldeneyseeseite.
Das größte Einfamilienhaus des Deutschen Reiches.
Foto von © Dagmar Sinn, März 2023.


Seit 150 Jahren ist die Villa Hügel in Essen Symbol der Geschichte des Ruhrgebiets, Deutschlands und der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Als sie erbaut wurde war sie mit 269 Zimmern und über 8.000 qm Wohnfläche das größte "Einfamilienhaus" des Deutschen Reiches, das wie ein Schloss über dem Baldeneysee thronte. Sie ist Zeugin von 150 Jahren Aufbau und Wohlstand der Familie Krupp und ihrer Firma, erlebte aber auch Tod, Verderben und Zerstörung während der beiden Weltkriege.

Ihr Bauherr, Alfred Krupp (1812-1887), übernahm 1826 mit Hilfe seiner Mutter im Alter von nur 14 Jahren die kleine Gussstahlfabrik seines früh verstorbenen Vaters. In den folgenden Jahrzehnten baute er sie zu einem internationalen Großunternehmen mit über 20.000 Beschäftigten auf.

1864 kaufte er das Anwesen "Klosterbuschhof" in ländlicher Umgebung an der Ruhr. Er ließ das 28 Hektar große hügelige Ackergelände mit ausgewachsenen heimischen Bäumen bepflanzen. Gemeinsam mit seinen Hausarchitekten und Gärtnern entwickelte er eigene Entwürfe für ein Parkgelände. Nach dem Bau der Villa 1870-1873 entstanden als sein Altersprojekt südlich des schlossähnlichen neoklassizistischen Gebäudekomplexes Terrassengärten, schattenspendende Laubengänge, Wasserflächen und Aussichtspunkte auf den Ruhrstausee zu Füßen des Areals.

Seine Villa, die als Wohnhaus und vor allem repräsentativen Zwecken dienen sollte, ließ er, um Feuer zu vermeiden, aus Eisen und Stahl errichten. Er war besessen von der Idee, alle Räume individuell mit einer Klimaanlage zu beheizen. Da er Unternehmer war und kein Ingenieur, misslang sein ehrgeiziges Vorhaben, und erst nach langen Jahren funktionierte alles. Seine wesentlich jüngere Frau Berta, die er nur einen Monat nach dem Kennenlernen heiratete und mit der er das einzige Kind Friedrich Alfred hatte, verließ genervt die Villa und ging lieber in Kur, um dort ihre angegriffene Gesundheit wiederherzustellen.

Im Gegensatz zu seinem Familienleben - er beschrieb seinen Charakter wie folgt "Meine Ungeduld ist ein Crocodil - das lässt sich nicht bezähmen" - hatte er beruflich großen Erfolg. Bei der ersten Weltausstellung 1851 in London präsentierte er den größten Gussstahlklotz und übertrumpfte damit die Engländer, sowie eine Kanone aus Gussstahl, der ja keine deutsche Erfindung war. Der Engländer Benjamin Huntsman hatte nämlich schon 1740 den ersten coast steel, den gegossenen Stahl, in einem Tiegel hergestellt.- Im Jahre 1853 erfindet Alfred Krupp das von ihm patentierte nahtlose Eisenbahnrad. Drei Räder sind auch das Firmenzeichen. Der Siegeszug der Eisenbahn ließ sich nicht mehr aufhalten.

Seit den 1850er Jahren galt Krupp als Vorbild der betrieblichen Sozialpolitik. Bereits 1836 wurde die "Hülfskasse in Fällen von Krankheit und Tod" gegründet. Alfred Krupp ließ seinen Beschäftigten patriarchalische Fürsorge zukommen, er schuf preiswerte Arbeitersiedlungen und billige Einkaufsmöglichkeiten in der "Konsum-Anstalt", setzte aber auch Kontrolleure ein, damit alles in seinem Sinne funktionierte. Wer beispielsweise eine sozialdemokratische Zeitung bezog riskierte seine Kündigung.

Über die Wohnqualität in der Villa Hügel konnte man schon damals unterschiedlicher Meinung sein. Privat war Alfred Krupp bescheiden, seine knappe Freizeit widmete er der Musik und dem Theater. Das änderte sich als die nächste Generation die Villa bezog: Der einzige Sohn und Nachfolger Friedrich Alfred Krupp (1854-1902) und seine Frau Margarethe statteten die Villa mit zahlreichen Holzvertäfelungen, flämischen Wandteppichen und damals sehr luxuriösen Gästezimmern aus. Für die Familie, aber auch für die zahlreichen Gäste, entstanden Tennisplätze, Reitanlagen und Ställe, Lese- und Spielzimmer, sogar ein Gesellschaftshaus mit Kegelbahn und Bibliothek.

Friedrich Alfred Krupp hatte bereits seit 1872 in der Firma mitgearbeitet, war mit der Welt des industriellen Großbürgertums vertraut und wusste, was ihn erwartete: das Firmeninteresse stand immer an erster Stelle. Sein Vater traute ihm, dem kränkelnden, schüchternen Sohn nicht zu, ein vollwertiger Nachfolger zu sein, womit er sich gründlich irrte. Friedrich Alfred erlebte die Gründung des Deutschen Reiches (vermutlich siegten die Preußen u. a. durch die Überlegenheit der Gussstahlkanonen seines Vaters gegen die Franzosen mit ihren Bronzekanonen) und führte das Unternehmen sehr erfolgreich weiter durch ein neues Hüttenwerk in Rheinhausen, das hauptsächlich für die Rüstungsindustrie produzierte. Die Arbeiterzahl stieg auf 45.000. Auch er engagierte sich auf sozialem Gebiet, z. B. mit der Siedlung Altenhof in Essen-Rüttenscheid, in der ehemalige Werksangehörige als Rentner kostenlos wohnen konnten. Außerdem gab es Spareinrichtungen und Sport- und Bildungsprogramme. 1893 kam das Grusonwerk in Magdeburg dazu und 3 Jahre später die Germaniawerft in Kiel. Mit seiner Frau Margarethe Freiin von Ende hatte Friedrich Alfred Krupp 2 Töchter, von denen die ältere, Bertha, noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Seinen Töchtern ließ er unterhalb der Villa Hügel ein kleines Fachwerkhaus zum spielerischen Erlernen hauswirtschaftlicher Fähigkeiten errichten, das so genannte Spatzenhaus.

Friedrich Alfred Krupp hatte viele naturwissenschaftliche Interessen, vor allem in den Bereichen Geologie und Paläontologie. Seine umfangreiche Sammlung wurde nach 1945 dem Ruhrlandmuseum in Essen übergeben. Zur Erholung und für wissenschaftliche Studien weilte er ab 1899 regelmäßig auf Capri. Er arbeitete am ersten Meeresforschungsinstitut der Welt am Golf von Neapel und entdeckte 27 neue Arten mariner Kleinlebewesen. Es kam zum Skandal, als man ihm vorwarf, in einer Höhle seinen angeblichen homosexuellen Neigungen nachzugehen. Besonders aktiv waren die italienische Zeitung "Propaganda" und der "Vorwärts", die Zeitung der Sozialdemokraten. Eine Woche später, am 22. November 1902, starb Friedrich Alfred Krupp in der Villa Hügel an einem Gehirnschlag. Das war die offizielle Version, ein Selbstmord und eine homosexuelle Neigung wurden nie bewiesen. Kaiser Wilhelm II. gab den Sozialdemokraten die Schuld am Tod des Industriellen. Er persönlich führte am 26. November 1902 einen gigantischen Trauerzug in Essen an.

Auf diese Weise wurde die älteste Tochter Bertha (1886-1957) mit erst 16 Jahren die Alleinerbin und begehrteste Junggesellin Europas. Die Firma wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt.1906 heiratete Bertha den Diplomaten Gustav von Bohlen und Halbach (1870-1950). Es lag im Interesse des Kaisers, der sich der Familie freundschaftlich verbunden fühlte und öfter in der Villa Hügel zu Gast war, dass der Name Krupp erhalten blieb, und er bestimmte per Dekret, dass der jeweilige Alleininhaber den Namen Krupp von Bohlen und Halbach tragen durfte.

Aus Anlass der Hochzeit stiftete Berthas Mutter, Margarethe Krupp, die Wohnsiedlung Margarethenhöhe im Süden von Essen als Sozialsiedlung, die ab 1910 gebaut wurde. Noch heute ist sie eine Gartenstadt mit hoher Wohnqualität, Cottagehäusern mit Jugendstilelementen und kleinen Gärten, eine andere Welt in der Ruhrmetropole Essen, die ursprünglich nicht nur Angehörigen der Firma Krupp zugedacht war.

Bertha und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach hatten 8 Kinder, ein Sohn starb bald nach der Geburt und zwei weitere auf tragische Weise im 2. Weltkrieg. Bertha kümmerte sich um die Familie und die zahlreichen Gäste aus dem In-und Ausland. Sie behielt auch Einfluss auf Grundsatzentscheidungen innerhalb der Firma. Ihr Ehemann Gustav war von 1909 bis 1943 Aufsichtsratvorsitzender der Firma. Sie hatten in der Villa 650 (!) Bedienstete. Die Kinder wuchsen ohne emotionale Nähe auf, denn die Eltern hatten nicht viel Zeit für sie. Wollten sie ihre Mutter oder ihren Vater außerhalb festgesetzter Zeiten sprechen, mussten sie einen Termin anmelden.

Der Hügel war bis 1945 nicht ausschließlich privater Wohnbereich, sondern man musste ihn sich als eigenen Wirtschaftsbetrieb vorstellen, eine kleine "Stadt in der Stadt". Um 1900 gliederte sich die Hügelverwaltung in die Bereiche "Allgemeine Verwaltung, Baubüro, Hauswirtschaft, Hofstall, Gärtnerei, Ökonomie, Forst- und Jagdverwaltung". Im Zentrum des Hügels stand die Villa. Um sie herum gruppierten sich Wirtschaftsgebäude, Freizeiteinrichtungen für die Familie Krupp und Wohnungen für Bedienstete. An der Ruhr befanden sich das Gas- und Wasserwerk, eine Restauration und ein Bootshaus. 1890 erhielt der Hügel unterhalb der Villa einen Bahnhof. So konnte der Kaiser bequem anreisen - noch heute gibt es an der Stelle eine S-Bahn Station Villa Hügel. Eine Telegrafenstation, eine Telefonanlage und eine Poststelle gab es bereits lange vor 1900. Im Norden entstand die Krupp-Siedlung "am Brandenbusch" für die zahlreichen Bediensteten. Um 1920 gehörten etwa 140 Gebäude zum Hügel.

© Dagmar Sinn, Mai 2023.


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Fotografiert von Dagmar Sinn in der Historischen Ausstellung in der Villa Hügel.


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2023/05/01


Eine sonnige Maienzeit wünscht kuhlewampe.net


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El Lissitzky (1890-1941):
Schlag die Weißen mit dem roten Keil, 1919.


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2023/04/30


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2023/04/26


Atomkraft? Nein Danke!


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Historisches Foto: Die Anti-AKW-Gruppe an der Freien Universität Berlin,
in Gorleben/Wendland, Juni 1978.


An die 50 Jahre haben wir jetzt gegen die radioaktive Verseuchung von Deutschland gekämpft. Und was haben wir erreicht? Die Energiekonzerne haben 50 Jahre lang Milliardenprofite für ihre reichen Anteilseigner eingestrichen und sind alle Millionäre geworden, mit dem Betrieb ihrer AKWs (Atomkraftwerke). Und wir sind 50 Jahre lang als Ökospinner bezeichnet worden. In Deutschland liegt ein riesiger Berg von Atommüll herum, der noch 1 Million Jahre radioaktiv strahlt. 1 Million Jahre! Das kann man sich kaum vorstellen. Die Verantwortlichen werden wohl nie zur Rechenschaft gezogen werden. Hat sich unsere Mühe gelohnt? Wohl kaum.

Naja, die letzten 3 deutschen AKWs sind am 15. April 2023 abgeschaltet worden, das AKW Isar 2 in Bayern, das AKW Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und das AKW Emsland in Lingen/Niedersachsen. Das war doch ziemlich spät? CDU/CSU, FDP und AfD wollten die Atomkraftwerke weiterlaufen lassen. Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 waren deutliche Ereignisse, vor denen wir immer gewarnt haben. Aber in den Ländern um Deutschland herum laufen die AKWs munter weiter oder werden neu gebaut. Unsere französischen Nachbarn betreiben viele AKWs, die marode sind und riesige Mengen von Atommüll produzieren. Die Radioaktivität kann mit der Luft auch nach Deutschland getragen werden. Und die Europäische Union hat diese radioaktive Verseuchung auch noch auf französischen Druck hin als nachhaltig klassifiziert. Warum lernen die Leute nichts aus der Geschichte? Es gibt doch andere Möglichkeiten der Energieerzeugung, einige erneuerbare Energiequellen.

Das Atomzeitalter in Deutschland ist nicht beendet, schon wegen des fast ewig strahlenden Atommülls. Außerdem werden in Deutschland weiterhin Brennelemente für den Export produziert. Die Atomindustrie macht also munter weiter. Und die CSU in Bayern will ihre AKWs jetzt in Länderregie weiterlaufen lassen.

In 50 Jahren hat sich auch nichts an der atomaren Bedrohung und an der Produktion von Atombomben geändert. Wir werden weiterhin immer von Atomraketen bedroht. Konkret von russischen Atomraketen, die mit Überschallgeschwindigkeit zu uns fliegen können. Immer mehr Länder möchten gern Atombomben haben, weil die anderen sie auch haben. Warum ist die Menschheit so dumm, und kann Atombomben nicht abschaffen? Eine rhetorische Frage. Das ist doch permanenter Terror und kostet Milliarden an Rüstungsausgaben. Was hat es gebracht, dass wir jahraus jahrein auf den Ostermärschen gegen die Atombomben demonstriert haben? Gar nichts.

Trotz alledem sollte man nicht aufgeben zu kämpfen, auch wenn die Bilanz niederschmetternd ist und die Mehrheit einen verlacht. Weitermachen! Irgendwann wird es vielleicht mal Fortschritt geben, vielleicht in 100 Jahren, vielleicht in 1.000 Jahren? Oder auch nicht. Vielleicht ist dann alles zu spät. Too little too late. Greta Thunberg hat schon gewarnt, dass es 5 vor 12 ist.

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/04/23


Erinnerung an Georg Elser
Hermaringen/Württemberg 4. Januar 1903 - erschossen im KZ Dachau 9. April 1945


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Denkmal für Georg Elser in Berlin Mitte, Wilhelmstraße.
Skulptur von Ulrich Klages, 2011, die nachts leuchtet.
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2014.


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2023/04/19


Zwiespältige Situation
Die BIOFACH 2023 und die Situation der Biobranche
von Georg Lutz, Freiburg


Die erste Messe, auf der sich in Deutschland Bio- und Fair-Produkte und ihre Anbieter präsentierten, hatte den Zeitgeistnamen "Müsli83". Der Frankfurter Körnerevent war auch der Rahmen für die Bildung eines ersten Naturkostverbandes - heute Bundesverband Naturkost Naturwaren e.V. (BNN). Damals standen in den Wohngemeinschaften noch viele Handmühlen, mit denen das Müsli selbst produziert wurde. Die Zielgruppen der ersten Bio-Läden waren überschaubar. Die Waren stapelten sich in den Läden unscheinbar auf alten Ikea-Regalen. Marketing war verpönt. Man wollte mit anderem Anbauen, Arbeiten und Essen nicht weniger wie die Welt verändern. Über diese moralischen Ansprüche konnten die gestandenen Manager der klassischen Lebensmittelbranche nur lächeln.

Heute hat sich das Bild komplett gedreht. Die BIOFACH VIVANESS (Naturkosmetik) ist im Februar 2023 eine globale Leitmesse mit 2.765 Ausstellern aus 95 Ländern. Man will immer noch die Welt verbessern, der Sound ist aber ein ganz anderer. Die Trends auf der BIOFACH 2023 heißen "New Glocal", "Vegan meets Tradition", "Less is More" sowie "New Sweeteners". Damit können die klassischen Manager, genauer gesagt ihre Nachfolger*innen gut umgehen. Inzwischen gönnt sich fast jeder große Player der Branche eine Bio-Linie. Lidl vertreibt Produkte mit dem Bioland Siegel und bei Edeka findet man Demeter Bananen. Auf der BIOFACH finden Besucher*innen heute einen Rewe Stand. Das ist auch kein Wunder. Die Gewinnmargen im klassischen Lebensmittelhandel sind im Vergleich zu anderen Branchen tief. Mit den Bio-Linien kann man aber mehr Geld verdienen und inzwischen gibt es auch größere Zielgruppen, die Bio-Ware verlangen. Darunter leiden aber klassische kleine Bioläden, da sie nicht die Marktmacht haben, um gegenüber den Big Playern konkurrenzfähig zu bleiben. Ja, es gibt innovative neue Player auf dem Markt. Oftmals werden sie aber schnell von großen Akteuren geschluckt. Ein Beispiel ist die Gläserne Molkerei in Brandenburg, die von Emmi aus der Schweiz aufgekauft wurde.

Die Folge: Die früheren Ziele von Bio verblassen, da es zunehmend um Marketingversprechen geht und Greenwashing immer als Gefahr lauert. Jetzt drängen neue Label, die den Klimawandel (Planet-Score) oder die Lieferketten im Blick haben, auf den Markt. Das ist zu begrüßen. An der Entwicklung dürfte das aber wenig verändern. Die Kleinen der Branche stehen vor der Herausforderung, sich neu erfinden zu müssen.

Die Zahlen der letzten Jahre sehen auf den ersten Blick beeindruckend aus. Der Bio-Umsatz liegt im Jahr 2022 bei 15,3 Milliarden Euro und somit 25 Prozent über dem Vor-Corona-Jahr 2019. Jeder siebte Hof wirtschaftet 2022 ökologisch. Mit einem Plus von 3,5 Prozent gibt es nun 36.548 Bio-Höfe in Deutschland. Die Bio-Flächen steigen um 3,7 Prozent auf 1.869.227 Hektar (1). Das ist eine Erfolgsgeschichte, die es auch zu würdigen gilt - allerdings nur als eine Zwischenetappe.

Das letzte Jahr bescherte den bislang kontinuierlichen Wachstumszahlen einen herben Dämpfer. Zu Corona-Zeiten boomten Bio-Lebensmittel, gerade Online-Anbieter konnten zulegen. Das letzte Jahr mit der Energiekrise, Krieg und steigenden Inflationszahlen schüttelte die Branche durch. Sie schrumpfte um 3,5 Prozent. Wie dünn die Decke ist, beweist die Insolvenz der Ladenkette Basic im Dezember 2022, die sich unter ein Schutzschirmverfahren gestellt hat.

Ohne Frage, Bio-Anbau ist teurer - weil er Umweltschäden vermeidet. Die konventionelle Landwirtschaft bürdet beispielsweise Trinkwasserschäden einfach dem Steuerzahler auf. In einem Wettbewerb mit so unterschiedlich langen Spießen kann Bio nicht gewinnen. Zudem verhindert Bio alleine nicht das Artensterben. Der Feldhamster kommt nicht zurück, nur weil wir Bio auf dem Teller haben. Da gilt es noch an ganz anderen Rädern zu drehen.

Was ist in der Praxis zu tun? Die Koalitionsvereinbarung der Ampel hat sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Es gilt bis 2030 30 Prozent Öko-Landbau zu erreichen. Cem Özdemir als Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft hofft auf einen Bio-Boom durch uns als Konsumenten. Rhetorisch ist er richtig unterwegs. Nur, das wird nicht reichen. Die Politik muss andere Rahmenbedingen setzen und nicht immer die Verantwortung auf Einzelne delegieren. Erstens gilt es, die Umstiegs-Prämien für Bäuer*innen zu erhöhen. Bauern sind an Bord zu holen, ohne sie geht es nicht. Zweitens sollte die Mehrwertsteuer für Fair und Bio runter. Die Kostenwahrheit der konventionellen Landwirtschaft muss auf den Tisch. Im Hintergrund hat sich die EU-Landwirtschaft noch immer nicht von ihrer alten Parole "Wachsen oder Weichen" verabschiedet. Diese sollte aber endlich auf den Müllhaufen der Geschichte. Allerdings ist die Lobby, die genau dies verhindert, sehr mächtig.

Anmerkung:
(1) Zahlen aus der Presserklärung von BÖLW (Bund Ökologische Landwirtschaft) auf der BIOFACH.

© Georg Lutz, April 2023.

Georg Lutz ist Politologe und Journalist und hat sich in den letzten 20 Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen mit der Bio-Branche beschäftigt.


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2023/04/16


Alfons Mucha, 1860 - 1939
Frühling, 1896


mucha
Öl auf Holz. Quelle: Wikimedia Commons.


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2023/04/14


Dagmar Sinn
Alles wird gut


Fehlt mir der Mut -
alles wird gut.
Spüre ich Wut -
alles wird gut.

Ach, nur drei Worte
der freundlichen Sorte,
lächelnd gesagt,
nicht hinterfragt,
schnell will man gehen,
auf Wiedersehn!

Und frag ich m i c h -
n i c h t s ändert sich!
I c h bin die Veränderung:
mutig, wütend, auf dem Sprung.
Will ab heut' nach vorne sehn,
achtsam meine Wege gehen.
Wird alles gut?


© Dagmar Sinn, April 2023.


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2023/04/13


Die Vulkaninsel Corvo der Azoren/Portugal


corvo


Vulkaninsel Corvo.
"Es war ein Tagesausflug, und wir sind abgestiegen und zu dem Kratersee gewandert. Im Inneren grasen schon mal Kühe und Pferde. Die graublauen Streifen im Foto sind Hortensienhecken."
Foto von © Dagmar Sinn, August 2017.


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2023/04/10


Wolfgang Weber
Der Schaschlik


Den Spieß umdrehen, also den Döner.

Ist ganz schön teuer geworden, wie so manches. Natürlich gibt es wie immer viele mögliche Ausreden, warum.

Materialkosten, Personal, Angebot und Nachfrage.

Die Inflationsrate betrage nur zehn Prozent. Allerdings ist einiges deutlich teurer geworden als nur zehn Prozent. Etwas, das billiger geworden ist, muss man sehr sehr lange suchen.

Ja, es gibt Artikel; die vorübergehend, für ein paar wenige Tage etwas günstiger zu bekommen sind, groß in der Werbung herausgestellt.

Nach Ablauf des Zeitraums werden solche Artikel aus der Werbung wieder so teuer, wie sie zuvor waren.

In der Werbung, aus der Werbung.

Wie drehe ich den Spieß um, ja wie drehe ich ihn um? Sagt es mir.

Wo ich Preise zu unverschämt finde, da drehe ich ihn um, so wie ich sonst den Schlüssel umdrehe.

Ganz schnell bin ich wieder fort und lasse den Artikel stehen oder liegen.

An manchen Imbissen gibt es Schlangen von mehr oder weniger geduldigen Leuten, die darauf warten, dass sich der Spieß mit dem Döner für sie dreht.

Ob die Länge der Schlange im Einklang mit der Güte des Gebotenen steht, liegt im Auge, im Munde des Betrachters. Die Schlange hat's im Reiseführer, in der Zeitung, im Internet gelesen, wie toll oder gar kultig die Speisen hier oder dort wären.

Na ich weiß nicht, ich warte ungerne so lange auf Döner, Currywurst und Co., mal abgesehen von der Preisgestaltung.

Ich dreh' den Spieß um und esse woanders etwas ganz anderes, and now for something completely different.

Currywurst mit / ohne Darm, ewiges Streitthema unter Spezialisten. Ich wagte mal in einem Internetforum zu sagen, Currywurst muss man nicht unbedingt gegessen haben.

Oha wie viele da den Spieß umdrehten und mich einem heftigem Shitstorm aussetzten.

Mutter oder Sohn Konnopke oder Ziervogel oder Ruhrpott oder Hamburg hätten die Currywurst erfunden oder zu neuen Höhenflügen geführt.

Ich dreh' den Spieß ein weiteres Mal um. Nutzloses Wissen, das die Welt oder wenigstens ich nicht brauche: Ideologische Grabenkämpfe unter der Hochbahn.

Ich glaube, es gibt auch vegane und vegetarische Currywurst, also Fleisch ohne Fleisch. Das übersteigt meine Vorstellungskraft.

Aber in Leberkäse muss ja weder Leber noch Käse enthalten sein.

Ganz schön spießig, immer nur den Spieß umzudrehen. Ach ja, es gab mal eine Zeit, da habe ich mir am Imbiss gerne einen Fleischspieß geholt, das muss im vorigen Jahrtausend gewesen sein.


© Wolfgang Weber, April 2023.
Textetisch 11.01.2023, Thema: den Spieß umdrehen.


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2023/04/06


Tagebuch 1973, Teil 65: Kandy/Sri Lanka

von Dr. Christian G. Pätzold


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Die Teeplantagenarbeiter und ihre Häuser in Kandy.
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, 10. 12. 1973.


8. Dezember 1973, Colombo - Kandy, Sonnabend

Morgens sind wir mit dem Bus die 114 Kilometer in die alte Königsstadt Kandy in der Mitte von Sri Lanka gefahren. Für die Busse gab es eine lange Schlange. Angeblich waren schon 150 Busse aus dem Verkehr genommen, da ihre Reifen kaputt waren und es keine Ersatzreifen gab. Kandy liegt malerisch umgeben von bewaldeten Hügeln. In Kandy haben wir ein Doppelzimmer für 20 Rupees gefunden. Danach haben wir den schönen See von Kandy angeschaut.

Wir haben Minnette de Silva (1918-1998) besucht und hatten ein Gespräch mit ihr. Minnette de Silva war eine Freundin von Kumari Jayawardena, eine bekannte Architektin und Pionierin der tropischen Moderne in Sri Lanka. Leider hatte ich kaum Ahnung von Architekturgeschichte, so dass ich nichts Sinnvolles mit ihr besprechen konnte. Ihr Vater George E. de Silva war ein berühmter Rechtsanwalt und Politiker sowie eine Stadtgröße in Kandy mit einem eigenen Denkmal.

Anschließend haben wir den berühmten Zahntempel (Sri Dalada Maligawa) in Kandy besucht, in dem ein Zahn Buddhas aufbewahrt werden soll, genauer gesagt ein oberer linker Eckzahn Buddhas. Als Buddha 483 vuZ. eingeäschert wurde, soll der Zahn aus der Asche gerettet worden sein. Dieser Zahn wurde immer in der Residenzstadt der singhalesischen Könige aufbewahrt. Der Zahn hat eine große Anziehungskraft für die Buddhisten Sri Lankas und für Buddhisten weltweit und daher ist Kandy eine wichtige Pilgerstätte des Buddhismus. Durch die Zahlungskraft der Besucher ist die Stadt relativ wohlhabend. Jedes Jahr im August findet eine große Prozession (Esala Perahera) in Kandy statt, bei der die Reliquie auf einem Elefanten durch die Stadt getragen wird.

Den Zahn bekommt allerdings kaum jemand zu sehen, da er in einem vergoldeten Reliquienbehälter aufbewahrt wird. Buddhas Zahn ist schon eine tolle Reliquie. Wer hat schon einen Zahn von Buddha? Ich zweifelte allerdings daran, dass es wirklich ein Zahn von Buddha war. Schließlich fallen den Leuten reihenweise die Zähne aus. Es könnte also auch ein Zahn von irgendeinem Mister XY sein. Aber für die Gläubigen spielten solche Überlegungen natürlich keine Rolle.

Reliquien gibt es nicht nur im Buddhismus. Auch im Katholizismus gibt es ja viele berühmte Reliquien, wie etwa den Dreikönigenschrein mit den angeblichen Gebeinen der heiligen drei Könige im Kölner Dom, oder den Heiligen Rock, das ist angeblich die Tunika, die Jesus Christus bei der Kreuzigung getragen haben soll, und die im Trierer Dom aufbewahrt wird. Auch im Islam gibt es Reliquien. So beherbergt bspw. der Hazratbal-Schrein in Srinagar/Kaschmir eine Reliquie, bei der es sich um ein Haar aus dem Bart des Propheten Mohammed handeln soll.

Es gibt Reliquien 1. Ranges und Reliquien 2. Ranges. Reliquien 1. Ranges sind Körperteile von Heiligen, wie Knochen, Haare, Zähne, Herzen, Blut etc. Reliquien 2. Ranges sind Berührungsreliquien, die von Heiligen berührt wurden, wie bspw. Kleidungsstücke.


9. Dezember 1973, Kandy, Sonntag

Heute war Vollmond, für die Buddhisten ein besonderer Tag. Wir haben eine kleine buddhistische Prozession gesehen. Dann haben wir den wundervollen tropischen Botanischen Garten von Kandy besucht, mit riesigen Bäumen und zahlreichen Orchideenarten und Züchtungen. Eine Orchideensorte hieß "Madame Kiesinger", benannt anlässlich des Besuchs des deutschen Kanzlers Kiesinger.

Der Botanische Garten von Kandy liegt an einem Fluss, in dem gerade eine Gruppe zahmer Elefanten badete. Elefanten lieben das Baden, so dass ich davon ausging, dass sie gute Laune hatten. Das war natürlich schon eine Attraktion, so nah auf Armlänge bei den Elefanten zu sein. Die Elefantenbetreuer boten uns an, dass wir mal auf einem Elefanten sitzen könnten. Und so kam es, dass ich zum ersten Mal und zum letzten Mal in meinem Leben auf einem erwachsenen Elefanten saß. Elefanten sind große Tiere. Es war erstaunlich zu erleben, wie weit abgehoben vom Erdboden man auf dem Rücken eines Elefanten ist. Den Elefantenhütern haben wir 5 Rupees für die Elefanten gegeben. So ein großer Elefant braucht ja eine riesige Menge an Futter jeden Tag. Die Zahl der zahmen und wilden Elefanten in Sri Lanka wird auf 3.000 geschätzt.

Vorgestern hatte ich nachts mit Mücken zu kämpfen. Jetzt sind aus den Mücken echte Elefanten geworden, aber friedliche.

Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich Elefanten schon seit meiner Kindheit kannte. Damals in den 1950er Jahren durften die Elefanten im Berliner Zoo noch von den Besuchern gefüttert werden. Ich hatte Äpfel dabei und die Elefanten haben die Äpfel mit der Spitze ihrer langen Rüssel gegriffen und genüsslich in ihr Maul gesteckt.

Nach dem Besuch im Botanischen Garten haben wir verschiedene tropische Früchte und Gemüse ausprobiert. Eine Ananas kostete 1,25 bis 2 Rupees, eine Mango 20 bis 50 Cents. Holzapfelsaft und Passionsfruchtsaft haben mir sehr köstlich geschmeckt. Jackfruit und Breadfruit waren hier häufig als Gemüse und Obst gegessene Früchte.


10. Dezember 1973, Kandy, Montag

In der Nähe von Kandy konnten wir in der hügeligen Landschaft die Hatane Tea Estate besichtigen, die Teesträucher, die Trocknungsanlage für die Teeblätter, sowie die Häuser der Teearbeiter. Alles machte einen aufgeräumten und gut organisierten Eindruck. Der Export von Tee in alle Welt war ein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor für Sri Lanka. Auf der Teeplantage wurden die Teeblätter mit englischen und ceylonesischen Maschinen getrocknet und zerkleinert. Die Plantage hatte eine Fläche von 1 Quadratmeile. 40 Arbeiter arbeiteten in der Fabrik, und es gab 800 Pflücker:innen und Säuberer für die Felder. Alle Arbeiter:innen bekamen für 8 Stunden Arbeit 4,20 bis 4,80 Rupees (entsprach etwa 1 DM). Als wöchentliche Reisration bekamen sie noch 2 Pound, außerdem 1,5 Pound Mehl. (1 Pound Reis kostete auf dem Markt 5 Rupees). Neben den Arbeiter:innen lebten noch etwa genau so viele andere Menschen auf der Estate, teilweise arbeitsfähige Jugendliche, die aber arbeitslos waren. Auf der Estate gab es keinen Einkaufsladen, auch keine Möglichkeit des privaten Gemüseanbaus etc, da überall Tee gepflanzt war. Die Arbeiter:innen waren alle Tamilen und völlig landlos. Die Fabrik und die Estate waren im britischen Eigentum, neuerdings mit singhalesischen Anteilen. In den Reihenhäusern lebte eine Familie in einem Raum. Ein Mann sagte uns, dass viele unterernährt seien und oft nur 1 Tasse Tee (schwarz) am Tag hätten. Im Gästebuch für die ausländischen Besucher standen keine kritischen Bemerkungen über die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen.

Wir sind im überfüllten Zug nach Colombo zurückgefahren.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2023.


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Teeplantagenlandschaft bei Kandy/Sri Lanka.
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, 10. 12. 1973.


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2023/04/02


Tagebuch 1973, Teil 64: Colombo II

von Dr. Christian G. Pätzold


5. Dezember 1973, Colombo, Mittwoch

Vormittags waren wir im Parlament von Sri Lanka, wo ein Deputy Minister die Bildungspolitik der Regierung verteidigt hat. Im Parlament war nicht viel los, nur 5 Abgeordnete waren anwesend. Außerdem sprach der Minister in Sinhala, so dass wir nichts verstanden haben.


6. Dezember 1973, Colombo, Donnerstag

In Colombo gab es Rationierungen von Lebensmitteln. Die Menschenschlangen vor den Geschäften waren sehr lang. Um 3 Uhr morgens mussten sich die Leute nach Reis und Brot anstellen, um noch etwas zu bekommen. Gestern soll jemand in der Schlange tot umgefallen sein. Anscheinend gab es eine ernste Knappheit von Nahrungsmitteln.

Nachmittags haben wir Frau Kumari Jayawardena zu einem Gespräch besucht, deren Kontaktadresse wir hatten. Sie hatte an der London School of Economics und in Paris an der Sciences Po studiert, promovierte 1964 an der LSE. Jetzt unterrichtete sie Politik an der Colombo University. Ihr Mann war im Planungsministerium tätig. Ihr Haus war sehr groß, sie hatten mehrere Hausangestellte. Anscheinend war es in Sri Lanka für wohlhabende Haushalte mit regelmäßigem Einkommen üblich, dass sie Hausangestellte hatten, bspw. für die Küche, fürs Auto oder für das Schlangestehen. Das Haus war auch sehr imponierend eingerichtet mit Holzmöbeln. Frau Jayawardena war sehr freundlich und hat uns angeboten, bei ihr zu wohnen. Das haben wir gern angenommen. (Frau Kumari Jayawardena, geboren 1931, wurde später eine führende international bekannte Feministin und schrieb des Buch »Feminism and Nationalism in the Third World«, 1986).


7. Dezember 1973, Colombo, Freitag

Im Haus von Frau Jayawardena haben wir ihre Mutter getroffen, die Engländerin war. Sie hat sich darüber beschwert, dass die Regierung die Teeplantagen verstaatlichen wollte. Darin sah sie ihren sicheren Ruin und den Verlust des englischen Marktes. Sie gab aber zu, dass die Regierung nur die schlechteren Teeplantagen verstaatlichen wollte. Die Mutter hatte etwas dagegen, dass Slumkinder ins Haus kamen und mit den Enkelkindern spielten. Es gab anscheinend in Colombo einen ausgeprägten Gegensatz zwischen Upper Class und Lower Class. Dazu fällt einem vielleicht ein deutscher Song von damals ein: "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, Sing nicht ihre Lieder" (1965) von Franz Josef Degenhardt.

Ich habe meine Wäsche gewaschen. Nachts konnte ich wegen der nervenden Mücken kaum schlafen. Ich war ja in den Tropen. Hier gab es auch im Dezember Stechmücken. Während meiner gesamten Reise durch die Tropen habe ich nie ein Moskitonetz verwendet. Zum Glück habe ich mir keine Malaria eingefangen. Vielleicht auch, weil ich Tabletten zur Malariaprophylaxe genommen habe.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2023.


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2023/03/31


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2023/03/30


Egon Erwin Kisch zum 75. Todestag
Prag 29. April 1885 - Prag 31. März 1948


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Egon Erwin Kisch in Melbourne, 1934.
Quelle: Wikimedia Commons.


Dieser Ort von Charlottenburg um die Gedächtniskirche war um 1900 von der Bohème geprägt. Hier wohnte und lebte der künstlerische Berliner Größenwahn. Im Café Größenwahn waren Kabarettisten, Schauspieler, Maler, Dichter und Literaten zu Gast, auch Dichterinnen und Literatinnen, die glaubten, ganz Außerordentliches zu leisten. Dort traf man auch den jungen Erich Mühsam, der später in seinen »Unpolitischen Erinnerungen« darüber schrieb:

»Ich erinnere mich eines Abends im alten »Café des Westens« am Künstlertisch, der vollbesetzt war. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Musiker mit und ohne Namen saßen beisammen; da warf Ernst von Wolzogen die Frage auf, wer von uns konfliktlos und in Eintracht mit seinen Angehörigen zu seiner Lebensführung als Künstler gekommen sei. Es stellte sich heraus, daß wir allesamt, ohne eine einzige Ausnahme, Apostaten unserer Herkunft, mißratene Söhne waren.«

»Von irgendwoher mal wieder für ein paar Monate nach Berlin zurückgekehrt, fand ich das »Café des Westens« baulich verändert, modernisiert und seiner früheren Gemütlichkeit einigermaßen beraubt vor. Der alte Künstlerstammtisch beim Eingang war in eine andere Nische gestellt, und seine ständigen Besucher erschienen nur noch sporadisch oder hatten sich verkrümelt. Dafür waren die marmornen Tischplatten, auf denen Ottomar Begas Wirt und Gäste in Pastell festgehalten hatte, unter Glas gesetzt worden, und ein Ölbild von Edmund Edel, auf dem Rossius-Rhyn, Hans Heinz Ewers, ich und ein junges Mädchen meiner Freundschaft an vergangenen Glanz erinnern sollten, prangte an der Wand. Über der Telephonzelle aber verschönte die Gipsbüste Wilhelms II. das verjüngte Lokal und gab zu vielen, dazumal nicht ganz ungefährlichen Witzen Anlaß. Auch die Gesellschaft hatte sich gewandelt. Man saß nicht mehr im Kreise arrivierter Kulturträger, sondern zwischen zigeunernden Skeptikern und schönheitsdurstigen Lebensstilisten, selbst nicht mehr einer der Allerjüngsten und, in der zweiten Hälfte der Zwanziger, von manchen schon als überholt belächelt. Große Mode war der Ästhetizismus, die Müdigkeit, der Absinth, das Morphium, die Blasiertheit und in Liebesdingen jedwede Anomalie.«

Auch Egon Erwin Kisch war schon vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin. In seinem Artikel »Die Gerächte Bohème« von 1922 blickt er auf die aus dem Café Größenwahn vertriebenen Literaten zurück:

»Deshalb entschloß sich Herr Pauly, die Künstler hinauszuschmeißen, die alten bemalten Marmorplatten zu verkaufen, die in allen Ehren verräucherten Wände mit geblümten Tapeten zu beziehen und überhaupt recht fein zu sein mit sehr viel Goldüberzug und Samt und Kitsch und mit einer Musikkapelle im Frack und mit hohen Preisen. Das war gar nicht schön von ihm, denn an der armen Bohème hatte er ja all sein Geld verdient und konnte auch weiterhin viel Geld verdienen. Doch nicht genug damit, daß er sie heimatlos machte, er lachte sie obendrein auf ganz geschmacklose Weise aus. Als er sein neues, geschniegeltes und gebügeltes Lokal eröffnete, ließ er überall ein Doppelplakat anschlagen: Auf der einen Seite war eine Gruppe hagerer langhaariger Künstler karikiert, und darunter stand: »Diese da sind traurig«. Auf der anderen Seite waren Lebemänner mit Monokel und Weltdamen mit hohen Absätzen in idealisierter Pose dargestellt, und darunter stand: »Diese frohlocken«.«

Das Ende der Geschichte war, dass nicht nur die Bohemiens und Bohemiennes vertrieben waren, sondern auch die Schickeria ausblieb. Die Rechnung des Gastwirts war nicht aufgegangen.

Dr. Christian G. Pätzold.


Jürgen Tomm vom Berliner Buchhändlerkeller schreibt über Kisch:

»"Der rasende Reporter", "Hetzjagd durch die Zeit", "Marktplatz der Sensationen" - mit Titeln wie diesen für seine Reportagenbände erwies sich Egon Erwin Kisch als glänzender Selbstvermarkter.
Dabei sind alle diese Texte langsam und sorgfältig gearbeitet und begründeten eine in Deutschland neue Form: die literarische Reportage. Ausdrücklich zeichnet der 1977 geschaffene Egon-Erwin-Kisch-Preis (ab 2005 Henri-Nannen-Preis) die besten Reportagen als literarische Kunstform aus.
Natürlich war der 1885 im gehobenen deutsch-jüdischen Bürgertum von Prag geborene Kisch von Jugend an umtriebig bis zum Exzess und hatte früh einen Sensationserfolg, als er die Vertuschung der Spionageaffäre um Oberst Redl im 1. Weltkrieg durch das österreichische Militär verhinderte.
Im November 1918 wurde er als Kommandeur der "Roten Garden" in Wien zum Revoluzzer - und blieb, auch als er durch die Ausweisung aus Deutschland 1933 längst zum unfreiwillig-freiwilligen Weltbürger geworden war, der Utopie des Kommunismus treu - vom Spanischen Bürgerkrieg über alle Erdteile hinweg und die Zeit des Exils in Mexiko bis zu seinen letzten Jahren wieder in Prag, wo er im März 1948 starb - vor 75 Jahren.«


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2023/03/27


Der Bohemien Erich Mühsam
Berlin 6. April 1878 - KZ Oranienburg 10. Juli 1934


muehsam
Licht-Luft-Baden in der Natur.
Erich Mühsam (rechts) und Raphael Friedeberg am Wasserfall
bei der alten Mühle, Monte Verità, 1904.
Quelle: Wikimedia Commons.


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2023/03/23


dr. christian g. pätzold
zur psychologie der bohème


hi liebe bohemiens und bohemiennes
meine vorfahren stammen aus böhmen
also muss ich ein textender bohemien sein
ja böhmen ist ein schönes land
wo die marillen so gut wachsen
und knödel und schweinebraten in den wirtshäusern dampfen
wo jan nepomuk neruda dichtete
und der brave soldat schwejk in den weltkrieg geriet
das ist mir zum glück bisher nicht passiert

der bohemien interessiert sich für die wahrheit
für die schönheit und die gleichheit
für geld interessiert er sich nicht so sehr
der bohemien ist meist ein einzelgänger
ein luftmensch und ein unikat
ein besonderer menschentyp
der sich gern in rauchercafés aufhält
am liebsten im quartier latin in paris
oder am montmartre
am klavier klimperte erik satie

und man traf sich auch gern auf dem monte verità oder in schwabing
oder im café größenwahn in berlin
wo erich mühsam und freunde philosophierten

der bohemien ist kein dandy, kein decadent, kein gauner
kein gigolo und auch kein mafioso

er ist ein mehrdimensionaler mensch
ein künstler ein lebenskünstler
meist ein intellektueller der bücher schreibt
ein dichter oder eine dichterin
ein armer poet von carl spitzweg
der in seiner dachstube im bett liegt
mit seiner schreibfeder in der hand

der bohemien ist immer in der minderheit
er ist ein outsider in der mehrheitsgesellschaft
ein autonomer ein antiautoritärer
auch hippies und punks sind bohemiens
die ein freies und wildes leben führen wollen
frei von gesellschaftlichen zwängen.

© dr. christian g. pätzold. märz 2023.
(Nicht von Chat GPT oder KI geschrieben)


muehsam2
Mühsam-Karikatur von Hanns Bolz, 1911.


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2023/03/20


Heute ist endlich Frühjahrsanfang !
(Tag und Nacht Gleichheit)


fruehjahrsanfang
Kirschblüte. Foto von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/03/17


"Berlin ist die Resterampe der Republik" (Markus Söder, CSU)

Grüße aus der Mülltonne der Nation nach Oberammergau !


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2023/03/14


Das Heimchen


heimchen
Eine Mahlzeit Hausgrillen in Thailand.
Quelle: Wikimedia Commons.


Sollen wir demnächst unsere Hausgrillen zu Hause grillen? Die Europäische Union hat nach Mehlwürmern und Heuschrecken jetzt auch die Hausgrillen und die Larven des Getreideschimmelkäfers als Nahrungsmittel in der Lebensmittelindustrie zugelassen. Die Hausgrille (Acheta domesticus), auch Heimchen genannt, auf Englisch House cricket, ist eine Langfühlerschrecke aus der Familie der Echten Grillen, erfahren wir bei Wikipedia. In China und Japan werden die Hausgrillen auch als Haustiere gehalten wegen ihres Gesangs. Die Hausgrillen mögen die Nähe des Menschen, weil es dort warm ist und sie Nahrung finden.

Nahrungsmittelproduktion superregional, in deiner eigenen Wohnung. Keine Transportwege. Verwertung deiner Abfälle. Kein CO2-Fußabdruck. Keine inflationären Lebensmittelpreise im Supermarkt mehr. Eine hervorragende Protein-Quelle. So lauten die Lobpreisungen. Werden bei der Berliner Tafel demnächst nur noch Tüten mit Spinnen und Kakerlaken verteilt? In Thailand habe ich zwar schon mal geröstete Ameisen gegessen, aber danach nie wieder. Ich denke, dass ich lieber keine Heimchen essen möchte. Ich habe keine Lust darauf, alle Zutatenlisten im Supermarkt durchlesen zu müssen, um zu erfahren, ob Insektenmehl enthalten ist.

Sollen wir als nächstes die Guppys und Skalare aus unserem Aquarium essen? Und danach unsere Schildkröten Hanni und Nanni in einer Schildkrötensuppe schmoren? Kommt dann der Goldhamster dran? Wo soll das enden? Sollen wir etwa noch unsere geliebten Hauskatzen und unseren Haushund Wuffke im Ofen braten?

Mit Müh und Not haben wir das US-amerikanische Chlorhühnchen verhindert. Verlangt die EU demnächst von uns, dass wir die niedlichen Spatzen im Vorgarten schießen und im Ofenrohr braten sollen? Eigentlich dachte ich, die Brüsseler Bürokraten wären mit der Berechnung der rechtmäßigen Krümmung der Salatgurke ausreichend beschäftigt. Aber anscheinend nehmen jetzt die Hausgrillen und Schimmelkäfer in den Brüsseler Amtsstuben überhand.

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/03/12


Kaputter russischer Panzer vor der russischen Botschaft in Berlin,
Unter den Linden


panzer
Der Ukraine-Krieg zieht sich in die Länge mit vielen Toten.
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, 26. Februar 2023.


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2023/03/11


Erleuchtung im Hotel in Hurghada/Ägypten


hurghada
Foto von Anonyma, Januar 2023.


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2023/03/08


Cozido à portuguesa


cozido


Cozido à portuguesa - ein berühmtes portugiesisches Eintopfgericht.
Fotografiert im Restaurant Tony's - Cozido das Caldeiras, in Furnas/Povoação/São Miguel/
Azoren/Portugal.
Der Cozido wird dort in einem großen Topf studenlang in einem Erdloch gegart, das durch die heiße Vulkanerde heizt.
"Schmeckte ein bisschen nach Erde, naja, war ja auch im Erdloch gegart."
Foto von © Dagmar Sinn, August 2017.


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2023/03/05


Wolfgang Weber
Floß


auf dem Wasser, Gracht, Floß, Ponton, Flussschifffahrt, Ausflugsschiff, Kreis & Stern & Kreis, Barkasse, Fähre, Katamaran, Segelschiff / -boot, Dampfer, Kahn, Jolle, Gig, Paddelboot, Ruderboot, ferngesteuertes Modell, Schiffshebewerk, Fischtreppe, rosarotes Gummiboot, Schlauchboot, swimming pool, nix da, bloß nicht verzetteln

wir gleiten auf dem Wasser
wir gleiten
Wasserski
wir gleiten wir gleiten dahin
Katamaran

wir gleiten
Floß
wir gleiten wir gleiten
Segelboot
wir gleiten dahin
Schiffbruch mit Tiger
irgendwo auf dem Ozean
dahin geglitten
ganz ohne Schlitten
Proviant fürs Gleiten
vierzehn Schnitten
gegessen inmitten
der Plätze auf dem Floß
immer nur Ruhe bewahren

wir sind viele
haben Fantasie
Marie Chérie
unser Floß ist groß
fast wie ein Schlooß
Platz für
Marie Chérie & Jerrie

Willie & Billie
spielen Hillbillie
Mandoline neben der Turbine
Ukulele Lulu Eke
Bamboleo Ukulele
da kommt Joe mit dem Ban-Joe

alles auf'm Wasser
'ne Band auf'm Wasser
auf'm Floß
ganz ohne Moos

unter'm Floß wird's immer nasser
es hat geregnet wie noch nie
im Spreewald
nun ist die Spreewaldwelle in Berlin
unter'm Floß
dem Musikfloß
unter'm Floß
ganz viel Wasser

unter der nächsten Brücke
müssen alle die Köpfe einziehen
vielleicht noch mehr
soviel Weitsicht muss sein
ein Floß
setzt kein Moos an
ein Floß ist kein Wolkenkratzer
soviel Umsicht muss sein

gleiten auf dem Wasser
ja wir gleiten auf dem Wasser
Joe & Märie
auf dem Weg zur Prärie

Hans & Karl
auf dem Weg nach Marl
Chérie & Jerrie
Will & Bill
spielen Hillbill

die Band wurde engagiert
zum Gleiten auf dem Wasser
auf dem Floß
ist ordentlich was los
eine Band ohne Verstärker
man hört sie exclusiv nur auf dem Floß
& im Umkreis von drei Metern

die Band ist ganz famos
sie spielt unplugged
ganz leis ganz leicht
sie swingt immens
ich glaube so was heißt Western Swing
welch ein Ding mit'm Pfiff
es ist kein Schiff
nein das ist es nicht

famose Kapelle auf'm Floß
nu' geht's bald los
ganz ohne Moos
wie famos

'ne tolle Band an Bord
sie spielen in einem Fort
oh Lord
niemand geht über Bord

down by the riverside
bis zum Ziel ist es nicht mehr weit
nicht einer speit
keiner schreit
nicht mal Edvard Munch

gleiten auf dem Wasser
auf dem Floß
gleiten dahin
aus den Augen aus dem Sinn

nicht wahr
Joe, Marie Chérie
Jerrie, Jeremy
Anna & Hannah mit der Bandana
Karl & Hans
Sabin' & Christin
dazu der Franz
Willie & Billie

seid Ihr wieder dabei, wenn es heißt
gleiten auf dem Wasser
gleiten auf dem Floß
das wird wieder ganz famos
noch besser als Davos

was brauchen wir noch
ja einen Kloß
pro Person
für's Gleichgewicht

nächstes Mal haben wir einen
Singer Songwriter dabei, mit Slide Guitar, der gleitet nur so über die Saiten
damit wir nicht ins Wasser gleiten werden
hilft uns der Kloß

sei kein Trauerkloß
wir gleiten wieder dahin
auf dem Wasser
auf dem Floß
ganz famos
ja wir sind ganz bei Troos'


© Wolfgang Weber, März 2023.
Textbar 12.09.2022, Thema: auf dem Wasser.


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2023/03/02


Anastasia Samoylova: Floridas

Ausstellung im C/O Berlin
Hardenbergstraße 22, am Bahnhof Zoo, bis 4. Mai 2023


florida
© Anastasia Samoylova: Empty Lots, Mexico Beach, 2021.
Quelle: C/O Berlin.


Das C/O Berlin schreibt über die Ausstellung:

"Dort, wo Strände und Palmen das öffentliche Image prägen, wo sich pinke Flamingos vor bunten Häuserfronten tummeln und Alligatoren in Pools verirren, kratzt Anastasia Samoylova (*1984, UdSSR) an der schillernden Fassade eines amerikanischen Traums. In ihrem fotografischen Road Trip zeigt Samoylova den Sunshine State Florida als eine flirrende Fantasie und subtropische Dystopie, die durch ihre tiefe politische Spaltung ebenso gekennzeichnet ist wie durch die Auswirkungen der Klimakrise. Parallel zur großen Retrospektive des Pioniers der Farbfotografie, William Eggleston, präsentiert C/O Berlin Anastasia Samoylova . Floridas vom 28. Januar bis zum 4. Mai 2023 und widmet dem Projekt die erste institutionelle Einzelausstellung der Künstlerin in Deutschland."

"Anastasia Samoylova (b. 1984 in USSR) scratches the flamboyant surface of an American dream in a place where the public image is characterized by beaches and palm trees, where pink flamingos romp in front of colorful buildings and alligators find their way into pools. On her photographic road trip through Florida, Samoylova shows the Sunshine State as a shimmering fantasy and subtropical dystopia that is equally marked by its deep political divide and by the impact of the climate crisis. Shown concurrently with the major retrospective of the work of color photography pioneer William Eggleston, C/O Berlin will present Anastasia Samoylova . Floridas from January 28 to May 4, 2023 - the artist's first institutional solo exhibition in Germany."


Tickets für 3 Ausstellungen: 12/6 Euro.

Im Rahmen des European Month of Photography / EMOP Berlin.


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2023/02/28


vorschau03


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2023/02/25


Fahrradwege in Berlin


fahrradweg
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2023.


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2023/02/22


"Ich freue mich, wenn es regnet.
Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch."

Karl Valentin


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2023/02/19


Fenchelhonig


fenchelhonig
Etikett um 1910. Foto von Dagmar Sinn.


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2023/02/16


Dagmar Sinn
Engpässe


Sag mir, wo Arzneien sind,
wo sind sie geblieben?
Fiebersaft für krankes Kind
fehlt, wird nicht verschrieben.

Lieferketten sind gestört -
ganz umsonst man sich empört.
Auch die Antibiotika
sind zur Zeit nur selten da.
Und so manchem Krebspatient
hilft kein teures Med´kament.

Politik, gar keine Frage
ist schon wieder Herr der Lage:
Billigpreise aufgehoben,
ist die Lösung ganz von oben.
Produktion im Euro-Land,
China wird komplett verbannt.

Und die Ärzte, sieh mal an,
haben den patenten Plan:
frag den Nachbarn nach Arznei,
oft ist was für dich dabei.
Manchmal ist sie angebrochen,
freudig wird daran gerochen,
alles ist nun einerlei,
mit Verlaub, wir sind so frei.

Hilft auch d i e Methode nicht,
ist Wirkstoff-Trödelmarkt in Sicht!
Dort ist, wo Arznei ich find,
für den Opa, für das Kind.

Und wenn das dann Schule macht -
Gesundheitswesen, gute Nacht!


© Dagmar Sinn, Februar 2023.


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2023/02/13


krankenversichert ?


Ich würde gern wissen, warum ich in Deutschland für alle Medikamente viel Geld zahlen muss, obwohl ich krankenversichert bin? Und warum ich für ganz normale 08/15-Tabletten mehr bezahlen muss, als sie eigentlich wert sind?

Und warum gibt es wichtige Medikamente nicht mehr, weil sie nicht mehr in Deutschland oder in Europa hergestellt werden, sondern in China oder Indien? Warum sorgt der deutsche Staat nicht für die Daseinsvorsorge für die Bevölkerung und stellt die Medikamente selber her? Weil er kapitalistisch verblendet ist und denkt, dass der Markt alles automatisch regelt? Es gibt nicht mal genug Hustensaft für Kinder im Winter 2022/2023. Ein Staat der Personalausweise herstellen kann, wird ja wohl auch Hustensaft herstellen können. Sogar die FDP in der Bundesregierung hat große Unternehmen verstaatlicht, bspw. Uniper mit 11.000 Mitarbeitern.

Deutschland ist angeblich die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und kann nicht mal Hustensaft für Kinder herstellen? Aber die Panzerproduktion läuft prächtig, dafür gibt es ja den Wums von 100 Milliarden Euro. Muss man die Regierung loben, dass sie so schöne Wörter wie Wums erfindet?

Und warum gibt es nicht genügend Krankenwagen und Rettungswagen in Berlin, während die Vorstände der Krankenkassen irre Gehälter von Hunderttausenden Euro im Jahr kassieren? Selbstbedienungsmentalität? Viele Krankenhäuser stehen heute kurz vor der Pleite oder behandeln Kranke nur noch nach ökonomischen Gesichtspunkten.

Und warum müssen die Reichen gar nichts zur gesetzlichen Krankenversicherung einzahlen, während die Armen kaputtgespart werden?

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/02/10


Bertolt Brecht zum 125. Geburtstag
Augsburg 10. Februar 1898 - Ost-Berlin 14. August 1956


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»Wenn die Haifische Menschen wären«, fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, »wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?« »Sicher«, sagte er. »Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, dass die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre Maßnahmen treffen. Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden zum Beispiel Geographie brauchen, damit sie die großen Haifische, die faul irgendwo liegen, finden könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, dass es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert, und dass sie alle an die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, dass diese Zukunft nur gesichert ist, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müssten sich die Fischlein hüten und es sofort den Haifischen melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete. Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, dass zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen. Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in einer anderen Sprache schweigende Fischlein, tötete, würden sie einen kleinen Orden aus Seetang anheften und den Titel Held verleihen. Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln lässt, dargestellt wären. Die Theater auf dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Haifischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, dass die Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch, und in allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten. Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würde lehren, dass die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben begännen. Übrigens würde es auch aufhören, wenn die Haifische Menschen wären, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig größeren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die größeren, Posten habenden Fischlein würden für die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im Kastenbau usw. werden. Kurz, es gäbe überhaupt erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären.«

Aus: Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner.


Feierstunde

Am 10. Februar 2023 ist der 125. Geburtstag von Bertolt Brecht

Anlässlich des Jubiläums würdigt das Literaturforum im Brecht-Haus Bertolt Brecht mit einer Feierstunde auf dem Hof des Brecht-Hauses in Berlin Mitte, Chausseestraße 125.
In Kooperation mit dem Brecht-Weigel-Museum und dem Bertolt-Brecht-Archiv (beides Einrichtungen der Akademie der Künste).

Programm

12:30 Uhr
Blumen, Musik und Gedichte, am Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof

13:00 Uhr
Feierstunde auf dem Hof des Brecht-Hauses, mit warmen Speisen und Getränken
Eröffnung Erdmut Wizisla (Archiv), Stefanie Thomas (Museum) und Christian Hippe (Literaturforum)
Grußwort Klaus Lederer, Senator für Kultur und Europa in Berlin
Literarische Gratulation Annett Gröschner
Musikalische Rahmung Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot

ab 13:00 Uhr
bietet das Brecht-Weigel-Museum Extra-Führungen im Museum und auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an

ab 14:00 Uhr
öffnet das Brecht-Archiv seine Türen und zeigt Dokumente zur »Kriegsfibel«.


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2023/02/06


Wolfgang Weber
WW - Wolfgangs Wurzeln


Bäume haben Wurzeln, sie sind tief im Boden verwurzelt, die Wurzeln halten sie am Leben, sie geben den Bäumen Halt und Energie.

Auch Menschen sind oft verwurzelt, dort wo sie herkommen, dort wo sie leben. Wo hat jemand seine Wurzeln, auf den dies zutrifft:

Geboren im Burgenlandkreis, der viel größer ist als die Kreise zu DDR-Zeiten, die so klein waren, um die Bürger der Republik unter Kontrolle zu halten. Der Kreis gehört wieder zu Sachsen-Anhalt.

Als Kleinkind mit den Eltern in den Westen, zunächst in das stark unterkühlte Kiel, Landeshauptstadt, dann in den Kreis Herzogtum Lauenburg, gelegen zwischen den beiden Hansestädten Hamburg und Lübeck (wie auch der benachbarte Kreis Stormarn), jedoch näher an der damaligen Zonengrenze.

Zurückhaltung, Understatement ist in Norddeutschland die Parole. Nach einer Weile hatten wir einige verlässliche Freunde und Bekannte gewonnen.

Ebenfalls in Norddeutschland, wieder etwas anders, liegt Braunschweig. Dieser Stadt und dem benachbarten Hannover wird nachgesagt, dass dort ein besonders reines Hochdeutsch gesprochen werde. Ein schönes Beispiel dafür: "Aaan Aaas zaaa draaaßig = Ein Eis zu dreißig". Ja, so waren die Preise damals für eine Kugel Eis.

Ich hatte zunächst ein Studentenzimmer bei einer Witwe. Der Ort lag genau zwischen dem großen und dem kleinen Haus des Theaters. Mein Onkel, Lehrer für Deutsch und Geschichte, fand diese Beschreibung amüsant. Eines Tages äußerte ich, dass Zigarrenrauch nicht mein Ding sei. Da sagte die Vermieterin, nein, das ginge ihr anders. Ihr Mann war leidenschaftlicher Zigarrenraucher und sie mochte weder Zigarren- noch Pfeifenrauch.

Sie starb eines Sommers und ich musste mir ein neues Zimmer suchen. Auch der Name der neuen Vermieterin begann mit Z. Das Zimmer im Dachgeschoss war im Sommer heiß, im Winter kalt.

Schließlich Berlin, kurz Steglitz, sehr lange Wedding. Ich wohne schon so lange in Berlin, ich muss ein Berliner sein.

Ja, wo hat so ein Mensch seine Wurzeln, sagt es mir.

"Home is where I hang my hat". Ich bin dort zuhause, wo ich meinen Hut hinhänge, vielleicht auf einen Baum mit hoher Krone, vielleicht an die Garderobe.


© Wolfgang Weber, Februar 2023.
Textbar 08. 10. 2022, Thema Wurzeln


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2023/02/02


Black History Month in Berlin

von Dr. Christian G. Pätzold


bhm1
Aufruf zur Schutztruppe in Südwestafrika.
Quelle: Wikimedia Commons.


Der Black History Month (BHM) oder der Monat der Geschichte und Kultur der Afrikaner:innen entstand zuerst in den USA in den 1920er Jahren und findet traditionell im Februar statt. Damals wurde die Geschichte der Afro-Amerikaner von der Mehrheitsgesellschaft in den USA verdrängt und ignoriert. Von der Geschichte des Sklavenhandels und der Sklavenarbeit der Afrikaner:innen auf den Plantagen der Süd-Staaten wollte man nichts mehr hören. Um dieser Verdrängung entgegen zu wirken, entstand der Black History Month, der inzwischen auch in anderen Teilen der Welt stattfindet, auch in Berlin.

Aber was hat afrikanische Geschichte mit Berlin zu tun? Tatsächlich gibt es auch in Berlin viel afro-deutsche Geschichte, die aber nicht allen Berliner:innen so bewusst ist. Ein Beispiel ist die Mohrenstraße in Berlin Mitte in der Nähe des Brandenburger Tors. Dort wohnten im 18. Jahrhundert die "Mohren", so wurden die Afrikaner damals genannt. Im Feudalismus war es Mode, einen Mohren als Hausdiener zu haben, denn die waren exotisch und selten. Wenn man einen Mohren hatte, war das ein Luxus und ein Statussymbol. Es war die Zeit der Kuriositätenkabinette. Heute ist die Mohrenstraße einigen Leuten peinlich und die Straße sollte eigentlich schon längst umbenannt werden. Der U-Bahnhof dort sollte in Glinkastraße umbenannt werden, aber es ist nichts passiert. (Seht bitte auch den Artikel "Kein Mohr namens Glinka" vom 2020/10/14 auf kuhlewampe.net).

Anfang Dezember 2022 sind die Lüderitzstraße und der Nachtigalplatz im Afrikanischen Viertel vom Wedding, die an deutsche Kolonisatoren erinnerten, umbenannt worden. Die Lüderitzstraße wurde in Cornelius-Fredericks-Straße umbenannt: Cornelius Fredericks war ein Anführer des militärischen Widerstands gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia. Der Nachtigalplatz wurde in Manga-Bell-Platz umbenannt: Rudolf Duala Manga Bell wurde 1914 als Anführer des Widerstands gegen die deutsche Kolonialmacht in Kamerun hingerichtet. Und diese Umbenennungen sollen erst der Anfang sein. Auch in Berlin Dahlem gibt es noch Straßennamen mit Bezug zur deutschen Kolonialherrschaft.

Ein anderes Kapitel sind die berühmten Benin-Bronzen. (Seht dazu bitte den 2021/07/15 auf kuhlewampe.net) Sie betreffen die kulturelle Ausbeutung Afrikas. Mehrere Tausende wertvolle Bronzen wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts von englischen Kolonialtruppen aus dem Königspalast in Benin geraubt und anschließend auf dem Kunstmarkt meistbietend verkauft. So kamen auch einige hundert Benin-Bronzen in den Besitz deutscher Museen. In jüngster Zeit hat man sich geschämt und ein paar Bronzen an Nigeria zurückgegeben. Aber der Großteil der Berliner Benin-Bronzen befindet sich immer noch im Besitz des Berliner Ethnologischen Museums und wird im Kaiserschloss in Berlin Mitte präsentiert, offensichtlich eine Verhöhnung aller Afrikaner:innen. Erst beraubte man die Afrikaner:innen ihrer kulturellen Identität und heute schmückt man sich mit den geraubten afrikanischen Kunstschätzen in demselben potemkinschen Kaiserschloss, von dem die Verbrechen der Kolonialzeit ausgingen. Wir haben jetzt das Jahr 2023 und die Politiker:innen sprechen immer noch von "preußischem Kulturbesitz", als ob das alles dem König von Preußen und nicht den Afrikaner:innen gehören würde.

Die Berliner Verbindungen mit Afrika reichen schon weit zurück, denn auch die brandenburgisch-preußischen Herrscher betrieben einen lukrativen Sklavenhandel mit Afrikaner:innen nach Amerika. Die brandenburgischen Kurfürsten beteiligten sich seit den 1680er Jahren am transatlantischen Sklavenhandel und verschifften etwa 30.000 Sklaven nach Amerika. 1683 wurde die brandenburgische Kolonie Groß-Friedrichsburg an der westafrikanischen Goldküste gegründet. Die Erlebnisse eines Augenzeugen, Johann Peter Oettinger, der einen Sklaventransport von Westafrika nach Amerika begleitete, sind überliefert:

"Die angekauften Sklaven mussten zu 20 und 30 niederknien. Die rechte Schulter derselben wurde mit Palmöl bestrichen und mittels eines Stempels, der die Initialen CABC (Churfürstlich Afrikanisch-Brandenburgische Compagnie) trug, gebrannt... Waren etwa 50 oder 100 Sklaven beisammen, so wurden sie zu zweien und dreien zusammengekoppelt und unter Eskorte an die Küsten getrieben... Am 4. April war endlich das Schiff mit 738 Sklaven beiderlei Geschlechts beladen... Doch welch ein Schauer überkam mich beim Betreten der Räume, in denen die unglücklichen Opfer untergebracht, beim Einatmen der schrecklichen Atmosphäre, in der dieselben zu leben gezwungen waren. Paarweise an den Füßen zusammengeschlossen, lagen oder saßen sie reihenweise nebeneinander..."

Die Hauptzeit des deutschen Kolonialismus in Afrika lag im Kaiserreich zwischen 1871 und 1918. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts verübten die deutschen Truppen den bekannten Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwest-Afrika. Es sollen 70.000 Menschen getötet worden sein. Es gab auch den Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika. Nachdem das deutsche Kaiserreich 1918 den Ersten Weltkrieg verloren hatte, war der deutsche Kolonialspuk in Afrika und Asien glücklicherweise vorbei. Sämtliche Kolonien wurden Deutschland weggenommen. Andere europäische Staaten blieben weiter Kolonialmächte in Afrika.

Aber der Kolonialismus war nicht plötzlich in den 1960er Jahren beendet, als viele afrikanische Länder ihre politische Unabhängigkeit erkämpft hatten. Auch heute ist es eine moderne Form des Kolonialismus, wenn europäische Staaten bspw. ihren Müll nach Afrika exportieren. Und die deutsche Regierung hat heute sogar Truppen in Afrika, in Mali stationiert, die mit den dortigen Militärputschisten kooperieren. Afrika ist auch besonders schwer betroffen vom Klimawandel, und den hat bekanntlich nicht Afrika verursacht.

Heute leben Menschen aus allen afrikanischen Ländern in Berlin, weswegen sich Berlin schon den Titel "Weltstadt Berlin" zugelegt hat. (Früherer Name: Welthauptstadt Germania) Die Afrikaner haben hier allerdings oft nur einen prekären Aufenthaltsstatus, der "Duldung" genannt wird. Die Berliner Verwaltung duldet oder erduldet die Afrikaner, wohl oder übel, weil sie sie nicht los wird.

Über weitere Verbindungen zwischen Afrika und Berlin sowie über die Geschichte der Afrikaner:innen informiert gelegentlich in Ausstellungen und Veranstaltungen das Farafina Afrika Haus Berlin in der Bochumer Straße 25 in Berlin Moabit. Vereinsvorsitzender vom Farafina Afrika Haus ist Herr Oumar Diallo.


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2023/01/31


vorschau02


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2023/01/28


Vor 75 Jahren:
Mahatma Gandhi wurde erschossen


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Mahatma Gandhi mit Noakhali Hut beim Spinnen im Birla House,
New Delhi, November 1947.
Quelle: Wikimedia Commons.


Mahatma Gandhi kam 1869 in Porbandar im indischen Staat Gujarat zu Welt. Am 30. Januar 1948 wurde er in New Delhi von einem fanatischen Hindu-Nationalisten mit drei Schüssen in die Brust erschossen, der der Meinung war, dass Gandhi den Muslims zu sehr entgegen gekommen war. Gandhi war ein indischer Rechtsanwalt und Freiheitskämpfer für die Unabhängigkeit Indiens vom British Empire. Gandhi und seine Mitstreiter waren erfolgreich, Indien wurde im August 1947 ein unabhängiger Staat. Erster Ministerpräsident Indiens wurde sein Mitkämpfer Jawaharlal Nehru.

Gandhi war das religiöse Denken fremd. Für ihn sollten alle Menschen gleichberechtigt sein, egal welcher Religion oder Nicht-Religion. Gandhi war weder ein fanatischer Hindu noch ein fanatischer Nationalist. Hinduismus, Christentum, Islam, Buddhismus, Judentum waren ihm ziemlich egal. Er interessierte sich vorrangig für Politik, seine politischen Ziele bestanden in der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung aller Menschen. In seiner Vorstellung sollte Indien eine säkulare Republik sein.

Grundsätze von Gandhis politischem Kampf gegen die englische Kolonialherrschaft waren Ziviler Ungehorsam (Civil Disobedience) und Gewaltlosigkeit (Non-Violence) und Nichtzusammenarbeit (Non-Cooperation). Diese Grundsätze hatte er vor allem von Henry David Thoreau übernommen. Er organisierte Massenboykotte, Protestmärsche und Steuerverweigerungen. Seine Satyagraha-Kampagnen bestanden im gezielten Übertreten ungerechter Gesetze der Engländer. Satyagraha bedeutet Festhalten an der Wahrheit. Mit seinen Kampagnen strebte er die Selbstregierung (Swaraj) an. Die Kampagnen der Nichtzusammenarbeit beinhalteten den Verzicht auf Orden und Ehrentitel, die Aufgabe der Praxen der Rechtsanwälte, den Auszug der Schüler und Studenten aus den Schulen und Colleges, den Boykott von Wahlen, Grundsteuerverweigerung, Aufkündigung des Dienstes in der britisch-indischen Armee und den Boykott britischer Waren. Dafür wurde er wiederholt von den Engländern ins Gefängnis gesteckt.

Die heutigen Urenkel von Mahatma Gandhi heißen »Aufstand der Letzten Generation« und kleben sich auf Straßen, Autobahnen und Landebahnen von Flugzeugen fest oder werfen Kartoffelbrei auf Gemälde. Durch diese Aktionen des gewaltlosen Zivilen Ungehorsams wollen sie die Politiker zwingen, etwas gegen die menschengemachte Klimakatastrophe zu tun. Die Reaktion der Ewiggestrigen ist, die Aktivisten ins Gefängnis zu sperren, damit wieder freie Fahrt für freie Bürger herrscht. Das haben wir alles schon vor 100 Jahren in Indien gesehen oder vor 60 Jahren bei Martin Luther King. Aber hoffentlich werden die wunderbaren Menschen der Letzten Generation bald genau so erfolgreich sein, wie es Mahatma Gandhi damals war.

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/01/25


Greta Thunberg ist 20
geboren am 3. Januar 2003 in Stockholm/Schweden


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Greta Thunberg beim Glastonbury Festival, Juni 2022.
Quelle: Wikimedia Commons.


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2023/01/21


Reinhild Paarmann
14 x nichts passiert oder Sie lebt noch


Da war es wieder: Das Gefühl, nicht mehr weiter zu wissen. Die Angst schnürt den Hals zu. Der trockene Mund. Die Sehnsucht, sich ins schwarze Nichts zu werfen. Die Sogwirkung des Nichts.

Wie damals, als sie 17 war und sich aufhängte. An einer Hundeleine. Von René, ihrem Freund, wurde sie abgeknüpft. Unerträglich die Situation zu Hause. Die Mutter, die sich mit Benzin übergossen hatte, weil die ältere Tochter Helene das Haus verließ. Sie wurde gerettet und lag lange Zeit im Koma, erst einmal keine Erinnerung, der Mann vergriff sich an Katharina. Nein, Katharina, sei ehrlich, dies war der Grund, warum sich deine Mutter anzündete. Du machtest eine Bäckerlehre. Und warst schwanger. Nur von wem, stellte sich die Frage. Da tauchte die Mutter aus ihrer Black Box wieder auf. Sie sollte in die Psychiatrie, so wollte es ihr Mann. Da verstummte sie und durfte bleiben. Seitdem sitzt sie am Wohnzimmertisch und dreht mit einem Apparat sich selbst ihre Zigaretten. Sie kann nicht mehr laufen.

Der Vater schimpft mit Katharina. Er ist arbeitslos.

Morbus Crohn, die Diagnose für beide Schwestern. Eine tödliche Krankheit. Auf das Leben scheißen, bis die Eingeweide herauskommen. Katharina war dick wie ihre Mutter. Das ist vorbei. So dünn, dass es schon wieder gefährlich ist. Ist es nicht egal, woran man stirbt? Die Schwester trennt sich vom Erzeuger ihrer Tochter, oder war es umgekehrt? Katharina gebar einen Sohn. Der mögliche Vater René, ein Bosnier, lebt mit ihr zusammen, raucht selbstvergessen seine Haschischwasserpfeife. Schließt den Sohn Tomasz ein. Schweben im Raum, auch für Katharina eine Versuchung.

Vergessen. "Besorg‘ doch noch ein bisschen Haschisch!", bettelt sie René an. Haschisch macht geil.

René verprügelt sie. Warum? Es ist ihm so danach. So viel Hass ist in ihm. Als Zeuge Jehovas aufgewachsen, musste er immer seine Aggressionen unterdrücken. Wenn andere Kinder Weihnachten feierten, war bei ihm Alltag, am Geburtstag bekam er keine Geschenke. Seine erste Frau hat er verprügelt, auch die beiden gemeinsamen Kinder. Kontaktsperre. Er soll für die Kinder zahlen. Das kann er aber nicht. Er ist nicht geschieden und kann deshalb Katharina nicht heiraten, müsste sich in Bosnien scheiden lassen. Das kostet Geld. Katharina, die sich gegen die Schläge wehrt, kehrt zu ihren Eltern und der Schwester zurück. Sie trennt sich wieder von ihm. Er holt sie zurück. Ja, das kann er gut. Immer wieder.

Katharina steht auf dem Fensterbrett ihrer Küche im 8. Stock in der Dieselstraße. Sie schreit: "Ich springe!"

Katharina ist wieder schwanger. Sie hat etwas von einem One-Night-Stand erzählt, als René und sie sich einmal gestritten hatten. Aber vielleicht ist das Kind von René. Wieder die Ungewissheit. Er hat sie verprügelt.

Tomasz schaut mit großen Augen die Mutter an. Nach dem Vater ist er jedenfalls nicht gekommen. Welchen Vater? René stellt eine Ähnlichkeit mit seinem Großvater fest. Erkennt das Kind als sein eigenes an. Kein Kontakt zu seinen Eltern. Sie mischen sich immer in die Beziehung ein. Auch Katharinas Eltern. Er hat ihr verboten, mit ihnen oder der Schwester zu sprechen.

Die Nachbarin, eine Türkin, hört den Schrei von Katharina. Sie bummert gegen die Wohnungstür, weil die Klingel abgestellt ist. Niemand öffnet. Tomasz schreit wie so oft. Dann, in ihre Wohnung zurückgekehrt, sieht sie Katharina auf dem Fensterbrett der Küche stehen. Sie redet lange auf sie ein. Bis Katharina runter kommt. Die Nachbarin versteht sie. Auch ihr Mann kann sie in die Raserei treiben. Aber sie hat sechs Kinder. Nie würde sie sich umbringen.

Katharina weint, weint, weint, bis sie trocken wie ein leerer Weinschlauch ist. René hüllt sie in den Haschischrauch seiner Wasserpfeife. Todesähnlicher Schlaf.

"Das Kind sieht genauso aus wie dein Großvater", stellt die Mutter fest, als Katharina nach einer weiteren Trennung zu ihren Eltern zieht.
"Auweia, wenn das dein Mann sieht, bekommst du Ärger."

Die Geschichte mit dem Franzosen in der Disco, dessen Namen sie angeblich vergessen hat, und der sie vielleicht schwängerte, zieht nicht mehr so. Katharina, was hast du an jenem Abend gemacht? Unterdessen starb der Großvater. René hat nach der Versöhnung Fotos vom Großvater gesehen.

Er tobt. Verprügelt seine Frau. Sie trennen sich. Katharina läuft zu ihm zurück wie ein treuer Hund.

Der Onkel bringt sich um. Er hat als Kellner gearbeitet und war Homo. Vielleicht wurde er ermordet. Katharina schaudert. Würde René sie töten? Er rastet leicht aus, wenn er wütend wird, wie neulich, als er einen Fahrgast im Bus zusammenschlug. Wieder eine Vorstrafe mehr wegen Körperverletzung. Einige Verurteilungen hat er wegen des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Und immer kein Geld. Katharina hungert, die Kinder auch, René kauft sein Haschisch. Er ist erstaunlich korpulent. Ein Gesicht wie Balzac. Stiernackig.

Katharina dagegen abgemagert mit langen, blonden, glanzlosen Locken. Aber doch eine unbändige Kraft in sich. Des Widerstandes, Schreiens und Tobens. Wenn er die Möbel zertrümmerte, schlug sie ihn. Dann wieder zusammenbrechen und weinen, weinen, weinen. Im Wohnzimmer sitzen, nicht aufhören können, die Kinder daneben mit fragenden Augen. "Warum weinst du, Mama?" Sie kann es ihnen nicht erklären. Es sind die Nebenwirkungen der Medikamente, die sie wegen ihrer Morbus-Crohn-Erkrankung nimmt. Sie wandelt in einem tiefen Tal der Depressionen.

Und dann wieder die rauschenden Feste, die René veranstaltet mit viel Alkohol und Haschisch. Tanzen, tanzen, tanzen, bis zum Umfallen, alles dreht sich, die Musik hämmert im Resonanzboden des 9-stöckigen Hauses. Fenster auf, frische Luft. Das Fitness-Rad steht unter dem Fenster im Flur. Die Kinder klettern gern darauf herum.

René bringt die Kinder in einen Kindergarten. Katharina zankt sich mit den Erzieherinnen dort. Die Windeln von Boris, dem jüngeren Sohn, sind verschwunden. Sie hat nicht so viel Geld, neue zu kaufen. Kein Geld für die Kindertagesstätten-Gebühren. Abmelden.

Tomasz bohrt große Löcher in eine Wand seines Kinderzimmers, wenn er mit seinem Bruder vom Vater eingesperrt wird. Der will seine Ruhe haben, wenn er an seiner Haschischpfeife zieht. Tomasz reißt die Plastikscheuerleiste ab, wirft die Lampe um, hängt sich an die Gardinen. Wirft sich in das niedrige Holz-Bett seines Bruders, bis es zerbricht, löst Boris die Windeln und verschmiert den Kot im Zimmer. Bis die Kinder wieder raus dürfen.

René bringt die Kinder in eine andere Kindertagesstätte, während er seine Frau einschließt. Sie soll nicht woanders so dussliges Zeug erzählen. Der Leiter will ihn sprechen, weil er so viel mit Tomasz schimpft. Nein, doch nicht mit ihm! Er will nicht.

"Wo warst du an jenem Abend, als Boris gezeugt wurde?"

"Er könnte vielleicht von dir sein. Du solltest auch für ihn das Sorgerecht bekommen, wenn mal was mit mir passiert..."
Heulen, heulen, heulen.

"Nein, niemals sollst du das Sorgerecht für ihn bekommen, du bist immer so gemein zu mir!" Kein Geld. Völlig abhängig von René. Um alles betteln müssen. Doch, er ist wieder lieb zu ihr. So bezahlt sie die Strafe, die er sonst im Gefängnis hätte absitzen müssen. Dadurch entstehen Mietschulden. René beginnt eine Ausbildung über das Arbeitsamt im Computerbereich. Ja, er ist nicht dumm. Er kauft sich von Katharinas Sozialhilfe einen Computer und macht an diesem Hausaufgaben. Bis sie sich wieder streiten. Sie hat kein Geld mehr. Trennt sich von ihm. "Du musst gehen!", schreit sie hysterisch. "Es ist meine Wohnung. Ich schmeiße dich raus! Ich ertrage dich nicht länger!" Sie rennt zu ihrer Schwester, die im gleichen Haus wohnt. Sie gehen zum Schlüsseldienst und lassen ein neues Schloss an der Wohnungstür anbringen. Den Computer verkauft Katharina. Hat Angst vor René und bleibt mit den Kindern bei der Schwester. Die hat geheiratet. Der Mann wird sie schützen. Ohne Begleitung verlässt sie nicht die Wohnung.

René steht vor der verschlossenen Tür. Schon ist Katharina wieder bei ihm. Der Vater hat doch das Recht, seine Kinder zu sehen? Falls es seine sind. René hat kein Geld für einen Vaterschaftstest. Nun werden Pläne geschmiedet. Eine Vier-Zimmer-Wohnung soll in einer anderen Straße angemietet werden. - Katharina muss raus aus ihrer Umgebung. Sie hat so viele schlechte Erfahrungen durch ihren Kiez. Dort ist sie groß geworden. Da leben ihre Eltern. Das Sozialamt spielt nicht mit. Umzug: alle fünf Jahre. So lange lebt das Paar noch nicht in der Wohnung.

Welche Versöhnung ist es? Die 14.? Katharina kann sie nicht mehr zählen. Nebel im Kopf. Sie will nicht darüber nachdenken. René schaut Pornos im Wohnzimmer, Tomasz linst rüber von der Couch her, sich schlafend stellend. Boris liegt im Kinderzimmer auf einem Sitzelement, das ihm nun als Bett dient. Mittagschlaf.
"Das ist nicht gut für Tomasz", sagt Katharina. "Dann schließ' ich ihn eben im Kinderzimmer ein", erklärt René und trägt seinen Sohn zum Bruder. Tomasz schreit. Er weckt damit Boris, der in das Geheule einfällt. Tomasz hämmert mit einem großen Legostein an eine Wand. Der Putz bröckelt. Schon ein paar Mal haben die Eltern die Löcher zugegipst.

Die Polizei klingelt unten an der Haustür. Sie ist nicht zu hören. Bekannte der Schwester haben die Polizei alarmiert. Helene traut sich nicht mehr, die Familie zu denunzieren. René hat ihr gedroht. Alle anderen sind am Drama seiner Beziehung zu Katharina schuld. Darum darf sie zu niemandem Kontakt haben.

"Meine Frau ist weg", berichtet René an der Tür von Helene. "Ganz viel Blut", flüstern die Kinder. René hat Schweiß im Gesicht, Entzugserscheinungen, seine Hände sind nass. Fleischige, die sich nach Helene recken. Sie soll ihn "scharf" gemacht haben, erzählte Katharina einmal ihren Eltern, als sie sich von ihrem Mann trennte und bei der Schwester ein paar Tage schlief. "Nur im Höschen lief sie rum." René berichtete seinen Eltern, Katharina wäre eifersüchtig geworden. "Sie sagte, sie komme nie wieder. Ich habe kein Geld mehr." Helene borgt ihm etwas. Auch René lieh ihr schon mal Geld, das er bis heute nicht zurückzahlte. Deshalb hatten sie sich gestritten. Bevor René eine Vermisstenanzeige aufgeben kann, ist seine Frau wieder da. Wie ein Bumerang. Sie kann ohne René nicht leben. Oder waren die Kinder der Grund? Ruhe.

Geschirr wird massenweise zerschlagen. Die türkische Nachbarin ist einiges gewöhnt von der Familie nebenan. Aber das sind neue Töne. Sie klingelt an der Wohnungstür. Nur Geschrei und Poltern von Geschirr. Sie ruft die Polizei. Diese klopft an die Tür, brüllt: "Hier ist die Polizei! Wenn Sie nicht sofort die Tür öffnen, schlagen wir sie ein!"
René öffnet. Katharina konnte nicht die Polizei rufen. Das Telefon ist nicht bezahlt. Und René würde ihr das auch nie erlauben. Sie hat am Sonnabend 20 Tabletten ihres Mittels gegen Morbus Crohn geschluckt, um sich umzubringen. Sie sagte es René. Dieser lachte nur. Da schloss sie sich in das kleine Zimmer ein und legte sich auf die Kindercouch. Sie schlief. Und wachte nach vielen Stunden auf. Warum war sie nicht tot? Sie taumelte zur Tür, schloss auf. Großen Durst. Irgendetwas muss passieren!

Sie öffnet den Küchenschrank. Fegt alles Porzellan aus den Fächern, bis es auf dem grauen PVC-Fußboden zerschellt. "Bist du verrückt?" René springt auf sie zu, schlägt, reißt ihr die Kleider vom Leib, vergewaltigt sie. Die Kinder schauen erschrocken zu. Sie weint und schluchzt, willenlos, gebrochen. "Du bist nichts ohne mich, du kannst ohne mich nicht leben!", brüllt er sie an, triumphierend. Sie fühlt sich wie ein Häufchen Dreck. Ohnmacht. Sie kann ihm nicht entrinnen. Unendlichkeit des Schmerzes.

Katharina zur Polizei: "Bringen Sie mich bitte in ein Krankenhaus. Ich habe vor zwei Tagen einen Selbstmordversuch gemacht." Glasklar ist sie im Kopf. Wie wenn Scherben die Gehirnmasse durchtrennen. Die Polizeibeamtinnen nehmen sie mit. Im Krankenhaus ruft sie die Polizei an: "Bringen Sie die Kinder in ein Heim. Ihr Vater ist gewalttätig. Er hat sie schon mal geschlagen." Die Polizei fährt die Kinder von zu Hause fort.

Katharina entlässt sich nach wenigen Stunden selbst aus der Psychiatrie, nein, aus der Krise, darauf legt sie viel Wert. Sie war doch nicht in der Psychiatrie! Ihre Haare lässt sie sich abschneiden und rot färben. Niemals wieder soll René sie am Haarschopf packen und hinter sich herziehen. Ihre Gesichtshaut ist nach einigen Tagen durch die Psychopharmaka picklig geworden. Ihre Eltern pflegen sie. Ihre Hände zittern so, dass sie diese festhalten muss, um den Antrag auf Heimunterbringung der Kinder zu unterschreiben. Nun will sie sich endgültig von René trennen. Das Sozialamt verlangt von ihr, dass sie ihn wegen Körperverletzung und Vergewaltigung anzeigt. Das macht sie. Eine Bannmeile wird gegen den Täter verhängt. Die Frauenärztin, die die Verletzungen dokumentieren sollte nach dem Geheiß der Polizei, hat keinen Fotoapparat. Die Bilder, die Helene schießt, sind untauglich. Der Vater fotografiert sie mit bloßem Unterleib, die blauen Flecke an den Oberschenkeln, ja, wie damals. Katharina rennt zum Klo und scheißt, scheißt, scheißt, der Körper rebelliert. Ihr Geist ist durcheinander. Sie weint.

Bei der Gerichtsverhandlung sitzen sie sich gegenüber. Katharina und René. Er schaut sie an: "Ich liebe dich doch immer noch, komm' zu mir zurück!" Er hat Tränen in den Augen. Wenn er verurteilt wird, kann es sein, dass er abgeschoben wird.

"Was soll mit dem Hund werden? Ich lebe in einem Wohnheim. Da kann ich ihn nicht mitnehmen."

Die Kinder haben René längst verraten, wo sich die Mutter aufhält.

Die Miet- und Bewag-Schulden werden übernommen. Katharina lebt wieder in ihrer Wohnung. Ihr Arzt hat seine Praxis in der Straße, in der ihr Mann wohnt. Er übergibt ihr den Hund, den großen, mit den treuen Augen, der so gern an den Hintern von Frauen schnüffelt und seine feuchte Nase zwischen ihre Beine bohrt. Während Tomasz und Boris im Heim "ficken" spielen.

Sie besucht René. Ja, sie liebt ihn auch noch. Sie ist so allein. Der Hund kann sie nur kurz trösten. Ihre Eltern wollen dauernd, dass sie ihnen hilft. Ihr Vater arbeitet nun auf dem Bau. Der dicke Bruder hat auch eine Beschäftigungs-Maßnahme erhalten. Mit seinen 20 Jahren möchte er ausziehen. Sie soll beim Renovieren helfen. Die Schwester und der Schwager, die das machen wollten, haben den Kontakt abgebrochen. Auch Katharina hat die Beziehung beendet. Helene hat zu ihr gesagt: "Wenn du noch einmal zu anderen Leuten sagst, dass mein Mann in Russland im Gefängnis saß, zeige ich dem Jugendamt die Fotos von deiner Wohnung, die ich für dich machen sollte, nachdem du dich mit deinem Mann geprügelt hattest. Weißt du noch, wie sie da aussah? Du wolltest ihn bei der Polizei anzeigen. Aber du warst es genauso. Das hätte ich gesagt. Dann bekommst du die Kinder nie wieder!"

Zwei Monate konnten Katharina und René ihr Geheimnis bewahren, dass sie wieder zusammen waren.

"Ich bringe den Hund in das Tierheim. Ich kann kein Futter mehr kaufen", erklärt Katharina ihren Eltern und ist um 23:30 Uhr noch immer nicht zurück. Der Vater macht sich Sorgen und will eine Vermisstenanzeige aufgeben. Der Polizist schmunzelt nur: "Wissen Sie denn nicht, dass der Partner Ihrer Tochter sich schon längst wieder bei ihrer Wohnung angemeldet hat?"

Der Vater informiert das Jugendamt, denn eine Osterbeurlaubung der Kinder zu ihrer Mutter komme doch nun nicht mehr infrage! Die Rechtsanwälte von René und Katharina wetzen weiter ihre Messer. Sie wissen das noch nicht. "Einer Beurlaubung von Tomasz und Boris zu ihrer Mutter stimme ich nur zu, wenn die Kinder ebenfalls die gleiche Zeit bei ihrem Vater verbringen dürfen."

Was sollen die Scheingefechte? Oder hat Katharinas Vater seine Tochter nur denunziert, um sich zu rächen, weil sie seinen sexuellen Missbrauch an ihr publik machen wollte? Oder war es der Großvater?

Am Freitag steht Katharina im Heim und will die Kinder abholen. Urlaubssperre.

Der Gutachter von B. sorgt dafür, dass dem Vater die Kinder zugesprochen werden. Sie ziehen zu ihm und der Mutter nach Treptow. Dies war ein Fall, den Frau Wegner am Anfang ihres Dienstes im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst hatte. Sie erinnert sich daran, wie sie mit ihrem Chef in das Kinderheim Girlitzweg ging. Im Krisenzimmer waren die Tapeten teilweise abgerissen. Das machen Kinder, wenn sie wütend sind. Bei dem Besuch waren Tomasz, Boris und der Gutachter zu sprechen. Der Gutachter war vaterfreundlich wie auch der Teamleiter von Frau Wegner. Bei diesem Gutachter machte Frau Wegner später ihre Verfahrensbeistandsschafts-Ausbildung. Er zog zwei Töchter allein auf. Bei seiner Empfehlung, die Kinder aus dem Heim zu ihren Eltern zu entlassen, hatte Frau Wegner "Bauschmerzen", aber was konnte sie gegen eine gerichtliche Entscheidung machen? Als Sozialarbeiterin kann man dagegen vorgehen, aber wenn der Chef und der Gutachter sich anders ausgesprochen haben, hat man da keine Chance. Das Gericht entscheidet meistens nach der Empfehlung des Gutachters.

Frau Wegner kann sich gut daran erinnern, als sie einmal einen angekündigten Hausbesuch in der Familie machte, um die Familienhelferin vorzustellen. "Nein, das geht jetzt nicht. Wir müssen erst zum Rathaus Neukölln, Geld holen. Wir haben nichts mehr zu essen."

Frau Wegner kaufte bei "Aldi" eine Tüte mit Lebensmittel ein. So konnte die Hilfekonferenz doch noch stattfinden.

Einmal wollte die Familie um 19 Uhr in die Sonnenallee zu einem Gespräch in die Dienststelle kommen. Frau Wegner kam extra von zu Hause noch einmal ins Amt. Die Familie erschien nicht und sagte auch nicht ab.


© Reinhild Paarmann, Januar 2023.

Die Geschichte ist mit Erlaubnis der Autorin dem Buch entnommen:
Reinhild Paarmann: Der Storymaker und andere Neuköllner Geschichten.
Stolzalpe/Österreich 2021, Wolfgang Hager Verlag.


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2023/01/18


Otto Pankok (1893-1966):
Das Sinti-Mädchen Ehra


ehra
Die Statue befindet sich im Gut Esselt in Hünxe-Drevenack, im dortigen Otto-Pankok-Museum.
Foto von © Dagmar Sinn, November 2022.


Bei Wikipedia heißt es zu der Statue:

"Otto Pankok beschäftigte sich ab den 1930er Jahren ausführlich mit dem Thema Zigeuner und schuf zahlreiche Bilder von Sinti- und Romakindern. Eines seiner Modelle war das Mädchen Ehra. Ehra wurde während des Dritten Reiches im Düsseldorfer Lager am Höherweg in Lierenfeld interniert, wo die rund 200 Düsseldorfer Sinti und Roma festgehalten wurden. Sie wurde 1940 in ein KZ deportiert... Ehra, die von Pankok immer wieder abgebildet worden war, starb Jahrzehnte nach ihrer KZ-Haft."

Seht bitte auch das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma vom 2022/10/22 auf kuhlewampe.net.


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2023/01/15


Wolfgang Weber
The grill's gone now

Textetisch 07.09.2022, Thema Extrawurst


Extrawurst, Sonderbehandlung, extra groß, extra stark, Privileg, Vorzugsbehandlung, ein Solist am Mikro, featuring guest star wer auch immer, bekommt eine Extrawurst gebraten, für den großen Hunger, früher, vielleicht in manchen Gegenden heute noch, für den Herrn im Haus, großer Appetit. Es ist eine Wurst mehr, eine größere, vielleicht ist die Extrawurst sogar vegan, so paradox das auch erscheint.

Gibt es sie noch, die Grillwalker? Sie haben ein Metallgestell um den Hals, in dem Würstchen erwärmt werden, schwer zu tragen, heiß noch dazu. Eine Frühform des Kapitalismus, womöglich sind diese Herren, Damen habe ich bis jetzt nicht mit diesem laufenden Grill gesehen, formell eigenständige Unternehmer. Ich würde es eher Pseudo-Unternehmer nennen, Unternehmen mit einer einzigen Person.

Besonders weit verbreitet sind / waren diese Grills auf Beinen, womöglich gab es sogar Rollen, dann wäre das ganze nicht ganz so frühkapitalistisch-ausbeuterisch, besonders häufig in Touristengegenden wie Alex, Unter den Linden. Tourist & Grillwalker sehen sich womöglich nur ein einziges Mal & nie wieder.

Wenn solch ein Areal abgegrast ist, soweit Grill & Walker grasen können auf Asphalt, zieht der Walker mitsamt Grill ein paar Ecken weiter & findet dort neue Touristen & auch Berliner, die sich eine Extrawurst gönnen, die sie oft im Gehen vertilgen. Denn Berliner & Touristen haben es immer eilig, da mag Mostrich oder Senf noch so sehr zu Boden tropfen oder gar auf deren Kleidung.

The grill's gone now ist eine Berliner Version von B.B. King's The thrill is gone.


© Wolfgang Weber, Januar 2023.


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2023/01/12


Tagebuch 1973, Teil 63: Colombo/Sri Lanka

von Dr. Christian G. Pätzold


srilanka
Karte von Sri Lanka. Quelle: Botschaft von Sri Lanka.


2. Dezember 1973, Colombo, Sonntag

Sri Lanka ist weltberühmt für seinen Zimt und für seinen Tee, aber wir wurden durch unsere Kontaktadressen in Colombo zunächst in die aktuelle politische Situation hineingezogen. Morgens haben wir das buddhistische Leben kennen gelernt, mit dem Verteilen von Speisen an die Mönche und dem Singen von buddhistischen Gesängen. Die tropische Vegetation war hier sehr üppig. Auch in Sri Lanka wie in Indien konnten die gebildeten Leute alle Englisch, so dass wir uns gut unterhalten konnten. Das war noch eine Nachwirkung der englischen Kolonialherrschaft.

Nach dem Frühstück sind wir zur Adresse von H. de Silva gegangen, die wir in Indien erhalten hatten. Es war anscheinend eine Familie von Burghern. H. de Silva hat uns in der jüngeren Ceylonesischen Geschichte unterrichtet. Später im Hotel hat uns auch der Besitzer, ein ehemaliger Staatsdiener, über die jüngere Geschichte von Ceylon erzählt.


3. Dezember 1973, Colombo, Montag

Mittags sind wir zur Ceylonese Mercantile Union (CMU) gegangen und hatten ein Gespräch mit dem Generalsekretär Bala Tampoe. Bala Tampoe (1922-2014) war ein Rechtsanwalt, ein berühmter eloquenter Redner, ein Gewerkschaftsführer und der Vorsitzende der sri-lankischen Sektion der 4. Internationale. Die 4. Internationale war der internationale Zusammenschluss der Trotzkisten. Wir sprachen mit Bala Tampoe über die aktuelle politische Situation in Sri Lanka, über seine Gewerkschaft und seine Reiseerlebnisse. Er erzählte uns von einem Erlebnis mit Henry Kissingers Hausmädchen, die Pointe der Geschichte habe ich leider inzwischen vergessen. Die CMU war eine White-Collar-Worker Gewerkschaft, in der hauptsächlich Büroarbeiter in den Banken und im Export in Colombo organisiert waren. Bala Tampoe bezifferte die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder auf etwa 35.000. Wir kamen auf die Insurrection von 1971 zu sprechen und er berichtete uns von Vergewaltigungen und Massakern nach der Insurrection und hat uns Beweisfotos gezeigt.

Bala Tampoe besaß einen Volkswagen Baujahr 1963, der jährlich im Wert stieg. Denn in Sri Lanka gab es einen Importstopp für Autos, wegen Devisenmangels. In Sri Lanka selbst gab es keine Produktion von Autos. Er war sauer, dass er nicht von der Sowjetunion oder von der Volksrepublik China eingeladen wurde, obwohl seine Gewerkschaft bedeutend sei. Aber das war ja kein Wunder. Weder Moskau noch Peking wollten etwas mit einem Trotzkisten zu tun haben. Bei den Akademikern und den Politikern gab es so eine Stufenleiter der Wichtigkeit. Je öfter man ins Ausland eingeladen wurde, desto wichtiger war man im eigenen Land. Für Morgen hat uns Bala Tampoe zu dem Gerichtsprozess gegen Rohana Wijeweera und andere Anführer der Insurrection von 1971 eingeladen, da er dort zwei Angeklagte verteidigte.


4. Dezember 1973, Colombo, Dienstag

Morgens sind wir zur Criminal Justice Commission gegangen, einem Gericht, das speziell für den Prozess gegen die Anführer des Jugendaufstandes von 1971 eingerichtet worden war. Den Leadern wurde gerade der Prozess gemacht, alles musste ins Englische übersetzt werden, da 2 Richter kein Sinhala sondern nur Englisch verstanden. Das war natürlich gut für uns, da wir auch kein Sinhala sprachen. Rohana Wijeweera (1943-1989) war der Hauptangeklagte und lehnte die Verantwortung für den Jugendaufstand der JVP (People's Liberation Front) ab bzw. auch die Mitwisserschaft, da der Aufstand im April 1971 stattfand, er und andere Führer aber schon im Februar 1971 verhaftet worden waren und im Gefängnis saßen. Die Richter forderten von Rohana Wijeweera, dass er seine Schuld an der Insurrection zugebe und boten an, dass sie dann die Mitläufer frei lassen würden. Zum Ende des Prozesstages gab es dann noch eine Auseinandersetzung über die Frage, wie viele Sprachen Rohana Wijeweera spreche. Die Anklage behauptete, Wijeweera hätte gesagt, dass er 5 Sprachen spreche, und die Leute hätten ihm deswegen als Leader geglaubt. In Wirklichkeit könne er aber nur Russisch und Sinhala und etwas Englisch sprechen. Übrigens sind wir beim Eintritt ins Gericht nicht untersucht worden, auch nicht unsere Taschen. Das zeigte, dass die Sicherheitslage als entspannt eingeschätzt wurde.

Nachmittags hatten wir ein Gespräch mit Mr. Nagalingam Shanmugathasan (1920-1993), dem Anführer der Ceylon Communist Party (Peking Wing) (CCP). Er war 2x in die Volksrepublik China eingeladen worden und hatte während der Kulturrevolution dort auch vor Rotgardisten gesprochen. In unserem Gespräch sah er die chinesische Politik vordringlich als Staatspolitik und Machtpolitik, um den Einfluss der Sowjetunion in Asien zurückzudrängen. Rohana Wijeweera bezeichnete er als sowjetischen Agenten, der die maoistische Bewegung in Ceylon zerschlagen sollte, die in den 1960er Jahren an Anhang gewann. Er sagte, es sei ein Fehler gewesen, Wijeweera in die Partei aufzunehmen. (Rohana Wijeweera war vor der Gründung seiner JVP Mitglied der CCP Pekingflügel). Im Zimmer von Nagalingam Shanmugathasan hingen große Fotos von ihm mit Mao Tse-tung und mit Enver Hoxha, und es standen zahlreiche Andenkenmitbringsel aus China im Raum.


© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2023.


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2023/01/09


Historischer Überblick Ceylon/Sri Lanka seit der Unabhängigkeit


1948: 4. Februar: Unabhängigkeit Ceylons vom British Empire.
Die United National Party (UNP), die eine nach England ausgerichtete Politik verfolgte, bildete die Regierung.

1952: Mr. S.W.R.D. Bandaranaike (1899-1959) gründete eine eigene Partei, die Sri Lanka Freedom Party (SLFP), die eine singhalesisch buddhistisch nationalistisch sozialistisch ausgerichtete Politik verfolgte.

1956: Die People’s United Front (SLFP mit 3 weiteren Parteien) siegte bei der Wahl, Mr. S.W.R.D. Bandaranaike wurde Premierminister.

1959: September: Mr. S.W.R.D. Bandaranaike wurde ermordet, angeblich steckten reiche Leute dahinter, da es Sozialisierungen gab.

1960: Die SLFP gewann die Wahl unter Mrs. Sirimavo Bandaranaike, der Frau von Mr. S.W.R.D. Bandaranaike. Sie wurde die weltweit erste Frau als Premierministerin. Sie war Premierministerin bis 1964, und erneut ab 1970.

1961: Spaltung in der KP Ceylon in einen Moskauflügel und einen Pekingflügel.

1964: Dezember: Die UNP gewann die Wahl.

1970: Mai: Wahlsieg der United Front: Mrs. Bandaranaike bildet das United Front Government mit SLFP, LSSP (Lanka Sama Samaja Party, Lanka Socialist Party, Trotzkisten) und CPSL (Communist Party of Sri Lanka, KP Moskauflügel).

August: Erste Großkundgebung der People’s Liberation Front (JVP, Janatha Vimukthi Peramuna) unter Führung von Rohana Wijeweera (geb. 1943) in Galle Face. 15.000 junge Leute waren da. Rohana Wijeweera war ein marxistisch-leninistischer Revolutionär und der Gründer der JVP, aber kein erklärter Maoist. Er war wahrscheinlich so etwa wie eine Mischung aus Che Guevara und Rudi Dutschke. Er hatte Kontakte nach Nord-Korea.

1971: 27. Februar: Letztes Treffen der JVP, Verhaftung der Führer.
5. April: Jugendaufstand der JVP (Insurrection), der durch Truppen niedergeschlagen wurde.

1972: Änderung des Namens des Landes von Ceylon zu Sri Lanka.


In Sri Lanka gab es 7 Bevölkerungsgruppen:

Die Singhalesen: Die Bevölkerungsmehrheit. Traditionell Buddhisten, einige Katholiken. Sie sprechen Sinhala. Sie kamen vor etwa 2.500 Jahren aus Nord-Indien nach Sri Lanka. 2012 gab es 15,2 Millionen Singhalesen, das waren 74,9 % der Bevölkerung von Sri Lanka. Singh bedeutet auf Nord-Indisch Löwe. Daher ist auf der sri-lankischen Nationalflagge auch ein Löwe abgebildet, obwohl es in Sri Lanka gar keine Löwen gibt, im Unterschied zu Nord-Indien.

Die Sri-Lanka Tamilen: Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe. Sie leben vor allem im Norden und Osten von Sri Lanka. Traditionell Hindus, einige Katholiken. Sie sprechen Tamil.

Die Indischen Tamilen: Im Zentrum des Landes. Sie wurden aus Indien von den Engländern als Teeplantagenarbeiter nach Sri Lanka gebracht. Sie sind traditionell Hindus.

Die Moors: Muslime.

Die Malays: Malaiisch sprechende Muslime.

Die Burghers: Nachfahren von Niederländern und Portugiesen. Traditionell Christen. Die Niederländer und die Portugiesen hatten vor den Engländern Handelsniederlassungen in Colombo. Exportartikel waren Gewürze, vor allem Zimt.

Die Veddas: Die Ureinwohner Sri Lankas, traditionell Jäger und Sammler. 2002 gab es noch etwa 2.500 Veddas. Man kann daher sagen, dass die Veddas fast ausgestorben sind. Sie haben sich weitgehend mit den benachbarten Singhalesen und Tamilen vermischt.


Übersichten zusammengestellt von Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2023.


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2023/01/05


Tagebuch 1973, Teil 62: Madras IV - Colombo

von Dr. Christian G. Pätzold


26. November 1973, Madras, Montag

Ich saß weiter in Madras fest und habe auf die Verlängerung meines Reisepasses durch das deutsche Konsulat gewartet. Um meinen Gesundheitszustand abzuchecken, wollte ich noch mal eine Untersuchung auf Amöben oder Bakterien machen lassen, obwohl ich keine Symptome hatte. In dem Government Hospital waren schlimme Zustände, viele Kranke lagen in den Gängen und warteten auf Behandlung. Mir schien es widersprüchlich, einerseits gab es viele ausgebildete medizinische Kräfte, die arbeitslos waren, andererseits gab es in den Krankenhäusern zu wenig Personal. Ich wurde von einem Angestellten zu einem Laboratorium geschickt, das aber eine Bruchbude war.


27. November 1973, Madras, Dienstag

Ich habe Herrn Kopp im Deutschen Konsulat angerufen, aber die Erlaubnis aus Deutschland für die Passverlängerung war noch nicht da. Um die Stimmung etwas aufzuheitern, habe ich tamilische Kuchen und Süßigkeiten gekauft. Im Hotel New Victoria habe ich Geld gewechselt, zum Kurs von 1 DM zu 2,85 Rupees. Ich brauchte ja Rupees, um das Flugticket von Madras nach Colombo und Singapore zu bezahlen.


28. November 1973, Madras, Mittwoch

Heute waren wir im Fort St. George, eine historische Befestigungsanlage der Engländer, die im Zentrum von Madras am Meer liegt. Das Fort war ursprünglich von der East India Company als Stützpunkt angelegt worden, um mit Indien Handel zu treiben.


29. November 1973, Madras, Donnerstag

Heute wurde mein Reisepass vom Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Madras für 5 Jahre verlängert. Endlich. Ich musste eine Gebühr von 9 Rupees zahlen.


30. November 1973, Madras, Freitag

Morgens habe ich das Flugticket Madras - Colombo - Singapore für 1.365,- Rupees bei BOAC (British Overseas Airways Corporation) gekauft. Wir sind zum Flughafen gefahren und haben versucht, auf den Air Ceylon Flug zu kommen. Das Flugzeug war aber schon voll, der Manager hat uns den Flug für morgen versprochen. Außerdem streikte das Indian Airlines Personal, so dass viele Flüge ausfielen.


1. Dezember 1973, Madras - Colombo, Sonnabend

Am Morgen erhielten wir im Air Ceylon Office das ok für unseren Flug nach Colombo. Mit der Bahn sind wir zum Flugplatz Meenambakkam gefahren. Die Ausreise aus Indien war problemlos. Wir waren 2 Monate lang kreuz und quer durch Indien gereist und hatten eine Menge erlebt. Als Fazit kann ich sagen, dass sich eine Reise nach Indien lohnt, da man dort immer viel Neues dazu lernt. Als tropisches Land hat Indien schon mal ein ganz anderes Klima und eine andere Flora und Fauna als Deutschland. Außerdem hat Indien eine Jahrtausende alte kulturelle Geschichte, die ganz anders verlaufen ist als in Europa. Der Flug von Madras nach Colombo hat nur 1½ Stunden gedauert. Auch Sri Lanka gehört geografisch zum Indischen Subkontinent und ähnelt in Vielem Indien.

Am Bandaranaike International Airport in Colombo gab es keinerlei Zollkontrolle. Nur unsere Impfausweise wurden kontrolliert, wegen Cholera in Jaffna. Colombo war die Hauptstadt von Sri Lanka. Der Name Colombo bedeutet auf Singhalesisch (oder Sinhala) Hafen. Im Park Rest Guest House haben wir ein Zimmer mit Bad für 15 Rupees gefunden. Der offizielle Wechselkurs war 1 DM = 4 Rupees. Das Hotel wurde von einer buddhistischen Familie betrieben. Alternativ hätte die Jugendherberge 5 Rupees pro Bett gekostet, wobei Männer und Frauen getrennt untergebracht wurden.


Ausgaben in Indien vom 1. Oktober 1973 bis 1. Dezember 1973 (62 Tage)
750 DM (davon 30 DM Arztkosten)
Durchschnitt: 12 DM pro Tag.
Flugticket Madras - Colombo - Singapore: 460 DM (ca. 175 US-Dollar).


Postskriptum zur Situation in Sri Lanka in den letzten 50 Jahren, Januar 2023

Sri Lanka ist eine wunderschöne tropische Insel, die leider in den letzten 50 Jahren einige Krisen erlebt hat. Eigentlich müssten die Menschen im Wohlstand leben, denn die üppige Natur bietet alle Nahrungsmittel für die Einwohner. Aber ein großes Problem war, dass auf der Insel 2 Völker leben, die Tamilen im Norden und die Singhalesen im Süden. Die Tamilen wollten die Unabhängigkeit und ihren eigenen Staat, während die Singhalesen die Herrschaft über die ganze Insel für sich beanspruchten. So kam es zu einem jahrelangen mörderischen Krieg (1983-2009), der die Insel zu einer Hölle machte.

Zusätzlich ist es der Staatsführung nicht gelungen, die wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Dabei spielte vielleicht auch der wachsende Bevölkerungsdruck eine Rolle. Die Auslandsverschuldung Sri Lankas stieg immer mehr, bis das Land Pleite war. Es kam zu starken Preissteigerungen und zu Volksaufständen. Und so befindet sich Sri Lanka heute in einer kritischen Situation, die man den Menschen Sri Lankas wirklich nicht wünschen kann.

Das Problem der 2 Völker auf einer relativ kleinen Insel bleibt bestehen. Das hat auch auf anderen Inseln zu Kriegen geführt. Zum Beispiel auf Zypern, wo Türken im Norden und Griechen im Süden leben. Oder in Irland, wo Briten im Norden und Iren im Süden leben.


Postskriptum zu den Namen Ceylon/Sri Lanka, Januar 2023

Sri Lanka hieß bis 1972 offiziell Ceylon. Ceylon war der historische Name der englischen Kolonialherren für die Insel. Nach 1972 setzte sich der neue Name Sri Lanka immer mehr durch.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2023.


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2023/01/01


Das Kriegsjahr 2022

von Dr. Christian G. Pätzold


Das vergangene Jahr 2022 war schon das 3. Coronavirus-Pandemie-Jahr, mit 50.000 Corona-Toten in Deutschland. Das waren im Schnitt 1.000 Tote jede Woche. Aber 50.000 Tote scheinen viele Menschen nicht besonders beunruhigt zu haben. Im Gegenteil, ständig wurden Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen gefordert. Wenn es 500.000 Tote gewesen wären, wäre die Reaktion der Bevölkerung wahrscheinlich anders gewesen. Auch in der Volksrepublik China war die Regierung nach Protesten der Bevölkerung gezwungen, die Null-Covid-Politik aufzugeben und die Maßnahmen zu lockern. Jedenfalls atmete die Deutsche Rentenversicherung auf. 50.000 Rentner:innen weniger in der Rentenkasse. Dadurch und durch die hohe Inflation hat die Rentenversicherung einen schönen Milliardenüberschuss im Jahr 2022 erwirtschaftet.

Und als ob Corona nicht schon schlimm genug war, kam im Februar auch noch der Krieg in der Ukraine hinzu. Am 24. Februar 2022 marschierte die russische Armee in der Ukraine ein. Der Krieg wurde als "Militärische Spezialoperation" bezeichnet und durfte in Russland nicht Krieg genannt werden, denn man wollte im Kreml nicht als offizieller Kriegstreiber dastehen. Russland drohte mit dem Einsatz von Atomraketen. Das größte Atomkraftwerk Europas in Saporischschja stand im März in der Gefahr, in die Luft zu fliegen. Der russische Präsident Wladimir Putin wollte mit seinen Panzern in 4 Tagen in Kiew sein, ist dann aber bald vor der ukrainischen Hauptstadt gestoppt worden. Auf einen verlustreichen Häuserkampf in Kiew wollte er sich nicht einlassen. Er hatte wohl auch das Talent des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unterschätzt, der Hilfsappelle an die ganze Welt sendete.

Die Stadt Mariupol am Asowschen Meer wurde von russischen Bomben auf den Erdboden reduziert. Putin rühmte sich sehr dafür, dass er das Asowsche Meer zu einem Binnenmeer der Russischen Föderation gemacht hat. Dann kamen Berichte von Massakern an Zivilisten beim Rückzug der russischen Armee nahe Kiew. Die USA haben an die 40 Milliarden Dollar für Militärausrüstung für die Ukraine gezahlt, und später noch mehr. Und die Ukraine hatte viel mehr Soldaten als die russische Armee. Die deutsche Bundesregierung hat sich im April immer tiefer in den Krieg hineinziehen lassen, durch Waffenlieferungen, auch von schweren Waffen wie Panzer-Haubitzen, an die Ukraine.

Die Gaslieferungen an Deutschland wurden von der russischen Regierung immer mehr gedrosselt. Über die Gas-Pipeline Nordstream 1 flossen nur noch 20 % der Kapazität. Die Gas-Pipeline Nordstream 2 wurde von der deutschen Regierung nicht in Betrieb genommen, als Sanktion gegen Russland. Es drohte ein sehr kalter Winter in Deutschland. Im Sommer war dann etwas Flaute im Kriegsgeschehen. Aber im August wurde das Atomkraftwerk Saporischschja beschossen, das von russischen Truppen besetzt war. Das AKW Saporischschja ist das größte AKW Europas mit 6 Reaktorblöcken. Es drohte eine Atomkatastrophe, die ganz Europa radioaktiv verstrahlen konnte.

Im September gab es dann einen Vormarsch der ukrainischen Truppen im Nordosten im Gebiet Charkiw. Ende September folgte die Mobilmachung von 300.000 Soldaten in Russland, da man nicht genug Soldaten an der Front hatte. Außerdem veranstaltete Russland Referenden in den Gebieten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson für den Anschluss an Russland. Erwartungsgemäß stimmten 99 % für den Anschluss. Die 4 Gebiete wurden von Putin offiziell mit großem Pomp annektiert.

Ab Mitte September kam überhaupt kein Erdgas mehr aus Russland nach Deutschland. Die Strompreise und die Gaspreise in Deutschland schossen in immer absurdere Höhen. Zusätzlich sollte von der Bundesregierung im Oktober eine Gasbeschaffungsumlage eingeführt werden, die die Gaspreise weiter erhöht hätte. Dieses Vorhaben wurde wieder gestrichen, aus Angst vor Protesten in der Bevölkerung und vor einem heißen Herbst. Viele Menschen wussten nicht mehr, wie sie ihre Energierechnungen bezahlen sollten, zumal auch die Lebensmittel immer teurer wurden. Die Inflationsrate in Deutschland erreichte im September 10 % gegenüber dem Vorjahresmonat, 11% im Oktober Das war die höchste Inflation seit dem Ende des 2. Weltkriegs.

Innerhalb der deutschen Linken bestand die vorherrschende Meinung, dass es sich bei dem autokratisch-kapitalistischen Russland um einen imperialistischen Staat mit Großmachtambitionen handele. Die Ukraine wurde als Vasall des US-Imperialismus und seiner westeuropäischen Satelliten gesehen. Entsprechend wurde der Ukraine-Krieg als Krieg zwischen 2 Räubern, zwischen 2 imperialistischen Mächten gesehen. Trotzdem gab es innerhalb der deutschen Linken auch spitzfindige Diskussionen um den Imperialismus-Begriff. Einige Linke betrachteten die Russische Föderation sogar als einen Teil des "Globalen Südens", obwohl Russland ziemlich nahe am Nordpol liegt und ein Hochtechnologieland ist.

Ab Oktober hat die russische Armee dann gezielt die ukrainische Infrastruktur zerbombt, besonders das Stromnetz, die Wasserversorgung und die Wärmeversorgung. Vielleicht war beabsichtigt, Arbeitskräfte mit der Reparatur der Netze zu binden, die dann nicht an der Front kämpfen konnten. Vielleicht sollten auch angesichts des bevorstehenden Winters und der Kälte die Ukrainer zur Flucht nach West-Europa getrieben werden, um Druck auf die EU zu machen.

Im November musste sich die russische Armee aus der Stadt Cherson auf das Ostufer des Dnepr (ukrainisch Dnipro) zurückziehen, weil der Druck der ukrainischen Armee zu stark wurde. Ende November hat die ukrainische Regierung die Bevölkerung dazu aufgerufen, das Land zu verlassen, da die Stromversorgung, die Wärmeversorgung und die Wasserversorgung nicht mehr gewährleistet werden konnten.

Am 17. Dezember wurde das erste Flüssiggas-Terminal (LNG) Deutschlands in Wilhelmshaven in Betrieb genommen, um das fehlende russische Gas zu ersetzen. Für Strom, Gas und Fernwärme wurden Preisdeckel für Verbraucher von der Bundesregierung eingerichtet. So viel zum Kriegsgeschehen im vergangenen Jahr 2022 und es ist kein Ende des Krieges absehbar.

Wie jedes Jahr im Januar hat sich wieder das Hintergrundbild von kuhlewampe.net geändert. An der Stelle der munteren Blüten der Felsenbirne vom vergangenen Jahr, die uns alle erfreuten, sind jetzt Edelsteine in weißem Marmor zu sehen, die vom Taj Mahal in Agra in Indien stammen. An islamischen Gebäuden dürfen keine Menschen dargestellt werden. Daher findet man dort als Schmuck oft florale Motive und geometrische Muster.

Ich möchte allen Kreativen sehr danken, die im vergangenen Jahr so viel zu kuhlewampe.net beigetragen haben: Wolfgang Weber, Reinhild Paarmann, Sabine-Simmin Rahe, Ella Gondek, Karl-Heinz Wiezorrek, Dagmar Sinn, Dr. Karin Krautschick, Dr. Wolfgang Endler, Dr. Hans-Albert Wulf, Anke Sabrowski und Horst Felix Palmer.


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